Wolffgang Gschaidter - Innsbrucker Wahrzeichen

Themenbereiche: Disability Studies
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: aus: Flieger, Petra/ Schönwiese, Volker (Hg.): Das Bildnis eines behinderten Mannes. Bildkultur der Behinderung vom 16. bis ins 21. Jhd. Wissenschaftlicher Sammelband. Neu Ulm: Verlag AG SPAK 2007
Copyright: © Christian Mürner, Volker Schönwiese 2007

1 Das Bildnis Wolffgang Gschaidters

Wolffgang Gschaidter wird vom Kupferstecher Andreas Spängler (1589-nach 1669)[1] - er signiert seinen Stich unten in der Mitte des Bildnisses - auf einem prächtigen Bett liegend wiedergegeben. Gschaidters nackte, ausgezehrte, frontal gezeigte Figur und ein Bett füllen in der Höhe wie in der Breite bis auf einen kleinen dunklen Rahmen das Bildformat aus. Die Darstellung der Aufsicht ist ungewöhnlich. Sie wirkt, als ob das Bett mit Gschaidter am Kopfende hochgestellt worden wäre. Die Perspektive wird über dem verzierten Bettgestell angedeutet durch sechs kurze Bretter oder Tapetenbahnen, die sich von der Mitte her langsam immer mehr nach außen neigen. Dass die BetrachterInnen einen Standort über dem Bett einnehmen, gewissermaßen auf einer Tribüne oder Kanzel stehend, wäre eher unwahrscheinlich. Unter der oberen Verzierung des Bettgestells enthält eine Leiste folgenden Schriftzug in Großbuchstaben: . DER . KRANCKH . ODER . KRVMBE . TISCHLER . ZV . INSPRVGG .. Dadurch wird ein Teil des darüber gedruckten Flugblatttitels wiederholt. Das Bett ist mit einem hellen Leintuch bespannt, das sich links und rechts ziemlich regelmäßig in einzelne längliche Furchen legt, wodurch der Eindruck einer prall gefüllten Unterlage entsteht. Wolffgang Gschaidters Kopf ruht auf zwei dunklen übereinander liegenden Kissen. Das untere ist fast doppelt so groß wie das obere. Beide sind jeweils an den Ecken zusammengeknotet. Gschaidters Kopf ist leicht geneigt. Die Haare sind dunkel und kurz geschnitten. Die Stirn hufeisenförmig mit Runzeln. Die Nase gerade und groß. Die Augen weit geöffnet, dunkel, tiefliegend und mit Augenringen. Gschaidter blickt eher traurig, vielleicht ängstlich, ein wenig erwartungsvoll, schaut aber an den BetrachterInnen knapp vorbei. Die Wangen sind schattig. Er trägt einen kurz geschnittenen, gepflegten Bart. Der Mund ist durch die angehobene Oberlippe geöffnet, so dass man die Schneide- und Eckzähne sieht. Diese Mundstellung trägt maßgeblich zum verzagten und leidvollen Gesichtsausdruck bei. Die Schultern Gschaidters sind eingefallen. Die Achselknochen stehen hoch und stark vom Oberkörper und Brustkorb ab, an dem man die Rippen einzeln zählen kann. Unter dem Brustbein und den letzten Rippen ist der Bauch auffallend abgemagert. Brustwarze und Bauchnabel werden deutlich markiert. Die Arme sind dünn, bestehen praktisch nur aus Knochen und Haut ohne Muskeln. Der rechte Arm Gschaidters wird vom Körper weggestreckt wiedergegeben. Die rechte Hand liegt auf einem einzelnen, zusätzlichen, kleinen, an den Ecken zu Zipfeln geknoteten Tuch. Die Handknöchel stehen hoch, sie sind dünn, aber eher kurz, der Zeigefinger hat einen Auswuchs, vielleicht einen überlangen Fingernagel. Der linke Arm ist leicht angewinkelt, liegt aber nah am Körper und auf ganzer Länge auf einem Tuch. Die dünnen Beine sind angewinkelt. Die Oberschenkel liegen übereinander, vom Betrachterstandpunkt aus nach links gedreht. Zwischen ihnen ist ein grobes, eckig gefaltetes Leintuch zu erkennen, das auch das Geschlecht Gschaidters abdeckt. Die Unterschenkel liegen nebeneinander. Der eine Fuß ist mehr angewinkelt als der andere. An beiden kleinen Zehen sowie am großen Zeh eines Fußes sind nach oben gebogene Haut- oder Knorpelauswüchse oder überlange Zehennägel zu sehen. Als Unterlage haben die Füße ein kleines Extratuch. Unter den Füßen folgt die gleiche Verzierung des Bettgestells wie oben. In diese ist die Jahreszahl des Flugblattsdruckes eingekerbt: 1620. Doch zwischen . 16 . und . 20 . steht das Kürzel . DOCF .. Der Münchner Philologe Wolfgang Harms bemerkt:

"Da das Monogram DOCF (im Stich in der Mitte unten) als ‚Dominicus Custos fecit' aufzulösen ist, dürfte Spängler hier eine von seinem Innsbrucker Vorgänger Custos hinterlassene oder begonnene Arbeit benutzt haben.[2]"

Links und rechts der Jahreszahl folgt in der Verzierung die nach den ersten vier Worten unterbrochene lateinische Zeile: FAC EA QVAE MORIENS FACTA FVISSE VELIS (Der Mensch möge im Leben das tun, was er im Sterben getan zu haben wünscht). Auf der Höhe von Wolffgang Gschaidters Kopf steht links auf einer ins Bild ragenden kleinen Konsole ein Kruzifix, leicht seitwärts gerichtet. Gegenüber Gschaidters knochiger Gestalt hinterlässt der dargestellte Jesus mit Dornenkrone und Lendentuch einen eher muskulösen Eindruck. Am Fuß des Kreuzes liegt ein kleiner Totenkopf und andere Knochen. Das ganzfigurige Porträt des nackten Wolffgang Gschaidters nimmt drei Viertel des Flugblatts in Anspruch. Der Rest ist mit Schriftzeichen ergänzt. Das Bildnis dominiert optisch die Aufzeichnung zweifellos. Aber ist es ohne den Text zu verstehen?



[1] Vgl. Hochenegg, Hans: Die Tiroler Kupferstecher. Innsbruck: Wagner, 1963, S. 23ff. Hochenegg nennt den Kupferstich Wolffgang Gschaidters ein "ziemlich rohes Bild eines im Bett liegenden Mannes".

[2] Harms, Wolfgang: Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Tübingen: Niemeyer, 1985, S.467.

2 Der Text des Flugblatts zu Wolffgang Gschaidter

Das Flugblatt zu Wolffgang Gschaidter hat zuerst eine dreiteilige Überschrift in drei Schriftgrößen, wobei die mittlere die größte ist:

"Symbolum Oenipontanum, Ynßprügger Warzaichen. Das ist /

Der kranck / oder krumme Tischler zu Ynßprugg / welcher vber das fünffzehendt

Jahr in vnerhörter Schwachhait ligt / vnd noch Lebendig zusehen ist."

Unter dem Kupferstich sind zwei Texte abgedruckt. Zwei mal vier Zeilen in lateinischen Versen nebeneinander und darunter, durch einen dünnen Strich abgetrennt, ein zusammenhängender Text. Sie werden im Folgenden transkribiert und übersetzt, vollständig wiedergegeben.

Aspectas sanam malesano in corpore mentem

Sicut pes curuus, sic quoque curua manus.

An magicas artes, incantamentaqué passus,

Nescit, naturae sit vitiumuè suae.

Scit tamen affixum se per tria lustra grabato,

Atque Machaonias nil potuisse manus.

Si nunquam viuum vidisti, cerne, cadauer;

Iste quod est viuus, mortuus illud eris.

[Du siehst einen heilen Geist in einem wahnsinnigen Körper

So gekrümmt wie der Fuß, so gekrümmt sind auch die Hände.

Ist er ein Opfer magischer Künste, wurde er verzaubert?

Ist's die Natur oder sein eigener Fehler?

Doch er weiß, dass er seit fünfzehn Jahren an sein Bett gefesselt (ist).

Und die Hände der Ärzte nichts bei ihm vermögen

Wenn du einen lebenden Leichnam nie gesehen hast, schau hin!

Was er zu Lebzeiten ist, wirst du im Tode sein.]

[Übersetzung aus dem Lateinischen von Christine Lehne[3]]

Allhie wirdt dir / O Christen Mensch / ein lebendiger Tod / oder Todtlebendige / gantz vunerhörte / doch warhafftige Bildnuß noch heutiges tags allhie zu Ynßprugg bey der Kirchen der dreyen Heiligen / vor Augenligend / zum Spiegel fürgestellt / dich der allgemainen / diser Welt mühe vnd Armseligkait damit zuerinnern.

Wolffgang Gschaidter / bey nahe in 50. Jahr alt / zu gedachten Ynßprugg / hievor seines Handtwerks gewester künstlicher Tischler oder Schreiner / welcher noch seyn Ehewürthin sambt einem Sohn / vnnd zwayen Töchtern im Leben hat / ist vor Sechzehen Jaren / als Er frisch vnnd gesundt war / an einem starcken Kopff vnnd Zanwehe vnuersehens erkrancket / Alsdann nach dreyen tagen sich derselbe grosse Schmertzen inn den lincken Armb vnnd Rucken / vnnd fortan alle vnnd jede Glider seines gantzen Leibs gesetzt dieselbe solchermassen eingenommen / erkrümbt vnnd gelämbt / dass es nunmehr bey 15. gantzen Jaren aneinader kein ainiges Glüd / ausser der Augen vnd Zungen / wenigist nit moviren / bewegen / noch rüren kan: wie er dann eben von dem jenigen Beth vnd Ort / da er noch auff diese Grund ligen thuet / niemals verändert worden / auch ausser Todsgefahr (weil Er allerdings wie ein hültzen Bild erstarret) nit bewegt werden kan. Wilt du dann / O Mensch / dein Geistlichen Fürwitz üeben vnd büessen / vnd der Statt Ynßprugg Symbolum oder Warzaichen sehen / magstn es bey zeit thuen / beneben auch diesem armen Krippel ein heiligs Allmösen mitthailen / wie zuemal in gemelter newen Kirchen der dreyen Heiligen dein fernere Andacht verrichten.

