Die Zukunft der Arbeit

Autor:in - Katja Barloschky
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: impulse Nr. 15, April 2000 impulse (15/2000)
Copyright: © Katja Barloschky 2000

Die Zukunft der Arbeit

Sehr geehrte Damen und Herren,

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

"Das beste wäre eine Ausbildung zum change agent" (Dr. Werner Dostal vom IAB). Wissen Sie, was das ist? - "Job weg - Mann erschoß sich" - kein Kommentar. - "Englisch-Kurse im Raum Stuttgart ausgebucht - Manager von Daimler sitzen nach" Noch Fragen?

"Die größte Zukunftsangst der Kinder in NRW im Alter zwischen 9 - 13 Jahren ist die Sorge um den späteren Arbeitsplatz. Diese Sorge steigt mit zunehmendem Alter an und ist größer als die Angst vor Unfall, Tod, Krieg und Katastrophen." Vier Nachrichten - ein Thema: Die Zukunft der Arbeit und die Schatten, die sie wirft.

Hochglänzend kommt sie daher, die Zukunft, aber auch bedrohlich. Bedrückend und befreiend. Viele stehen vor neuen Chancen - viele vor zusätzlichen Hürden. Unübersichtlich und chaotisch kommt der Arbeitsmarkt uns vor, und zugleich durchsichtiger und unbürokratischer. In ständiger Bewegung, kein fester Boden mehr unter den Füßen. Sicher aber ist: die Zukunft der Arbeit trifft unseren Lebensnerv. Sie steht im Zentrum der Dinge - gesellschaftlich und individuell.

"Change agent" - ich nehme an, daß diese Berufsbezeichnung noch nicht geschützt ist und schlage vor, daß wir uns den Titel unter den Nagel reißen: machen wir uns zu "Agenten des Wandels" - auf daß wir seine ethischen Maximen bestimmen und seine Chancen nutzen können!

Ich möchte dazu mit einigen Überlegungen in drei Abschnitten beitragen:

I. Die Krise als Chance

1. Abschied von Illusionen

...und zwar - um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen - männlich geprägten Illusionen. Sie lauten, auf den Punkt gebracht:

"Wachstum, Konjunkturmaßnahmen und technischer Fortschritt werden die Massenarbeitslosigkeit beseitigen".

Bei nüchterner Betrachtung von Zahlen, Fakten und Prognosen ergibt sich in etwa folgender Befund:

Die Wachstumsraten der Nachkriegsjahre mit ihren Nachholbedarf sind auf Nimmerwiedersehen vorbei. Statt dessen erleben wir einen rasanten Produktivitätszuwachs: mit immer qualifizierterer und intensiverer Arbeit wird mit immer weniger Zeitaufwand immer mehr an Ergebnissen hervorgebracht.

Schauen wir uns das etwas genauer an:

  • Fakt 1: Die Produktivität je Erwerbsarbeitsstunde ist seit 1960 um 255% gestiegen.

  • Fakt 2: Dahinter blieb das Wachstum des Bruttoinlandproduktes mit 180% deutlich zurück.

  • Fakt 3: Im Vergleich zu diesen beiden Entwicklungen nimmt sich der Rückgang des Arbeitsvolumens insbesondere durch Arbeitszeitverkürzung äußerst bescheiden aus. Es fiel im gleichen Zeitraum nur um vergleichsweise geringe 22%.

Will heißen: Die Arbeitszeitverkürzung hat nicht Schritt halten können mit der gesellschaftlichen Produktivitätssteigerung.

Während zwischen 1984 und 1996 die Produktivität um über 33% Prozent anstieg, sank die durchschnittliche tarifliche Arbeitszeit je Erwerbstätige/r lediglich um 9%. (Und selbst dieser schwache Trend einer tariflichen Arbeitszeitverkürzung ist ausgelaufen. Die Entwicklung der tariflichen Arbeitszeit stagniert seit 1995).

Zusammengefaßt:

  1. Es kann in kürzerer Zeit immer mehr hergestellt werden.

  2. Der Absatz gemessen im BIP bleibt im langfristigen Trend hinter dem Anwachsen der Produktionspotenz zurück.

  3. Das Sinken der individuellen Arbeitszeiten ist zu gering, um die Produktivitätsentwicklung auszugleichen.

Das Ergebnis nennt man Jobless Growth. Oder auch: Die Arbeitsplatzlücke ist eine Folge der eigenen "Stärke".

2. Die Krise der Arbeit ist die Krise des Normalarbeitsverhältnisses

Wenn es lediglich um die Quantität dessen ginge, was getan werden muß, was erledigt, er- und bearbeitet werden muß in seiner Gänze, um leben zu können, dann hätten wir kein Problem, keine Krise. Arbeit gibt es genug, wahrhaftig, davon wissen nicht zuletzt die hier Anwesenden ein Lied zu singen! Was ist es dann, was ganz offensichtlich nicht mehr funktioniert?

Es ist die traditionelle Erwerbsarbeit, ihre industrielle Art, ihre Norm, ihr Verhältnis zur unbezahlten Arbeit, ihr Produktivitätsverständnis - und damit gerät sie zugleich zu einer gesellschaftlichen Krise.

Das sogenannte Normalarbeitsverhältnis, auf dem Wirtschaft und soziale Sicherungssysteme (und im übrigen auch die arbeitsmarktpolitischen Instrumente) unseres Landes beruhen, bezeichnet als "normal" ein unbefristetes sozial- und arbeitsrechtlich voll abgesichertes Vollzeitbeschäftigungsverhältnis - eine schon in der Vergangenheit männliche Norm, wie wir wissen.

GewinnerInnen auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft werden diejenigen sein, die in der Lage sind, sich dieser Diffusität zu stellen und sie in Deckung mit ihren jeweiligen individuellen Bedarfen, Bedürfnissen, Möglichkeiten und Voraussetzungen zu bringen. Eine zukunftsfähige Arbeitspolitik wird sich diesen Entwicklungen nicht - erfolglos - entgegenstemmen, sondern gestalterisch und ausgleichend wirken und die Elemente des Bruches als positiven Ausgangspunkt von lebensphasenorientierten Arbeitsbiografien unterstützen.

