Handlungspflicht

Die Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention für das Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben

Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: impulse Nr. 61, 02/2012, Seite 6-9. Schwerpunktthema: Das Modellprojekt JobBudget impulse (61/2012)
Copyright: © Peter Trenk-Hinterberger 2012

1. Leitideen des Art. 27 BRK

Um die Bedeutung des Art. 27 BRK für das Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben analysieren und bewerten zu können, müsste eigentlich zunächst der Inhalt und der rechtliche Gehalt dieses Artikel im Einzelnen vorgestellt werden. Dies kann in einem Kurzbeitrag[1] allein schon deshalb nicht geleistet werden, weil Art. 27 BRK zu den längsten Artikeln der Konvention gehört und allein der erste Absatz elf Unterabsätze (mit zum Teil detaillierten Vorgaben für die Vertragsstaaten) umfasst. Auf Art. 27 Abs. 2 BRK wird deshalb überhaupt nicht eingegangen. Der zweite Absatz des Art. 27 BRK verpflichtet nämlich die Vertragsstaaten sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen nicht in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden und dass sie gleichberechtigt mit anderen vor Zwangs- und Pflichtarbeit geschützt werden. Angesichts der geringen praktischen Bedeutung dieses Absatzes - jedenfalls in Deutschland - erscheint es gerechtfertigt, nicht näher auf ihn einzugehen.

Der Beitrag konzentriert sich auf zwei zentrale Leitideen des Art. 27 Abs. 1 BRK, deren mögliche Bedeutung für das Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben beleuchtet wird. Die erste Leitidee lautet: "So wenig Sonderarbeitswelten wie möglich und Sonderarbeitswelten so regulär wie möglich". Die zweite Leitidee besagt: "Schrittweise Ausgestaltung eines inklusiven Arbeitsmarktes".



[1] Schriftfassung eines Kurzvortrages anlässlich einer Fachtagung zur Verabschiedung des ehemaligen Bundesgeschäftsführers der Lebenshilfe, Herrn Klaus Lachwitz, am 20.01.2012 in Berlin Die Vortragsform wird beibehalten, der vorgetragene Text ist lediglich um Fußnoten ergänzt.

2. So wenig Sonderarbeitswelten wie möglich und Sonderarbeitswelten so regulär wie möglich

Aus einer Gesamtschau des Art. 27 Abs. 1 BRK (und den Vorgaben in den einzelnen Unterabsätzen der Buchstaben a) bis k)) sowie aus dem das die gesamte Konvention prägenden Gleichheits- und Deinstitutionalisierungskonzept (vgl. z. B. Art. 19 Buchst. a) BRK) wird man folgern können, dass

  • die Vertragsstaaten verpflichtet sind, ausschließliche institutionelle Sonderwege für Menschen mit Behinderungen im Bereich von Arbeit und Beschäftigung zu beseitigen (also z.B. die alternativlose Beschäftigung in "beschützenden", nur Menschen mit Behinderungen vorbehaltenen Einrichtungen), und

  • die Vertragsstaaten zudem die Rechtspflicht triff t, ihre Rechtsordnung auf die Vereinbarkeit mit der Leitidee "So wenig Sonderarbeitswelten wie möglich und Sonderarbeitswelten so regulär wie möglich" kritisch zu überprüfen. Insofern hat diese Leitidee eine "Entdeckerfunktion"[2]: Es gilt, in der geltenden Rechtsordnung zu entdecken, welche Regelungen unvereinbar mit dieser Leitidee sind und welche geschaffen werden müssen, um diesem Postulat zu genügen.