Gedruckt zu Ynsprugg bey Daniel Bawr im Jahr 1620



[3] Kommentar der Übersetzerin zu Vers 1: Anspielung auf Juv 10. 356; malesanus 3: "irr, wahnsinnig" existiert schon im klassischen Latein, siehe: Ov. Met 4, 599; Hor. Ep. 1, 21, 3, Curt. 6, 119; zu Vers 2: curvus 3: "gekrümmt, gebogen", bezogen auf best. Körperteile oder den Menschen als Ganzes, siehe: Ov. Met. 3,276; Macr. Sat. 7,3,11; zu Vers 7: cadaver, -eris n.: "Leichnam" wird auch für lebende Menschen verwendet, siehe: Mart. 3,93,23; Apul. Met. 6,21; Vgl. Erasmus Adagia 2,4,3 "vivum cadaver" als Bezeichnung für einen Leprakranken"; Machaon: Arzt, Sohn des Äskulap, Feldarzt und Kämpfer vor Troja (Hom. Il. 2, 728ff); Das Adj. Machaonus 3 wird hier metonymisch für den Arztberuf gebraucht. Symbolum: Hat lt. dem Glossarium Latino-Germanicum sehr oft die Bedeutung Wahrzeichen, (Kenn)-Zeichen, was sich auch mit der Übersetzung deckt. Anmerkung: Das Latein der Neuzeit orientiert sich im Gegensatz zum Mittellatein stark an der "klassischen Sprache", wodurch sich auch der Wortgebrauch (mit einigen Erweiterungen) nicht stark von diesem unterscheidet. Quellen: Thesaurus Linguae Latinae, Leipzig 1900; Glare, Peter G. W. (Hrsg.): Oxford Latin Dictionary. Oxford. Verlag, 1988; Diefenbach, Lorenz: Glossarium Latino-Germanicum mediae et infimae aetatis. Darmstadt: Verlag, 1968 (Nachdruck der Ausgabe Frankfurt a. M. 1857); Forcellini, Egidio / Furlanetto, Giuseppe (Hrsg.): Lexikon totius Latinitatis. Padua: Verlag, 1940; Eintrag "Machaon" in: Der Neue Pauly, Stuttgart/Weimar: Metzler 1996 - 2003, Bd. 7, 622.

3 Inhaltliche Aspekte des Flugblatttextes

Der lateinische Text des Flugblatts knüpft in gewisser Weise an Juvenal (um 60 bis um 140) und den römischen Topos vom gesunden Geist im gesunden Körper (mens sana in corpore sano) an.[4] Dabei wird die Frage nach der Ursache vom "krummen" Körper gestellt. Es werden drei Möglichkeiten aufgezählt: Magie, Natur oder Fehlverhalten. Am körperlichen Zustand ließe sich auch von ärztlicher Seite nichts ändern, deshalb entspreche er der Veranschaulichung des Todes für die Lebenden, dem barocken "Memento mori" (Gedenke des Sterbens!).

Mit dieser schwerwiegenden Verknüpfung von Tod, Krankheit und Behinderung beginnt auch der deutsche Text, indem er von einem totlebendigen, aber wahrhaften Bildnis spricht. Es habe die Aufgabe eines Spiegels, der an die weltlichen Beschränkungen erinnere. Dann führt der Flugblatttext biografische Anhaltpunkte Wolffgang Gschaidters an: er sei beinahe fünfzig Jahre alt, Tischler oder Schreiner gewesen, er habe eine Frau, einen Sohn und zwei Töchter. Vor sechzehn Jahren, als er noch "frisch und gesund" war, sei er plötzlich an starken Kopf- und Zahnschmerzen erkrankt. Dieser Schmerz habe nach drei Tagen den linken Arm erfasst und sich dann über alle Glieder seines Leibes ausgebreitet und seinen Körper gekrümmt und gelähmt. Nur noch Augen und Zuge habe er bewegen können. Er liege zwar "außer Todesgefahr", aber starr wie ein "hölzernes Bild" vor der Dreiheiligen Kirche in Innsbruck. Wolle man seinen "geistlichen Fürwitz üben", also seine Neugier befriedigen, und ihn, Wolffgang Gschaidter als Innsbrucker Wahrzeichen ansehen, könne man das vor der genannten Kirche gegen eine Spende für den "armen Krüppel" tun und dann auch in der Kirche seine Andacht abhalten.

