Stigmatisierung von Vorbestraften und Rückfallkriminalität

Themenbereiche: Psychosoziale Arbeit
Textsorte: Buch
Releaseinfo: Erschienen in: Manfred Brusten/Jürgen Hohmeier(Hrsg.), Stigmatisierung 2, Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen, Darmstadt 1975. S. 129 - 143 ; Beide Bände sind leider Vergriffen und werden auch nicht mehr aufgelegt. Der Luchterhand-Verlag hat BIDOK die Erlaubnis zur Veröffentlichung gegeben.
Copyright: © Helga Cremer-Schäfer 1975

Einleitung

Dem Verhalten von als »kriminell« Definierten gilt meist dann ein besonderes Interesse, wenn man bei ihnen trotz erfahrener Sanktionen erneut Straffälligkeit feststellen kann. Dies erscheint sowohl den Kontrollinstanzen - wie etwa Polizei, Justiz und Sozialarbeit - als auch wissenschaftlichen Betrachtern als erklärungsbedürftig. Die Art der Reaktion verdeutlicht ihre Vorstellungen über die Ursachen von Kriminalität allgemein bzw. der von Rückfälligkeit insbesondere. Im Verständnis der Kontrollinstanzen läßt Rückfall nur einen Schluß zu: Die Sanktionen waren für den Täter nicht hart genug.

Die wissenschaftliche Behandlung des Problems variiert mit der theoretischen Orientierung und dem Entwicklungsstand der Kriminologie.

Die traditionelle deutsche Kriminologie bietet eine beachtliche Zahl von Untersuchungen zur Rückfälligkeit von Jugendlichen, heranwachsenden und erwachsenen Straftätern (u.a. Meyer-Wentrup 1966, Klapdor 1967). Orientiert an der vorherrschenden Perspektive dieser Disziplin, dem Mehrfaktorenansatz[1], befassen sie sich ausführlich damit, beobachtbare Merkmale und Eigenschaften des Täters mit seinem weiteren (Legal-)Verhalten zu korrelieren. Nach diesen Untersuchungen gibt es eine Vielzahl von »Ursachen« für Rückfälligkeit. Nur: die Untersuchungen widersprechen sich zum Teil. Die Sicherheit der Aussagen ist also nicht sehr groß. Und dies ist nicht zufällig; statistische Korrelationen der Eigenschaften von Tätern mit ihrem Verhalten darzustellen heißt nicht, es zu erklären[2]. Da diese Problematik aber nicht thematisiert wird, bleibt der Eindruck bestehen, daß den aufgezeigten »Faktoren« eine kriminelle Potenz zu eigen ist, die sich unmittelbar auf das Verhalten auswirkt. Durch eine spezifische Auswahl der geprüften Faktoren wird zudem vorgetäuscht, daß Kriminalität und Rückfälligkeit als Folgen der Eigenschaften des Täters anzusehen sind oder, wenn Eigenschaften sozial abgeleitet werden (z.B. aus dem Erziehungsstil der Eltern), als Folge von Ereignissen, die vor dem Einschreiten sozialer Kontrollinstanzen zu suchen sind. Definitionsprozesse und die Erfahrungen nach einer Etikettierung geraten nicht einmal als »Faktor« ins Blickfeld. Die sozialen Folgen der Zuschreibung des Merkmals »kriminell« drängen aber immer mehr zu der Auffassung, daß die Entwicklung eines Verurteilten zum Rückfälligen, zum »Hangtäter« oder zum »Gewohnheitsverbrecher« nicht mit Eigenschaften des Individuums erklärt werden kann, sondern daß sie eine Reaktion des Etikettierten auf das Verhalten der sozialen Umwelt, eine Reaktion auf Stigmatisierung ist. Die sozialen Teilnahmechancen vom Kriminellen werden weitgehend reduziert und gleichzeitig die Kontrolle ihres Verhaltens verstärkt. Das bleibt nicht ohne Antwort der Betroffenen. Typischerweise verfestigt sich ihre Abweichung. Vorbestrafte werden rückfällig[3].

Die folgenden Ausführungen wollen versuchen, soweit empirisches Material vorliegt, die spezifischen Formen der Stigmatisierung von Straffälligen aufzuzeigen und die Verarbeitung der Stigmatisierung durch den Stigmatisierten zu skizzieren. An erster Stelle steht dabei die Betrachtung der Folgen des Strafvollzuges als einer organisierten und extremen Form von Stigmatisierung. Zwar erhalten »nur« 30 bis 40 % aller Verurteilten eine Freiheitsstrafe, ein Drittel davon auf Bewährung, doch werden immer noch jährlich 140 000 Menschen in eine Strafanstalt eingewiesen (Kerner 1973, S. 138).

Daran anschließen wird sich die Diskussion der »alltäglichen« Stigmatisierung. Sie trifft als Fortsetzung der offiziellen Strafe nicht nur ehemalige Gefängnisinsassen, sondern auch solche, deren Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde. Beide Gruppen haben sich mit Diskriminierungen auseinanderzusetzen. Um die Wahrscheinlichkeit einer wiederholten Verurteilung bestimmen zu können, muß schließlich das Verhalten von Instanzen sozialer Kontrolle betrachtet werden, die ja schon die erste Definition, den Anlaß für die Stigmatisierung, vorbereitet und durchgesetzt haben.