Die Diskussion dieser Leitidee "So wenig Sonderarbeitswelten wie möglich und Sonderarbeitswelten so regulär wie möglich" ist zur Zeit in vollem Gange, die zahlreichen "Entdeckungen", die bei dieser Diskussion gemacht werden, sind freilich kaum mehr zu überschauen. Hier kann nur auf einige wenige Beispiele hingewiesen werden:

  • So wird vorgeschlagen, die "beschützenden" Beschäftigungseinrichtungen wie die Werkstätten für behinderte Menschen gänzlich abzuschaffen.[3] Zumindest sollen aber Werkstätten für behinderte Menschen zu einem sozialräumlich organisierten Dienstleister umgestaltet werden, einem Dienstleister, der mit dem allgemeinen Arbeitsmarkt vielfältig vernetzt ist und der differenzierte Beschäftigungsmöglichkeiten organisiert (und zwar, anders als z.B. in § 136 Abs. 2 SGB IX, auch Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf, also im Sinne einer "inklusiven" Werkstatt für behinderte Menschen)[4],

  • so wird die Überprüfung des Rechtsstatus von Werkstattbeschäftigten und der Rechtsstellung des Werkstattrates (§ 139 SGB IX) gefordert und die Höhe der Entlohnung von Werkstattbeschäftigten für unvereinbar mit Artikel 27 BRK erklärt[5],

  • so werden neue Wege für eine Beschäftigung von voll erwerbsgeminderten Personen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aufgezeigt[6] (Stichworte: neue Leistungsanbieter anstelle von Werkstätten für behinderte Menschen, Budget für Arbeit, also Verlagerung von einrichtungsbezogenen zu personenzentrierten Teilhabeleistungen),

  • und ferner: es wird ein langfristiger staatlicher Minderleistungsausgleich bei Beschäftigung behinderter Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt vorgeschlagen,[7]

  • und schließlich, nur um ein letztes Beispiel zu nennen: es wird die Erhöhung der Beschäftigungspflichtquote und der Ausgleichsabgabe verlangt[8].

‚Marktkonforme' Teilhabe oder Gegenentwurf zum neoliberalen Arbeitsmarkt?; Foto: Shannon Clark [CC-BY 2.0] Wikimedia Commons

Auch wenn etliche dieser Vorschläge und Forderungen schon vor der BRK diskutiert wurden, ist festzustellen: Mit Art. 27 Abs. 1 BRK hat diese Diskussion neue inhaltliche Impulse, einen neuen politischen Schwung und eine neue rechtliche Qualität erhalten. Allein dies macht schon die Bedeutung des Art. 27 Abs.1 BRK für die Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben deutlich.



[2] Zur "Entdeckerfunktion" der Menschenrechte vgl. J. Habermas, Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte, in: J. Habermas, Zur Verfassung Europas - Ein Essay, Berlin 2011, S. 13 ff. (18).

[3] Dazu S. Graumann, Assistierte Freiheit - Von einer Behindertenpolitik der Wohltätigkeit zu einer Politik der Menschenrechte, Frankfurt/New York 2011, S. 74.

[4] Vgl. St. Doose, Inklusion und Teilhabe am Arbeitsleben - Die UN-Behindertenrechtskonvention Artikel 27 und die Folgen, Das Band 2010, Heft 2, 9 ff. (11).

[5] Vgl. St. Doose (oben Fn. 4), S. 11.

[6] Ausführlich dazu S. Wendt, Reformvorschläge zur Beschäftigung von voll erwerbsgeminderten Personen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, Behindertenrecht 2010, 149 ff.

[7] St. Doose (oben Fn. 4), S. 11.

[8] Vgl. DGB Bundesvorstand, Eine Arbeitswelt für alle - Ein Diskussionspapier des DGB zur besseren beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen entsprechend der UN-Konvention, März 2010, S. 9 (abrufbar unter www.dgb.de).

3. Schrittweise Ausgestaltung eines inklusiven Arbeitsmarktes

Mit der skizzierten ersten Leitidee ("So wenig Sonderarbeitswelten wie möglich und Sonderarbeitswelten so regulär wie möglich") hängt eng zusammen die zweite Leitidee, also "Schrittweise Ausgestaltung eines inklusiven Arbeitsmarktes". Es ist die Leitidee, dass Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld "inklusiv" sein müssen (so die verbindliche englische Version - "inclusive" -; unzutreff end hingegen die Übersetzung "integrativ" in dem im Bundesgesetzblatt veröffentlichten Text der BRK).[9] Übersetzt man aber "inklusiv", dann kommt in der Regelung zum Ausdruck, dass es nicht nur darum gehen kann, Menschen mit Behinderungen an einen unverändert vorgegeben Arbeitsmarkt anzupassen, diese Menschen also "marktkonform" einzugliedern, sondern dass es zugleich darauf ankommt, diesen Arbeitsmarkt so umzugestalten, dass er seinerseits an die Lebenslage Behinderung angepasst wird. Dabei geht es nicht nur um eine Rechtspflicht der Vertragsstaaten zu Maßnahmen der Bewusstseinsbildung (vgl. auch Art. 8 Abs. 2 Buchst. a) iii) BRK), sondern auch um die Rechtspflicht zu Maßnahmen, die dazu führen, dass behinderte Menschen mit ihren Fertigkeiten und Fähigkeiten in einer entsprechend veränderten Arbeitswelt tätig werden können und - in weiterer Konsequenz - dass schrittweise die Rahmenbedingungen für eine inklusive Arbeitswelt für alle Beschäftigten - mit und ohne Behinderungen - geschaffen werden

Den Weg freimachen für einen inklusiven Arbeitsmarkt; Foto: 4028mdk09 [CC-BY-SA-3.0] Wikimedia Commons

Wie verhält sich nun diese Leitidee eines anzustrebenden inklusiven Arbeitsmarktes zum real existierenden Arbeitsmarkt, der vom akademischen und politischen Neoliberalismus[10] geprägt ist und der vom Konkurrenzdenken, vom Gewinnstreben, von der betriebswirtschaftlichen Effizienz und von der Tendenz zur Exklusion[11] bestimmt wird? So muss etwa aus neoliberaler Sicht der Arbeitsmarkt so gestaltet sein, dass die Unternehmerseite entlastet wird, um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sowie das Wirtschaftswachstum - und damit auch die internationale Konkurrenzfähigkeit - zu befördern. Angesagt ist auf dem neoliberalen Arbeitsmarkt Kostensenkung, nicht Kostenmehrung. So ist es aus dieser Sicht zum Beispiel auch konsequent, dass Kostensenkung durch "Freisetzung" von sogenannten Minderleistern, auch "Low-Performer" genannt, Gegenstand von Managmentseminaren ist.[12] Und es gehört zur gängigen Einschätzung, dass behinderte Menschen weniger flexibel einsetzbar und weniger belastbar sind, eine geringere Arbeitsleistung erbringen, höhere Kosten verursachen und Mehrarbeit bei anderen Arbeitnehmern erzeugen, mit anderen Worten: dass sie nur sehr eingeschränkt für die ökonomische Wertschöpfung "nutzbar" sind.[13] Der Hohepriester der neoliberalen Wirtschaftstheorie, Friedrich A. von Hayek, hat dies auf den Punkt gebracht. Seiner Meinung nach ist für behinderte Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kein Platz. Vielmehr sollen stattdessen Personen "... wie Kranke, Alte, körperlich und geistig Behinderte ..." lediglich eine soziale Mindestsicherung (abseits vom Arbeitsmarkt) erhalten.[14] Verhaltener äußern sich heute professorale Großunternehmer, die sich in der politischen Arena gerne als neutrale Sachverständige bewundern lassen. So formuliert etwa Hans-Werner Sinn (vom ifo Institut): "... ein Beschäftigungszwang wie etwa bei Behinderten würde die Grundregeln des marktwirtschaftlichen Systems unterminieren und auch entwürdigend wirken".[15]

Und weiter: Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände betont in ihrer Stellungnahme vom Oktober 2011 eine "marktkonforme" (also die bestehenden Marktstrukturen unangetastet lassende) "Verwirklichung des Ziels für mehr Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in Gesellschaft und Arbeitsleben"[16].

Mit diesen wenigen - zugegeben: zugespitzten und nicht ohne polemischen Unterton vorgetragenen - Hinweisen soll gesagt sein, dass Art. 27 Abs. 1 BRK und sein Postulat nach einem anzustrebenden "inklusiven" Arbeitsmarkt einen "Gegenentwurf" zum realen, neoliberal geprägten und zur Exklusion neigenden Arbeitsmarkt beinhaltet.



[9] So auch die Schattenübersetzung des NETZWERK ARTIKEL 3 e.V., Berlin 2009, S. 25.

[10] Zum akademischen Neoliberalismus (und seinen unterschiedlichen Varianten) sowie zum politischen Neoliberalismus (z.B. zu Flexibilisierung und Deregulierung des Arbeitsmarktes) eingehend die Monographie von B. Walpen, Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft, Hamburg 2004.

[11] Exklusion (und damit einhergehende Ungleichheit) verstanden als ökonomisches Element zur "Belebung" der Wirtschaftsdynamik.

[12] Vgl. z.B. das Angebot von Managementseminaren unter demn Titel "Minderleister raus! - Umgang mit C-Mitarbeitern" (abrufbar unter www.managerseminare.de). Zur rechtlichen Diskussion um "Low Performer" vgl. z.B. V. Stück, Low Performern die Grenzen aufzeigen, AuA 2007, 720 ff,; F. Zaumseil, Die Minderleistung als Kündigungsgrund, Frankfurt/M. 2010.

[13] Dazu A. Jakobs, Der Einfl uss des Behindertenrechts auf die Personalpolitik von Unternehmen - Theoretische Analysen und empirische Befunde, Hamburg 2007, S. 120.

[14] Vgl. Friedrich A. Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit - Eine Neufassung der liberalen Grundsätze der Gerechtigkeit und der politischen Ökonomie, Tübingen 2003, S. 361. Bemerkenswert ist auch die Einschätzung, die von Hayek (a.a.O., S. 256) zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten äußert: "Schon das kleinste Quäntchen von gesundem Menschenverstand hätte den Verfassern des Dokuments (TH: gemeint sind die Verfasser des entsprechenden Menschenrechtspakts) sagen müssen, daß das, was sie zu allgemeinen Rechten erklären, in der Gegenwart und für alle vorhersehbare Zukunft vollkommen unerreichbar ist."

[15] So im Internet-Diskussionsforum der CESifo Group München am 16.4.2010 in einer Antwort auf einen Diskussionsbeitrag um Mindestlohn (abrufbar unter: www.cesifo-group.de/portal/page/portal/ifoHome/Bpolitik/95discforum/25discfor_aktsoz).

[16] Schriftliche Stellungnahme der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 17. Oktober 2011 - Nationaler Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, in: Deutscher Bundestag, Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucksache 17(11)597, S. 3.

4. Schlussfolgerung

Resümierend bleibt festzustellen, dass die beiden vorgestellten zentralen Leitideen des Art. 27 Abs. 1 BRK, also "So wenig Sonderarbeitswelten wie möglich und Sonderarbeitswelten so regulär wie möglich" sowie "Schrittweise Ausgestaltung eines inklusiven Arbeitsmarktes" eine Rechtspflicht der Vertragsstaaten zur Realisierung einer Vision beinhalten, einer Vision mit dem Ziel einer humaneren und gerechteren Arbeitswelt. Und dabei darf die normative Geltung dieser Rechtspflicht nicht von der Frage abhängig gemacht werden, welche Chancen man ihrer Umsetzung einräumt: Die Rechtspflicht, eine humanere und gerechtere Arbeitswelt zu schaffen, darf man eben nicht nach einer zynischen Kalkulation der aktuellen Erfolgsaussichten bemessen.

Prof. Peter Trenk - Hinterberger

Prof. Peter Trenk - Hinterberger ist emeritierter Ordinarius für Arbeits- und Sozialrecht der Universität Bamberg

Kontakt und nähere Informationen

E-mail: trenk-hinterberger@t-online.de

Quelle:

Peter Trenk-Hinterberger: Handlungspflicht. Die Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention für das Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben.

Erschienen in: impulse Nr. 61, 02/2012, Seite 6-9.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 07.04.2014

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