Die Leitbegriffe, auf die in den nachfolgenden Interpretationen des Flugblattes eingegangen wird, scheinen in der Verklammerung von Verallgemeinerung und Personifizierung, in der Kombination von Symbolisierung und Konkretisierung, zu bestehen. Den BetrachterInnen wird die Authentizität der Darstellung durch das Spiegelbild versichert, es zugleich aber in didaktische Distanz gerückt und ein Ablass gewährt. Gschaidters Schmerzen sind konkret, die Neugier aber allgemein. Der "arme Krüppel" wird generell ans Mitleid gebunden, damit seinen Lebensumständen ferngerückt. Die Worte, mit denen Gschaidters gesundheitlicher Zustand charakterisiert wird - krank, krumm, gelähmt - fallen in dem überkommenen Wahrnehmungs- und Erklärungsmuster "armer Krüppel" zusammen. Denn unter "Krüppel" versteht man seit dem 16. Jahrhundert eine Person, "die krumm und lahm ist", jemanden, der "seine vollen Glieder nicht hat oder doch ihres vollen Gebrauchs mangelt, sei es von Natur oder durch Lähmung oder Wunden".[5] Das Wort "Krüppel" wurde in Zusammenhang mit "kriechen" gebracht. Es soll die Art zum Ausdruck bringen, wie ein Mensch sich bewegt und auf entsprechende, gelähmte Gliedmaßen verweisen. Die Verwendung des Begriffs folgt von Anfang an einer geringschätzigen Einstellung und wird mit dem Teufel, dem Besessenen, dem Bettler und dem Narren verknüpft. Der Augsburger Kaufmann Lucas Rem schreibt 1536 in seinem Tagebuch, dass sein "fuos gantz lam und kripel" sei. Er meint widrige Reisebeschwerden, die er mit Bädern zu kurieren gedenkt.[6] Die Redewendung vom "armen Krüppel" lässt sich als mimetisches Muster, als Projektionsfläche für negative Vorstellungen deuten. Der Mitleidsappell, der mitleidige Blick auf Gschaidter und sein Flugblattbildnis, verknüpft den "armen Krüppel" mit dem im Flugblatt zu Beginn genannten "Totlebendigen" und stellt ihn somit als "belangloses Leben" dar, als ein Leben, das zur Last falle und nur in der "barmherzigen" Funktionalisierung gebilligt werden könne.

Die zahlreichen und vielfältigen Flugblätter aus der frühe Neuzeit speziell mit Darstellungen von behinderten Kindern und Erwachsenen werden bisher kaum unter den sozialen Gesichtspunkten der Behinderung und der Perspektive von behinderten Menschen untersucht, dargestellt und gewürdigt. Das lässt sich als Versäumnis kulturgeschichtlicher Analysen bezeichnen.

Nicht so selten wie die Darstellung des Porträts in Aufsicht[7] ist die Aufteilung in lateinische Verse und einen deutschen Text in Prosa. Diese Zweisprachigkeit kommt auch in anderen Flugblättern vor. In der neueren Forschung[8] werden die Flugblätter der frühen Neuzeit nicht mehr der alleinigen Befriedigung der Neugier des Volkes zugeschrieben, wozu das Flugblatt zu Wolffgang Gschaidter am Schluss verleiten will (Geistlichen Fürwitz üeben). Man zählt die Flugblätter als erstes Massenmedium nicht mehr nur zur popularisierenden Sensationspresse als Vorläufer der Zeitungen und der heutigen Boulevardblätter, sondern das Interesse an ihnen wird durch alle sozialen Schichten hindurch lokalisiert, was beispielsweise die lateinischen Verse belegen. Selbst den deutschen Text konnten im 16. und 17. Jahrhundert nur wenige lesen, was die Bedeutung und Macht des Kupferstichs und Porträts Wolffgang Gschaidters beträchtlich erhöht. Wurde aus ihm tatsächlich das gefolgert, was der Text in seiner theologischen, sozialpolitischen und pädagogischen Intention beabsichtigte? Ist das Bildnis Gschaidters eigenständig oder sollte es nur dafür motivieren, den Text zu lesen, zu verstehen oder erzählt zu bekommen und dessen Handlungsanweisungen nachzuvollziehen? Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Wolffgang Gschaidter nicht mehr oder weniger so ausgesehen hat, wie der Kupferstich Spänglers ihn wiedergibt. Es ist ein persönliches, das Besondere betonende Porträt. Die Hauptaspekte der Darstellung liegen in einer realistischen, authentischen Dokumentation. Sicherlich sind sie auch künstlerisch stilisiert, so folgt die Rahmung durchaus konventionellen Mustern. Dass Gschaidter seine Gliedmaßen kaum selbst bewegen konnte, glaubt man dem Bildnis ohne Weiteres. Im Text neu ist die Bemerkung zu den aktiven Augen und der regsamen Zunge. Heißt der Hinweis auf die Zunge, dass Gschaidter gut sprechen und essen konnte? Unterhielt er sich mit den Leuten, die ihn der Aufforderung des Flugblatts gemäß besuchten und betrachten kamen? Was empfand er dabei? Das Flugblatt enthält keine Angaben zur Rolle und Verhaltensweise der BetrachterInnen, denn es war wahrscheinlich eher als Ankündigungsblatt oder als eine Art Programmheft gedacht. Das Verhältnis von Gschaidter zu seinen BetrachterInnen bleibt implizit.