3. Erwerbsarbeit ist nicht alles: Die ganze Arbeit in den Blick nehmen

Insbesondere das Verhältnis zur - überwiegend von Frauen geleisteten - unbezahlten Arbeit, die laut Statistischem Bundesamt 62% der in unserem Land verrichteten Arbeit ausmacht (1995), stellt die Tauglichkeit unseres unter sozialen, ökologischen und geschlechteraspekten begrenzten Arbeits- und Produktivitätsbegriffes in Frage.

Die öffentlichen Debatten um den Standort Deutschland kreisen fast ausschließlich um den Bereich der formellen, geldvermittelten Ökonomie. Sie sind daher blind für andere Bereiche von Wirtschaft und Arbeit. Dabei leben wir faktisch und völlig offensichtlich in einer pluralen Ökonomie!

Erwerbsarbeit ist wichtig, aber nicht alles. In ihrem Schatten werden unbezahlt eine Vielzahl von gesellschaftlich ebenso wichtigen Tätigkeiten verrichtet. Neben den klassischen Bereichen der Reproduktionsarbeit - wie Kinderbetreuung, Altenpflege, psychische Stabilisierung, Gesundheitserhalt und Beziehungspflege - umfassen sie vielfältige Kommunikation und Interaktion, ohne die unsere Städte und Nachbarschaften nicht lebensfähig und bestimmt nicht liebenswert wären. Wie stünde es um die Gesellschaft ohne AktivistInnen für Menschenrechte, ohne UmweltschützerInnen, NachbarschaftshelferInnen oder ÜbungsleiterInnen in Sportvereinen, ohne DirigentInnen von Stadtteilchören, OrganisatorInnen von Volksfesten, ohne Selbsthilfegruppen für ungewöhnliche Krankheiten, ohne AufbauhelferInnen in Katastrophengebieten, ohne Menschen, die gemeinsam mit nicht an Profit orientierten Organisationen sozial, kulturell oder ökologisch aktiv sind?

"Erwerbslos" sein heißt also nicht automatisch "passiv sein". Viele Erwerbslose sind "am arbeiten" - meist unbemerkt von Behörden und Öffentlichkeit und ohne Honorierung. Dem Arbeitsamt gegenüber müssen sie dies im Zweifel eher verschweigen - schließlich müssen sie "dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen" und müssen Untätigkeit nachweisen, um Lohnersatzleistungen zu beziehen. Sie leisten unbezahlte Arbeit, die weder öffentlich als "Arbeit" anerkannt noch sozial abgesichert wird. Denn vieles, was in unserer Gesellschaft zu tun ist, ist nicht profit- und damit marktfähig und kann oder soll nicht in Erwerbsarbeit verwandelt werden.

Durch die herrschende Begrenzung der Ökonomie auf den Markt werden zugleich nicht nur alle Tätigkeiten im Bereich der Reproduktions- und der Bürgerarbeit aus der Analyse ausgeblendet, sondern sie werden auch entsprechend bewertet. Je näher an vergegenständlichter Arbeit in der Produktion, desto teurer und "produktiv" - je näher an lebendigen Menschen, desto wertloser und "reproduktiv". Nur so ist der Irrwitz zu verstehen, daß der Fahrer eines Müllwagens (dessen Arbeit hier nicht im geringsten geringgeschätzt werden soll) mehr verdient als die Leiterin einer Kindertagesstätte, ein Maschinenschlosser deutlich mehr als eine Arzthelferin.

Vieles spricht dafür, daß im 21. Jahrhundert die Arbeitswelt viel bunter und formenreicher sein wird als in der relativ uniformen Industriegesellschaft des 19. Und 20. Jahrhunderts. Wahrscheinlich wird der Umfang der Erwerbsarbeit weiter schrumpfen. Alte und neue Formen von Eigenarbeit/Sorgearbeit und von Bürgerarbeit werden weiter an Bedeutung gewinnen. Eine moderne zukunftsfähige Gestaltung von Arbeit und Wirtschaft muß den männlich geprägten Dualismus von "produktiver" Erwerbsarbeit und "unproduktiver" Hausarbeit überwinden, und statt dessen die ganze Arbeit in den Blick nehmen - und schon heute damit beginnen, auch für Eigen-, Sorge- und Bürgerarbeit soziale Sicherung, Räume, Technologien, Rechte, Bildung und öffentliche Anerkennung zu schaffen.

4. Wandel der Arbeit - Frauen an der Spitze

Um es gleich vorweg zu sagen: Männer haben es schwer. Nicht nur, daß sie sich täglich rasieren müssen, im nächsten Jahrtausend kommt es noch viel dicker: sie bekommen es mit "smarten Schlampen", "Öko-Spiritistinnen" und "modernen Amazonen" zu tun - das jedenfalls prophezeien ihnen die Zukunftsforscher vom Trendbüro Hamburg in einer neuen Studie, in der sie das sich im raschen Wandel befindliche Frauenbild für die Zeitschrift "freundin" hochgerechnet haben.

Männer als Verlierer am Arbeitsmarkt? Keine Bange: Bleiben Sie beweglich!

Jetzt im Ernst: Die Hauptursache für das sich andeutende Ende der traditionellen Arbeitsgesellschaft liegt im Wandel der Arbeit selbst: sie entwickelt sich von der technisierten Industriearbeit zur hochtechnologisierten Kommunikations-, Informations- und Dienstleistungsarbeit; aus dem Facharbeiter wird der/die lebenslang lernende MultiarbeiterIn - manuelle und Routinearbeiten werden weiter abnehmen; zunehmend sind wir ProduzentInnen und KonsumentInnen zugleich, oder auch "ProsumentInnen" (z.B. beim Teleshopping, am Geldautomaten, im Fastfoodrestaurant...). Der Mensch selbst wird zur Hauptproduktivkraft, zur "Humanressource". Flexibilisierung, neue gegenseitige Abhängigkeiten des/der einzelnen vom Ganzen und Differenzierungsmöglichkeiten prägen die Arbeitswelt.

