Persönliche Assistenz - die Brücke zu einem selbstbestimmten Leben

Ein Erfahrungsbericht

Autor:in - Christine Riegler
Themenbereiche: Selbstbestimmt Leben
Textsorte: Vortrag
Releaseinfo: Vortrag im Rahmen der Fachtagung "Persönliche Assistenz als Brücke zu einem selbstbestimmten Leben", Vorarlberg 2012
Copyright: © Christine Riegler 2013

Persönliche Assistenz - die Brücke zu einem selbstbestimmten Leben

Im Rahmen einer in Vorarlberg im November 2012 abgehaltenen Fachtagung zum Thema "Persönliche Assistenz als Brücke zu einem selbstbestimmten Leben" wurde ich gebeten, aus meinen Erfahrungen als Assistenznehmerin zu berichten, also aus meinem Leben als Frau mit Behinderung, die ihren Alltag mit Unterstützung durch Persönliche Assistenz gestaltet.

Ich gebe zu, es ist mir nicht gerade leicht gefallen das Referat vorzubereiten, denn: Ich lebe seit über 10 Jahren selbstbestimmt, unterstützt durch Persönliche AssistentInnen, und in diesen Jahren habe ich in meinem Alltag mit PA so vieles erfahren, erlebt, gelernt ... mit meinen Geschichten könnte ich viel mehr als ein halbstündiges Referat füllen.

Ich wollte auch nicht nur meine persönlichen Erfahrungen als Assistenznehmerin vermitteln. Mir ist es vor allem ein Anliegen, die Bedeutung von PA für Menschen mit Unterstützungsbedarf darzulegen; für ALLE Menschen, die im Alltag auf Hilfe angewiesen sind, denn Persönliche Assistenz, Selbstbestimmung und soziale Teilhabe sind für mich untrennbar miteinander verbunden.

Persönliche Assistenz ermöglicht ein selbstbestimmtes Leben, ein Leben integriert in die Gesellschaft.

Persönliche Assistenz ist mein Schlüssel zu einem Selbstbestimmten Leben.

Warum? Wie der Name schon sagt ist diese Form der Unterstützung ganz auf meine persönlichen Bedürfnisse ausgerichtet. Ich habe ein Team von AssistentInnen, die entweder einen oder zwei fixe Tage die Woche arbeiten. Ich bespreche mit meiner jeweiligen Assistentin am Morgen den Tagesablauf. Ich erkläre ihr, was ich an diesem Tag für Termine oder Pläne habe, ob ich abends ausgehe, ins Theater oder ins Kino z.B. Dadurch hat meine Assistentin eine ungefähre Vorstellung davon, wann an diesem Tage ihre Dienstzeiten und Pausen dazwischen sind. Es gibt keine fixen, immer gleichen Arbeitszeiten untertags.

Und das ist der erste große Pluspunkt von PA: Nicht ich muss mich nach den Arbeitszeiten und zeitlichen Möglichkeiten der Helferinnen richten, sondern ich stelle Assistentinnen ein, die - mir entsprechend - flexibel arbeiten können. Wann ich abends ins Bett gehe und damit der Dienst der Assistentin endet, das entscheide ich.

Der zweite Pluspunkt von PA: Ich verstehe mich als Expertin in eigener Sache und leite daher die Assistentin selber an. Ich erkläre ihr z.B. wie sie mich heben soll - vom Bett in den Rollstuhl oder vom Rollstuhl auf die Toilette - damit es für sie und mich die geringstmögliche Belastung darstellt. Ich benötige keine für eine bestimmte Hilfe speziell ausgebildete Assistentin. Jede meiner Assistentinnen unterstützt mich beim Aufstehen und zu Bett gehen, bei der Körperpflege, im Haushalt, begleitet mich zur Arbeit usw. - die Assistentinnen decken alle Aufgaben ab, die ich ihnen übertrage, und dies erleichtert es mir wiederum den Tag flexibel zu gestalten.

Der dritte Pluspunkt von PA: ich suche mir meine Assistentinnen selber aus und führe die Bewerbungsgespräche mit Bewerberinnen, die ich über Selbstbestimmt Leben Innsbruck vermittelt bekomme. Das ist für eine gute Lebens- und Arbeitsqualität enorm wichtig. Denn die Zusammenarbeit mit meinen Assistentinnen ist sehr eng, sie kommen mir körperlich sehr nahe, sie dringen in meine Privatsphäre ein, in meinen ganz persönlichen intimen Bereich.