[1] Zur Funktion des Mehrfaktorenansatzes in der deutschen Kriminologie vgl. PeterslPeters 1972.

[2] Cohen's (1968) Kritik am Mehrfaktorenansatz trifft immer noch zu. Die bereits 1962 veröffentlichte Arbeit scheint den Autoren unbekannt zu sein.

[3] Die genaue Quote der Rückfalltäter läßt sich nicht bestimmen, da Kohortenanalysen fehlen. Schätzungen liegen bei 40-50% (Glaser 1964).

1. Konsequenzen des Strafvollzugs

Die Rückfälligkeit ehemaliger Strafgefangener wird seit der Akzeptierung des Resozialisierungszieles als Indikator für die Ineffektivität des staatlichen Kontrollsystems angesehen. Diese Kritik des Strafvollzuges ist weit verbreitet. Die Argumente zielen in der Regel zwar nur darauf, daß der »Vollzug« nicht kompensatorisch eingreife, nicht resozialisieren könne bzw. nicht fähig sei, das Sozialisationsdefizit der Insassen, die Ursache für Kriminalität, auszugleichen. Doch insgesamt werden hier immerhin bereits bestimmte Charakteristika einer Institution für das spätere Verhalten der Insassen verantwortlich gemacht.

1.1. Das Gefängnis als Vermittler »krimineller Einstellungen«

Untersuchungen zur »Gefängnissubkultur« gehen bei der Erklärung von Rückfälligkeit noch einen Schritt weiter: Das Gefängnis versagt nicht nur hinsichtlich der angeblichen Ziele des Strafvollzuges, es muß sogar als eine unmittelbare Ursache für weitere kriminelle Handlungen der Insassen angesehen werden. Da inzwischen auch in deutscher Sprache Literaturberichte und empirische Untersuchungen zur Verfügung stehen (Harbordt 1967, Hoppensack 1969, Hohmeier 1973, Treiber 1973), soll hierzu nur ein kurzer Abriß vorgelegt werden.

Die Einweisung bedeutet für einen Verurteilten nahezu totale Fremdbestimmung. Insassen von Strafanstalten werden physisch und sozial von ihren Bezugspersonen isoliert; ihnen werden bisher verfügbare Rollen entzogen; die Chancen für die Befriedigung materieller und sozialer Bedürfnisse und die physische und soziale Mobilität sind minimiert bzw. reglementiert. Wenn überhaupt, können die bis zur Verurteilung und Einweisung als Selbstverständlichkeiten erachteten Bestandteile einer sozialen Rolle nur über Wohlverhalten als jederzeit widerrufbare Privilegien zurückerworben werden. Zwangsinstitutionen wie die Strafanstalt können ihre Objekte aber offenbar nur selten so weit kontrollieren, daß sie eine amorphe, voneinander isolierte Menge von Einzelnen bleiben. Der Druck, die Probleme, die die Anstalt für sie geschaffen hat, zu lösen, läßt zwischen ihnen Interaktionsstrukturen entstehen. An diesem Punkt setzten Untersuchungen an, die die »Subkultur der Insassen« als eine Reaktion auf die Deprivationen der Institution zu erklären versuchen. Die Teilhabe an dieser Subkultur - einem System oppositioneller Verhaltensnormen und Einstellungen - ist für die Insassen ein Mittel, moralische Abwertung, Statusdegradierung und Autonomieverlust zu verarbeiten und Selbstablehnung zu vermeiden. Die damit verbundene Verinnerlichung »antisozialer Werte« und abweichender Verhaltensorientierungen trägt dazu bei, daß die Insassen wieder straffällig werden. Durch die Veränderung von Einstellungen wird kriminelles Verhalten in der Zwangsinstitution Gefängnis gelernt.

Diese soziales Lernen betonenden Untersuchungen bleiben allerdings der Auffassung verhaftet, daß es ein kriminelles Verhalten »an sich« gibt. Devianz, d.h. auch Kriminalität, entsteht jedoch aus sozialen Beziehungen und ist keine Qualität von Verhalten. Untersuchungen, die dies nicht systematisch berücksichtigen, droht das Handeln der Konformen, die Stigmatisierung und ihre Bedeutung für »sekundäre Abweichung« der Stigmatisierten aus dem Blickfeld zu geraten. Obwohl Autoren, die eine interaktionistische Devianztheorie vertreten und die Rückfälligkeit unter der Perspektive der Begriffe »sekundäre Abweichung« (Lemert 1967) oder Entwicklung einer abweichenden »Karriere« (Becker 1968; für Anstalten Goffman 1972) betrachten, dieses Problem auch nicht zureichend gelöst haben[4], wird bei ihnen der Interaktionsprozeß ungleich stärker betont und Abweichungen als Folge gesellschaftlicher Reaktionen gesehen. Diese Perspektive soll an der Goffman'schen Analyse »totaler Institutionen« und ihrer Wirkung auf die Identität von Insassen verdeutlicht werden.

