„Wenn ich groß bin, werde ich ein Bub.“

Eine persönliche Annäherung an die Bedeutung von Autonomie im Leben einer Frau mit Behinderung

Autor:in - Gabriele Pöhacker
Themenbereiche: Geschlechterdifferenz
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: AEP Informationen 4/2015: „Nebensache Frau-Sein“. Schwerpunkt zu Mädchen und Frauen mit Behinderung, S. 4-5. AEP Informationen (4/2015)
Copyright: © Arbeitskreis Emanzipation und Partnerschaft 2015

Erstes Erinnerungsbild

Schauplatz: bürgerliche Kleinstadt, Spielplatz, 1955

Auf den Baum will sie klettern, dieser kleine Wildfang. Wie sie es sieht, dass es andere tun. Probieren will sie es. Wie die anderen auch. Das ist ihre Entscheidung. Autonom, selbstbestimmt, geboren aus purer Lebenslust. Glasklarer Wille. Bereit zur Umsetzung mit Mut und Kraft.

Es bleibt beim Ansatz des Versuches. „Lass das, du bist doch kein Bub!“, hört sie. Wie schon so oft. Sie blickt um sich, und jawohl: Es sind die Buben, die versuchen, auf die Bäume zu klettern. Die Mädchen schaukeln oder versuchen sich im Kuchenbacken. In der Sandkiste.

Das gibt zu denken.

Verwundert reift der Entschluss: „Wenn ich groß bin, werde ich ein Bub.“

Zweites Erinnerungsbild

Schauplatz: bürgerliche Kleinstadt, Direktion der Volksschule, Schuleinschreibung

Das kleine Mädchen wundert sich sehr. Hat mit der Hand über den Kopf das Ohr erreicht, gezeichnet und gemalt, und erzählt, wie sie sich freut auf die Schule. Weil es so vieles wissen möchte und lernen. Aus freier Entscheidung und Freude.

Doch die Erwachsenen blicken besorgt. Sprechen von „Sonderschule“ und Gutachten. Das Mädchen weiß ja längst, dass es da eine Behinderung gibt, aber doch nicht bei der Freude am Lernen, doch nicht beim Wissen-Wollen. Wer sollte das verstehen – um alles in der Welt.

Nachtrag: Das kleine Mädchen wurde ein Jahr später auf Grund des Gutachtens eines renommierten Wiener Kinderpsychiaters probeweise in die erste Klasse der Volksschule aufgenommen.

Drittes Erinnerungsbild

Schauplatz: Universität Wien, Hörsaal 28, Herbst 1971

Die junge Frau zum ersten Mal im Hörsaal mit den anderen Studienanfänger_innen. Studienzweig: Betriebs- und Wirtschaftsinformatik. 45 Männer, zwei Frauen. Diesmal nicht ganz aus freier Entscheidung. Psychotherapeutin wollte sie werden. Das hat sie sich ausreden lassen. Wegen ihrer Sprachbehinderung. Und weil sie - anders als alle Frauen vorher in der Familie - auf ein eigenes Einkommen angewiesen sein würde, wie alle meinen, und weil sie deshalb ihre mathematische Begabung nutzen müsse. Das hat ihr irgendwie eingeleuchtet. Niemand hat ihr direkt gesagt, „dass sie keinen Ehemann finden würde“, aber sie spürt es. Und wittert Freiheit. Hier im Hörsaal in der großen Stadt, in dieser Zeit der aufdämmernden neuen Lebensmodelle. Und spürt Kraft, ihr Leben zu gestalten, selbstbestimmt, autonom. Pfeifend verlässt sie den Raum und macht sich auf den Weg zu ihrem ersten Treffen einer Autonomen Frauengruppe. Ach ja – und ihre Behinderung kompensiert sie. Irgendwie.

Viertes Erinnerungsbild

Schauplatz: Rechenzentrum einer österreichischen Landesregierung, 1978 bis 1980

Berufseinstieg: Systemanalytikerin. Einzige Frau unter Männern. Die weigern sich ihre Programmanweisungen umzusetzen, weil sie „die Handschrift unleserlich finden“. Die Freundinnen aus der Frauenbewegung unterstützen die junge Frau im „Kampf“ um den lukrativen und interessanten Arbeitsplatz. Mit dem Schmerz, gerade noch als Frau in einer Männerdomäne erfolgreich sein zu können, nicht aber mit einer Behinderung noch dazu, mit dem ist sie allein. Es bleibt der bittere Geschmack, beruflich gescheitert zu sein, auch in den Augen der feministischen Freundinnen.