Mit anderen Worten: "Die Erwerbsarbeit heute und morgen ist - wo sie noch stattfindet - rationeller und wirtschaftlicher, selbständiger und selbstbestimmter, vielfältiger und flexibler, intensiver und anspruchsvoller, allgemeiner und abhängiger, voraussetzungsvoller und umfassender als einst. Sie fordert den ganzen Menschen. Wer da nicht mithalten kann, steht ohne sie da" (M. Janssen).

Diese revolutionären Veränderungen der Arbeit sind verbunden mit einem Wandel der sozialen Verhältnisse und Beziehungen und damit auch des Geschlechterverhältnisses. Eine Annäherung zwischen Frau und Mann zeichnet sich ab - und, so die These von Mechthild Janssen - das spannende, neue und damit auch chancenreiche daran ist die Tatsache, daß Frauen nicht mehr hinterherhinken, sondern an der Spitze dieser Entwicklungen stehen! Sie kommen Frauen und ihren spezifischen historisch herausgebildeten Qualifikationen und Lebensweisen entgegen. Frauen sind "Treibsätze der Modernisierung" (M.Janssen) - und zwar in jeder Hinsicht, im Schlechten wie im Guten.

Einerseits leben sie bereits heute all das am Arbeitsmarkt, was an Zumutungen nun auch den Männern abverlangt werden wird: Brüche und Diskontinuität in der Erwerbsbiografie, Flexibilität, unterbezahlte, befristete und ungeschützte Arbeitsverhältnisse - all dies wird im Zuge der "Brasilianisierung" (U. Beck) auch ihnen widerfahren.

Andererseits liegen in den veränderten Verhältnissen im Bereich der Arbeit produktive Ansatzpunkte für Frauen und damit der Keim des Neuen für alle:

Die wachsende Rolle des Menschen und des Lernens kommt der Tatsache entgegen, daß Frauen historisch die entwickelsten Erfahrungen und Voraussetzungen dafür erworben haben.

"Frauen sind besser vorbereitet auf die zu erwartenden Veränderungen", stellen die Zukunftsdeuter des zitierten Trendbüro Hamburg fest - und wo sie recht haben, haben sie recht.

Und weil Frauen in diesem Sinne Vorreiterinnen des Wandels sind, deshalb lohnt es sich, aus weiblicher Sicht Alternativen zu Spaltung, Armut und Destruktivität zu entwerfen; deshalb bergen Visionen und Forderungen der Frauen möglicherweise demokratische Antworten für die Moderne insgesamt. Darin liegen nicht nur die Chancen der Frauen, sondern auch ihre Verantwortung, denn von nichts kommt nichts und nur durch eigenes Handeln und Einmischen werden sie von Geschobenen zu Schiebenden!

II. Abschnitt: Bausteine einer neuen Arbeitspolitik

Es gibt sie längst - die PionierInnen einer neuen Arbeitsgesellschaft. Menschen, Organisationen, Gruppen; ArbeitnehmerInnen, ArbeitgeberInnen, Verantwortliche in Politik und Verwaltungen; Berufstätige und Erwerbslose, BürgerInnen. Leute, die aus den unterschiedlichsten Motiven heraus versuchen, Arbeit neu zu definieren, anders zu verteilen, achtsamer zu bewerten, innovativ zu organisieren.

Die folgenden Überlegungen greifen solche Beispiele und Anregungen in vier zentralen Elementen auf, machen Anleihen bei unseren europäischen Nachbarn und laden Sie ein zu einer Reihe von Gedankenexperimenten.

Sie wenden sich an unterschiedliche gesellschaftliche Akteure und plädieren für die Schaffung neuer sozialer Netzwerke und gesellschaftlicher Arrangements. Sie setzen dabei auf den Handlungswillen und die Fähigkeiten aufgeklärter Politik und zugleich auf eine bislang unerschlossene Bewegungsdynamik "von unten".

Sie greifen zudem einen einfachen Vorschlag auf: lassen Sie uns weibliche Lebensnormen und die Wünsche der Frauen zum Ausgangspunkt, zum Dreh- und Angelpunkt machen: Frauen wollen einen gleichberechtigten Anteil am beruflichen Leben. Sie wollen dies vereinbaren mit privater Arbeit und Zusammenleben mit anderen. Und sie wollen dies gleichermaßen für Frauen und Männer. Dies zur Achse von Umbau-Modellen zu machen, führt nicht ins Wolkenkuckucksheim, sondern direkt in Lösungsansätze und praktisches Handeln zur Überwindung der Erwerbslosigkeit.

5. Erwerbsarbeit für alle - zu neuen Bedingungen: Vollbeschäftigung neuen Typs

Als Folge des Produktivitätsfortschrittes kann entweder Jahr für Jahr ein größeres Gesamtprodukt in der Gesellschaft verteilt oder die durchschnittlichen Realeinkommen können beibehalten und die Produktivitätsgewinne für die Senkung der Erwerbsarbeitszeit genutzt werden.

Ausgehend von den Wünschen der Frauen nach Arbeitszeiten, die 1995 bei durchschnittlich 29 Std. lagen, errechnete I.Kurz-Scherff einen Zuwachs von 3,5 Mio Arbeitsplätzen, wenn nur die Hälfte einer solchen allgemeinen Arbeitszeitverkürzung beschäftigungswirksam umgesetzt würde.

H. Spitzley geht in seinem Gedankenexperiment bei einer Ausgangssituation von 38 Wochenstunden von einer jährlichen Reduktion in Höhe des realen Produktivitätszuwachses (2% p.A.) aus. Im Ergebnis errechnet sich daraus für das Jahr 2020 eine Wochenarbeitszeit von unter 25 Std. Dabei würden die durchschnittlichen Realeinkommen bei unveränderten Verteilungsrelationen zwischen Kapital und Arbeit konstant bleiben.