[4] Vgl. Mürner, Christian: Philosophische Bedrohungen, Frankfurt a. M.: Lang, 1996, S. 74ff.

[5] Der digitale Grimm. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins, 2005.

[6] Greiff, B. (Hrsg.):Tagebuch des Lucas Rem aus den Jahren 1494-1541. Augsburg: Hartmann, 1861, S. 28.

[7] Ein formal vergleichbares Flugblatt, das in Straßburg 1606 erschien, zeigt an der Brust und am Kopf zusammengewachsene, siamesische Zwillinge, die eine Frau eines Schreiners geboren habe, vgl. Ewinkel, Irene: De monstris. Deutung und Funktion von Wundergeburten auf Flugblättern im Deutschland des 16. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer, 1995, S. 338.

[8] Vgl. Harms, Wolfgang; Schilling, Michael (Hrsg.): Die Wickiana I. Tübingen: Niemeyer,1 2005; Vgl. Manuelshagen, Franz: Illustrierte Chronik des Wunderbaren. In: Neue Zürcher Zeitung, 6.4.2006, S. 45; Vgl. Harms, Wolfgang; Messerli, Alfred (Hrsg.): Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450-1700). Basel: Schwabe, 2002; Vgl. Ewinkel, Irene: De monstris. Deutung und Funktion von Wundergeburten auf Flugblättern im Deutschland des 16. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer, 1995; Vgl. Hagner, Michael: Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. Göttingen: Wallstein, 1995.

4 Rezeptionsweisen

Der Augsburger Patrizier, Kunsthändler und Kunstsammler Philipp Hainhofer (1578-1647) kannte das Flugblatt.[9] Er ordnet es ein in Beziehung zu einer anderen Person, die er auf der Reise nach Stettin 1617 traf. Dieser andere, siebenunddreißigjährige Kranke, könne von sich wie Wolffgang Gschaidter sagen, Hominem non habeo.[10] Dieser lateinische Leitspruch ("Ich habe keinen Menschen, der mir hilft") bezieht sich auf die Bibelstelle Johannes 5, in der die Heilung eines Kranken am Teich Betesda, an dem viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte lagern, berichtet. Es war aber dort ein Mensch, der lag achtunddreißig Jahre krank. Als Jesus den liegen sah und vernahm, dass er schon so lange gelegen hatte, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich an den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steiegt ein anderer vor mir hinein. Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!. Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin. Hainhofer hat später, 1628, auch die Kunstkammer Ferdinand II besucht. Dies kann als Beleg für die heute mehr in den Blick kommende Beziehung von Flugblattsammlung und Kunstkammer begriffen werden. Damit wird die Unterscheidung zwischen "volksnahem" und "adligem" Medienumgang, zwischen billigem Kupferstich und vornehmer Malerei, relativiert. Diese neue Bedeutung der Massenkunst wirft auch ein Licht auf die heutigen Spendenkampagnen, die künstlerisch ambitionierte Werbung machen (siehe zum Beispiel in Deutschland "Aktion Mensch", in der Schweiz "Pro Infirmis", in Österreich "Licht ins Dunkel") Hainhofer schreibt an einer Stelle seines Innsbrucker Reiseberichts: Alhier zu Ynßprugg, hat man mir aines Achzehn Jahr lang kranckh gelegenen Küstlers hauß gezaiget, dem Ich offt von Augspurg Allmuesen hinein geschükht habe ..."[11] Da Hainhofer mit Kunstschränken handelte, wäre es durchaus vorstellbar, dass er mit einem künstlichen Tischler oder Schreiner wie Gschaidter und dessen Familie Kontakt hatte, aber die Jahreszahlen stimmen nicht überein. Hervorzuheben ist jedoch, dass Hainhofer Zuwendungen von Augsburg nach Innsbruck geschickt hat. Hat er dies aufgrund des Leitmotivs des Flugblattes getan?