1.2. Veränderung der Identität im Gefängnis

»Sekundäre Abweichung« als Reaktion auf Stigmatisierung setzt die Veränderung der Identität eines Handelnden voraus. Unter Identität ist, zumindest wenn man Goffman (1967 und 1972) folgt, nicht nur das über die Einschätzung durch Interaktionspartner vermittelte Selbstbild eines Handelnden zu verstehen, sondern auch seine Fähigkeit zur sozialen Interaktion, zu gemeinsamem Handeln. Gemeint sind die Fähigkeiten der Rollenübernahme (»Empathie«), der Distanzierung von Rollenverpflichtungen und der flexiblen Abwendung von Verhaltensnormen (»Rollendistanz«) sowie die Fähigkeit, Konflikte mit Interaktionspartnern dadurch zu lösen, daß man bereit ist, eigene Erwartungen und Bedürfnisse zurückzustellen, zeitweise darauf zu verzichten (»Ambiguitätstoleranz«). Goffman kann zeigen, daß totale Institutionen wie Gefängnisse, aber auch psychiatrische Krankenhäuser und Asyle, die Übung und Entfaltung dieser Fähigkeiten verhindern.

Rollendistanz: Die Verhaltensanforderungen an Gefangene haben - sogar im eigentlichen Sinn des Wortes - »Vollzugscharakter«. Sie müssen ohne jede Abweichung erfüllt werden. Verbindlich ist die Interpretation durch das Personal. Die Einhaltung der Normen wird intensiver überwacht als außerhalb von Anstalten. Diese Bedingungen machen Konformität unmöglich, denn Normen müssen immer von Individuen interpretiert werden, Divergenzen und Abweichungen sind gar nicht zu vermeiden. Neben dieser allgemeinen Voraussetzung muß beachtet werden, daß die Anforderungen an Gefangene vielzählig und dabei widersprüchlich sind. Die Struktur der Gefangenenrolle macht Abweichungen unausweichlich. Der Insasse wird dadurch jederzeit sanktionierbar. Dieser Widersinn erschwert für ihn die Einschätzung der Erwartungen, die »eigentlich« an ihn gestellt werden. je länger diese Unsicherheit dauert, desto eher wird seine Fähigkeit zur Rollenübernahme beeinträchtigt werden.

Bereitschaft zum Verzicht: Handeln, das auf andere bezogen ist, setzt gegenseitige Verständigung voraus. Wenn zwischen Interagierenden ein Konsensus ausgehandelt werden soll, impliziert dies Verzicht auf die volle Durchsetzung eigener Ansprüche, und zwar selbst unter den »idealen« Voraussetzungen, daß die Interaktionsbetelligten von gleichen Machtpositionen ausgehen. Diese Bereitschaft zum Verzicht wird in der soziologischen Rollentheorie mit »Ambiguitätstoleranz« bezeichnet. Im Hinblick auf die soziale Situation der Insassen muß man sich allerdings fragen, worauf sie eigentlich verzichten sollen, um zum Beispiel Konflikte mit ihren Kontrolleuren zu lösen bzw. zu vermeiden. Freiheit, positiv bewertete soziale Beziehungen und Chancen der Befriedigung relevanter Bedürfnisse wurden entzogen und können gar nicht mehr als eine Verzichtsleistung eingebracht werden. Strafgefangene haben in dieser Hinsicht keine »Verhandlungsbasis«. Sie haben sie auch gar nicht nötig. Die Agenten der Organisation treten ihnen doch nur mit Ansprüchen gegenüber, ohne Bereitschaft zur Verständigung. Ihr Ziel ist nicht Gemeinsamkeit, sondern Kontrolle. Die umfassende Fremdbestimmung begünstigt eine aggressiv-ablehnende Haltung der Insassen gegenüber den Kontrolleuren. Sie nehmen sie mehr und mehr in Stereotypen wahr. Die Möglichkeit, gemeinsam mit ihnen zu handeln, ihre Erwartungen vorwegzunehmen und das eigene Handeln schon vorab darauf einzustellen, wird durch die Institution verbaut.

Die für Kriminelle als typisch erachteten Verhaltensweisen sollten einmal unter dieser Perspektive betrachtet werden. So schreiben die sozialisationstheoretisch orientierten Autoren McCord/McCord (1964): »Der Psychopath (die typische Persönlichkeitsstruktur von Kriminellen, d. Verf.) ist asozial. Sein Verhalten bringt ihn oft in Konflikte mit der Gesellschaft. Einen Psychopathen treiben primitive Wünsche und eine übertriebene Gier nach Erregung. In seiner auf sich selbst bezogenen Suche nach Lust ignoriert er die Einschränkungen seiner Kultur. Der Psychopath ist hochimpulsiv. Er ist ein Mensch, für den der Augenblick ein von allen anderen abgetrennter Zeitabschnitt ist. Seine Handlungen sind ungeplant und von seinen Launen gesteuert. Der Psychopath ist aggressiv. Er hat nur wenige sozialisierte Weisen des Umgangs mit Frustrationen. Der Psychopath empfindet wenig oder überhaupt keine Schuld. Er kann die erschreckendsten Taten begehen und sie ohne Gewissensbisse betrachten. Der Psychopath hat eine verstümmelte Fähigkeit zu lieben. Seine emotionalen Beziehungen sind, soweit es sie gibt, dünn, fließend und nur bestimmt, seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Diese beiden letzten Züge, das Fehlen von Schuldgefühlen und von Liebe, kennzeichnen den Psychopathen so auffallend als von anderen Menschen verschieden«[5].