Verschiedene "Halbe-Halbe-Modelle" auf dem Weg zu einem neuen Arbeits- und Geschlechtervertrag knüpfen daran an. Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt ist die These vom "herrschenden Arbeitsbegriff als Hauptbastion patriarchaler Dominanz" (I. Kurz-Scherff), den es zu verändern gilt. Sie gehen davon aus, daß eine gleichberechtigte Beteiligung der Männer an den verschiedensten Bereichen der Reproduktionsarbeit erreicht werden muß und schlagen deshalb vor

  • die gesellschaftlich notwendige Gesamtarbeit - incl. Haus-und Berufsarbeit, Produktion und Reproduktion - in den Blick zu nehmen und ihren erforderlichen Umfang in der Gesellschaft auszuhandeln und festzulegen;

  • diesen Umfang, z.B. 25 plus 25, zur Grundlage der individuellen geschlechterübergreifenden Existenzsicherung zu machen.

Beide Sphären der Arbeit werden direkt oder indirekt bezahlt. Nach I. Kurz-Scherf betrug 1995 das tägliche unbezahlte Arbeitsvolumen aller Frauen zwischen 18 und 60 Jahren für Pflege und Betreuung im Durchschnitt 49 Minuten pro Tag. Das durchschnittliche Pensum der Männer in dieser Altersgruppe belief sich auf 18 Minuten. Beide Arbeitsvolumen zusammengefaßt und dann gerecht auf die Geschlechter verteilt ergäbe rechnerische 34 Minuten täglich - sozial gesichert durch gesellschaftliche/staatliche Umlageverfahren oder steuerfinanziert.

Ganz anders in den Niederlanden: bei unseren Nachbarn scheint Konsens darüber zu bestehen, daß ein Recht auf individuelle Arbeitszeitverkürzung geschaffen werden soll. Die Tarifparteien haben zunächst zwei Jahre Zeit, entsprechende Vereinbarungen zu treffen. Sollten diese nicht zustande kommen, will der Gesetzgeber aktiv werden.

Arbeitszeit - und andere Gesetze

Die gesetzlichen Rahmenbedingungen könnten wesentlich verbessert werden. Zu denken ist beispielsweise an eine gesetzliche Definition einer gesellschaftlich wünschenswerten Jahreshöchst(erwerbs)arbeitszeit mit wirksamen Restriktionen für Mehrarbeit. Möglich ist auch eine schrittweise Verschärfung des Arbeitszeitgesetzes.

Zugleich müßte es darum gehen, Regelungen, die der individuellen Inanspruchnahme persönlicher Zeitwünsche entgegenstehen - wie z.B. des Sozialversicherungsrechts (Altersarmut...) - und daher arbeitspolitisch kontraproduktiv wirken, mit Blick auf eine "Vollbeschäftigung neuen Typs" zu überprüfen und nach Abhilfemöglichkeiten zu suchen.

Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen

Am Anfang stand die Krise. Nach Milliardenverlusten und mitten in einer tiefgreifenden Absatzflaute waren 1993 bei der Volkswagen AG die Arbeitsplätze von 20 000 MitarbeiterInnen gefährdet. Die Alternative zu Massenentlassungen war die Absenkung der Arbeitszeit für alle um 20 Prozent und der Bruttoeinkommen um 16 Prozent (aufgrund der Staffelung der Steuertarife war der Nettoverlust deutlich geringer). Die Einführung der "4-Tage-Woche" schien den Beteiligten klüger als Massenentlassungen (Hartz 1994, 1996; Peters, J. 1994; Promberger u.a. 1996, 1997; Jürgens, K. u.a. 1998):

Aber auch aus gesamtwirtschaftlicher Sicht birgt das Modell ökonomische Vorteile.

1994 haben die Tarifparteien in der Metallindustrie - nach dem Muster des VW-Modells - Flächentarifverträge zur Beschäftigungssicherung abgeschlossen, die es erlauben, zur Abwehr von Entlassungen Betriebsvereinbarungen über Arbeitszeitverkürzungen zu treffen. In Unternehmen, in denen Entlassung drohen, können seitdem Betriebsräte beschäftigungssichernde Arbeitszeitverkürzungen durchsetzen.

Bonus-Malus-Regelungen

In die Überlegungen zur Verkürzung der durchschnittlichen Erwerbsarbeitszeiten können indirekt wirkende "weiche Instrumente" einbezogen werden. Sie sollen einen sanften, aber wirksamen Sog in Richtung auf Verkürzung und Neuverteilung von Erwerbsarbeitszeit ausüben.

Ein solcher Weg wird unter der Chiffre "Bonus - Malus - Modell" diskutiert. (z.B. Arbeitsgruppe Umverteilung der Arbeit 1995, Beck 1997, Spitzley 1997).

Die Grundidee ist einfach:

Arbeitszeiten, die ein bestimmtes Volumen im Sinne der "Normalarbeitszeit neuen Typs" nicht übersteigen, werden finanziell bevorzugt, etwa indem sie ganz oder teilweise von Einkommenssteuern und/oder Sozialabgaben freigestellt werden (Bonus). Andererseits sind Einkünfte, die in darüber hinausgehenden Arbeitszeiten erzielt werden, entsprechend stärker zu belasten (Malus). Bonus-Malus-Systeme können aufkommensneutral ausgestaltet werden, so daß sie öffentliche Haushalte oder Sozialversicherungsträger nicht belasten.

Dies ist zunächst ein rohes Gedankenmodell, das wahrscheinlich eine Menge Fußangeln und Missbrauchsgefahren in sich birgt. Diese wären sorgfältig zu prüfen und bei der praktischen Ausgestaltung zu minimieren.

Bonus-Malus-Systeme können auf verschiedenen Regulationsebenen eingesetzt werden. Der Gesetzgeber kann sie ins Steuer- und Abgabenrecht integrieren und damit allgemein wirksam werden lassen.Aber auch die Tarifvertragsparteien und betriebliche Akteure können Bonus-Malus-Systeme konstruktiv einsetzen. Mit Blick auf arbeitsmarktpolitische Erfordernisse wären engere Arbeitszeitrahmen zu vereinbaren. Arbeitszeiten, die diese Grenze einhalten oder unterschreiten, könnten mit einem prozentualen Einkommenszuschlag (Bonus) privilegiert und längere Arbeitszeiten mit einem Abschlag (Malus) belastet werden. Kürzere Arbeitszeiten würden privilegiert, längere Arbeitszeiten verlören an ökonomischer Attraktivität.

