Probleme beim Übergang von der Schule in den Beruf in Hessen

Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: impulse Nr. 14, Dez. 1999 impulse (14/1999)
Copyright: © Monika Scholdei-Klie 1999

Probleme beim Übergang von der Schule in den Beruf in Hessen

Es ist 14 Jahre her, daß die erste integrative Klasse in Hessen startete: Welche Möglichkeiten haben sich in der Zwischenzeit für Jugendliche mit Behinderung ergeben, ihren integrativen Weg auch im beruflichen und berufsvorbereitenden Bereich fortzusetzen? Welche Probleme gibt es beim Übergang von der Schule in den Beruf?

Für Jugendliche mit sogenannter geistiger Behinderung, schwererer Lernbehinderung, mit Autismus oder auch schwerer Körperbehinderung bleibt in den allermeisten Fällen nach wie vor nur die Werkstatt für Behinderte (WfB) als Beschäftigungsort. Gleichwohl wünschen und fordern die Jugendlichen selbst und deren Eltern eine Fortsetzung integrativer Modelle im beruflichen Bereich. Schließlich wurde der integrative Weg vor vielen Jahren im Kindergarten und in der Schule eingeschlagen, um - allgemein - die gesellschaftliche Integration von Menschen mit Behinderungen zu verbessern und - im besonderen - das eigene Kind nicht von seinem sozialen Umfeld und normalen Lebensbezügen zu trennen, ihm vielmehr einen angestammten Ort innerhalb seines gesellschaftlichen Umfelds zu bewahren. In den Jahren des Gemeinsamen Unterrichts haben sich diese Jugendlichen große soziale Kompetenzen im Umgang mit ihren nichtbehinderten Mitschüler/innen, d.h. in einem "normalen" Umfeld angeeignet, (sie haben somit an diesem Punkt ihr "Klassenziel" erreicht). Das hat nun zur Folge, daß man mit ihnen nicht mehr so verfahren kann, wie bisher üblich: Sie lehnen die Werkstatt für Behinderte als Arbeitsort ab, weil sie ihr zukünftiges Leben nicht ausschließlich unter behinderten Menschen verbringen möchten.

Die Bemühungen um die gesellschaftliche Integration von Menschen mit Behinderung wären, wenn auch nicht grundsätzlich vergeblich, aber doch halbherzig, wenn es nicht gelänge, auch im Berufsleben integrative Modelle zu entwickeln und ein Leben und Arbeiten innerhalb ihres gesellschaftlichen Umfelds zu ermöglichen. Arbeit hat einen hohen politischen, sozialen und ökonomischen Stellenwert in dieser Gesellschaft, sie ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens. Will man Menschen mit (geistiger) Behinderung als Mitglieder dieser Gesellschaft wirklich anerkennen (und daß das gewollt wird, unterstelle ich), dürfen sie nicht von vorneherein aus diesem gesellschaftlichen Bereich, in dem es quasi "ernst" wird, ausgegrenzt werden. Sie müssen die Möglichkeit erhalten, in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten zu können und nicht ausschließlich auf den Sonderarbeitsmarkt Werkstatt für Behinderte verwiesen werden, denn sie erleben zum Teil selbst den Arbeitsplatz in einer WfB als Aussonderung und die Arbeitsangebote und -bedingungen als unzureichend. Um mögliche Mißverständnisse zu beseitigen und nicht eine unnötige Debatte um Sinn oder Unsinn von Werkstätten zu entfesseln, möchte ich betonen: Es geht mir und uns als Landesarbeitsgemeinschaft Gemeinsam leben - gemeinsam lernen, Hessen, nicht um die sofortige Abschaffung der WfB, sondern um die Schaffung von Alternativen neben den Werkstätten; es darf nicht nur die WfB geben, es muß für die Betroffenen die Möglichkeit geben, wählen zu können, wo ihr Arbeitsort sein soll.

Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Diese Möglichkeit der Wahl gibt es in Hessen (aber auch in den meisten der anderen Bundesländer) zur Zeit nicht! In der Vielfalt der berufsvorbereitenden "Bildungslandschaft" gibt es zwar diverse Angebote von Seiten der Arbeitsverwaltung, aber diese sind nicht für Jugendliche mit geistiger, stärkerer körperlicher Behinderung oder mit Autismus konzipiert, bzw. tragen ihren speziellen Bedürfnissen nicht Rechnung. Das größte Problem, mit dem wir als Eltern konfrontiert sind, ist, daß das gesamte sogenannte berufliche Rehabilitationssystem in traditionellen Denkmustern und festgefügten Finanzierungsstrukturen verläuft. Es ist bar jeglicher integrativer Strukturen. Je nach Leistungsvermögen wird in die entsprechende Maßnahme-Schublade sortiert. Für "normalbegabte" Jugendliche ist - wenn keine weiterführende Schule ansteht - eine Ausbildung (Lehre) vorgesehen; für Jugendliche, die für eine Ausbildung besondere Hilfen benötigen, gibt es Berufsbildungswerke, die eine außerbetriebliche Berufsausbildung ermöglichen, wenn diese im Betrieb nicht zu verwirklichen ist. Auch die Jugendlichen mit geistiger Behinderung, mit Autismus usw., brauchen besondere Hilfen, aber ein erhöhtes Maß an besonderen Hilfen; sie kommen daher nicht für ein Berufsbildungswerk in Frage, weil nach geltenden Bestimmungen nur diejenigen dort gefördert werden können, bei denen in Aussicht steht, daß sie eine Ausbildung schaffen werden, und das werden die Jugendlichen mit stärkeren Lernbeeinträchtigungen nicht.

Eine weitere Schublade stellen die sogenannten Förderungslehrgänge dar. Sie sollen Jugendliche mit Lernproblemen zu einer Berufsausbildung oder einer Arbeitnehmertätigkeit befähigen. Sie zielen auf die Gruppe von Jugendlichen hauptsächlich mit Lernbeeinträchtigungen, Absolventen der Schule für Lernhilfe, Jugendliche mit keinem oder schlechtem Hauptschulabschluß, sogenannte benachteiligte Jugendliche, die noch nicht "berufsreif" sind, von denen aber zu erwarten ist, daß sie nach Teilnahme am Lehrgang voraussichtlich soweit sein werden. Sie lernen während des Lehrgangs einige Berufsfelder kennen, die die Träger dieser Maßnahmen anbieten (oft Holz-, Metallbereich, Hauswirtschaft, manchmal Bürobereich etc.). Bisher ist für Jugendliche mit größeren kognitiven Beeinträchtigungen (in aller Regel mit geistiger Behinderung) der Besuch eines Förderlehrgangs nur in Einzelfällen möglich gewesen, und dann auch - wie mir ein Mitarbeiter des Landesarbeitsamts Hessen kürzlich mitteilte - häufig gescheitert, weil die Leistungsanforderungen noch zu hoch waren, die Integration auf Grund der sozialen Zusammensetzung dieser Lehrgänge nicht gelang, diese Jugendlichen eine andere Form der Unterstützung nötig haben, als sie dort gegeben war und ist - und damit grundsätzlich andere Konzepte in Richtung Unterstützte Beschäftigung, wie z.B. das ambulante Arbeitstraining, brauchen.

Als neueste Entwicklung ist zu berichten, daß man von Seiten des Landesarbeitsamts und des Sozialministeriums nach langen Verhandlungen bereit war, eine weitere Schublade innerhalb des Rehabilitationssystems hinzuzufügen für eine Gruppe Jugendlicher (primär aus integrativen Klassen), die sich leistungsmäßig quasi zwischen der Werkstatt für Behinderte und den Förderlehrgängen befindet, die (um es ein bißchen flapsig zu sagen) "zu gut für die WfB und zu schlecht für die Förderlehrgänge sind", für Jugendliche also, die noch einen klein wenig höheren Unterstützungsbedarf haben. Aber es gab viele Hürden auf dem Weg der Realisierung dieses Projekts: u.a. hat sich die Anzahl der Jugendlichen, die ursprünglich für dieses Projekt in Frage kamen, zunehmend verringert, weil die einen einen zu großen, die anderen einen zu geringen Unterstützungsbedarf hatten und weitere Jugendliche überhaupt schon in Maßnahmen der Arbeitsverwaltung waren und ihnen keine zusätzlichen "zustanden". So wurden die Jugendlichen, die auf ihre berufliche Eingliederung warteten und in das Projekt aufgenommen werden wollten, immer mehr reduziert, so daß es lange Zeit fraglich war, ob sich dieses Projekt überhaupt umsetzen ließ[1]. Für mich wird daran sehr deutlich, daß dies der grundsätzlich falsche Weg ist: Es kann nicht darum gehen, immer wieder neue Maßnahme-Schubladen innerhalb des existierenden Systems zu bauen, in der dann noch eine weitere Teilgruppe Platz hat, andere jedoch wieder herausfallen; vielmehr ist es notwendig, zu integrationsfördernden, individuellen Unterstützungsmethoden zu kommen im Sinne der Arbeitsassistenz oder Unterstützten Beschäftigung.

Letztlich (im wahrsten Sinne des Wortes) bleibt die Werkstatt für Behinderte, ein Sammelbecken all derer, die der allgemeine Arbeitsmarkt ausgrenzt; sie ist eine Einrichtung für diejenigen, die (so der Gesetzestext) wegen Art und Schwere ihrer Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können - für die letzten bzw. vorletzten im Töpfchen des Selektionsbetriebs. Eigentlich eine Einrichtung zur Eingliederung Behinderter in das Arbeitsleben ist die Werkstatt für Behinderte in der überwiegenden Mehrheit aller Fälle dauerhafter Beschäftigungsort.

Für Jugendliche bzw. deren Eltern, die solche - "verrückten" - Ideen im Kopf haben wie Unterstützte Beschäftigung oder Arbeitsassistenz bedeutet der obligatorische Gang zum Arbeitsamt eine große Hürde. Egal ob sie einen Förderlehrgang oder die WfB anstreben, sie müssen, da sie die Leistung der Arbeitsverwaltung in Anspruch nehmen wollen, (und weil es keine anderen Maßnahmen gibt, müssen sie sie in Anspruch nehmen) in die entsprechenden Arbeitsämter. Dort sind sie mit Berufsberatern konfrontiert, die die Modelle der Unterstützten Beschäftigung nicht kennen und die daher nur auf Grund der bisher existierenden "Schubladen" (Werkstatt für Behinderte, Förderlehrgänge oder Berufsbildungswerke) entscheiden können. Grundlage deren Entscheidung ist zum einen der psychologische Test, der für die Gruppe von Jugendlichen mit geistiger Behinderung oder Autismus wenig geeignet scheint, deren Stärken und Schwächen im beruflichen Alltag erkennen zu lassen. Zum anderen (das habe ich an Hand der amtsärztlichen Untersuchung meiner Tochter jüngst selbst erfahren) soll paradoxerweise ein Amtsarzt dem Berufsberater die Frage beantworten, ob sich der betreffende Jugendliche für eine Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eignet. Wie kann er das? Er kann zwar feststellen, ob z.B. ein junger Mensch auf Grund der vorliegenden Behinderung körperlich belastbar ist, sich auf Grund seiner körperlichen Konstitution z.B. zum Dachdecken eignet; aber er kann doch nicht entscheiden - meiner Ansicht nach - ob jemand auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu integrieren ist oder nicht. Das ist abhängig von Rahmenbedingungen, an die sie bisher noch gar nicht gedacht haben, die zum Teil (noch) jenseits ihres Vorstellungsbereichs liegen.

Mit der Installierung von Integrationsfachdiensten (IFD) vor 2 bis 3 Jahren wurden in Hessen erste Schritte in Richtung Integration von Schulabgänger/innen mit Behinderung unternommen. Allerdings waren dies allererste kleinste Schritte: Zum einen waren sie nur in vier Städten Hessens präsent, zum anderen - das kritisierten wir als Verband schon damals - war ihre personelle Besetzung zu knapp bemessen, um eine Assistenz im Sinne der Unterstützten Beschäftigung leisten zu können. Wie man dem Abschlußbericht vom Projekt Berufliche Integration entnehmen kann, wiesen die Integrationsfachdienste, die in den Städten Frankfurt und Marburg angesiedelt sind und primär Schulabgänger/innen aus integrativen Klassen betreuten, eine geringere Vermittlungsquote auf als die aus Gießen und Kassel, an die sich eher Schulabgänger/innen aus den Sonderschulen wandten. Das ist auch verständlich, wenn man sich die Altersstruktur der Jugendlichen ansieht: Verlassen sie die Schulen mit gemeinsamem Unterricht - in aller Regel nach der 10. Klasse - sind sie sehr viel jünger als Schulabgänger/innen aus den Sonderschulen mit ihren entsprechenden Werkstufen. Deshalb ist es notwendig, besonders für behinderte Absolventen der allgemeinen Schule berufsorientierende und -vorbereitende Maßnahmen zu installieren (das gibt es bisher leider nur an einer einzigen Gesamtschule in Hessen), damit den Jugendlichen erste berufliche Vorerfahrungen vermittelt werden. Eine Integration von der Schule sofort in den allgemeinen Arbeitsmarkt ist und bleibt die Ausnahme von der Regel. Insofern hat sich die Hoffnung, die gerade betroffene Eltern und Jugendlichen aus integrativen Klassen anfangs in die Integrationsfachdienste setzten, nicht erfüllt. Sie wird sich auch in Zukunft nicht erfüllen, denn die IFD sind in ein neues Bundesmodellprojekt überführt und umstrukturiert worden. Es ist zwar ein weiterer Standort, nämlich Darmstadt, hinzugekommen, aber der Schwerpunkt ihres Klientels hat sich verlagert: Waren sie anfangs nur für Schulabgänger/innen zuständig, müssen sie nun alle arbeitslos gemeldeten Schwerbehinderten vermitteln, die ihnen von den entsprechenden Arbeitsämtern zugewiesen werden. Sie haben eine bestimmte Auflage an Beratungs- und Betreuungszahlen: So müssen sie 20-25 Schwerbehinderte pro Person betreuen, das entspricht einem Betreuungsschlüssel von 1:25; im Vergleich dazu arbeitet die Hamburger Arbeitsassistenz im ambulanten Arbeitstraining mit Betreuungszahlen von 1:6. Wir - aber auch alle anderen, die mit diesem Thema beschäftigt sind - befürchten daher, daß diejenigen, für die die IFD (in Hessen) ursprünglich geschaffen worden sind: die Schulabgänger/innen, noch weniger Berücksichtigung finden werden als bisher, weil sie auf Grund fehlender beruflicher Vorerfahrungen am schwersten zu vermitteln sind und weil sie erfahrungsgemäß von den Berufsberatern in den Arbeitsämtern den IFD nicht zugewiesen werden.

So weit zu den Problemen, mit denen sich betroffene Eltern und Jugendlichen konfrontiert sehen. Trotz der widrigen Umstände haben jedoch einige junge Menschen mit Behinderung in Hessen einen Arbeitsplatz im allgemeinen Arbeitsmarkt finden können. Wie haben sie es geschafft? Können andere von ihren Erfahrungen profitieren?

Julia K., eine junge Frau mit Down-Syndrom, hat nach der zweijährigen Schulzeitverlängerung mit Schwerpunkt Berufsorientierung in einer hessischen Gesamtschule (der Ernst-Reuter-Schule II in Frankfurt) eine halbe Stelle, aufgeteilt in zwei Bibliotheken der Stadt Frankfurt, erhalten. Weil sie sich bereits früh auf diesen Berufsbereich festlegte, konnte sie die Schulzeitverlängerung für Langzeitpraktika in den Bibliotheken nutzen, sich berufliche Grundkenntnisse aneignen und sich beruflich weiterqualifizieren. Das aus ihrem Langzeitpraktikum eine Anstellung wurde, ist nur dem außerordentlich großen Engagement ihrer Eltern und Lehrer/innen zu verdanken - sowohl bei der Durchsetzung der Schulzeitverlängerung überhaupt als auch bei dem Ringen um die Schaffung einer Planstelle bei der Stadt Frankfurt. Es gelang auch nur, weil ihre Arbeitskolleginnen gut - und bereitwillig waren und sie in ihre Arbeit einarbeiten konnten, denn eine Arbeitsassistenz gab es nicht, die diese Aufgabe hätte übernehmen können (sieht man von der Betreuung durch die Schule während des Praktikums ab). Ihr Weg von der Schule direkt in Arbeit wird - meine Einschätzung - allerdings ein Ausnahmefall bleiben: Zum einen weil sie die Möglichkeit bekam, eine längere berufliche Orientierungs- und Qualifizierungsphase zu durchlaufen (das gibt es bisher für Integrationsschüler/innen nur in Frankfurt), zum anderen weil sich die Stadt Frankfurt mit der Schaffung neuer Planstellen ausgesprochen schwer tut. Frankfurter Eltern können leider nicht hoffen, hier einen potenten Arbeitgeber gefunden zu haben, der auch in Zukunft junge Menschen mit geistiger Behinderung einstellen wird.

Matthias L. ist ein junger Mann mit Down-Syndrom und arbeitet zur Zeit in der Kantine seiner ehemaligen Schule, die er in einer integrativen Klasse besuchte. Sein Arbeitsverhältnis scheiterte beinahe an der Unbeweglichkeit dieses Rehabilitationssystems. Die Eltern hatten bereits eine große Hürde geschafft, nämlich einen Arbeitgeber gefunden, der bereit war, Matthias einzustellen. Sie wollten aber aus Gründen der Sicherheit eine Anbindung an die dortige Werkstatt für Behinderte, die ihrerseits auch bereit war, Matthias als Angehörigen der WfB aufzunehmen, ihn aber an einem Ort des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten zu lassen. Auch der Landeswohlfahrtsverband unterstützte dies. Einer Aufnahme in die WfB geht jedoch ein zweijähriges sogenanntes Arbeitstraining voraus, das von der Arbeitsverwaltung (Arbeitsamt) finanziert wird, und sie bot der beruflichen Eingliederung Einhalt. Mit dem Argument, daß das Arbeitstraining an die WfB gebunden ist und ein Beschäftigungsverhältnis außerhalb der WfB nicht davon finanziert werden kann, wurde Matthias die Teilnahme an dem Arbeitstraining versagt, und die gesamte berufliche Integration drohte zu scheitern. Man einigte sich nach vielen Auseinandersetzungen schließlich darauf, daß Matthias für die Dauer von 3 Monaten für die sogenannte Eingangsphase in die WfB ging und erst dann in die Kantinen-Küche seiner ehemaligen Schule auf einem sogenannten Außenarbeitsplatz (mit einem anderen Kostenträger). Deutlich wird in diesem ganzen Fall die Unbeweglichkeit der Arbeitsverwaltung: Warum ist ein Arbeitstraining nur innerhalb der WfB abzuleisten? Warum erhält jemand, der nachweislich Unterstützung braucht und einen Förderanspruch hat, diesen nur in der Institution WfB? Warum ist das, was in anderen Bundesländern möglich ist, die ambulante Form eines Arbeitstrainings nicht auch in Hessen möglich?

Auch im Falle von Brit T. ging es nicht ohne entschiedenes elterliches Engagement: Der Verein spectrum, in dem sich die Eltern engagierten, verfolgt das Ziel, "virtuelle Werkstatt" zu werden. Das meint, jungen Menschen wie Brit, die erhebliche "Minderleistungen" aufweisen (das heißt in ihrem Leistungsvermögen stark eingeschränkt sind und damit zum klassischen WfB-Klientel gehören), eine berufliche Qualifizierung und Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu bieten bei gleichzeitiger sozialer Absicherung, wie sie für Beschäftigte in der Werkstatt für Behinderte üblich sind (nichts geringeres als die Quadratur des Kreises?!) In einem ersten Schritt stellten sie Brit (später sind weitere behinderte Arbeitnehmer hinzugekommen) ein, und erhielten, wie jeder andere Arbeitgeber auch, Lohnkostenzuschüsse vom Arbeitsamt für die Einstellung schwerbehinderter Arbeitnehmer; der Rest an Lohnkosten wurde über Spenden abgedeckt. Brit hatte bereits während ihrer Schulzeit Praktika in Altersheimen gemacht, die Brits Stärken offenbarten: das sind ihr Einfühlungsvermögen, ihre Kommunikationsfähigkeit und ihre Fähigkeiten, sehr gut mit alten Menschen zurechtzukommen. Im Zuge einer gemeinnützigen Arbeitnehmerüberlassung ging Brit in ein Altentagespflegehaus und in ein privates Altersheim. Ziel war, auszuprobieren, wie für sie der Arbeitsalltag sinnvoll gestaltet werden könnte. Sie machte dort das, was in Hamburg innerhalb des ambulanten Arbeitstrainings praktiziert wird: ein training on the job, ein Lernen am konkreten Arbeitsort. Die Arbeitsanleitung wurde von Mitarbeitern der Altersheime (kostenlos) übernommen. Mittlerweile - nach drei Jahren - ist sie zu einem festen Bestandteil beider Häuser geworden; sie übt dort eine wichtige soziale Funktion aus, und wirkt auch für ihren kleinen Zuständigkeitsbereich als Entlastung. Das Problem ist jedoch, daß dieses Konstrukt keine Dauerlösung darstellt. Es funktioniert u.a. nur mit einem enormen Aufwand ehrenamtlichen Engagements der Eltern und des Vereins, was auf Dauer nicht tragbar ist. Um ihr Arbeitsverhältnis langfristig zu etablieren, wandten sich die Eltern an die Hauptfürsorgestelle, die für die Eingliederung schwerbehinderter Menschen ins Berufsleben zuständig ist. Mit dem Argument, daß Brits "Minderleistung" weit unter 50% liegt, gaben sie ihre Zuständigkeit ab und verwiesen auf den Landeswohlfahrtsverband (auch Landessozialamt genannt) als Kostenträger, zuständig für das stationäre Werkstattsystem. Es wurde angestrebt, in Kooperation mit einer Werkstatt für Behinderte aus ihrem Arbeitsplatz einen Außenarbeitsplatz zu machen. Nachdem die Eltern zunächst eine mündliche Zusage erhielten, wurde diese Vorgehensweise letztendlich jedoch abschlägig beschieden. Argument: Brits Tätigkeit ist eine ambulante Maßnahme (sie sind nicht zuständig, weil stationär) und Brit habe ja kein Arbeitstraining durchlaufen, könne also auch keinen Außenarbeitsplatz als WfB-Angehörige erhalten. Insofern hat es Brit also noch nicht ganz geschafft, ihren Arbeitsplatz auf dem allg. Arbeitsmarkt langfristig abzusichern.

Diese Vorgehensweise macht die Art und Weise deutlich, wie von der Seite der Kostenträger zur Zeit gedacht wird: die Integration auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist nur für Menschen vorgesehen, deren Leistungseinschränkung nicht zu groß sind. So gibt es den sogenannten Minderleistungsausgleich für Arbeitgeber auch nur dann, wenn die Minderleistung ein bestimmtes Maß nicht unterschreitet, was bedeutet, daß Menschen mit schwererer Behinderung überhaupt keine Chance haben, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt integriert zu werden. Die Frage drängt sich auf: Wenn die WfB als stationärer Arbeitsanbieter subventioniert wird (zu Recht!), warum dann nicht auch in gleicher Weise ein Arbeitgeber auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt?

Die geschilderten Einzelfälle machen deutlich, wie wenig das existierende System geeignet ist, den beruflichen Einstieg für Schulabgänger/innen und damit ihre berufliche Integration zu gewährleisten. Eltern müssen sich durch einen Dschungel arbeitsrechtlicher Problemfelder quälen; sie werden zu teilweise abenteuerlichen Konstruktionen gezwungen, wenn sie etwas erreichen wollen, was doch selbstverständlich sein sollte: die Integration behinderter Menschen in diese Gesellschaft!

Es bedarf grundsätzlich anderer und flächendeckenderer Strukturen, will man eine echte Alternative zur Werkstatt für Behinderte schaffen. Aber es scheint zur Zeit nicht möglich zu sein, das herrschende Schubladen-Denken aufzubrechen und - im Sinne der Betroffenen - vernünftige Wege und Finanzierungsmodelle zu entwickeln. Dabei muß es insgesamt nicht unbedingt darum gehen, mehr auszugeben, sondern die dafür bereit gestellten Gelder anders einzusetzen. Untersuchungen in den USA, die mittlerweile über 18-jährige Erfahrungen verfügen, zeigen, daß - alle ökonomischen Variablen eingerechnet - Unterstützte Beschäftigung billiger ist als das traditionelle Rehabilitationssystem; auch in Deutschland wurden Berechnungen von der Hamburger Arbeitsassistenz angestellt, die bestätigen, daß ein auf Dauer bezuschußter Platz in einer WfB teurer ist als ein unterstütztes Beschäftigungsverhältnis.

Aber die Diskussion sollte nicht auf die Finanzierungsfrage reduzieren werden. Primär geht es um Strukturveränderungen, um Veränderungen, die nicht notwendigerweise mehr kosten, die aber an den individuellen Bedürfnissen orientiert sind und sein müssen.

  • Es geht darum, Arbeitsassistenz möglich zu machen, für alle die, die eine alternative Beschäftigung außerhalb der WfB wünschen, unabhängig davon, in welchem Status sie sich befinden (ob als Praktikant/in oder als Arbeitnehmer/in)!

  • Es geht darum, das Arbeitstraining nicht nur an die WfB gebunden zu halten; als Einrichtung zur Eingliederung in das Arbeitsleben muß auch die Möglichkeit bestehen, es in ambulanter Form durchführen zu können, so daß die WfB ihrem eigenen Auftrag nachkommen kann!

  • Es geht darum, Eltern zu entlasten! Bisher tragen Eltern den Gedanken der Unterstützten Beschäftigung bzw. Arbeitsassistenz an die Verantwortlichen in den Ämtern (allen voran das Arbeitsamt) heran und leisten dort Pionierarbeit. Es ist notwendig, daß sich die Berater in den Arbeitsämtern über die neuen Modelle informieren und sich Gedanken über die Umsetzung machen!

  • Es geht vor allem darum, daß Schluß sein muß mit der Auseinanderdividiererei zwischen integrationfähigen und nicht integrationsfähigen, weil zu leistungsschwachen Menschen! Spätestens seit Änderung des Grundgesetzes: Zur Erinnerung: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden! müßte dieses Denken und Handeln der Vergangenheit angehören! Jeder und jede, egal wie schwer die Beeinträchtigung ist, muß das Recht und die Möglichkeit haben, entscheiden zu können, wo er bzw. sie arbeiten will und muß die entsprechenden Hilfen auch bekommen, egal ob in stationärem oder ambulantem Umfeld - sprich WfB oder allg. Arbeitsmarkt!

von Monika Scholdei-Klie, LAG Gemeinsam leben - gemeinsam lernen - Frankfurt

Quelle:

Monika Scholdei-Klie: Probleme beim Übergang von der Schule in den Beruf in Hessen

Erschienen in: impulse Nr. 14 / Dezember 1999

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 11.02.2005



[1] Das Projekt zur Qualifizierung von Jugendlichen mit Behinderung ist ein Gemeinschaftsprojekt vom hessischen Sozialministerium, Landesarbeitsamt Hessen und der LAG Gemeinsam leben - gemeinsam lernen. Diese Maßnahme soll Jugendlichen mit geistiger Behinderung oder Autismus, für die eine reguläre Ausbildung aus behinderungsbedingten Gründen nicht in Frage kommt, die Möglichkeit zur beruflichen Qualifikation bieten. Im Rahmen von sog. betrieblichen Fördereinzel-Maßnahmen sollen die Jugendlichen in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarkts den betrieblichen Ablauf, die Tagesstruktur und die im Betrieb anfallenden Arbeiten kennenlernen; sie sollen desweiteren für bestimmte, ihren Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten angelernt werden. Für den Mehraufwand erhalten die Betriebe einen pauschalen finanziellen Zuschuß vom Arbeitsamt. Zusätzlich ist sowohl für den Jugendlichen als auch für den Betrieb eine sozialpädagogische Unterstützung vorgesehen, die z.B. einen Förderplan erstellt, die intensivere Einarbeitungsphase aktiv begleitet, über behinderungsspezifische Probleme und Lernmöglichkeiten informiert und allgemein als Ansprechpartner für alle Beteiligten zur Verfügung steht. Die Dauer der Maßnahme beträgt zunächst ein Jahr und kann dann noch mal für ein weiteres Jahr verlängert werden.

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