Wer einen so hohen Unterstützungsbedarf hat wie ich, muss selbst entscheiden können, wer die persönliche Hilfe leistet, denn sonst besteht das Risiko, in ein Abhängigkeitsverhältnis zu geraten oder entwürdigende Situationen zu erleben. Als entwürdigend empfinde ich z.B. wenn ich in Begleitung meiner Assistentin unterwegs bin und z.B. von Verkäuferinnen in Geschäften oder von Beamten auf einer Behörde übersehen werde. Das heißt, sie sprechen automatisch meine Assistentin an, obwohl feststeht, dass es hier um mich und meine Angelegenheiten geht, die zu besprechen sind. Da ist es mir sehr wichtig, jemanden an meiner Seite zu haben, der versteht, warum die Situation für mich diskriminierend ist, und entsprechend reagiert: Die Assistentin lässt sich nicht ein auf ein Gespräch mit dem Beamten oder der Verkäuferin, nimmt sich zurück und überlässt die Initiative mir.

Auch das zeichnet PA aus: Die Assistentin ist für mich persönlich da, geht darauf ein was ich ihr sage, nimmt ihre Vorstellung davon, wie eine bestimmte Tätigkeit - im Haushalt z.B. - abzulaufen hat, zurück, sie respektiert mich als Arbeitgeberin, auch wenn ich es im rechtlichen Sinne nicht bin, da die Persönlichen AssistentInnen bei Selbstbestimmt Leben Innsbruck angestellt sind.

Konkret sieht das z.B. so aus: Ich koche sehr gerne. Ich sage bewusst: ich koche, auch wenn ich nicht in der Lage bin einen Kochtopf zu heben. Aber ich habe genaue Vorstellungen davon, wie ich ein bestimmtes Gericht zubereiten würde und die Assistentin als mein verlängerter Arm bereitet dieses Gericht nach meinen genauen Anleitungen zu. Jemand anderer lässt sich vielleicht lieber bekochen und entscheidet sich daher für eine persönliche Assistentin, die gut und gerne kocht. Das ist eben auch PA, selbst zu entscheiden wann ich esse, was ich esse, wo ich esse, mit wem ich esse ...

Auch für meine momentane berufliche Tätigkeit benötige ich die Unterstützung durch PA:

Als Mitarbeiterin von Selbstbestimmt Leben IBK halte ich Schulungen für AssistenznehmerInnen und AssistentInnen ab; und ich habe immer wieder die Möglichkeit, als externe Lehrende an der Universität IBK im Bereich inklusive Pädagogik zu unterrichten. Außerdem mache ich seit einem Jahr eine Ausbildung in Psychotherapie. Die Arbeit meiner Assistentin besteht darin, mich zur Ausbildung oder zur Arbeit zu begleiten, mir dort meinen Laptop oder sonstige technische Mittel bereit zu stellen und in den Schulungspausen für mich da zu sein, mich zur Toilette zu begleiten z. B.

Das sind also Beispiele, mit denen ich vermitteln möchte, warum für mich persönlich, als Frau, die viel Unterstützung im Alltag braucht, ein Leben mit PA die einzig akzeptable Lebensform ist. Ich lebe alleine (bzw. zusammen mit meiner Hündin Alina), habe eine kleine Wohnung in IBK und verreise auch immer wieder gerne. Ich bin sehr kulturinteressiert, gehe abends gerne ins Kino, ins Theater, zu Konzerten. Das ist mein persönlicher Lebensstil und den kann ich mir verwirklichen, weil ich die Möglichkeit habe, PA in Anspruch zu nehmen. Wie gesagt, ich lebe alleine, jemand anderer hat Familie oder lebt vielleicht lieber in einer Wohngemeinschaft mit Unterstützung durch PA ... wichtig ist, Wahlfreiheit zu haben zwischen akzeptablen Alternativen - die Wahl zwischen einem Behindertenheim und einem anderen ist keine akzeptable Alternative.