6. Arbeit, Einkommen und Zeit umverteilen: Experimente unterstützen, Modelle fördern

In den letzten Jahren sind - neben den bereits genannten - zahlreiche praktische Initiativen gestartet, Modellversuche angezettelt oder Vereinbarungen ausprobiert worden, die als Vorboten und Wegbereiter der neuen Wege gelten können. Wir sollten ihnen Gehör und Aufmerksamkeit organisieren, aus ihren Erfahrungen lernen und sie - wo sinnvoll und möglich - nachahmen und/oder als Ideensammlung ausschlachten. Einige von ihnen seien deshalb hier genannt:

Beispiel 1: Das Staffelholz weitergeben - Altersteilzeit als Weg zu Neueinstellungen

Viele älterer ArbeitnehmerInnen wünschen sich kürzere Arbeitszeiten und gleichzeitig suchen junge Leute Erwerbsarbeit. Beides kann zusammengebracht werden.

Die Regelung des BSAG-Modells ist für das Unternehmen kostenneutral, denn durch eine zuvor vereinbarte Tarifabsenkung für neu eingestellte MitarbeiterInnen und die erwarteten geringeren Gesundheitsbelastungen und Krankheitskosten für ältere MitarbeiterInnen werden die Zusatzkosten des Unternehmens von 15%. ausgeglichen.

Beispiel 2: Aus zwei mach drei

Bürgermeister Bernhard Kroemer wollte die als Folge des Geburtenrückgangs überflüssigen Kindergärtnerinnen im sächsischen Coswig nicht in die sichere Dauerarbeitslosigkeit entlassen. Er erfand das "Sonntagsjahr".

Die Erzieherinnen arbeiteten seitdem zwei Jahre und gingen danach mit Anspruch auf Arbeitslosengeld in eine befristete Arbeitslosigkeit. Nach einem Jahr wurden sie wieder von der Stadt Coswig eingestellt. Kroemer rechnet vor, dass dieses Modell nicht nur sozialverträglich, sondern auch volkswirtschaftlich sinnvoller ist als Entlassungen in Dauerarbeitslosigkeit.

Dennoch blockierte die Bundesanstalt für Arbeit dieses Modell mit dem Argument, die - befristet - entlassenen Erzieherinnen stünden dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung und seien daher nicht zum Bezug von Arbeitslosengeld berechtigt. In mehrjährigen gerichtlichen Auseinandersetzungen (vgl. etwa Karsten, Mückenberger 1996), wurde die formale Rechtsposition der BfA bestätigt und das Coswig-Modell unmöglich gemacht.

Ähnlich wie in Dänemark und der Schweiz könnte auch in Deutschland die Arbeitsförderung reformiert werden, um die Blockade aufzuheben. So könnten z. B. die "freien Mittel" der lokalen Arbeitsverwaltungen für entsprechende Modelle eingesetzt werden.

Beispiel 3: Bonus für kürzere Arbeitszeiten

Wer die Verteilung der Arbeit auf mehr Köpfe fördern will, muß die Verkürzung der Arbeitszeit ökonomisch attraktiv machen. (Die Grundidee des Bonus-Malus-Modells wurde bereits skizziert. Konkrete Vorschläge finden sich bei der Arbeitsgruppe "Umverteilung der Arbeit" der SP Schweiz (1995) und M. Beck (1997)).

Beispiel 4: Jobrotation

Das Modell Jobrotation wurde Anfang der 90er Jahre vor allem in Dänemark und Schweden entwickelt und erfolgreich durchgeführt. Es will Qualifizierung von ArbeitnehmerInnen - und damit Innovation - in den Betrieben unterstützen und zugleich erwerbslosen Menschen neue Chancen bieten. Mit Jobrotation werden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.

Dieses Modell wird inzwischen in einer Reihe von Bundesländern angepaßt und ausprobiert. Das Potential an zusätzlichen Arbeitsplätzen ist enorm. Laut WZB könnten in Deutschland auf diese Weise bis zu 300.000 Arbeitsplätze geschaffen werden. (Berliner Zeitung 12.02.99)

Beispiel 5: Bündnis für Arbeit im öffentlichen Dienst

"Nie war es so leicht, einen ganzen Stand, der seit Generationen den Beigeschmack des Parasitären nicht los wird, glücklich zu machen..." Unter dieser despektierlichen Überschrift entwickelt Georg Heide folgendes All-winners-Scenario: "Die Manifestation des Bremer Zehnts durch die Eroberung von Freiheit im Lehrerzimmer! Mal angenommen: Die Gesamtheit der Bremer LehrerInnen gibt ihren Zehnt ñ 10% weniger Arbeit, 10% weniger Geld, 10% weniger Streß, 10% mehr Reich der Freiheit. Dadurch kommen alle arbeits-freien LehrerInnen der Stadt zu Lohn und zur adäquaten Anwendung ihres geistigen Potentials. ... Auch die neuen LehrerInnen geben ihren Zehnt: damit sie sich gelassen an das plötzliche Geld gewöhnen können, bekommen sie im ersten Jahr nur 90% des Gehalts. ... Die 10% kommen in eine Art Luxuskasse. ... Diese Kasse füllt sich durch weitere Quellen: Wer patout darauf beharrt, daß die Gemeinschaft nicht auf seine pädagogischen Fähigkeiten verzichten kann, der darf weiter volle Stundenzahl schuften. Es wird allerdings eine neue Art von Steuer erhoben: 10% Abgaben auf Arbeitswut ..." (BLZ, 11-1998).

Acht Millionen Menschen arbeiten in Deutschland im öffentlichen Dienst oder in ähnlichen Bereichen. Wenn die oberen Gehaltsgruppen auf 10% Gehalt verzichten und 10% weniger arbeiten, die mittleren auf 5% verzichten und entsprechend weniger arbeiten und die unteren Gehaltsgruppen den Inflationsausgleich erhalten, können nach Peter Grottians Berechnungen in Deutschland 300.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden.

