Behindertenpolitik mit dem Einkaufskorb

Die Idee Unternehmen auf ihre Behindertenpolitik hin zu testen

Autor:in - Volkmar Lübke
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: impulse Nr. 10, Okt. 1998 impulse (10/1998)
Copyright: © Volkmar Lübke 1998

Behindertenpolitik mit dem Einkaufskorb

Im Rahmen der Jahrestagung der BAG UB in Mannheim wurde in einer Arbeitsgruppe ein neues Konzept der Verbraucherinformation vorgestellt und bearbeitet, das auch zur stärkeren Förderung von Behinderteninteressen in Unternehmen genutzt werden kann: der "sozial-ökologische Unternehmenstest".

Die Grundidee des "Unternehmenstests" ist denkbar einfach: zunehmend wollen Verbraucherinnen und Verbraucher nicht mehr nur über die Qualität und den Preis von Produkten Bescheid wissen, sondern auch erfahren, welche Unternehmen sie mit ihren Kaufentscheidungen unterstützen. Firmen, deren gesellschaftliche Wirkung sie gutheißen können, würden sie dabei eher bevorzugen, als Unternehmen, deren gesellschaftspolitische Rolle ihnen - aus welchen Gründen auch immer - problematisch erscheint. In der jüngeren Vergangenheit war das sicherlich spektakulärste Beispiel für den Effekt, den Konsumenten ausüben können, wenn sie einer Firma öffentlich das Vertrauen entziehen, der Shell-Boykott. Er wurde anläßlich der Absicht des Unternehmens, die Plattform "Brent Spar" in der Nordsee zu versenken, ausgerufen und führte letztlich zur Änderung der Firmenpolitik. Man muß aber nicht unbedingt darauf warten, daß wieder einmal eine ungewöhnlich günstige Kombination von Bedingungsfaktoren wie beim Fall "Brent Spar" auftritt, um über das Konsumentenverhalten Einfluß auf Unternehmenspolitiken auszuüben. Etwa zwei Drittel der deutschen Verbraucher geben in Befragungen an, daß sie eher die Produkte von Unternehmen bevorzugen würden, die ihre ökologische und soziale Verantwortung wahrnehmen, wenn ja wenn sie nur die entsprechenden Informationen als Entscheidungsgrundlage zur Verfügung hätten. Da es hier jedoch fast überall an der notwendigen Transparenz mangelt, kann der "Wettbewerb um die verantwortlichste Unternehmensführung" bisher nicht voll einsetzen und entfaltet noch kaum eine Wirkung.

Genau diese Schwachstelle im marktwirtschaftlichen System will der "sozial-ökologische Unternehmenstest" beseitigen helfen. Das Institut für Markt - Umwelt - Gesellschaft (imug) in Hannover leistet seit einigen Jahren Pionierarbeit auf dem Gebiet, Verbrauchern eine völlig neue Art von Einkaufsratgebern an die Hand zu geben. Zusammen mit Verbraucherorganisationen veröffentlicht es "Unternehmenstester", die Anbieter in bestimmten Branchen (z.B. der Lebensmittelindustrie, der Körperpflegeindustrie, usw.) vergleichen und daraufhin bewerten, inwieweit sie ihrer ökologischen und sozialen Verantwortung gerecht werden. Im Bereich der sozialen Verantwortung werden die Berücksichtigung der Arbeitnehmer- und Verbraucherinteressen, das Vorhandensein von Frauenförderungs-Maßnahmen, Ausländer-Integration, Aspekte der Dritte-Welt-Interessen und eben auch die Behindertenpolitik der Unternehmen untersucht. Da die Unternehmenstester kein "Gesamturteil" bilden, sondern die einzelnen Bereichsurteile in übersichtlichen Profilen nebeneinandergestellt werden, ist es jedem Nutzer dieser Ratgeber auf eine Blick möglich, die Unternehmen zu identifizieren, die den eigenen ethischen Kriterien entsprechen oder dies gerade nicht tun. Es wird den Verbraucherinnen und Verbrauchern damit möglich, nur noch Produkte von den Unternehmen zu kaufen, die sie wirklich unterstützen möchten.