Ein Team von Assistentinnen zu leiten und die Assistentinnen genau anzuleiten, die Assistenz zu organisieren, neue Assistentinnen anzulernen, bei Ausfall einer Assistentin sich darum zu kümmern, dass sie ersetzt wird ... das alles kostet natürlich Zeit und viel Energie. Ich trage die Verantwortung dafür, dass auch immer Assistenz da ist, wenn ich sie brauche, nehme die Verantwortung aber gern auf mich, weil ich auch die Freiheit habe zu entscheiden und flexibel zu planen, wie ich den Tag gestaltet haben möchte.

Würde ich mich schwer tun, immer und in allen Bereichen ganz alleine zu entscheiden, würde es mich mit der Zeit belasten, ständig erklären zu müssen, wie etwas getan oder gerichtet werden soll, dann könnte ich mir eine Person meines Vertrauens suchen, z.B. eine Assistentin, die schon länger bei mir arbeitet, die mich bei der Entscheidungsfindung unterstützten könnte. Was ich damit zum Ausdruck bringen will: Es gibt keinen Grund, jemanden das Recht auf ein Leben mit PA und das Recht auf Selbstbestimmung abzusprechen, unabhängig davon was für eine Behinderung jemand hat und unabhängig von der Stärke der Beeinträchtigung. Jedes Assistenzverhältnis ist individuell und kann ganz auf die Bedürfnisse der Assistenznehmerin abgestimmt werden. Denn - hier zitiere ich die Independent Living Bewegung: "Unabhängigkeit ist ein relatives Konzept, das jeder für sich bestimmen muss."

Und natürlich habe ich auch immer wieder mal größere oder kleinere Konflikte mit meinen Assistentinnen auszutragen. Es hat Jahre gedauert, aber inzwischen habe ich gelernt, sofort anzusprechen, wenn ich mit dem Verhalten einer Assistentin oder einer Situation nicht einverstanden bin. Umgekehrt erhoffe ich mir von meinen Assistentinnen, dass sie den Mut aufbringen zu mir zu kommen und mit mir zu reden, wenn sie an meinem Verhalten oder bei ihrer Arbeit etwas stört. Ich möchte, dass sie mich als erste Ansprechpartnerin sehen, wenn es um Dinge geht, die ihre Arbeit bei mir betreffen. Die Forderung der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung: "Nichts über uns ohne uns" gilt für mich auch im ganz privaten Alltag: Nichts über mich ohne mich.

Hier möchte ich einen Schnitt machen, meine Erzählungen über mein Leben mit PA kurz beiseite lassen und zu Zahlen und Fakten über PA in Tirol kommen:

Zahlen und Fakten

  • Wir haben zur Zeit in Tirol ca. 300 Assistenznehmerinnen und Assistenznehmer.

  • Der Großteil dieser AssistenznehmerInnen nimmt im Durchschnitt 60 Assistenz-Stunden im Monat in Anspruch.

  • Es arbeiten in ganz Tirol zur Zeit ca. 540 Assistentinnen und Assistenten, als Teilzeitangestellte oder über einen freien Dienstvertrag.

  • Bisher wurde PA vor allem an Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen vermittelt. Selbstbestimmt Leben Innsbruck hat ein Konzept erarbeitet, um PA auch Menschen mit Lernschwierigkeiten anzubieten. Dieses Konzept über PA für Menschen mit Lernschwierigkeiten wird demnächst in Tirol in die Realität umgesetzt. Ein bekanntes und erfolgreiches Modell für PA gibt es in Schweden, dort haben auch Personen mit hohem Unterstützungsbedarf und Personen mit Lernschwierigkeiten einen gesetzlichen Anspruch auf PA.

  • Die PA im Privatbereich wird vom Land Tirol finanziert. Mit Unterstützung von Selbstbestimmt Leben Innsbruck beantragt die Person, die Assistenz in Anspruch nehmen möchte, die benötigten Stunden beim zuständigen Bezirksamt. Dies geschieht über einen Rehabilitationsantrag und stellt eine Kannbestimmung im Tiroler Reha-Gesetz dar. Das heißt, wir Betroffene haben keinen Rechtsanspruch auf PA, wir bekommen keinen Bescheid, in dem uns die Stunden zugesagt werden, sondern nur eine schriftliche Mitteilung und können daher keinen Einspruch erheben, wenn uns die Stunden nicht in dem Ausmaß bewilligt werden, in dem wir sie benötigten.

  • Der Stundensatz pro Assistenzstunde beträgt zur Zeit: € 22,20 (inklusive Sozialversicherung und Verwaltungsanteil)

  • Die Assistenznehmer und Assistenznehmerinnen zahlen einen Selbstbehalt pro Std., abhängig von ihrem Einkommen und der Höhe ihres Pflegegeldes.

  • Bis vor kurzem wurden vom Land Tirol nicht mehr als 250 Stunden im Monat bewilligt, unabhängig vom tatsächlichen persönlichen Assistenzbedarf. Diese Politik der Stundendeckelung wurde im Herbst 2012 ein wenig gelockert. Zumindest ist es nun möglich um mehr als 250 Stunden Assistenz im Monat anzusuchen und man hat eine Chance, diese benötigten Mehrstunden auch bewilligt zu bekommen, vorausgesetzt man bezieht mindestens Pflegegeld der Stufe 5.

Diese Zahlen und Fakten sagen einiges aus:

  • Die hohe Zahl der Assistenznehmerinnen und Assistenznehmer zeigt den Bedarf und den Wunsch nach PA und die Notwendigkeit, diese Form der Unterstützung anbieten zu können.

  • Das Tiroler Rehabilitationsgesetz gilt seit mehr als 26 Jahren und ist dementsprechend veraltet und nicht zeitgemäß. Was wir unbedingt benötigen ist ein in ganz Österreich gültiges einheitliches Gesetz, das die bedarfsgerechte Inanspruchnahme von PA für Menschen mit allen Formen von Behinderungen gewährleistet und uns das Recht gibt, diese Form der Unterstützung in Anspruch nehmen zu können.

  • Da bei der Berechnung des Selbstbehaltes das Einkommen der Assistenznehmerin mit eingerechnet wird, haben Personen, die arbeiten und einen hohen Assistenzbedarf haben, finanzielle Nachteile.

  • Die Politik der Stundendeckelung diskriminiert Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. Wenn der tägliche Assistenzbedarf höher ist als das Höchstausmaß an Stunden, das bewilligt wird, dann muss sich die betroffene Person den höheren Hilfebedarf selbst finanzieren. Für viele Betroffene ist das auf Grund ihrer Lebenssituation und fehlendem Einkommen unmöglich. Wenn Menschen mit Behinderungen die PA nicht in dem Ausmaß bekommen, in dem sie diese benötigen, werden sie gezwungen in Pflegeeinrichtungen zu leben. Begründet wird die Begrenzung der Assistenz-Stunden immer damit, dass ab einem bestimmten Stundenausmaß PA zu viel koste.

Die Wahlfreiheit in Bezug auf Wohn- und Lebenssituation, die ein Menschenrecht darstellt und in der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen auch als solches angeführt ist, wird vollkommen außer Acht gelassen. Wo es um Menschenrechte geht, sollte das Argument zu hoher Kosten nicht im Vordergrund stehen.

Es gibt auch Studien und Forschungsberichte, die belegen, dass das Kosten-Argument sozialpolitisch kurzsichtig gedacht und falsch ist, wie z. B. den Bericht des Kontrollamtes der Stadt Wien, der aufzeigt, dass es durch PA zu einer positiven Veränderung der Lebenssituation von AssistenznehmerInnen gekommen ist. (z.B. Verbesserung der gesundheitlichen Situation, Verbesserung der beruflichen Ziele ...)

Der Kontrollamtsbericht stellt auch die Kosten der klassischen Behindertenhilfe den Kosten für PA gegenüber:

http://www.bizeps.or.at/news.php?nr=11034&suchhigh=pflegegelderg

http://www.bizeps.or.at/news.php?nr=12567&suchhigh=erg%E4nzungsleistung

Notwendig ist eine Umverteilung der Kosten, weg von Heimunterbringung hin zu einem Leben mit Persönlicher Assistenz.

Gerade dieser letzte Punkt, nämlich dass PA für Personen mit sehr hohem Unterstützungsbedarf in Tirol nicht finanziert wird, stellt auch für mich persönlich eine existenzielle Bedrohung dar. Obwohl ich in vielen Bereichen Hilfe benötige, habe ich mir meinen Alltag viele Jahre hindurch mit nur 8 Stunden persönlicher Assistenz am Tag organisiert. Das hat lange gut funktioniert, weil ich sehr gut im Organisieren und Planen bin. Da meine Behinderung aber fortschreitet, steigt auch mein Bedarf an PA.