Dieser Vorschlag stößt in der Öffentlichkeit auf große Zustimmung. Eine repräsentative Umfrage ergab, daß 64% dafür, 12% unentschlossen und nur 24% dagegen sind. Besonders bemerkenswert ist, daß 73% der im öffentlichen Dienst Beschäftigten und 69% der Gewerkschaftsmitglieder dem Vorschlag zustimmten (vgl. Grottian 1995).

Allerdings steckt der Teufel im Detail (vgl. Keller 1997). So muß vor allem sichergestellt werden, daß die durch Arbeitszeit- und Einkommensminderungen frei werdenden Mittel tatsächlich für Neueinstellungen genutzt werden.

7. Zeit, Geld und Raum für BürgerInnen- und sonstige Arbeit

Erwerbslose wissen oft am besten, was gebraucht wird und was sie tun wollen und leisten können. Wenn ihre Ideen mit gesellschaftlichem Bedarf zusammengeführt werden, können Initiativen "von unten", soziale Innovationen und vielfältige neue Arbeitsmöglichkeiten und gesellschaftliche Werte entstehen. Wenn mit dem Münchener Sozialforscher Ulrich Beck davon auszugehen ist, daß Bürgerarbeit für das individuelle und gesellschaftliche Wohlergehen immer wichtiger wird, bedarf diese Form der Arbeit neuer Impulse und Unterstützung (vgl. auch Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen (1997).

Beispiel 6: Bürgergeld für Bürgerarbeit

Bürgerarbeit hat zur Zeit hohe Konjunktur - schon das macht mißtrauisch. Sie wird nicht selten zwischen Pflichtarbeit und Ehrenamt angesiedelt. Auch unter WissenschaftlerInnen und ArbeitspolitikerInnen ist die Begriffsdefinition umstritten.

Meine Sicht der Dinge habe ich im Abschnitt I.3 skizziert: BürgerInnenarbeit ist Gemeinwohlarbeit;sie ergänzt Ehrenamt, Freiwilliges Soziales Jahr, Erwerbstätigkeit im Dritten Sektor; im Gegensatz zum Ehrenamt soll, wer sie ausübt, dafür materiell abgesichert werden, und zwar über ein Einkommen; die materiellen Einschränkungen bei der niedrigeren Vergütung der Bürgerarbeit werden durch ideelle Gegewerte ausgeglichen (z.B. Selbsbstimmheit, Beteiligung, professionelle Unterstützung, Arbeitszeugnis/Zertifikat als Gemeinwohl-AktivistIn).

Das kirchliche Behindertenreferat in Essen erprobt ein "Bürgerjahr" bereits seit 1996. Auch in anderen Städten (ich persönlich weiß von Initiativen in Köln und Bremen) werden Versuche vorbereitet. Der Diskussionsstand für das Bremer Modell sieht zur Zeit vor, eine bestimmte Zahl von Bürgerarbeitsplätzen auszuschreiben, die im Mix von öffentlichen Händen, Bundesanstalt für Arbeit, einschlägigen Stiftungen und Betrieben des Dritten Sektors finanziert werden. Das Ziel besteht darin, "Initiativen von unten" zu ermöglichen, indem materielle und zeitliche Voraussetzungen für gesellschaftliches Engagement in selbstgewählten Tätigkeiten zur Verfügung gestellt werden. Für diese Bürgerarbeitsplätze könnten sich mit eigenen Ideen sowohl Personen bewerben, die sich für ein ihnen wichtiges Projekt zeitweilig (teilweise oder ganz) aus ihrem Job freistellen lassen wollen, als auch bislang erwerbslose Menschen, z. B. BezieherInnen von Arbeitslosenunterstützung oder Sozialhilfe.

Beispiel 7: Zentren für neue Arbeit

Das Motto des Amerikaners Fritjof Bergmann lautet: "Das Gold in den Köpfen der Menschen heben" (Bergmann 1990, 1997). Das von ihm anlässlich von Massenentlassungen in der Detroiter Automobilindustrie entwickelte Konzept der "New Work" geht davon aus, daß die vorherrschende Erwerbsarbeit oft monoton, einseitig belastend und wenig identitätsstiftend ist. Gleiches gilt für erzwungene Arbeitslosigkeit.

Beispiel 8: Häuser der Eigenarbeit

Eigenarbeit als "lebenserhaltende Tätigkeit jenseits der Lohnarbeit" (Ullrich 1993) enthält eine Fülle von verdrängten Potenzen und Handlungschancen, die entweder verschüttet oder noch unentdeckt sind. Zeit ist dabei eine wichtige, aber nicht die einzige Ressource, die Eigenarbeit benötigt. Nicht anders als bei der Erwerbsarbeit bedarf es geeigneter Räume, Werkzeuge, Informationen, Rechte, Kooperationen und Unterstützung durch gesellschaftliche Institutionen (vgl. auch Heckmann, F., Spoo, E. (Hg) 1997).

8. Lebensphasen als produktive Schätze fördern - Grundsicherung einführen

Für Frauen schon heute normal, für die meisten Männer eher neu: Neigung und Möglichkeiten für Erwerbsarbeit bzw. mehr oder weniger Intensität des Berufslebens wandelt sich im Laufe eines Lebens. Dabei spielen nicht nur Kinder eine Rolle. Auch die Pflege von Angehörigen, die Herausforderungen und Chancen lebenslangen Lernens, das mögliche Engagement für gesellschaftliche Arbeit in Kultur, Sport, Sozialarbeit etc, Krankheit und Rekonvaleszenz oder auch schlicht das Bedürfnis nach Muße und Kräftetanken können ebenso ausschlaggebend sein für individuelle Entscheidungen. Solche individuellen Optionen nicht unterdrücken zu müssen, sondern im Gegenteil zur Grundlage des eigenen Handelns machen zu können, erhöht nicht nur die Lebensqualität und damit das Wohlbefinden der Einzelnen und der Gesellschaft, sondern schafft zugleich Voraussetzungen für eine Umverteilung von Erwerbsarbeit.

