"Geistig Behinderte" am Gymnasium - Integration an der Schule für "Geistig Behinderte"

Autor:in - Jutta Schöler
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Artikel
Copyright: © Jutta Schöler 2009

Vorwort

Die folgenden zwei Beispiele beziehen sich auf den Text von Jutta Schöler: "Geistig Behinderte" am Gymnasium - Integration an der Schule für "Geistig Behinderte"

Eine theoretische Begründung und allgemeine Argumente dafür, dass Jugendliche, welche als "geistig behindert" bezeichnet werden, in einem mehrgliederigen, selektiven Schulsystem am ehesten an einem Gymnasium ihre Schullaufbahn weiterführen sollten - nach dem gemeinsamen Unterricht in der Grundschulzeit.

erschienen in: Jerg, Jo; Merz-Atalik, Kerstin; Thümmler, Ramona; Tiemann, Heike (Hrsg.): Perspektiven auf Entgrenzung. Bad Heilbrunn : Klinkhardt, 2009, S. 95 - 102

Die konkreten Beispiele mussten dort aus Platzgründen gekürzt werden. Sie sind auch für sich verständlich und werden hier veröffentlicht.

Beispiel 1

Am Werner-von-Siemens-Gymnasium in Bad Harzburg (Niedersachsen) hat der stellvertretende Schulleiter seit dem Frühjahr 2006 die Fortsetzung einer Integrationsklasse nach dem 4. Schuljahr an seiner Schule geplant. Alle anderen Schulen der Umgebung hatten die Fortsetzung des gemeinsamen Unterrichts abgelehnt und auch die Schulverwaltung sah sich nicht in der Lage, den Wunsch der Eltern nach Fortsetzung des Weges in die Normalität zu berücksichtigen. Der Schulleiter sagte mir: "Die Eltern taten mir einfach Leid." Eine 5. Klasse wurde zu Beginn des Schuljahres 2006/07 gebildet mit zwei Schülern und einer Schülerin mit Down Syndrom, einem Mädchen, das neben körperlichen Beeinträchtigungen (Laufen, Sprache, Feinmotorik) als intellektuell beeinträchtigt bezeichnet wird und 22 "Gymnasiasten", davon sechs aus der gemeinsamen Grundschulklasse. Bei allen Lehrerinnen und Lehrern des Gymnasiums wurde durch Einzelgespräche deren Bereitschaft im Vorfeld vom stellvertretenden Schulleiter geklärt. Die Gesamtkonferenz stimmte dem Vorhaben mehrheitlich, bei wenigen Gegenstimmen zu. Nach einem Jahr sind aus den Gegenstimmen Enthaltungen geworden. Hinzu kommen zwei ausgebildete Sonderpädagoginnen, mit insgesamt 20 Wochenstunden von der nächstgelegenen Schule für geistige Entwicklung.

Dieser Klasse steht gemeinsam ein Klassenraum und unmittelbar daneben, mit einer Durchgangstür verbunden, ein Nebenraum zur Verfügung, in den auch eine kleine Küchenzeile eingebaut wurde. Die Schule arbeitet als zuverlässige Halbtagsschule; die Nachmittagsbetreuung wird von den Eltern organisiert. Ein zuverlässiger Fahrdienst für die Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf sowie die Tätigkeit von Schulhelfern ist durch engagiertes, qualifiziertes, fest eingestelltes Personal gesichert.

Die veränderten Strukturen sind von Eltern geschaffen und erkämpft worden (Elternverein ERIK = Eltern für ein Regionales Integrations Konzept - siehe: www.erikweb.de). Diese Gruppe unterstützt viele andere Eltern; auf deren Bitten berate ich die Lehrerinnen und Lehrer dieser Schule. Bisher fanden drei mehrtägige Treffen statt - immer mit Auswertungsgesprächen mit Eltern von behinderten und nicht behinderten Kindern sowie mit den beteiligten Lehrerinnen und Lehrern und der Schulleitung.

Unterrichtsgestaltung:

Von Fach zu Fach verschieden findet der Unterricht teilweise gemeinsam, teilweise getrennt statt. Die Kunst-, Musik- und Sportlehrer haben sich darauf eingestellt, dass die vier besonderen Kinder immer dabei sind. Für sie werden die Aufgabenstellungen so formuliert, dass sie an einer gemeinsamen Aufgabe arbeiten. In diesem Sinne hat inzwischen ein Referendar der Studienratsausbildung in dieser Klasse ein sehr gutes 2. Staatsexamen abgelegt. In Deutsch, Geschichte und Erdkunde lernen die vier Kinder mit ihren sehr unterschiedlichen Fähigkeiten in verschiedenen Formen am selben Lerngegenstand, aber mit verschiedenen Zielen. Z.B.: Geschichte: das Leben der Wikinger; Wetterkunde: die Kraft des Wassers; im Deutsch- und Informatikunterricht das Schreiben mit dem Computer, dabei das "Komponieren" von Bild-Gedichten (konkrete Poesie). Ein Junge mit Down-Syndrom, der Spezialist für Traktoren ist und sich mit der Seitengestaltung am Computer gut auskennt, und ein Gymnasialschüler, der sonst manchmal durch seine Ungeduld und spontanen Unterrichtsbeiträge auffällt, arbeiteten kreativ und mit einem guten Ergebnis zusammen.

Eine Schülerin mit Down Syndrom schreibt inhaltlich dieselben Diktate wie die Gymnasialschüler, verkürzt und einfach formuliert. Oder: Von einem langen Gedicht lernt sie eine Strophe auswendig und trägt sie der Klasse vor. Eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern hat sich entschieden, dieses Gedicht als selbst vertonten Rap-Song vorzutragen, während die beiden Jungen mit Down Syndrom und das Mädchen mit der eingeschränkten verbalen Ausdrucksmöglichkeit durch Wort- oder Bildkarten ergänzen und so zeigen, dass sie den Sinn des Gedichtes verstanden haben. Dies wiederum hat die beiden Jungen mit Down-Syndrom so motiviert, dass sie ihre ersten Englisch-Vokabeln auch mit einem Rap-Song vortragen wollten. Der Schulhelfer hat sie bei der Umsetzung dieses Planes tatkräftig unterstützt. Im Mathematik-, Physik und Chemieunterricht ist das Lernen am gemeinsamen Unterrichtsgegenstand bisher nicht möglich gewesen; die Fachlehrer bemühen sich, damit die zwei Schülerinnen und die zwei Schüler wenigstens teilweise im Unterricht dabei sind. Angeregt durch die Beobachtungen des Lernens der Mitschülerinnen und Mitschüler und mit speziell für sie von den Sonderpädagoginnen vorbereiteten Materialien lernt die "Gruppe der Vier" dann manchmal in dem kleinen Nebenraum des Klassenzimmers, manchmal an einem Gruppentisch im Klassenraum. Die "Gymnasiasten" schauen vorbei, erkennen und würdigen die Lernfortschritte ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler.

Nach meinem Eindruck findet bisher knapp die Hälfte des Unterrichts gemeinsam statt bei großem Bemühen der Regelschullehrerinnen und -lehrer, diesen Anteil auszuweiten und teilweiser Skepsis bei den Sonderpädagoginnen. Es gibt die leichte Tendenz, den zwei Schülerinnen und zwei Schülern mit der Zuschreibung "geistig behindert" weniger zuzutrauen als sie leisten könnten.

Die vier nehmen an allen Wandertagen teil; es gab eine gemeinsame Klassenfahrt, eine Lesenacht, gemeinsame Geburtstagsfeste und von den Klassenelternvertretern organisierte gemeinsame Nachmittagsverabredungen (z.B. Schlittschuhlaufen).

Erste Ergebnisse: Am Werner-von-Siemens-Gymnasium in Bad Harzburg sind die Eltern der vier Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf sehr zufrieden; große Zufriedenheit äußerten in drei Auswertungsgesprächen auch die Eltern von sechs nicht behinderten Mitschülerinnen und Mitschülern, welche mir versicherten, die anderen Eltern der Klasse sähen dies genau so. Von den sechs interviewten Eltern der nicht behinderten Mitschülerinnen und Mitschüler kannten vier die Kinder mit Behinderung bereits aus der Grundschulzeit, ein Elternpaar hat sich bewusst wegen der Einrichtung der Integrationsklasse trotz anfänglicher Bedenken für diese Schule entschieden, ein anderes Elternpaar ist mit ihrem Sohn in diese Klasse "irgendwie reingerutscht" und jetzt sehr froh darüber. Alle Eltern und die Lehrerinnen und Lehrer betonen die positiven Auswirkungen auf das Sozialverhalten der Schülerinnen und Schüler und ihren Eindruck, dass die Leistungsfähigkeit dieser Klasse (im Vergleich zu den Parallelklassen) nicht geringer sei.

Eine der Gymnasiallehrerinnen sagte: "Wir haben unsere eigene, zuvor vorhandene Scheu vor Menschen mit Behinderung überwunden. Auch in unserer Freizeit sehen wir diese Menschen offener, ohne Berührungsängste." - "Wir haben von den Sonderpädagogen viel gelernt, wie wir unseren Unterricht anders gestalten. Was für die Kinder mit Behinderung gut ist, vor allem das anschauliche Lernen, ist auch für alle anderen gut." Das gemeinsame Lernen wird nach der 6. Klasse im Schuljahr 2008/09 weiter geführt. Die Schülervertretung des Werner-von-Siemens-Gymnasiums ist von Anfang an über dieses Projekt informiert worden. Eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern hat es im Schuljahr 2006/07 für einen Wettbewerb der Zeitschrift "Unicum" beschrieben und damit deren Schulpreis 2007 in der Kategorie "Integration" gewonnen. (Siehe Homepage der Schule: ) Diese Schülerinnen und Schüler sagten mir in einem Interview: "Diese eine Klasse, diese zwei Schülerinnen und zwei Schüler haben das Klima in der ganzen großen Schule positiv verändert."

Im Sinne von Jakob Muth hat diese Schule in der relativ kurzen Zeit viel erreicht: "Vielleicht ist im Erreichen der Bewußtseinsdisposition für den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern bei den Lehrern, aber auch den Eltern, den Schulverwaltungen und überhaupt in der Öffentlichkeit die wichtigste Aufgabe zu sehen, die für die Integration von Behinderten in allgemeinen Schulen in den nächsten Jahren zu erfüllen ist. Aber durch Belehrung, Information, durch Fernsehsendungen und öffentliche Veranstaltungen kann eine wesentliche Bewußtseinsänderung nicht herbeigeführt werden. Am stärksten wirken Beispiele. Deshalb ist jede einzelne integrative Einrichtung, die neu entsteht, zugleich die Bedingung für die Ermöglichung weiterer." (Muth, S. 21; seit dem 1. Januar 2009 trägt die Schule der Lebenshilfe Nürnberg den Namen: "Jakob-Muth-Schule")

Beispiel 2

Lebenshilfe Nürnberg - Eine Schule für Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung verändert sich

In Nürnberg waren es nicht die Eltern der Kinder mit Behinderung, welche die Entwicklung in Richtung auf eine Schule für alle vorangebracht haben, sondern: Der Vorstand der Lebenshilfe hat entschieden: "Die Zukunft für die ‚Lebenshilfe' ist das gemeinsame Lernen!" Zuvor waren sehr gute Erfahrungen mit dem integrativen Kindergarten gemacht worden. Danach drängten einige Eltern von behinderten Kindern in die Regel-Grundschule, was unter bayerischen Schulgesetzbestimmungen seit 2003 möglich ist. Der Vorstand der Lebenshilfe initiierte eine Zukunftskonferenz für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Perspektive wurde vorgegeben: Ziel ist die eine Schule für alle Kinder. - Die Aufgabe für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lautete: Wie kann die Lebenshilfe dieses Ziel erreichen? Am Anfang war die Skepsis auf Seiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter groß. Der Vorstand konnte deutlich machen, dass die vorgesehen Veränderungen langfristig die Arbeitsplätze sichern. Auch die Eltern von behinderten Kindern, die bereits die Schule der Lebenshilfe besuchten, waren verunsichert. Sie und ihre Kinder konnten sich z.T. nicht vorstellen, eine normale Schule zu besuchen. Die Schulleiterin und der stellvertretende Schulleiter verhielten sich am Anfang verhalten skeptisch, aber aufgeschlossen. Der Geschäftsführer, die Pädagogische Koordinatorin der Lebenshilfe und der Leiter der Tagesstätte (für die Nachmittags- und Ferienbetreuung) arbeiteten konsequent und eigen-initiativ an der Umsetzung des Zieles: Die Anteile gemeinsamen Unterrichts und gemeinsamer Freizeiterfahrungen für alle Kinder erhöhen.