Seit kurzem nehme ich 10 Stunden PA am Tag in Anspruch. Ich bin also einen Teil der Nacht ohne Assistenz und am Tage gebe ich meinen Assistentinnen zwischendurch für 2-3 Stunden frei. Konkret heißt das z.B.: ich muss mir genau einteilen wann ich etwas trinke und wie viel ich trinke, da ich ja nur dann auf die Toilette komme, wenn eine Assistentin bei mir ist. Dies ist übrigens ein konkretes Beispiel dafür, warum ein Leben mit bedarfsgerechter und ausreichender persönlicher Assistenz im Alltag langfristig die Gesundheit der Assistenznehmerin verbessert und Krankheitskosten senkt. Wir alle bekommen ja immer wieder von den Ärzten zu hören, wie wichtig es fürs körperliche Wohlbefinden ist, viel zu trinken.

Als ich das erste Mal um 10 Stunden PA am Tag ansuchte - das sind 300 Assistenzstunden monatlich, wurde dieser Antrag abgelehnt - das war Anfang des Jahres 2011. Ich habe damals wie in einem Tagebuch meine Sichtweise darüber festgehalten - also aufgeschrieben, was ich als Betroffene darüber denke - und möchte ein paar Zeilen aus diesen meinen privaten Aufzeichnungen in diesem Erfahrungsbericht veröffentlichen. Aus dem ganz einfachen Grunde, weil ich glaube, dass bei allen sozialpolitischen Entscheidungen, die behinderte Menschen betreffen, es wichtig und notwendig ist, sich deren Sichtweisen anzuhören.

Hier also meine Sichtweise zum Thema fehlende bedarfsgerechte Assistenz:

24.3.2011

Meine Freundin aus Berlin, ungefähr in meinem Alter, ebenfalls alleinstehend, Rollstuhlfahrerin und mit der gleichen fortschreitenden Behinderung wie ich, schrieb mir, sie müsse nun damit klar kommen, dass sie in letzter Zeit wieder körperlich schwächer werde. Dies bedeutet, dass sie bei alltäglichen Handgriffen, wie z.B. die Tasse zum Mund führen oder die Haare kämmen, nun auch die Unterstützung der Assistentin braucht. Sie hat 24 Std. Assistenz zur Verfügung. Mein erster Gedanke: das kommt wahrscheinlich auch bald auf mich zu, dass ich damit klar kommen muss, wieder die eine oder andere körperliche Fähigkeit zu verlieren. Sicher, jeder Mensch muss im Laufe seines Lebens mit dem Verlust von körperlichen Fähigkeiten und einer Zunahme an Schwäche klar kommen, der eine früher, der andere später, der eine mehr, der andere weniger. Ich weiß heute noch nicht, wie leicht oder schwer es mir fallen wird, diese neuerlichen Verluste zu akzeptieren und zu kompensieren. Aber eines weiß ich ganz genau: ich will dann nicht auch noch mit dem Problem konfrontiert werden, nicht im ausreichendem Maß Assistenz zur Verfügung zu haben.

04.04.2011

Meine Freundin hat gestern mit mir telefoniert. Sie meinte, sie hätte sehr viel zu tun, müsse eine Menge e-mails beantworten, benötige aber eine Ewigkeit fürs Abtippen einer Nachricht. Sie müsse nun ihren Assistentinnen das Tippen überlassen und ihnen den Text diktieren. Das mache sie zwar ein wenig traurig, aber dann denke sie an mich und daran, dass SIE nichts daran hindere ihren Alltag wie gewohnt fortzuführen. Sie hat mir gegenüber den Vorteil, über genügend, das heißt bedarfsgerechter Assistenz zu verfügen.