Die bisher weibliche Diskontinuität von Erwerbsverläufen zum Ausgangspunkt zu machen bedeutet in diesem Zusammenhang, die sozialen Sicherungssysteme umzubauen und einen "Modellwechsel der sozialen Integration" (I.Kurz-Scherf) herbeizuführen. Eine Grundsicherung, die sich einer lebensphasenspezifischen Optionalität anpaßt, anstatt sie zu bestrafen, würde diesen Vorstellungen am ehesten gerecht werden. Das dadurch freiwerdende Arbeitsvolumen erhöht zugleich das zu verteilende Volumen der Erwerbsarbeit entsprechend.

III. Schlußfolgerungen und Leitlinien für die Arbeitsmarktpolitik

Arbeitsmarktpolitik im engeren Sinne muß den revolutionären Wandel der Arbeitsgesellschaft wahrnehmen und ihn begleiten. Sie muß ihre Programme und Instrumente als "Leitplanken" dieses Prozesses angelegen. Solche Leitplanken könnten sein:

  • Begleitung und Unterstützung des Umverteilungsprozesses von Arbeit

  • Eröffnung neuer Brücken und Übergänge zu Erwerbsarbeit, Weiterbildung, anderer Arbeit

  • Förderung des Dritten Sektors und Unterstützung seiner Professionalisierung

  • Unterstützung von Eigeninitiative und Mobilität

  • Beiträge zur Entwicklung und Stärkung lokaler Ökonomien

  • Unterstützung von Nachhaltigkeit im Umgang mit Ressourcen incl. Humanressourcen

  • Förderung privaten Engagements im Sinne von Private/Public Partnership

Die Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik wurden in den 60er Jahren entwickelt. Sie wurden geschaffen, um kurzfristige Erwerbslosigkeit zu überbrücken und in dieser Zeit für den Erhalt der Qualifikation zu sorgen. Die Verhältnisse haben sich inzwischen grundsätzlich geändert. Es ist an der Zeit, das Instrumentarium aktiver Arbeitsmarktpolitik auf den Prüfstand zu stellen und zu reformieren. Für den Bereich Beschäftigungsförderung hier ein paar ausgewählte Grundgedanken:

1. Von der "Subvention" zur gesellschaftlichen "Investition"

Personenbezogene Arbeitsförderung - egal, ob bei Integrationsfirmen, Beschäftigungsträgern oder Wirtschaftsbetrieben - ist angesichts der aktuellen und prognostizierten arbeitsmarktlichen Lage ganz offensichtlich kein kurzfristig in Kauf zu nehmendes Übel, sondern langfristig angelegtes und auf Dauer zu gestaltendes Integrationsinstrument. Dabei geht es nicht um "Subventionen" mit entsprechender Empfängermentalität, sondern um gesellschaftlich vernünftige "Investitionen", die sich volkswirtschaftlich rechnen, sozialpolitisch auszahlen und die demokratietheoretisch gar nicht zu bezahlen sind!

Nachhaltiger Umgang mit Ressourcen - incl. Humanressourcen - bedeutet in diesem Zusammenhang:

  • Schluß mit den StopandGo-Entscheidungen in der Arbeitsmarktpolitik! Wir brauchen Kontinuität und Verläßlichkeit in der Entwicklung und Ausgestaltung arbeitsmarktpolitischer Programme!

  • Weg von hektischer Betriebsamkeit und Kurzatmigkeit hin zu Zielgruppen-Programmen mit integrierten bzw. offenen Übergangsmöglichkeiten zu Qualifizierung, Weiterbildung, bürgerschaftlichem Engagement etc sowie ggf. dauerhafter (Teil)Förderung.

2. Sprungbrett, Brücke, Kreuzung

Zugespitzt formuliert: die Vermittlung in den Erwerbsarbeitsmarkt als alleiniges Ziel ist Chimäre! Es muß endlich anerkannt werden, daß es - zu den alten Bedingungen und so lange eine solidarische Umverteilung nicht gesellschaftlich durchgesetzt ist - weder für alle genügend Erwerbsarbeitsplätze gibt noch geben wird. Neben der Wiederherstellung der individuellen Konkurrenzfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt müssen arbeitsmarktpolitische Programme den Prozeß der Umverteilung und Umbewertung von Arbeit begleiten. Brüche in der Berufsbiografie, Übergänge zwischen Erwerbsarbeit, Versorgungsarbeit, Lernen etc müssen offensiv gefördert und unterstützt werden!

Vor diesem Hintergrund muß aktive Arbeitsmarktpolitik mehr sein - und ist auch längst mehr - als einspurige Brücke in den Erwerbsarbeitsmarkt. "Sprungbrett, Brücke, Kreuzung" - individuelle Arbeitsförderung muß Hilfestellung leisten, um die verschiedensten Integrationswege an den Weggabelungen, an Kreuzungen erreichen und immer wieder bewußt und angemessen je nach Lebensphase auswählen zu können; damit jede und jeder den individuell richtigen Weg zur gesellschaftlichen Integration findet. Direkte Vermittlung in Erwerbsarbeit kann deshalb nur ein Erfolgskriterium sein. (Das gilt übrigens genauso für die Weiterbildung: auch hier muß es darum gehen, Lernen/Qualifizierung/Bildung "as such" als lebenslangen Prozeß zu fördern und zu unterstützen, anstatt ihre Sinnhaftigkeit ausschließlich von erreichten Vermittlungsquoten abhängig zu machen!)

Dafür brauchen wir

  • Modernisierung durch Flexibilisierung der Förderinstrumente und entsprechende Entschlackung der Bürokratie, um Durchlässigkeit, Übergänge, Ein-und Ausstiege und Förderketten individuell zu unterstützen und damit größtmögliche Integration zu ermöglichen. Dazu wird die alleinige Finanzierung arbeitsmarktpolitischer Interventionen aus Mitteln der VersicherungszahlerInnen in Frage gestellt werden müssen.

  • Reform der sozialen Sicherungssysteme, die andere Formen und Inhalte gemeinsinnorientierter Arbeit ermöglichen und fördern, anstatt sie durch die "Verfügbarkeitsregelung" zu verhindern.

3. Eigeninitiative fördern

Wer Eigeninitiative fördern, Selbstbehauptung stärken und Mobilität unterstützen will, der muß alles dafür tun, damit Menschen sich selbst auf den Weg machen. Der muß alles vermeiden, was den Eindruck erweckt, "andere" würden über sie entscheiden.