Ausgangspunkt dieser Veränderung war die Entscheidung des Vorstandes der Lebenshilfe Nürnberg, die gesamte Institution in Richtung auf Integration/Inklusion umzuwandeln. Am Anfang stand ein integrativer Kindergarten, welcher 2007 seinen 20. Geburtstag feiern konnte. Ein zweiter Integrationskindergarten wird seit dem Schuljahr 2006/07 aufgebaut. Im Schuljahr 2007/08 sind fünf Grundschulklassen (1. - 4. Schuljahr) in zwei reguläre städtische Grundschulen ausgelagert und eine 5. Klasse in eine Realschule. Im kommenden Schuljahr wird eine 5. Klasse und eine 6. Klasse in der Realschule weiter lernen.

Im Berufsschulzweig lernen Jugendliche mit so genannter geistiger Behinderung alle notwendigen Qualifikationen für das Arbeiten auf dem 1. Arbeitsmarkt im Bereich Nahrung- und Gaststätten. Eine Integrationsfirma der Lebenshilfe hat die Mittagessenversorgung der Realschule übernommen; eine Kooperations-Reinigungsfirma erledigt zuverlässig die Reinigungsdienste in den Einrichtungen der Lebenshilfe und in mehreren Standorten in Nürnberg.

Seit dem Schuljahr 2005/06 berate ich den Vorstand der Lebenshilfe Nürnberg, die Schulleitungen, die Lehrerinnen und Lehrer und die Erzieherinnen der beteiligten Schulen für die weitere Entwicklung. An zwei öffentlichen Vorträgen nahmen zahlreiche Eltern teil. Aufgrund von Interviews mit Müttern von behinderten und nicht behinderten Kindern am Ende der 4. Klasse wurden die ersten Erfahrungen zusammengefasst. (Ein Vortrag und die ersten Ergebnisse sind über die Homepage der Schule abrufbar: http://www.lebenshilfe-nuernberg.de) Dort können auch die organisatorischen Rahmenbedingungen der Außenklassen der Lebenshilfe Nürnberg an einer Grundschule nachgelesen werden.

Die Veränderungen an der Schule der Lebenshilfe in Nürnberg finden unter den schulorganisatorischen Rahmenbedingungen des Bayerischen Schulgesetzes statt. (vgl. Bayer. Staatsministerium) Es ist offensichtlich, wie wichtig es ist, dass die Strukturen verändert werden. Hierfür haben die bisherigen Sonderschulen in Deutschland eine besondere Verantwortung.[1] Oft ist es nicht leicht, zu entscheiden, ob es sich bei dem Angebot von Außenklassen der Sonderschulen um Ablenkungsmanöver handelt, um Eltern von ihrem eigentlichen Wunsch nach gemeinsamem Unterricht abzuhalten, oder ob hinter der Einrichtung einer Außenklasse tatsächlich die Zielsetzung steht, so viele schulische Gemeinsamkeiten wie möglich für Schüler mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf zu verwirklichen. Nach meiner Einschätzung haben die Sonderschulen eine wichtige Aufgabe, um das allgemeine gesellschaftliche Bewusstsein für Menschen mit Behinderung weiter zu entwickeln: Begreifen Sonderschullehrerinnen und -lehrer sowie die Schulleiterinnen und -schulleiter ihre eigene berufliche Zielsetzung überwiegend darin, Kinder mit besonderem Förderbedarf in der Abgeschiedenheit einer Sonderschule zu unterrichten und mit ihnen nur gelegentlich in die Gesellschaft hinaus zu gehen oder: Setzen sie sich gemeinsam mit den Kindern den Anregungen und Herausforderungen der Regelschule aus, setzen ihre sonderpädagogische Kompetenz dafür ein, den Unterricht für alle Kinder abwechslungsreicher und differenzierter zu gestalten und damit auch die Bewusstseinsdisposition bei Regelschullehrerinnen und -lehrern, bei den Kindern und Jugendlichen in den Regelschulen und deren Eltern im Sinne der Zielsetzungen von Jakob Muth zu verändern?

Rahmenbedingung, die gesichert werden müssen, damit das gemeinsame Lernen für alle Kinder möglich wird:

Organisation der Fahrdienste,

Nachmittags- und Ferienbetreuung,

Zwei-Pädagogen-System,

therapeutische Angebote

Gegenwärtig stehen zahlreiche Eltern von Kindern mit besonderem Förderbedarf vor der Alternative: Sonderschule mit "Rundumbetreuung" oder Regelschule, in der bei zumeist unzuverlässigem Halbtagsangebot auf einen großen Teil der Unterstützungs- und Fördermöglichkeiten der Sonderschule verzichtet wird und ein Mitglied der Familie diese Nachteile ausgleichen muss. Wenn die Entwicklung des gemeinsamen Lernens für alle Kinder von einer bestehenden Sonderschule aus unterstützt wird, dann kann bei der Organisation der oben genannten Rahmenbedingungen auf den bisherigen Erfahrungen aufgebaut und auf die materiellen Ressourcen der Sonderschule zurück gegriffen werden.