Im Rahmen der "Aktion Grundgesetz" ist nun die Idee entstanden, den Ansatz des "Unternehmenstests" auch für eine spezielle und vertiefte Untersuchung der Aktivitäten deutscher Unternehmen und Behörden im Felde der Behindertenpolitik zu nutzen, die zur Erhöhung des Informations- und Bewusstseinsstandes bei Entscheidern, aber auch zur stärkeren Motivation für ein erhöhtes Engagement über marktliche Anreize genutzt werden kann. Die Resultate einer derartigen Untersuchung haben außerdem den Charakter von Marktforschungsergebnissen, die ihren Wert insbesondere dann entfalten können, wenn es um die stärkere Einbeziehung der Wirtschaft in die Aktivitäten der "Aktion Grundgesetz" gehen soll.

Eine zentrale Voraussetzung für die Akzeptanz der Ergebnisse von "Unternehmenstests" ist es, daß die ausgewählten Kriterien dazu befähigen, zwischen einer vorbildlichen und einer ungenügenden Behindertenpolitik (und entsprechenden Zwischenstufen) zu differenzieren. Die Bewertungskriterien müssen also möglichst genau das repräsentieren, was idealerweise von allen Akteursgruppen im Feld als "Maß für die Behindertenfreundlichkeit" eines Unternehmens angesehen wird. Im Projekt "Unternehmenstest" wurde für die Arbeit an der Kriteriendefinition ein gesellschaftlicher Beirat gegründet, in dem Vertreter der jeweiligen Anspruchsgruppen zusammenarbeiten und die Kriteriensysteme vor jedem Test zur Kenntnis erhalten und kommentieren. Außerdem werden Workshops zu Einzelfragen durchgeführt sowie Fachverbände um schriftliche Kommentare gebeten, um möglichst viele relevante Positionen berücksichtigen zu können.

Im Ergebnis sind die gewählten Kriterien allerdings immer ein Kompromiß und dies in zweifacher Hinsicht: zum einen muß die Gesamtanzahl von Kriterien in einem Maß bleiben, daß die entsprechenden Fragebogen von den Unternehmen noch beantwortet werden. Die Folge ist, daß eine Beschränkung auf diejenigen Schlüsselkriterien notwendig ist, die als wichtigste Indikatoren für die Qualität der Behindertenpolitik gelten können. In den bisher durchgeführten "Unternehmenstests" sind dies:

  • Die tatsächliche Höhe der Beschäftigungsquote

  • Das Vorhandensein einer Schwerbehindertenvertretung (entspr. den gesetzl. Grundlagen)

  • Die Erteilung von Aufträgen an Behindertenwerkstätten

  • Die Berücksichtigung von §14.3 Schwerbehindertengesetz bei baulichen Maßnahmen und betrieblichen Einrichtungen

  • Sonstige spezielle Maßnahmen zum Nachteilsausgleich für Behinderte

Bei der Diskussion mit Betroffenen ist eine häufige erste Reaktion auf diese Kriterienliste, daß sofort eine ganze Anzahl von weiteren Kriterien benannte werden, die ebenfalls als Indiz für eine gute Behindertenpolitik gelten können. Auf die Problematik der Notwendigkeit zur Priorisierung der Kriterien hingewiesen, werden die genannten Aspekte allerdings weitgehend als wichtigste akzeptiert.