Diesen Zielsetzungen widerspricht das geltende "Zuweisungsprinzip": es verbaut Entscheidungsmöglichkeiten und Alternativen auf beiden Seiten und schafft damit "Loose-loose-Fallen": der zugewiesene Mensch sieht keine Chance, sich um etwas Passenderes zu kümmern und fügt sich, der Träger beugt sich wider besseres Wissen dem Druck der zuweisenden Behörde und der Ökonomie. Der Mißerfolg ist oftmals vorprogrammiert und dann geht es nur noch um Schuldzuweisungen, in der Regel auf dem Rücken der Erwerbslosen.

Wir brauchen eine Reform des Zuweisungsprinzips hin zur Ausschreibung von Arbeits- und Qualifizierungsplätzen, verbunden mit intensiver und ergebnisoffener Beratung und anschließendem Bewerbungsverfahren.

4. "Zuwendungsempfänger" oder "Dienstleister?"

Der Begriff hat noch nie gepaßt, aber inzwischen widerspricht er auf den ersten Blick den zu Recht geltenden Anforderungen an eine leistungsorientierte und verantwortungsbewußte Verwendung öffentlicher Mittel! Weder sind Integrationsfirmen oder Beschäftigungsträger "Empfänger", noch geht es um "Zuwendungen". Zutreffend dagegen ist, daß Politik und Verwaltungen Aufträge vergeben zur Erreichung definierter Ziele und daß Beschäftigungs- und Qualifizierungseinrichtungen als Dienstleister für einen bestimmten Preis, über den zu reden wäre, diese Aufträge bearbeiten. Dabei müssen sie zugleich auch die Bedarfe und Interessen ihrer anderen KundInnen beachten und professionell erfüllen.

Wir brauchen im Interesse einer effizienten Nutzung öffentlicher Mittel ein neues Verhältnis zwischen öffentlichen Auftraggebern und sozialen Unternehmen. Die Stichworte sind längst ausgetauscht: Leistungsverträge, professionelles Controlling auf beiden Seiten, Budgetierung, Rückstellungsmöglichkeit etc. Diese überfälligen Reformen auf den Weg zu bringen wäre ein wichtiger Beitrag dazu, den erforderlichen gesellschaftlichen Konsens für gemeinwohlorientierte Arbeitsförderung voranzutreiben.

5. Den gesellschaftlichen Dialog verbreitern

Der Dritte Sektor weist wachsende Arbeitsplatzzahlen aus und macht einen nicht unerheblichen Wirtschaftsfaktor aus. Er ist zudem eine wichtige Brücke im Austarieren gesellschaftlicher Interessengegensätze auf dem Weg in eine neue Arbeitsgesellschaft. Wie kann es angehen, daß angesichts dieser Lage "Bündnisse für Arbeit" immer noch unter Ausschluß dieses zunehmend wichtiger werdenden Teils der Ökonomie stattfinden? Warum, um es salopp zu formulieren, tagen die "üblichen Verdächtigen" unter sich? Wer langfristige, tragfähige Lösungen will, der muß den Dialog unter Einschluß des Dritten Sektors organisieren.

Die wichtigsten Impulse, Analysen und Anregungen für dieses Manuskript habe ich folgenden Texten entnommen:

Arbeitsgruppe "Umverteilung der Arbeit" der SP Schweiz (1995): Wege zur doppelten 25-Stunden-Woche. Bern.

Biesecker, Adelheit.

Nadai, Eva (1998): Weniger ist mehr. Die doppelte 25-Stunden-Woche als Modell zur Umverteilung von Arbeit. Unveröffentlichtes Manuskript

Beck, Ulrich (1999): Schöne neue Arbeitswelt, Frankfurt/New York, Campus Verlag

Baumeister, Hella (1998): Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses? Thesenpapier zur Beschäftigungspolitischen Konferenz dgb Bremen

Beck, Marie-Luise (1997): Für eine Trendwende in der Arbeitsmarktpolitik. Bonn, Manuskript

Barloschky, K./Spitzley, Helmut (1998): Arbeit für alle - aber zu neuen Bedingungen. Bremen: Bremen, Manuskript

Giarini, O./Liedke, P.M. (1998): Wie wir arbeiten werden. Der neue Bericht an den Club of Rome. Hamburg, Hoffmann und Campe

Janssen, Mechthild (1997): Das Ende der männlichen Arbeitsgesellschaft - eine Chance für Frauen? Köln, Manuskript

Kurz-Scherf, Ingrid (1995): Krise der Arbeitsgesellschaft: Patriarchale Blockaden. In: Blätter für Deutsche und Internationale Politik, Köln

Kessler, W. (ViSP): Einschiffen statt Ausbooten - Das Jobwunder ist möglich.Oberursel, Publik-Forum- Manifest

Spitzley, Helmut (1998): Arbeitszeit und plurale Ökonomie - Handlungsoptionen in einer solidarischen Gesellschaft. In: Bierter, W./Winterfeld, von U.(Hrsg): Zukunft der Arbeit - welcher Arbeit? Berlin, Birkhäuser Verlag

Spitzley, Helmut (1997): Höchste Zeit für neue Zeiten? Grenzen und Möglichkeiten beschäftigungsorientierter Arbeitszeitgestaltung in Betrieb und Gesllschaft. Bremen, Dortmund, Manuskript

Ulrich, Bernd (1997): Deutsch, aber glücklich. Fest Verlag

Wolf, Sabine (1998): Erwerbsarbeit und Hausarbeit - Zum dualen Denken in der Ökonomik und seinen Folgen für das Geschlechterverhältnis. In: Bierter/Winterfeld (Hrsg): Zukunft der Arbeit - welcher Arbeit? Berlin, Birkhäuser Verlag

Katja Barloschky, Geschäftsführerin Bundesarbeitsgemeinschaft Arbeit - Bremen

Quelle:

Katja Barloschky: Die Zukunft der Arbeit

Erschienen in: impulse Nr. 15 / April 2000

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 28.02.2006

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation