Der Berufsbegleitende Dienst für geistig- und körperbehinderte Menschen im Rheinland

Ein Modellprojekt der Rheinischen Hauptfürsorgestelle

Autor:in - Dieter Schartmann
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: impulse Nr. 12, Juni 1999 impulse (12/1999)
Copyright: © Dieter Schartmann 1999

Der Berufsbegleitende Dienst für geistig- und körperbehinderte Menschen im Rheinland

Die Hauptfürsorgestelle Köln des Landschaftsverbandes Rheinland hat im Januar 1995 einen Berufsbegleitenden Dienst (BBD) als Modellprojekt zur beruflichen Integration geistig- und körperbehinderter Menschen in den allgemeinen Arbeitsmarkt eingerichtet. Das Modellprojekt hat eine Laufzeit von 5 Jahren und wird zu 100% aus Mitteln der Ausgleichsabgabe finanziert.

Dieser Artikel hat die Zielsetzung, das Modellprojekt einer breiteren Fachöffentlichkeit zugänglich zu machen und ausgewählte Erkenntnisse chronologisch - aus dem Modellverlauf - vorzustellen.

Teil 1

In einer Pilotphase wurden im Jahre 1995 an zwei Standorten im Rheinland - in Mönchengladbach und in Leverkusen - die Arbeit mit insgesamt 8 IntegrationsbegleiterInnen aufgenommen. Seit 1996 arbeiten an 8 Dienststandorten flächendeckend im gesamten Rheinland 20 IntegrationsbegleiterInnen.

Der Titel des Modellprojektes lautet "Übergänge von der Sonderschule/WfB in das Erwerbsleben". Mit der Wahl dieses Titel wird die ursprüngliche Intention des Projektes deutlich: nämlich sowohl Sonderschülern von Geistig- oder Körperbehindertenschulen als auch WfB-Mitarbeitern eine Alternative zur Arbeit in der Werkstatt für Behinderte anzubieten.

Sehr schnell ergab sich jedoch im 2. Jahr des Modellversuchs (1996) die Notwendigkeit, die Zielgruppen des BBD zu erweitern: zum einen wurde deutlich, daß rein quantitativ das Klientenaufkommen an Sonderschulen überschätzt wurde: die Behinderungen der an den Sonderschulen für Geistig- bzw. für Körperbehinderte unterrichteten Schülerinnen und Schüler waren häufig so stark ausgeprägt, daß eine Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt mit dem vorhandenen Instrumentarium (Arbeitsplatzeinrichtung durch die Hauptfürsorgestelle/ Lohnkostenzuschüsse durch das Arbeitsamt) nur für eine geringe Zahl der Schüler möglich erschien; zum anderen zeigte sich auch bei zwei weiteren Zielgruppen ein hohes Maß an Unterstützungsbedarf: nämlich bei arbeitslosen geistig- und körperbehinderten Menschen sowie in Arbeit stehenden geistig- und körperbehinderten Menschen.

Somit arbeitet der BBD im Rheinland seit 1996 mit insgesamt vier Klientenzielgruppen:

a.) geistig- und/oder körperbehinderten Schülerinnen und Schüler, um den Übergang Schule - Berufsleben zu begleiten;

b) Mitarbeiterinnen in Werkstätten für Behinderte, um mit ihnen gemeinsam den passenden Arbeitsort zu finden (WfB vs. Allgemeiner Arbeitsmarkt);

c) arbeitslosen behinderten Menschen, um einen fähigkeitsgerechten Arbeitsplatz zu finden, und

d) in Arbeit stehenden geistig- und/oder körperbehinderten Menschen, um bereits bestehende Arbeitsverhältnisse durch psychosoziale oder arbeitspädagogische Maßnahmen zu sichern.

Bei allen Zielgruppen ist es jedoch Voraussetzung für die weitergehende Betreuung, daß neben dem Vorhandensein formaler Eingangskriterien, wie z.B. dem Schwerbehindertenausweis, regionaler und behinderungsspezifischer Zuständigkeit - eine prinzipielle Vermittlungs- und Erwerbsfähigkeit vorliegt. Angesprochen werden soll somit eine Zielgruppe, die sich in ihren arbeitsbezogenen Fähigkeiten oberhalb der Anforderungen befinden, die normalerweise in einer Werkstatt für Behinderte gestellt werden, die aber ohne pädagogische Begleitung und - anfänglich auch intensive - Unterstützung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt überfordert wären (vgl. auch Ernst 1998, 156). Diesem Personenkreis soll durch den Berufsbegleitenden Dienst eine Alternative zur Werkstatt für Behinderte bzw. zur Arbeitslosigkeit offeriert werden. Es geht also keineswegs darum, mit jedem behinderten Menschen - unabhängig von seinen Fähigkeiten - Arbeitsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erschließen, sondern in Ergänzung zum Angebot der WfB mit dem oben angegebenen Personenkreis tätig zu werden. Nach einer Einschätzung der Universität - Gesamthochschule Siegen treffen diese Voraussetzungen allein für ca. 20% der geistig behinderten Werkstattmitarbeiter zu (LWL 1994, 145), für Österreich geben sogar Werkstattleiter 12% der in Werkstätten beschäftigten als in diesem Sinne vermittlungsfähig an (Schabmann & Klicpera 1997, 7).

Für den BBD bedeutet dies, daß sich an die Zuständigkeitsprüfung (s.o.) eine intensive Phase der Fähigkeitsabklärung anschließt mit dem Ziel, die vorhandenen Fähigkeiten des behinderten Menschen mit ihm gemeinsam herauszuarbeiten, Förderpotentiale zu entdecken und einen individuellen Integrationsplan gemeinsam zu entwickeln und umzusetzen.

Entsprechend ist auch die Konzeption des Modellprojektes angelegt. Nach der Plazierung eines behinderten Menschen in einen Betrieb des allgemeinen Arbeitsmarktes findet zwar häufig ein Arbeitstraining am Arbeitsplatz statt; dieses wird jedoch in der Regel vom BBD selber durchgeführt - und nicht von einem beauftragten, externen Arbeitstrainer. Dies hat zwangsläufig zur Folge, daß die Betreuungszeiten am Arbeitsplatz relativ schnell wieder reduziert werden müssen, um auch den übrigen zu begleitenden Klienten Zeitressourcen zur Verfügung stellen zu können. In - seltenen und begründeten - Ausnahmefällen ist jedoch auch ein längerfristiges Arbeitstraining durch externe, firmenfremde Arbeitstrainer in enger Abstimmung mit dem zuständigen BBD möglich.

Teil 2

Im Jahre 1997 ließ die Hauptfürsorgestelle Köln eine flächendeckende Betriebsbefragung im Rheinland durchführen (vgl. im folgenden LVR 1988). Das infas-Institut (Bonn) hat die Befragung in Absprache mit der Hauptfürsorgestelle konzipiert, durchgeführt und ausgewertet. Insgesamt wurden 515 Betriebe in die Analyse einbezogen. Fragestellungen der Betriebsbefragung waren unter anderem:

  1. Welche Dienstleistungen erwarten Betriebe von einem Berufsbegleitenden Dienst?

  2. Welche Erfahrungen haben Betriebe mit geistig- und körperbehinderten Menschen gemacht? Welchen Klienten werden durch die Betriebe Integrationschancen eingeräumt?

Zu 1) Die Betriebe, mit denen der Berufsbegleitende Dienst im Rheinland zusammengearbeitet hat, zeigen deutliche Erwartungshaltungen gegenüber dem BBD. Die Bereitschaft, schwerbehinderte Menschen in ihren Betrieb einzustellen, machen die befragten Funktionsträger vor allem von zwei Bedingungen abhängig: zum einen ist ihnen die paßgenaue Besetzung des Arbeitsplatzes sehr wichtig, zum anderen aber auch die Einarbeitung (das Training) am Arbeitsplatz.

Diese beiden Eingangsbedingungen stellen gleichzeitig die beiden inhaltlichen Schwerpunkte des Aufgabenprofils des BBD dar: auf der Basis der oben beschriebenen Fähigkeitsdiagnostik wird ein Abgleich mit den vorhandenen Anforderungen des Arbeitsplatzes vorgenommen, so daß Betriebe davon ausgehen können, vom BBD eine differenzierte Analyse bezüglich der Paßgenauigkeit zu erhalten - gegebenenfalls mit Vorschlägen zur Modifikation der Anforderungsstruktur beziehungsweise mit Hinweisen zur behinderungsgerechten Ausgestaltung des Arbeitsplatzes. Vor diesem Hintergrund wird dann ein individuelles Trainingsprogramm zwischen Arbeitgeber, behinderten Menschen und dem BBD abgesprochen.

Die beiden genannten Einstellungsvoraussetzungen aus Sicht der Betriebe (Paßgenauigkeit und Einarbeitung) sind zwei Dienstleistungsangebote des BBD, die den Bedürfnissen der Betriebe sehr genau entsprechen und somit auch die Relevanz des BBD im System der beruflichen Integration eindeutig belegen.

Zu 2) Die Ansprechpartner in den Betrieben wurden nach ihren Erfahrungen mit der Beschäftigung geistig- und körperbehinderter Menschen gefragt. Es zeigte sich, daß mit körperbehinderten Menschen überwiegend positive Erfahrungen gemacht wurden; dies betraf nicht nur die Beziehungen zu Kollegen und den Kommunikationsstil, sondern auch "harte betriebswirtschaftliche Faktoren" wie die Leistungsfähigkeit oder die Einsetzbarkeit in Gruppen. Zudem sind die betrieblichen Einsatzmöglichkeiten in dieser Personengruppe recht variabel, was mit der relativen Heterogenität der Fähigkeitsstruktur körperbehinderter Menschen zu erklären ist. Dementsprechend weisen die Betriebe körperbehinderten Menschen - wenn der Arbeitsplatz entsprechend technisch ausgestattet wird und finanzielle Fördermöglichkeiten gegeben sind - die größten Integrationschancen zu.

Mit der Beschäftigung geistig behinderter Mitarbeiter wurden unterschiedliche Erfahrungen gemacht: positiv wurden von den Betrieben die kollegialen Beziehungen zu nicht behinderten Menschen, die Auswirkungen auf das Betriebsklima, den Krankenstand und - zu immerhin noch 65% - die Qualität der Leistung bewertet. Als überwiegend negativ wurden - erwartungsgemäß - die flexible Einsetzbarkeit und die Weiterbildungsfähigkeit eingeschätzt. Diese Aussagen werden durch das Einsatzprofil von geistig behinderten Menschen in den Betrieben gestützt: diese Personengruppe wird überwiegend in den Bereichen "Fertigung, Produktion, Montage", "Materialwirtschaft, Lager, Versand" und "Kantine, Wirtschaftsbetrieb" eingesetzt. Diesem relativ eingeschränkten Einsatzprofil entsprechen die Integrationschancen, die geistig behinderten Menschen von Arbeitgebern eingeräumt werden: hier ist es vor allem der Ausprägungsgrad der Behinderung, von dem die Integrationsmöglichkeiten abhängig sind. Während 30% der Arbeitgeber Menschen mit einer leichten geistigen Behinderung bei technischer und finanzieller Unterstützung Arbeitsmarktchancen einräumen, sind dies bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung nur 4%.

Insgesamt bestätigt die Betriebsbefragung die konzeptionellen Vorgaben der Hauptfürsorgestelle: auch von Seiten der Arbeitgeber werden zum einen differenzierte Aussagen über die potentielle Paßgenauigkeit von Mensch und Arbeitsplatz erwartet (d.h. es besteht Bedarf an einer detaillierten Fähigkeitsdiagnostik), andererseits dürfen nach Ansicht der Betriebe die Auswirkungen der Behinderung nicht besonders gravierend sein, wenn die berufliche Integration eine realistische Chance sein soll.

Teil 3

Im Jahre 1998 wurde eine erste Auswertung der Klientendaten auf struktureller Basis vorgenommen. Auch diese Auswertung wurde vom Sozialforschungsinstitut infas im Auftrag der Hauptfürsorgestelle durchgeführt. An dieser Stelle soll nur auf einen Punkt eingegangen werden. Es hat sich gezeigt, daß der direkte Übergang von der Sonderschule in den allgemeinen Arbeitsmarkt wesentlich leichter gelingt als der Übergang von der Werkstatt für Behinderte in den allgemeinen Arbeitsmarkt. So fanden 66% aller vom BBD betreuten Sonderschüler eine Anstellung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, die Übergangsquote von der WfB in den allgemeinen Arbeitsmarkt fiel hingegen wesentlich geringer aus. Auf die Begründungen dafür, die sicherlich sehr differenziert herausgearbeitet werden müßten, kann im Rahmen dieses Artikels nicht eingegangen werden.

Das Jahr 1999 ist das letzte Jahr des Modellprojektes. Es wird in diesem Jahr darum gehen, das Projekt in die Regelfinanzierung zu überführen, um die kontinuierliche Begleitung geistig- und körperbehinderter Menschen in den allgemeinen Arbeitsmarkt sicherzustellen.

Literatur

Ernst, K. F. (1998). Integrationsfachdienste für besonders betroffene Schwerbehinderte - eine Zwischenbilanz aus Sicht der Hauptfürsorgestellen; IN: Behindertenrecht, 37, 155-160 Landschaftsverband Rheinland (LVR) (Hg.) (1998): Übergang von der Sonderschule/WfB in das Erwerbsleben, 3. Zwischenbericht (Betriebsbefragung), Köln [Dieser Bericht ist kostenlos erhältlich bei: Landschaftsverband Rheinland - Hauptfürsorgestelle - Berufsbegleitender Fachdienst, 50679 Köln]

Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) (Hg.) (1994): Kriterien zur Verbesserung der Entscheidungssicherheit bei der Eingliederung Behinderter in Werkstätten für Behinderte oder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, Münster

Schabmann, A.; Klicpera, C. (1997): Welche Berufe üben Menschen mit geistiger Behinderung am offenen Arbeitsmarkt aus? Erfahrungen von Experten und Betroffenen in Österreich; IN: Geistige Behinderung, 36, 5-12

Dieter Schartmann, Landschaftsverband Rheinland - Hauptfürsorgestelle

Quelle:

Dieter Schartmann: Der Berufsbegleitende Dienst für geistig- und körperbehinderte Menschen in Rheinland - ein Modellprojekt der Rheinischen Hauptfürsorgestelle

Erschienen in: impulse Nr. 12 / Juni 1999

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 15.02.2005

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