Jenseits von PISA

Lernen als Entdeckungsreise

Autor:in - Christel Manske
Themenbereiche: Rezension
Schlagwörter: Entwicklung, Schule, Didaktik, Lernen
Textsorte: Rezension
Copyright: © Christel Manske 2008

Titelseite:

Buchinformationen:

AutorIn/Hrsg.: Christel Manske

Titel: Jenseits von PISA. Lernen als Entdeckungsreise

Infos: Eigenverlag 2008, Hamburg, 269 Seiten

Themenbereich: Schule

Kurzbeschreibung:

Buchbesprechung von Manfred Jödecke

"Findet die Stellen im Buch, mit denen ihr etwas anfangen könnt. Wir lesen und schreiben nicht mehr in der herkömmlichen Weise. Es gibt keinen Tod des Buches, sondern eine neue Art des Lesens. In einem Buch gibt's nichts zu verstehen, aber viel, womit man etwas anfangen kann. Ein Buch muss mit etwas anderem eine Maschine bilden, es muss ein kleines Werkzeug für ein Außen sein. Keine Repräsentation der Welt, auch keine Welt als Bedeutungsstruktur. Das Buch ist kein Wurzel- Baum, sondern Teil eines Rhizoms; Plateau eines Rhizoms für den Leser, zu dem es passt. Die Kombinationen, Permutationen und Gebrauchsweisen sind dem Buch nie immanent, sondern hängen von seinen Verbindungen mit diesem oder jenem Außen ab. Jawohl, nehmt was ihr wollt!"

(Aus: Gilles Deleuze/ Felix Guattari, Rhizom, Merve Verlag Berlin, S.40)

Alle Kinder sollen geistig wachsen, zu dem werden können, was sie ihrem Wesen nach sind. Damit dies gelingt, brauchen sie eine adäquate soziale und pädagogische Umgebung, die eine Vorstellung, ja einen Begriff von dem hat, was aus jedem einzelnen Kinde werden könnte. Eine adäquate pädagogische Umgebung entwickelt sich in einem handelnden Unterricht, der die Kinder mit ihren Bedürfnissen, Motivationen und Befindlichkeiten wahrnimmt und in den Mittelpunkt des Geschehens rückt. Nur so finden sie heraus, was ihnen wichtig ist und was sie gut können. Eine adäquate pädagogische Umgebung schafft Raum für individuelle persönliche Entwicklung.

Die Praxis von Frau Dr. Christel Manske ist so beschaffen, dass sie zu spannenden Entdeckungsreisen einlädt, eine Fülle von Möglichkeiten bereit hält: Spiele, (materielle und materialisierte) Gegenstände, Symbole und Zeichen, vor allem aber interessierten Reiseführer und Begleiter, die gespannt darauf sind, was die Kinder schon alles erfahren und gelernt haben, die aber auch verstehen und aushalten können, was die Kinder an Frustrationen und Verzweiflung im Einzelfall mitbringen. Alle Verhaltensweisen werden akzeptiert, oder besser die Kinder in ihrer Differenz (vgl. etwa die Dekonstruktion der begriffe "Down", "Autist", ADHS- Kind") anerkannt:

  • Auf welcher Stufe ihrer Entwicklung fühlen sich die Kinder wohl, können sie mit sich und mit anderen etwas anfangen?

  • Was macht sie handlungs- und entwicklungsfähig?

  • Befindet sich das Kind in einer Wachstumskrise oder zeigt es Symptome einer Stagnation, einer isolierenden Situation; steckt es in einer Sackgasse, aus der es nicht herausfindet, in chaotischen Verhältnissen, die es zu ordnen versucht?

Die Autorin und ihr Team entwickeln das, was Martin Buber "Realfantasie" genannt hat. Immer wieder fragen sie sich: Was könnte aus dem Kind werden? Was sind seine inneren Tendenzen?

Christel Manske macht den Pädagogen Mut, sich des Machtpotenzials ihrer Lehrerrolle bewusst zu werden und sich konsequent auf die Seite der Kinder und Jugendlichen zu stellen, Nur so kann die "Kultur des Schweigens", von der Paolo Freire in seiner "Pädagogik der Unterdrückten" geschrieben hatte, überwunden werden. Lehrer, die den Dialog kultivieren, sind an den Fragen der Kinder interessiert, sie erwarten keine Antworten auf vorformulierte Fragen. Pädagogen werden ermutigt, mit den Kindern auf eine Entdeckungsreise mit unbekanntem Ziel zu gehen. Sie führen die Kinder, ganz im Sinne Hartmut von Hentig's, an die Gegenstände des Lernens heran. Sie agieren als Reiseführer. Selbst wenn es sich um eine Abenteuerreise mit ungewissem Ausgang handelt, so sind sie doch reisekundig und reiseerfahren. Sie wissen Möglichkeiten und Risiken der Reise einzuschätzen. Ihr Ziel ist es, dass sich die Kinder auf der Reise zurechtfinden, nicht überfordert werden und selbstbewusst in der unbekannten Gesellschaft ankommen, in der sie leben. Und diese Gesellschaft ist immerhin die Weltgesellschaft. Mut, Zuversicht, Angstfreiheit und Entdeckerfreude entstehen bekanntlich auch dadurch, dass das Kind einen Reisekundigen an seiner Seite weiß, an den es sich bei Schwierigkeiten oder im Konfliktfalle wenden kann.

Kinder sollen das Staunen, das Wundern über die Schätze dieser Welt nicht verlernen. Sie sollen wie "Sophie" Philosophen bleiben oder wieder zu solchen werden. Der adäquate handelnde Unterricht schafft eine Atmosphäre, in der Staunen wieder möglich, das Selbstverständliche und "Entzauberte" mit Brecht gesprochen verfremdet und damit fragwürdig wird. Der Alltag wird mit Staunen wahrgenommen, das Leben enthüllt jeden Tag seine Sinndimension.

Auf ihrer Entdeckungsreise bedürfen die Kinder adäquater geistiger Nahrung. Damit eine solche Nahrung bereitgestellt werden kann, entwickeln die Pädagogen um Christel Manske ein Bewusstsein von den psychologischen Altersstufen der Kinder und Jugendlichen, von der Ausbildung geistiger Handlungen und funktioneller Hirnsysteme. Auf diese Weise stellt adäquater Unterricht jedem Kind die geistige Nahrung bereit, deren es auf seiner psychischen Entwicklungsstufe bedarf.

In adäquaten Unterricht kommt es nicht darauf an, dass alle Kinder das gleiche Ziel erreicht haben, oder zu gleiche Ergebnissen gekommen sind, sondern eine Entwicklung, eine Entdeckung gemacht haben, die sie den anderen Kindern kommunizieren können. Lernprobleme sind, so schreibt die Autorin des vorliegenden Buches zu Recht, keine feststehende biologische Tatsache, sondern ein bio-psycho- soziales Geschehen.

Das Buch zeigt, wie all die genannten Ideen praktiziert werden können, es regt an, oder fordert dazu heraus, eine Pädagogik für alle Kinder zu entwickeln, von der alle Kinder etwas haben.

Wie das Buch gelesen oder "gebraucht" werden sollte, dazu sagt das angeführte Zitat von Deleuze/Guattari etwas sehr zutreffendes aus.

Quelle:

Rezensiert von Manfred Jödecke

bidok-Rezensionshinweise

Stand: 02.06.2009

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