Dies ist nämlich genau der Punkt, auf den es ankommt! Die Zunahme der körperlichen Einschränkung stellt keine Behinderung der bisherigen Lebensgestaltung dar, bedeutet niemals den Verlust der Lebensführung in seiner gewohnten bisherigen Form, wenn der Bedarf an Hilfe durch persönliche Assistenz abgedeckt werden kann! Körperliche Funktionseinschränkung bedeutet für diejenigen, die es betrifft, Auseinandersetzung mit der eigenen Körperlichkeit und Akzeptanz der zunehmenden Schwäche bei gleichzeitigem Annehmen der notwendigen Hilfe. Das Zauberwort heißt DELEGIEREN! Es macht mich zur Gestalterin meines Lebens, zur Herrin meiner Lage.

Und wenn es für selbständig handelnde Menschen noch so schwer zu begreifen ist: Nicht die Selbständigkeit zeichnet die Lebensqualität aus, sondern die Selbstbestimmung.

Meinen Erfahrungsbericht möchte ich mit einem Foto beenden.

Dieses Foto habe ich in Berkeley in Kalifornien aufgenommen.

2010 hatte ich die Möglichkeit nach Berkeley zu fliegen. Das war keine private Urlaubsreise, sondern ich flog im Rahmen und im Auftrag eines Forschungsprojektes dorthin. Daher konnte ich mir zwei Reise-Assistentinnen "leisten", die sich in der Assistenz abwechselten. Die Reise, besonders auch die lange Flugstrecke hin und zurück, war dadurch für mich und für meine Assistentinnen viel weniger anstrengend.

Berkeley wird als MEKKA der Behindertenbewegung bezeichnet, in Berkeley entstand die Selbstbestimmt Leben Bewegung und dort wurde in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts das erste Zentrum für Selbstbestimmtes Leben gegründet. Die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung forderte schon vor Jahrzehnten den Paradigmenwechsel: Weg von der Fürsorge hin zur sozialen Teilhabe von behinderten Menschen.

Für mich war das, was die Behindertenbewegung in Berkeley durch ihre Arbeit erreichte, im wahrsten Sinne des Wortes fühlbar: Ich konnte mich mit meinem Rollstuhl durch Berkeley und durchs benachbarte San Francisco bewegen ohne mir ständig darüber Gedanken zu machen, wo ich wohl die nächste Rollstuhl-Toilette finde, die öffentlichen Toiletten dort sind ganz einfach barrierefrei. Ich brauchte mich nicht vorher erkundigen, ob ein bestimmter Ort, ob öffentliche Gebäude, ein Café oder öffentliche Verkehrsmittel für mich zugänglich sind, öffentliche Orte und Einrichtungen sind dort ganz einfach für alle zugänglich. Als ich aus Berkeley zurückkam musste ich mich erst einmal wieder einstellen auf die kleinen und größeren Hindernisse, die mir hier begegnen, wenn ich mich im öffentlichen Bereich bewege. Barrierefreiheit - neben PA und Selbstbestimmung eine weitere Voraussetzung für die soziale Teilhabe von Menschen mit Behinderungen.

Bei uns gibt es noch sehr viele Sondereinrichtungen, wie Sonderschulen, Behindertenheime, Sonderfahrtendienste usw. Diese Sondereinrichtungen sind stigmatisierend, weil sie uns absondern und uns zu etwas Besonderem machen. Persönliche Assistenz in Schulen, am Arbeitsplatz und im privaten Bereich hingegen ermöglicht ein Dabeisein und ein Mitgestalten am Leben in der Gemeinde.

Der Paradigmenwechsel, nämlich weg von der Fürsorge behinderter Menschen hin zur gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft, ist nicht aufzuhalten und die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen wird uns helfen - das hoffe ich zumindest sehr - diesen Paradigmenwechsel umzusetzen. Behinderte Menschen dürfen nicht einfach nur als Kostenfaktor gesehen werden, dies ist entwürdigend. Behinderte Menschen sind BürgerInnen, Arbeitnehmer- oder -geberInnen, KonsumentInnen usw.

WICHTIG - um es nochmals zu betonen - ist, dass Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen, die sie betreffen, mitentscheiden können - von Anfang an.

Quelle:

Christine Riegler: Erfahrungsbericht zur Persönlichen Assistenz.

Vortrag im Rahmen der Fachtagung "Persönliche Assistenz als Brücke zu einem selbstbestimmten Leben", Vorarlberg 2012

bidok - Volltextbibliothek: Erstveröffentlichung im Internet

Stand: 13.08.2013

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