Die zweite Bedingung für die Auswahl geeigneter Kriterien besteht darin, daß die Kriterien idealerweise auch aus unternehmensunabhängigen Quellen stammen - oder zumindest anhand derartiger Quellen überprüfbar sein sollten. Falls dies nicht möglich ist, sollte wenigstens gelten, daß die Daten "im Prinzip überprüfbar" sind, d.h., daß sie als "Datenspuren" bei den Beteiligten existieren, da sie sowieso erfasst bzw. gemeldet werden müssen. Mit dieser Bedingung ist auch das ab und an gehörte Argument zu entkräften, daß Unternehmen die Verweigerung der Angabe von Daten mit dem zu hohen Erhebungsaufwand begründen.

Bei einer speziellen Untersuchung, die sich ausschließlich mit dem Thema "Behindertenfreundlichkeit" von Unternehmen und Behörden befasst, ist es prinzipiell möglich, über die oben genannten "Kern-Kriterien" hinauszugehen. In der Arbeitsgruppe der Mannheimer Tagung wurde deshalb auch der Frage nachgegangen, welche weiteren Kriterien zur Beurteilung der Behindertenpolitik sinnvoll wären. Diese Arbeitsphase brachte die folgenden Ergebnisse:

Mit diesem Verlauf und den genannten Ergebnissen wurde in der Arbeitsgruppe exemplarisch ein Workshop durchgeführt, wie er zur näheren Auswahl geeigneter Kriterien mit Gruppen von Experten und Betroffenen üblicherweise stattfindet. Im Falle der Durchführung eines speziellen Unternehmenstests zur Behindertenpolitik werden diese Ergebnisse und die Resultate weiterer derartiger Veranstaltungen in die Kriteriendefinition einbezogen werden.

Steckwandabschrift des Workshops "Unternehmenstest "

Kriterien, an denen man die "Behindertenfreundlichkeit" von Unternehmen messen kann und Bewertung ihrer relativen Wichtigkeit:

Punkte

Kriterien

   

9

Neueinstellung von Schwerbehinderten auf neugeschaffene Arbeitsplätze

Bereitschaft, neue zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen

Schaffung von Arbeitsplätzen für wenig qualifizierte Arbeitnehmer mit Behinderung

5

Bereitschaft zur thematischen Auseinandersetzung, z. B. Mitarbeiterschulung, Koop. mit Fachdiensten

Wie werden Teams auf behinderte Mitarbeiter vorbereitet?

 

5

Wieviele Arbeitsplätze sind auf die Behinderung zugeschnitten worden?

Flexibilität in Aufteilung von Arbeitsfeldern und -inhalten, um Nischen zu schaffen oder fähigkeitsbezogen zu gestalten

 

5

Können Sie sich vorstellen, Ihre Behindertenquote zu erhöhen?

Hat "Behindertenfreundlichkeit" als Teil Ihrer Firmenphilosophie einen positiven Einfluss auf Ihren Firmenerfolg?

 

4

Wieviele der im Betrieb beschäftigten SB wurden als SB neu eingestellt?

   

3

Bereitstellung von Praktikumsplätzen zur Überprüfung der Leistungsfähigkeit (Leistungsminderung?)

   

3

Betriebsinterne "Patenschaften"

   

2

Schaffung behindertengerechter Arbeitsplätze durch bauliche / technische / organisatorische Massnahmen

Werden Massnahmen im Bereich der Arbeitsgestaltung durchgeführt?

Ist der Betrieb Behinderten zugänglich (barrierefrei)?

2

Besteht Einstellungsbereitschaft für geistige Behinderte? Für psychisch Behinderte?

Können Sie sich vorstellen, neue Arbeitsplätze für geistig Behinderte / Leistungsgeminderte zu schaffen?

 

2

Kooperation mit berufsbegleitenden Diensten (überhaupt? Wann?)

   

Volkmar Lübke von (imug) Hannover

Quelle:

Volkmar Lübke: Behindertenpolitik mit dem Einkaufskorb - Die Idee Unternehmen auf ihre Behindertenpolitik hin zu testen

Erschienen in: impulse Nr. 10 / Okt. 1998

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 17.02.2005

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