Eine interaktionistische Devianztheorie müßte das, was in der zitierten Konzeption als psychische, Kriminalität unmittelbar produzierende Qualität erscheint, als innere Reproduktion der sozialen Umwelt ableiten, als eine normale Reaktion auf Fremdbestimmung und Stigmatisierung. Eine wirklich stringente Ableitung gibt es aber noch nicht[6]. Wenn man sich an die Beschreibung der Interaktionsbedingungen in totalen Institutionen erinnert - Verhaltensunsicherheit der Insassen durch strukturell notwendige Abweichungen bei gleichzeitiger intensiver Kontrolle und Sanktionierung; minimale Chancen der Gefangenen, Erwartungen und Bedürfnisse durchzusetzen - wird vielleicht, wenn auch nur auf der Ebene der Plausibilität, also der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit, verständlich, warum ihre Handlungen als »ungeplant« erscheinen, sie keine »sozialisierten Weisen des Umgangs mit Frustrationen« haben, sie keine »Schuld empfinden« usw.

Aufgrund des Mangels an Theorie und empirischer Forschung läßt sich zur Zeit auch nicht sagen, bis zu welchem Grad totale Institutionen, insbesondere das Gefängnis, Identität zerstören, und welche langfristigen, also über den Zeitraum des Aufenthaltes hinausgehenden Konsequenzen daraus erwachsen. Offen ist auch, ob Kriminalität eine notwendige Folge der Zerstörung ist. Einige Hinweise auf die kriminalisierende Wirkung der Institutionen geben solche Untersuchungen, die verschiedene Sanktionsarten (Verurteilung auf Bewährung, Einweisung in eine Anstalt) und./oder Institutionen mit differierendem Zwangscharakter (Fürsorgeerziehung, Jugendstrafanstalt, Erwachsenenvollzug mit kustodialer oder resoziallsierender Orientierung) und die Rückfallquoten der jeweiligen Insassen miteinander vergleichen. Glaser (1964) sowie Hirsch, Leirer und Steinert (1973) konnten u. a. zeigen, daß Rückfälligkeit vom Grad des erfahrenen Zwanges abhängt. Rigide und repressive Interaktionen haben ihre Folgen im Verhalten derjenigen, die sie erfuhren.



[4] Eine detaillierte Diskussion dieses Mangels findet sich bei Keckeisen 1974.

[5] Zitat nach Moser 1970, S. 185.

[6] Systematischer ist die Ableitung für die Rolle des psychisch Kranken gelungen (Goffman, 1972).

2. Mobilität von Vorbestraften und Rückfälligkeit

Einweisung und Aufenthalt in einem Gefängnis können mit Garfinkel (1956) als »Statusdegradierungszeremonien« bezeichnet werden. Für manche Gruppen von Stigmatisierten gibt es zwar »Statuswiederherstellungszeremonien«; Strafgefangene gehören nicht dazu. Das Stigma dominiert weiterhin den Status. In einer ähnlichen Situation sind Verurteilte, deren Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde. Wie der Handlungsspielraum für beide außerhalb der Vollzugsanstalten eingeengt ist, zeigen die Chancen, die »Vorbestrafte« haben, sich in den Arbeitsprozeß einzugliedern.

2.1. Sicherheit des Arbeitsplatzes

Die Definition als »Krimineller« bzw. bei Jugendlichen als »Delinquenter« leitet in der Regel einen ökonomischen und damit sozialen Abstieg ein. Die Anordnung von Fürsorgeerziehung, Durchführung freiwilliger Erziehungshilfe oder die Einweisung in eine Jugendstrafanstalt bewirken bei Jugendlichen und Heranwachsenden, daß ihre Arbeitskraft noch weniger adäquat ausgebildet wird als unter ihren vorherigen Lebensbedingungen[7]. Erwachsene müssen ihre berufliche Tätigkeit, soweit sie vorhanden und nicht schon vorher ein Abstieg evident war, unterbrechen. Möglichkeiten, die ohnehin schlechte Position auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, schwinden. Die realen Folgen der Generallsierung des Stigmas »vorbestraft« auf die Beschäftigungschancen veranschaulicht ein Experiment von Schwartz und Skolnik (1962): Die Forscher konstruierten vier fiktive Fälle von Bewerbern für eine Arbeitsstelle. Die vier »Personen« bewarben sich bei je 25 Unternehmen schriftlich um eine Hilfsarbeiterstelle. Die Beschreibung, die sie in dem Brief von sich selbst gaben, Unterschied sich in lediglich einem Punkt. Ein Bewerber war wegen Körperverletzung verklagt, jedoch freigesprochen worden und er konnte eine richterliche Bestätigung seiner Unschuld vorweisen. Für den zweiten endete das Verfahren ebenfalls durch Freispruch, er legte jedoch keine Bestätigung vor. Der dritte war wegen Körperverletzung verurteilt und bestraft worden. Bei dem vierten schließlich gab es keinen Hinweis auf eine Vorstrafe. Die Antworten der insgesamt 100 Unternehmen machen deutlich, daß die Chancen, als Vorbestrafter eine Arbeitsstelle zu finden, bedeutend geringer sind als für nicht Vorbestrafte. Erhielt der »unbescholtene« Bewerber auf 25 Anfragen 9 positive Antworten, so reduzierte sich dies für den Freigesprochenen mit der richterlichen Unschuldsbestätigung auf 6 von 25, für den, der lediglich den Freispruch vorweisen konnte, auf 3 von 25. Der Verurteilte und Bestrafte erhielt eine positive Antwort auf 25 Anfragen. Von Bedeutung ist hier, daß der bloße Kontakt mit einer Kontrollinstanz, unbestätigter Verdacht also, bereits eine Diskriminierung hervorruft.

Wenn die experimentelle Anlage der Untersuchung Zweifel erwecken mag, so läßt sich der Tatbestand noch mit anderen Daten erhärten: Einer deutschen Untersuchung zur Rückfälligkeit von Jugendlichen und Heranwachsenden, deren Strafe zur Bewährung ausgesetzt war, läßt sich entnehmen, daß etwa ein Drittel durch die Verurteilung ihre Lehr- oder Arbeitsstelle verlor (Schünemann 1971, S. 225). Dies ist eine beachtliche Zahl, wenn man bedenkt, daß Jugendlichen in der Regel eher als Erwachsenen mit Toleranz begegnet wird.

Einschneidender noch ist die Einweisung in eine Strafanstalt. Hier geht die Arbeitsstelle zwangsläufig verloren. Die Beschaffung einer neuen kann sich sehr lange hinauszögern. So konnte z.B. Glaser (1964, S. 328) für die USA zeigen, daß ca. ein Drittel seiner Untersuchungspopulation von entlassenen Jugendlichen und Erwachsenen während des ersten Monats nach der Entlassung arbeitslos war, nach drei Monaten immerhin noch ein Viertel.

Gegen diese hohen Arbeitslosenquoten ehemaliger Strafgefangener mag man einwenden, daß sich insbesondere Jugendliche langfristig wieder integrieren können. Es bleibt aber die Frage zu beantworten, zu welchen Positionen sie zugelassen werden. Unterprivilegierten wird nicht nur eher das Merkmal »kriminell« zugeschrieben, sie sind auch härteren Sanktionen ausgesetzt, und sie müssen durch ihre Bestrafung mit einem weiteren Abstieg rechnen. Die bereits erwähnte Arbeit von Schänemann (1971) zeigt, daß schon bei Verurteilungen auf Bewährung der Qualifikationsgrad der erreichbaren Arbeit sinkt. Vor dem Eingriff der Instanzen waren 24 %, der Untersuchten Lehrlinge, 32 % Facharbeiter, 3 5 % ungelernte Arbeiter und 7 % arbeitslos. Während der Bewährungszeit beendeten 21 % ihre Lehre, blieben ebensoviele in ihrem erlernten Beruf tätig, doch waren nun 58 % auf eine ungelernte Tätigkeit verwiesen. Berücksichtigt man die Zahl der Arbeitslosen, waren dies 16 % mehr als vor der Verurteilung bzw. Tatfeststellung (S. 259).

2.2. Sozialer Status und Abstieg

Gerichtliche Verurteilungen ziehen nicht notwendigerweise Diskriminierungen nach sich. Das scheint vielmehr von der Schichtzugehörigkeit eines Definierten abhängig zu sein. Es kann heute ausreichend begründet werden, daß die Zuschreibung von Kriminalität nach schichtspezifischen Kriterien erfolgt. Die Unterschicht wird, vermittelt durch die Alltagstheorien der Kontrollinstanzen, diskriminiert. Sie ist andererseits nicht ausschließlich betroffen. Auch Statushöhere werden verurteilt. Sie jedoch können sich eher vor den Folgen einer Definition schützen. Hierauf weist als erstes die unterschiedliche Einschätzung von Delikten hin. Verkehrstäter z.B. brauchen kaum mit sozialer Zurückweisung zu rechnen, selbst dann nicht, wenn Straftaten wie Körperverletzung oder Tötung im Straßenverkehr vorliegen. Eigentums- und Aggressionstäter außerhalb des Straßenverkehrs dagegen müssen sehr wohl damit rechnen (Oppeln-Bronkowski 1970, Engler 1973). Das hängt weniger von Merkmalen der Delikte (z.B. Folgen für das Opfer) als vom Status des Täters ab. Die typischen Delikte von sozial Höhergestellten werden eher als »Kavaliersdelikte« bewertet und damit negative Einschätzungen des Täters vermieden. Man wird zwar öffentlich definiert, braucht aber keine Konsequenzen zu fürchten. Für ein spezifisches Delikt von Ärzten konnten dies Schwartz und Skolnik (1962) empirisch belegen. Sie prüften, welche Folgen es für einen Arzt hat, wegen falscher medizinischer Behandlung verurteilt zu werden. Im Laufe von 10 Jahren wurden in einem US-Bundesstaat etwa 70 Arzte deshalb verklagt, etwa ein Drittel davon verlor den Prozeß. Nach der Verurteilung verringerte sich aber weder ihr Einkommen noch der Umfang der Praxis, noch mußten sie einen Statusverlust in der Berufsorganisation hinnehmen. Keiner der »Verurteilten« hatte negative Konsequenzen zu tragen. Die Bewertung als Abweichender blieb für sie ohne soziale Folgen. Stigmatisierungen sind also ebensowenig wie Zuschreibungsprozesse sozial neutral. Diejenigen, die sich besser vor der Zuweisung des Status eines Straffälligen schützen können, sind auch eher in der Lage, Ressourcen zu mobilisieren, um sich vor sozialer Ausschließung zu sichern.

2.3. Sozialer Abstieg und Rückfälligkeit

Die Kriminalitätstheorien (sowohl die des »Alltags« wie die wissenschaftlichen) gaben der Variablen »gesellschaftliche Reaktion« bislang keinen Raum. Wie selbstverständlich wurde angenommen, daß Straftäter gar keine anderen Positionen einnehmen wollen oder können, da sie weder die fachlichen noch - und das wird meist stärker betont - die psychischen Qualitäten für eine Integration mitbringen. Sie wollen oder sie können nicht. Die durch die Verallgemeinerung des Stigmas »kriminell« entstehende Diskriminierung erscheint so letztlich sogar sachlich gerechtfertigt. Sicherlich haben Stigmatisierte einen anderen Erfahrungshintergrund als Nichtstigmatisierte. Ihre subjektiven Möglichkeiten, die gesellschaftliche Reaktion zu verarbeiten, sind dadurch eingeschränkt. Ob das oder die objektiven, reduzierten Handlungsmöglichkeiten die Ursache für »sekundäre Devianz« sind, oder ob beides notwendige Bedingungen sind, ist theoretisch noch ungeklärt und empirisch nicht überprüft.

Ein Hinweis auf die Bedeutung objektiver Faktoren läßt sich aus der schon mehrfach erwähnten Untersuchung von Schünemann entnehmen. Um die Effektivität der Maßnahme »Strafaussetzung auf Bewährung« zu testen, bildete er drei Probandengruppen: schwer, leicht und nicht »Gestörte«. je nach dem Grad der Desorganisation der Familie des Probanden, je nach seinem Schul- und Arbeitsverhalten, nach Verwahrlosungstendenzen, der Häufigkeit von Vermögensdelikten und Kontakten zu Kontrollinstanzen wird bei den verurteilten Jugendlichen und Heranwachsenden ein bestimmter Grad psychischer Störung angenommen und er daraufhin einer der genannten Gruppen zugeordnet. Dabei wurde nicht bedacht, ob solche Merkmale möglicherweise nur Zuweisungskriterien sind. Immerhin konnte durch dieses Vorgehen eine interessante Korrelation ermittelt werden, nämlich die zwischen Verdiensththöhe und Rückfall. Schünemann kommt zu folgendem Ergebnis: je höher der Verdienst eines Probanden, desto eher ist damit zu rechnen, daß die Bewährung positiv verläuft und auch weiter Legalverhalten gezeigt wird. Und noch wichtiger: »je weiter wir uns auf dem Weg von den niedrigeren zu den höheren Verdienstgruppen fortbewegen, desto schwächer wird der allgemeine Trend, daß die gestörten Probanden schlechter als die nicht gestörten abschneiden. Ich neige daher dazu, im Verdienst oder besser: in der darin sich manifestierenden beruflichen Eingliederung ein Störungen übersteuerndes Moment zu sehen« (1971, S. 271 f.). Eine ähnliche »übersteuernde Wirkung« konnte auch für den Schuldendruck von Probanden festgestellt werden. War ihre wirtschaftliche Lage infolge der Schulden angespannt, so versagten sie tendenziell, gleich welchen Grad der Gestörtheit sie aufwiesen. Wenn es Vorbestraften also ermöglicht wird, einen konformen, für sie befriedigenden Status einzunehmen, dann werden sie nicht rückfällig. Die gesellschaftliche Reaktion tendiert aber gerade dazu, sie zu degradieren, den Spielraum für konformes Verhalten einzuengen.

Benachteiligende soziale Lagen werden nun nicht im Sinne eines Reiz-Reaktions-Automatismus mit dem Bruch von Rechtsnormen beantwortet. Bevor der Definierte in dieser Richtung handelt, muß er zumindest auch subjektiv die Situation als diskriminierend, als relativ benachteiligend interpretieren. Die Schwierigkeiten der Interaktion mit anderen werden von Vorbestraften durchaus gesehen. Dies umso mehr, je öfter sie erfahren wurden. Mehrfach Rückfällige sind bedeutend »realistischer« als Ersttäter (Hoppensack 1969, Hobmeier 1973). Der Begriff der »relativen Deprivation«, die Situationsdefinition eines Handelnden, im Vergleich zu anderen benachteiligt zu sein, beinhaltet schon, daß die Beschränkungen der eigenen Person als nicht legitimiert angesehen werden. Wenn sich ein Vorbestrafter nun aber nicht den rigiden Anforderungen und Repressionen unterwirft, sondern versucht, die eigenen Bedürfnisse, Erwartungen und Ansprüche auch mit illegitimen Mittel durchzusetzen, wird er kriminallsiert. Die soziale Zurückweisung und das notwendige Stigmamanagement in der Interaktion mit Konformen reduzieren die Kontakte mit diesen. Ehemalige Straftäter wenden sich deshalb häufig anderen Kriminellen oder Randgruppen zu, die ihren Status als Abweichende jedoch bestärken. Die Versuche von Vorbestraften, sich gegen die Stigmatisierung zu wehren (ein Ausdruck ist etwa unstetes Arbeitsverhalten), und die Kontakte zu anderen Abweichenden »erleichtern« es den Instanzen sozialer Kontrolle, sie immer wieder zu definieren, den Stigmatisierungsprozeß erneut in Gang zu setzen und sie dadurch weiter zu deklassieren.



[7] Zu der Arbeitssituation in Heimen vgl. Wenzel 1970.

3. Die Kontrolle von Vorbestraften durch Polizei und Justiz

Auch »sekundäre Devianz«, hier Rückfälligkeit, muß von anderen definiert und als Merkmal zugeschrieben werden. Die Rekrutierungspraxis der Instanzen sozialer Kontrolle benachteiligt Vorbestrafte noch mehr als Unterschichtangehörige im allgemeinen.

Die Strategie der Polizei, unbekannte Täter zunächst unter den Vorbestraften zu suchen, macht die stärkere Kontrolle deutlich. Die selektive Beobachtung von öffentlichen Plätzen, vorbelasteten Wohngegenden, Vergnügungsvierteln oder bestimmten Delikten trifft Vorbestrafte, die ehr auf schlechte Wohnungen und Kontakte mit Randgruppen verwiesen werden, noch mehr als die anderen Unterschichtangehörigen. Auch der Stereotyp des »verdächtigen Subjekts« dürfte sie eher benachteiligen. Schließlich dürfte der Definitionsspielraum bei der Verfolgung und Weiterleitung von Tätern durch die Polizei kaum zugunsten eines Vorbestraften genutzt werden[8].

Diese Vorleistungen an Kontrolle, Ermittlung und Weiterleitung setzen sich bei der Staatsanwaltschaft fort, die, zumindest in der BRD., einen noch breiteren Definitionsspielraum als die Polizei hat[9]. Ihre Alltagstheorien wurden bisher noch nicht untersucht. Es läßt sich aber vermuten, daß die Staatsanwälte ähnlich eingestellt sind wie Richter oder zumindest deren Alltagstheorien bei der Entscheidung über eine Anklageerhebung bereits vorwegnehmen.

Zu den pragmatischen Theorien von Richtern liegt eine detaillierte Analyse von Peters (1973) vor. Sie konnte feststellen, daß das Bild, das Richter von einem Eigentumstäter haben, mit ihrem Bild vom Unterschichtangehörigen konvergiert. Der typische Kriminelle ist für sie der »Arbeitsscheue«, der »Gelegenheitsarbeiter« mit »geringen beruflichen Bindungen« und desorganisierten sozialen Beziehungen. Demjenigen, der »nicht arbeiten, aber schnell zu Geld kommen will«, und dabei »hemmungslos« vorgeht, unterstellen sie eher Motive des Vorsatzes; dadurch können sie ihm die Tat vorwerfen und ihn bestrafen. Betrachtet man den Vorwurf der »Arbeitsscheu«, der »Gelegenheitsarbeit mit geringen beruflichen Bindungen« im Kontext der tendenziellen Arbeitslosigkeit von Vorbestraften und der Tatsache, daß ihnen noch weniger als anderen Unterschichtangehörigen qualifizierte Tätigkeiten (die »Bindungen« erst entstehen lassen) zugestanden werden, sowie den Vorwurf der »desorganisierten sozialen Beziehungen« im Zusammenhang der sozialen Zurückweisung, die Stigmatisierte erfahren, so offenbart sich die gegenseitige Abhängigkeit von »Vorbestraft-Sein« und Zuweisungskriterien. Richter rechnen die Schuld für die »Lebensführung« Individuen zu und sehen sie nicht als Folge des Eingriffs von Kontrollinstanzen. Vorbestrafte werden sogar noch härter sanktioniert, ihre Unterprivilegierung dadurch verdoppelt.

Diese Praxis der Justiz ist für Kriminelle keine vereinzelte Erfahrung. Sie durchlaufen ja in der Regel einen ganzen Instanzenzug und sind verschiedenen Stigmata ausgesetzt, zum Teil über einen langen Zeitraum. So waren z.B. 90 % der Insassen einer Jugendstrafanstalt bereits vor der Straftat, die zur Einweisung führte, bei der Polizei oder dem Jugendamt aktenkundig, 8o % standen schon einmal vor einem Jugendrichter und hatten somit Kontakt zur Jugendgerichtshilfe, 40 % kannten das Erziehungsheim (Der Spiegel Nr. 4/1973). Nach der amtlichen Strafvollzugsstatistik sind ca. 85 bis 90 % der Gefängnisinsassen vorbestraft. Die Insassen einer Strafanstalt für Erwachsene hatten zu 45 % bereits eine Jugendstrafe verbüßt, 20 % waren Fürsorgezöglinge gewesen und 24 % saßen mindestens schon einmal in einer Strafanstalt ein (Hoppensack 1969, S. 32).

Die Instanzen unterscheiden sich in der Struktur ihrer Arbeit nur graduell. Analysen von Biographien und Aktenaufzeichnungen zeigen, daß Sozialarbeit und Helmerziehung ebenso wie Polizei, Justiz und Strafvollzug ihre Klienten selbst mit den Zuschreibungskriterien versorgen, die ihr Eingreifen »notwendig« machen (Bonstedt 1972, Brusten 1973). Sie arbeiten nach dem Muster der »sich selbst erfüllenden Prophetie« (Merton 1967). Der Eingriff der Instanzen schafft die Grundlage für eine unzutreffende Definition, »die ein neues Verhalten hervorruft, welches am Ende die zunächst falsche Vorstellung richtig werden läßt. Die trügerische Richtigkeit der >self-fulfilling prophecy< verewigt die Herrschaft des Irrtums. Der Voraussagende wird nämlich den tatsächlichen Ablauf der Ereignisse zum Beweis dafür heranziehen, daß er von Anfang an recht hatte. Das sind Perversitäten sozialer Logik« (Merton 1967, S. 146).