Fahrdienste, Nachmittags- und Ferienbetreuung sollten am Standort der jeweiligen Außenklassen und auch bei Einzelintegrationsmaßnahmen zuverlässig organisiert werden. Dies kann eine sinnvolle Aufgabe der Sonderschulen werden, kann aber auch von anderen freien Trägern angeboten werden. Am sinnvollsten ist es, wenn diese die Familien entlastenden Angebote nicht nur den Kindern mit besonderem Förderbedarf angeboten werden sondern allen Kindern. So kann der gemeinsame Unterricht sinnvoll erweitert werden durch gemeinsame Schulwege, Nachmittagsbetreuung und Freizeitaktivitäten. Bestehende Sonderschulen können auf dem Weg der Umwandlung in eine gefragte Schule für alle Kinder für die Eltern von nicht behinderten Kindern u.a. dadurch attraktiv werden, dass sie die Fahrdienste, die Nachmittags- und Ferienbetreuung zuverlässig in gut ausgestatteten Räumen anbieten.

Zwei-Pädagogen-System

Regelschullehrerinnen/-lehrer und Sonderschullehrerin/-lehrer sollten durchgängig in den Klassen zusammenarbeiten, um so "Kompetenztransfer" zu ermöglichen. In der Übergangszeit der Außenklassen einer Sonderschule an einer Regelschule wird es die Aufgabe der Sonderschule sein, die Vertretungen und spezielle Fortbildungsmöglichkeiten für die an die Regelschule abgeordneten Lehrerinnen und Lehrer zu sichern.

Therapeutische Angebote

Den Eltern der Kinder, die besondere therapeutische Unterstützung benötigen, sollte die Entscheidung überlassen werden, ob sie die Therapien außerhalb der Unterrichtszeit privat organisieren oder ob sie das Angebot einer Sonderschule nutzen. Hierbei ist es dann die Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer sowie der Therapeutinnen und Therapeuten, in der Schule eine Organisationsform zu finden, mit der beachtet wird, dass Kinder wegen der Therapien möglichst wenig gemeinsamen Unterricht versäumen. Sehr sinnvoll ist eine Organisationsform, bei der der Tagesablauf für alle Kinder so rhythmisiert wird, dass sich Unterricht und Wahlangebote im Tagesablauf abwechseln, z.B. auch Musik- oder Sportangebote freier Träger, Förderunterricht in Mathematik, Deutsch oder Fremdsprache und Zusatzangebote für besondere Interessenschwerpunkte für hoch befähigte Kinder. Von der Lebenshilfe Nürnberg werden Therapien für die ca. 90% der Kinder angeboten, die in der heilpädagogischen Tagesstätte angemeldet sind. Die Therapien werden von der Heilpädagogischen Tagesstätte (HPT) organisiert und über die Krankenversicherung abgerechnet. Die Therapeuten sind bei der HPT angestellt. Die Therapien finden sowohl am Vormittag (Unterrichtszeit) als auch am Nachmittag während der HPT-Zeit statt. Auch die Räume dafür werden der HPT zugerechnet und die Ausstattung darüber finanziert.

In Nürnberg hat durch die Außenklassen der Lebenshilfe an zwei Grundschulen und an einer Realschule in den vergangenen Jahren in erstaunlichem Ausmaß eine Veränderung der Bewusstseinsdisposition bei den Schulleitungen, bei Lehrerinnen und Lehrern der Sonderschule und der drei beteiligten Regelschulen sowie bei den Kindern und deren Familien stattgefunden. Der Unterricht ist für alle Kinder abwechslungsreicher und differenzierter geworden. Regelschullehrerinnen sagten: "Wir haben von den Sonderpädagoginnen viel dafür gelernt, vor allem den Unterricht anschaulicher zu gestalten." Sonderschullehrerinnen sagten: " Wir merken, dass wir ‚unseren' Kindern oft zu wenig zugetraut haben." Im Sinne des Impulsvortrages von Simone Seitz bei der Integrationsforschertagung 2008 ist die "Innovationskraft inklusiver Pädagogik und Didaktik" in den Köpfen vieler der unmittelbar Beteiligten angekommen. Es gibt differenzierte Vorstellungen, wie guter Unterricht aussehen kann. (vgl. Schöler 2004)