Weitere Quellen geben an, wie solche Flugblätter im 16. und 17. Jahrhundert auf- und wahrgenommen wurden oder verbreitet waren. Es gibt Tagebücher bzw. Chroniken, in denen sich Nachzeichnungen von Flugblattbildnissen finden.[12] Durch die umfassende zeitgenössische Sammlung des Zürcher Pfarrers Johann Jakob Wick (1522-1588), in der zahlreiche Flugblätter von behinderten Personen, die oft namentlich (wie Gschaidter) vorgestellt werden, berichten, wird die Tendenz ihrer Ausrichtung deutlich.[13] Die Flugblätter betonen, dass sie authentisch und wahrhaftig informieren. Gleichzeitig aber verfügen sie über die Deutungshoheit des Geschehens oder der Person. Sie enthalten einen direkten Appell an die BetrachterInnen und LeserInnen. Es geht um eine Generalisierung der existenziellen Situation einer Person für die anderen, das anonyme, aufzuklärende Publikum: Im Flugblatt mit der behinderten Person zeige sich der Zorn Gottes, die religiösen Meinungsverschiedenheiten, die mangelnde Barmherzigkeit, die Sündhaftigkeit, die fehlende Demut, die bevorstehende Apokalypse. Doch kann der mediale Einsatz der Flugblätter nicht in einer eindimensionalen Inszenierung von der religiösen Unheilverkündigung zur wissenschaftlichen Untersuchung gesehen werden, sondern besteht aus "drei verschiedenen Komplexen aus Interpretationen und damit verbundenen Emotionen - Grauen, Vergnügen und Widerwillen".[14]

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erscheint das Flugblatt in der ersten, legendären Sammlung und Darstellung von Flugblättern bzw. Einblattdrucken vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, durch den Berliner Medizinhistorikers Eugen Holländer.[15] Sein Buch hat den Titel "Wunder, Wundergeburt und Wundergestalt", erschien 1921, und druckt das Flugblatt Wolffgang Gschaidters im Kapitel "Die Missgeburt als Schauobjekt" ab. Holländer schreibt:

"Das Flugblatt, welches den unglücklichen Skelettmenschen mit seinen kontrakten Gliedern zeigt, stammt aus dem Jahre 1620. Das Tiroler Flugblatt bezeichnet diesen kranken Tischler geradezu als "Warzaichen und Symbol" der Stadt und fordert den Leser zum Besuch der Kirche auf." (Holländer 1921, 142)

Holländer ordnete die Flugblätter mit Nachdruck der Kultur- und nicht der Medizingeschichte zu.Der Katalog zum Jubiläum 800 Jahre Innsbruck, "Barock in Innsbruck", 1980, veröffentlicht das Flugblatt zu Wolffgang Gschaidter im Kapitel "Seuchen und Medizin".[16] Dabei wird die 1612/13 errichtete Dreiheiligenkirche ebenso erwähnt wie das benachbarte Seuchenspital, in dem Gschaidter offenbar gepflegt wurde. Als Porträt erscheint Gschaidter in diesem Katalog neben dem Innsbrucker Pestarzt Dr. Paul Weinhart der Ältere (1570-1648). In Bezug auf die Dokumente in diesem Katalog schreibt Wolfgang Harms:

"Das Blatt ist ein frühes Zeugnis der Innsbrucker Publizistik und ist eines der ersten illustrierten Flugblätter Tirols überhaupt. Der Drucker Daniel Paur ist der dritte Besitzer der ersten, 1554 gegründeten Innsbrucker Druckerei; zuvor bezog man Zeitungen und verwandte Publikationen in Innsbruck vorwiegend aus Augsburg. Vor 1620 waren in Innsbruck Kupferstecher nur am Hof tätig, so z. B. Dominicus Custos aus Antwerpen (in Innsbruck 1582-1593) und Johannes Schmischek (Schmischetzky) aus Prag (um 1600/05). Bei letzterem lernte der Stecher des Blattes, Andreas Spängler, sein Handwerk; dieser erste Tiroler Stecher Innsbrucks war vielseitig tätig."[17]

Flugblätter wurden im 16. und 17. Jahrhundert vor allem auf dem Jahrmarkt mit Bauchladen verkauft. Ein Flugblatt kostete zwischen zwei und vier Kreuzer, was einem Stundenlohn eines Maurers entsprach.[18] Der Druck oder die Verbreitung eines Flugblatts konnte auch verboten werden, so untersagte der Nürnberger Rat 1549 dem Briefmaler und Buchdrucker Stefan Hamer den Druck eines Flugblattes mit einem abscheulich ding, wahrscheinlich einem behinderten Kind. Es ist unklar, ob Schwangere vor dem so genannten Versehen geschützt werden sollten oder ob man ästhetische Mängel beanstandete.[19]

Der Zürcher Kunsthistoriker Adolf Reinle[20] reproduziert den Tischler Wolffgang Gschaidter in seinem Buch "Das stellvertretende Bildnis" 1984 im Kapitel "Das autonome Bildnis", am Schluss des Abschnitts "Curiosa: Riesen, Zwerge, Narren und andere seltsame Menschen". Reinle nennt es ein mitleiderweckendes Bild eines Mannes mit spektakulärer Krankheit, das diese aber in realistischer Weise schildere. Die lateinischen Verse bezeichnet er als Klagegedicht, den deutschen Text neutral als einen Bericht über die plötzliche Erkrankung Wolffgang Gschaidters.