Hier ist doch einmal festzuhalten, von wem die »Perversitäten« ausgehen: von denen, die Kriminalität definieren und den Straftäter stigmatisieren. Die Definierer, vor allem die Instanzen sozialer Kontrolle, brauchen jedoch wegen dieses »Abweichung« keine Sanktionen zu befürchten. Sie läßt sich schwer nachweisen. Ihre Macht, den Wert von Verhalten und Personen zu bestimmen und soziale Teilnahmechancen zu beschneiden, ist rechtlich abgesichert und vor allem sozial anerkannt: jedermann weiß, daß Straftaten ihre Ursache im Kriminellen selbst haben. Vorstellungen von einem »Regelkreis« der Statusdegradierung und Diskriminierung von Straffälligen und Rückfälligkeit, die vertraute Ansichten über den Zusammenhang von Ursache und Wirkung problematisieren und die Legitimierungen mächtiger Ordnungsfaktoren wie Polizei, Justiz, Strafvollzug und öffentliche Erziehung anzweifeln, besitzen, solange sie lediglich an Einsicht appellieren, keine Durchsetzungsmacht. Denn die Instanzen haben keinen Grund, ihre Praxis gegenüber Stigmatisierten zu bedenken. Sie funktioniert ja. Da Kriminalität als individuell verantwortbar angesehen wird, ist der strafende Eingriff »rechtens«, von der sozialen Erfahrung der Vorbestraften kann abstrahiert werden. Genau das ist aber für die Betroffenen dieser Sanktion nicht möglich. Der öffentlichen Definition als Krimineller folgt die Reduktion sozialer Teilnahmechancen, eine soziale Lage, verbunden mit Handlungsproblemen, die bewältigt werden müssen. Daß Vorbestrafte formell zu Unrecht in die Situation der Stigmatisierung gebracht werden, kommt ihnen nicht zugute. Ihre Ohnmacht wird gegen sie gewendet. Versuche, ihren Status zu verändern, werden tendenziell diskreditiert und schließlich kriminalisiert. Die Machtdifferenz zwischen den Interaktionsbeteiligten läßt es zu, daß dem Verhalten der Unterlegenen Bedeutungen zugeschrieben werden, die den Interessen der Definierenden entsprechen. Das heißt: es werden solche Bezeichnungen aktualisiert, die den Stigmaträger sanktionierbar machen. Versuche, die Privilegien der Stigmatisierenden abzubauen, werden damit automatisch abgewehrt, die Ungleichheit bleibt erhalten, wird zusätzlich legitimiert und gefestigt. Der Versuch von Vorbestraften, ihr Recht zu wahren - die Beschränkung sozialer Teilnahmechancen wieder aufzuheben - wird als Unrecht definiert, ihre Handlungen erneut mit dem Etikett »kriminell« belegt. Sie werden betraft, wenn sie sich der Stigmatisierung widersetzen.



[8] Vgl. Feest/Blankenburg 1972.

[9] Immerhin werden nach der amtlichen Strafverfolgungsstatistik nur 1/3 der polizeilich ermittelten Täter angeklagt. Statistisches Bundesamt, Fachserie Bevölkerung und Kultur, Reihe 9, Rechtspflege 1971. Zum Handlungsspielraum der Staatsanwaltschaft zuletzt Kerner 1973, Brusten 1974.

Literatur

Becker, H. S., Outsiders, Studies in the Sociology of Deviance, New York/London 1963

Bonstedt, Ch., Organisierte Verfestigung abweichenden Verhaltens, München 1972

Brusten, M., Prozesse der Kriminalisierung. Ergebnisse einer Analyse von Jugendamtsakten, in: Otto, H. U.ISchneider, S. (Hrsg.), Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit, 2, Neuwied/Berlin 1973

ders., Polizei - Staatsanwaltschaft - Gericht, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 3,/1974

Cohen, A. K., Mehr-Faktoren-Ansätze, in: König, R.ISack, F., (Hrsg.), Kriminalsoziologie, Frankfurt 1968

Engler, G., Zum Bild des Strafrechts in der öffentlichen Meinung, Göttingen 1973

Feest, J.IBlankenburg, E., Die Definitionsmacht der Polizei, Düsseldorf 1972

Garfinkel, H., Conditions of Successful Degradation Ceremonies, in: American Journal of Sociology 1956

Glaser, D., The Effectiveness of a Prison and Parole System, Indianapolis/New York/Kansas City 1964

Goffman, E., Stigma. über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt 1967

ders., Asyle. Ober die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt 1971

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Zur Person

Geb. 1948, Diplom-Soziologin, Wissenschaftl. Mitarbeiterin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt. Arbeitsgeblete: Soziologie abweichenden Verhaltens und der Sozialarbeit, Kriminalsoziologie.

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Quelle:

Helga Cremer-Schäfer: Stigmatisierung von Vorbestraften und Rückfallkriminalität

Erschienen in: Manfred Brusten/Jürgen Hohmeier(Hrsg.), Stigmatisierung 2, Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen, Darmstadt 1975. S. 129 - 143

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 02.03.2005

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