Gemeinsam wurde als sichtbarste Veränderung durchgesetzt, dass in einem Grundschulgebäude eine Rampe gebaut wurde, damit ein Schüler mit fortschreitender körperlicher Beeinträchtigung in dieser Schule verbleiben konnte. Die Schulleitungen und der Vorstand der Lebenshilfe haben bisher erfolgreich um die Verlängerung der Genehmigungen und eine Frequenzsenkung bei den kooperierenden Regelklassen verhandelt. In der Ganztags-Realschule findet bereits täglich ein gemeinsames Frühstück mit anschließendem Morgenkreis statt, die Schülerinnen und Schüler der Lebenshilfe essen mit allen anderen Schülerinnen und Schülern dieser großen Schule gemeinsam in der Mensa der Schule. Die Sportangebote in den Pausen oder in den unterrichtsfreien Zeiten des Nachmittags stehen allen zur Verfügung. Für die organisatorische und personelle Absicherung aller außerunterrichtlichen Angebote sind die Erfahrungen und das Engagement des Leiters der Tagesstätte der Lebenshilfe und aller Erzieherinnen von großer Bedeutung.

Es gibt viele Pläne für die Weiterentwicklung: Geplant ist die zuverlässige Einrichtung gemeinsamer Hortangebote in den Grundschulen. Als nächsten Entwicklungsschritt beabsichtig die Lebenshilfe Nürnberg, eine Außenklasse einer Grundschule in den eigenen Räumen einzurichten. Die Genehmigung dafür liegt bereits vor. Die entscheidende Frage ist, wie viele Eltern von nicht behinderten Kindern ihr Kind für diese Klasse anmelden. Es ist zu erwarten, dass die Eltern von behinderten und nicht behinderten Kindern, die im Integrationskindergarten der Lebenshilfe gute Erfahrungen gemacht haben, ihre Kinder auch gerne in die Schule schicken werden, die eine Weiterführung des gemeinsamen Lernens für alle anbietet.

Diese "Entgrenzung" ist möglich: Eine Schule für Kinder mit so genannter geistiger Behinderung wird eine attraktive Schule für alle Kinder! - Wann dieses Ziel erreicht ist und wie viele Hürden auf dem Weg noch zu überwinden sind, kann nicht vorhergesagt werden.



[1] Ich verwende die Bezeichnung "Sonderschule" in Abgrenzung zur "Regelschule". Alle anderen Bezeichnungen (Förderschule/Förderzentrum; Hilfsschule; Schule für Erziehungshilfe usw.) betrachte ich als Verschleierung.

Literatur:

Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (2007): Zukunftsfelder für die Förderschulen in Bayern. München (Autoren: Erhard Karl und Erich Weigl).

Muth, Jakob u.a. (1982): Behinderte in allgemeinen Schulen. Essen

Schöler, Jutta (2004): Bilder in den Köpfen. In: Zs.: "Gemeinsam leben" 12 (2004) S. 191-194. Auch in: http://bidok.uibk.ac.at/library/gl4-04-schoeler-koepfe.html (Stand: 29.03.09)

Schöler, Jutta (2007): Durch Kooperation zur Integration. Die Lebenshilfe Nürnberg auf dem Weg. - Zusammenfassung der Erfahrungen von vier Jahren Außenklassen der Lebenshilfe an einer Grundschule. Als pdf-Datei abrufbar über: www.lebenshilfe-nuernberg.de (Stand: 29.03.09).

Seitz, Simone: Zur Innovationskraft inklusiver Pädagogik und Didaktik. In: Jerg, Jo; Merz-Atalik, Kerstin; Thümmler, Ramona; Tiemann, Heike: Perspektiven auf Entgrenzung. Erfahrungen und Entwicklungsprozesse im Kontext von Inklusion und Integration. Bad Heilbrunn : Klinkhardt, 2009, S. 67 - 86

Quelle:

Jutta Schöler: "Geistig Behinderte" am Gymnasium - Integration an der Schule für "Geistig Behinderte"

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 06.05.2009

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