Die aktuellste und exakteste Kommentierung stammt von Wolfgang Harms.[21] Sie lautet im zentralen Abschnitt wie folgt:

"Das Bild eine völlig abgemagerten Kranken erinnert den Betrachter an die Nichtigkeit menschlichen Lebens und bereitet die Bitte um ein Almosen für den Kranken vor. ... Die Innsbrucker Dreiheiligenkirche war erst wenige Jahre vor dem Erscheinen des Blattes 1613 errichtet worden, womit ein Gelöbnis der Stadt bei einer Bitte um Befreiung von der Pest im Jahre 1611/12 eingelöst wurde. Entsprechend sind die drei Heiligen, denen die Kirche geweiht ist, Rochus, Sebastian und Pirmin, als Retter von Pestkranken bekannt. Eine nähere Verbindung zwischen der Krankheit dieses Tischlers und der Kirche, vor der er auf seinem Lager zu sehen ist, ist nicht erkennbar. Man kann vermuten, dass der Kranke aus dem neben der Kirche liegenden allgemeinen Seuchenspital zur Kirche getragen worden ist und dass das ungewöhnliche Krankheitsbild der Anlass war, ihn als mahnendes exemplum dem Publikum vor Augen zu führen. Der auf ‚unerhörte' Weise kranke Mensch wird im Flugblatt ähnlich wie ‚unerhörte' mirabilia aus anderen Reichen der Natur als nachweisliche Realität vor Augen geführt, damit anschließend durch Exegese, Kommentar oder bloße Frage die Lehre vermittelt werden kann, die der erregte oder aufgeschreckte Betrachter erwartet. In dieser Hinsicht bleibt das Blatt zurückhaltend; das Bild, als Spiegel verstanden, soll Einsicht in die Endlichkeit des menschlichen Lebens geben und damit zur Bußfertigkeit anhalten; der Sonderfall in der Natur soll den Zugang zu einer allgemeinen Einsicht ermöglichen. ... Der gekrümmte leidende Kranke unterm leidenden Christus am Kreuz soll im Diesseits den Blick auf das Jenseits lenken. Moralisch-religiöse Aufgaben des Blattes dürften also mitbeabsichtigt sein. Und dennoch ist das Blatt in seiner äußerlichen Funktion einem Schaustellerblatt vergleichbar: Bild und Text locken dazu, unmittelbar Zeuge des ‚Unerhörten' zu werden. Es ist ungewöhnlich, dass auf diese Weise eine Privatperson Gegenstand eines Flugblattes wird; ähnliche Lehren oder Warnungen werden sonst eher an monströsen Erscheinungen der Natur exemplifiziert. Während die Lokalforschung in dem Dargestellten einen Gichtkranken erkennen wollte, kommt die moderne medizinische Diagnose zu einem anderen Ergebnis: Danach handelt es sich wohl um eine hohe Halsmarkschädigung mit einer Querschnittslähmung, z. B. durch Verletzung, Blutung oder entzündlichen Prozess. Unterhalb dieser Ebene liegt eine komplette Lähmung vor, während die Innervation des Kopfbereichs erhalten geblieben zu sein scheint."

Bemerkenswert ist vor allem, dass der Philologe sich auf eine medizinische Diagnose einlässt und diese in einem Vergleich (Gicht - Querschnittslähmung) abwägt. Dabei wird aber der Befund nicht mit der im Flugblatt geäußerten Befindlichkeit verbunden: Wie erklären sich dann Gschaidters plötzliche Kopf- und Zahnschmerzen? Darüber hinaus wird die Position der BetrachterInnen und BegutachterInnen nicht in die Interpretation miteinbezogen, was kulturanalytisch von Bedeutung wäre. Eine Blickdiagnose ist kulturgeschichtlich gebunden, sie mag medizingeschichtlich eine beachtliche Bedeutung haben,[22] wenn sie aber die existenzielle Lebenslage der Dargestellten dominiert, geht sie über die persönliche Ausdrucksweise, Erfahrung und Kompetenz hinweg.



[9] Vgl. Boström, Hans-Olof: Philipp Heinhofer: Seine Kunstkammer und seine Kunstschränke. In: Grote, Andreas: Macrocosmos in Microcosmo. Opladen: Leske+Budrich, 1994, S. 555ff.

[10] Harms, Wolfgang: Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Tübingen: Niemeyer, 1985, S.467: Harms fährt fort: "ihm gegenüber solle dann Christus als Schmerzensmann, aus dessen Seite dann das Blut auf den Kranken hinabspringe, stehen und sagen Ecce Homo. An dieser Stelle fügt Hainhofer ein Exemplar dieses Blattes [gemeint ist das Flugblatt mit Wolffgang Gschaidter] ein." Da das Flugblatt erst 1620 gedruckt wurde, hat Hainhofer es nachträglich eingefügt.