Fünftes Erinnerungsbild

Schauplatz: München, Europäisches Treffen behinderter Frauen der Selbstbestimmt Leben Bewegung, 1990?

Die Frau – nicht mehr ganz so jung und inzwischen längst Familienfrau – ist das erste Mal zusammen mit Frauen mit Behinderung. 300 behinderte Frauen aus ganz Europa erzählen von ihren Entscheidungen und Plänen. Ihrem Ringen um selbstbestimmtes Leben. Von ihrem Frau- Sein und ihrem behindert Sein und Werden, von ihren Erfolgen und ihrem Scheitern. Von ihrem Schmerz, nicht für „ganz voll genommen zu werden“ von den Frauen der Frauenbewegung. Konnten sie doch deren erklärtes Ziel größtmöglicher Autonomie niemals erreichen. Und von ihrer manchmal auftauchenden Einsamkeit in der Selbstbestimmt Leben Bewegung als Frauen.

Für die Frau geht die Sonne auf. Sie weiß: „Nun bin ich nicht mehr allein.“ Und „Es ist nicht so schwierig, weil ICH so blöd tue“. Sie fängt an, sich zu solidarisieren mit Frauen UND mit Männern und Frauen mit Behinderung UND mit allen, die auf Grund von ungerechtfertigten Machtansprüchen daran gehindert werden, ihr Leben so zu leben, wie es ihnen zusteht

Autonom und Selbstbestimmt.

Schlussbild

Schauplatz: Salzburg, zu Hause am Schreibtisch, Juli 2015

Die Frau – nun gar nicht mehr jung – denkt noch immer darüber nach, was für sie gutes Leben heißt. Was es auf sich hat mit der wirklichen „Autonomie“. Und über den Unterschied von selbstständig und selbstbestimmt. Und darüber, wer eigentlich das „Selber“ ist und warum das Glück von Autonomie abzuhängen scheint. Ob sich nicht doch heimlich hinter dem Postulat der Autonomie immer mehr die Vorstellung einer neoliberalen Wirtschaftsordnung versteckt. Für sich selbst entscheiden, für sich selbst sorgen, für sich selbst …. Obwohl, die äußerst positive Besetzung von „Autonomie“ ist ja viel älter. Sie geht zurück auf Plato und Aristoteles. Beide verbinden das Ideal des Menschen mit Selbstversorgung und dem Fehlen von Abhängigkeit von anderen. Für Aristoteles ist Autarkie oder autarkeia ein wesentlicher Bestandteil des Glücks, und beinhaltet eine fehlende Abhängigkeit von äußeren Bedingungen von Glück. Das beste menschliche Wesen wird eines sein, das von der eigenen Einsicht geleitet wird und nicht von anderen abhängig ist, was sein oder ihr Glück betrifft[1] Nun, sie wird Zeit haben, die angehende Pensionistin, noch weiter nachzusinnen. Wie das ist mit aufeinander-angewiesen Sein, und nachlassenden geistigen und körperlichen Möglichkeiten, und mit der Lust am Leben zu sein. Sich einzulassen auf Menschen und Situationen, wie sie eben kommen und gehen. Das aber neugierig, unbändig, leidenschaftlich - und vielleicht gar nicht so autonom und selbstbestimmt. Jedenfalls aber verbunden.

Die Lust auf Bäume zu klettern hat sie verloren. Aber groß ist sie geworden. Kein Bub, aber Frau. Ihre Behinderung ist ihr geblieben, versperrt noch immer manche Wege, provoziert zum Kämpfen und neu Denken und wohl auch dazu, dieses Leben zu mögen. Mit allem.

Autorin

Mag.a Gabriele PÖHACKERAktivistin der internationalen Selbstbestimmt Leben Bewegung, freiberufliche Sozialwissenschaftlerin und Lebensberaterin (Existenzanalyse), 15 Jahre lang Behinderten* beauftragte der Erzdiözese Salzburg, Mutter zweier erwachsener Söhne, lebt in der Nähe von Salzburg.

Quelle

Gabriele Pöhacker: „Wenn ich groß bin, werde ich ein Bub.“. Eine persönliche Annäherung an die Bedeutung von Autonomie im Leben einer Frau mit Behinderung. Erschienen in: AEP Informationen 4/2015: „Nebensache Frau-Sein“. Schwerpunkt zu Mädchen und Frauen mit Behinderung, S. 4-5. http://aep.at/aep-informationen/ ISSN 2072-781X

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 19.01.2016



[1] Internet Encyclopedia of Philosophy, http://www.iep.utm.edu/autonomy/#SH1a Zugriff (Stand: 7.10.2015) (Übersetzung aus dem Englischen von der Autorin)

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