[11] Doering, Oscar: Des Augsburger Patriciers Philipp Hainhofer Reisen nach Innsbruck und Dresden. Wien: Graeser, 1901, S. 92.

[12] Vgl. Schilling, Michael: Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Tübingen: Niemeyer, 1990, S. 456.

[13] Vgl. Mürner, Christian: Medien- und Kulturgeschichte behinderter Menschen. Weinheim: Beltz, 2003, S. 19ff.

[14] Daston, Lorraine; Park, Katharine: Wunder und die Ordnung der Natur. Berlin: Eichborn, 2002, S. 208.

[15] Holländer, Eugen: "Wunder, Wundergeburt und Wundergestalt". Stuttgart; Enke, 1921, S. 143.

[16] Barock in Innsbruck, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum Innsbruck, 1980, S. 50f.

[17] Harms, Wolfgang: Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Tübingen: Niemeyer, 1985, S.467.

[18] Vgl. Schilling, Michael: Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Tübingen: Niemeyer, 1990, S. 40f.

[19] Harms, Wolfgang: Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Tübingen: Niemeyer, 1985, S.XIX.

[20] Reinle, Adolf: Das stellvertretende Bildnis. Zürich: Artemis, 1984, S. 178f.

[21] Harms, Wolfgang: Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Tübingen: Niemeyer, 1985, S.467f.

[22] Vgl. Schilling, Michael: Flugblatt und Krise in der Frühen Neuzeit. In: Harms, Wolfgang; Messerli, Alfred (Hrsg.): Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450-1700). Basel: Schwabe, 2002, S. 54.

5 Interpretationen

Zusammenfassend sollen nochmals mehrere Aspekte einer möglichen Bildinterpretation herausgehoben werden. Sie können mit heutigen Darstellungsformen behinderter Menschen in Massenmedien und deren Kritik verbunden werden:

  • Projektive Funktion: Aufruf beim Anblick des behinderten Mannes über sich selbst nachzudenken - insbesondere über den eigenen Tod: Projektive Funktionalisierung behinderter Menschen, ohne dass die Eigensicht behinderter Personen in irgendeiner Weise deutlich wird

  • Massenmediale Verbreitung: Verwendung eines Massenmediums mit Bild und Schrift um weiträumig und über alle Standesgrenzen hinaus wirksam zu werden

  • Dramatisierende Inszenierung: Z.B. Argumentation mit einer Trennung von Körper und Geist als massen-mediale Strategie zur Erhöhung der Dramatik ("Du siehst einen heilen Geist in einem wahnsinnigen Körper")

  • Geld-Spenden ("Almosen") als individualisierend-entlastende Handlungsstrategie: Aufruf dem behinderten Mann Geld zu spenden; ein Beispiel wie der durch die Reformation zurückgedrängte Ablass in neuer und komplexerer Form fortgeführt und funktionalisiert wird

  • Institutionelle Funktion: Institutionelle Interessen der beteiligten Institutionen Klinik (Seuchenspital und Siechenhaus) und Kirche: Finanzierung und öffentliche Legitimierung von Institutionen über Spenden

  • Politische Funktion: Verwendung des Flugblattes im Rahmen einer allgemeinen gegenreformatorischen und politischen Propaganda: gegenreformatorische Mission

  • Etablierung eines alltagswirksamen Topos: Verwendung und versuchte massenmediale Etablierung des Topos "armer Krüppel" als Kürzel für diesen gesamten Zusammenhang

Damit ist dieses Flugblatt wahrscheinlich ein erstes Zeugnis von Spendenkampagnen, wie wir sie in der aufgezeigten Struktur bis heute kennen. Sie haben einen bedeutsamen Platz in der Produktion von Blicken auf behinderte Menschen und werden von der internationalen Selbstbestimmt Leben Bewegung wegen ihrer ideologischen Funktion heftig bekämpft (vgl. die Konflikte in den USA um die "telethons"[23], die Konflikte in Österreich um "Licht ins Dunkel", die teilweise Lösung des Konflikts in Deutschland durch die Ablösung der "Aktion Sorgenkind" durch die "Aktion Mensch"). Der Grundkonflikt zwischen Selbst- oder Fremdpräsentation bzw. die bis heute ungebrochene Macht der Fremdpräsentation lässt sich anhand der Darstellung von Wolffgang Gschaidter als "Innsbrucker Wahrzeichen" exemplarisch verdeutlichen.

Quelle:

Christian Mürner, Volker Schönwiese:Wolffgang Gschaidter - Innsbrucker Wahrzeichen

Aus: Flieger, Petra/ Schönwiese, Volker (Hg.): Das Bildnis eines behinderten Mannes. Bildkultur der Behinderung vom 16. bis ins 21. Jhd. Wissenschaftlicher Sammelband. Neu Ulm: Verlag AG SPAK 2007

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 06.12.2011



[23] Vgl. z.B. die Kritik in dem Film: Vital Signs: Crip Culture Talks Back. Video by Sharon Snyder & David Mitchell, Ann Arbor, May 1995

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