Spielhausen - Live is live!

Eine Spielstadt im Rahmen der politischen Bildung für Menschen mit geistiger Behinderung

Themenbereiche: Lebensraum
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 1-98 Gemeinsam leben (1/1998)
Copyright: © Luchterhand 1998

Die Idee

Die seit Mini-München vielfach kopierte Idee der Spielstadt als ästhetischem Lern- und Erfahrungsraum einmal in Anwendung zu bringen vor dem Hintergrund des momentan besonders brisanten Anspruchs politischer Bildung für Mitbürger mit geistiger Behinderung und des Ideals der sozialen Integration unter dem Slogan "Es ist normal, verschieden zu sein!", dies war de Motivation zur Planung und Realisierung des vorliegenden Projektes.

Die Spielstadt sollte ein großes, aufregendes Spiel werden, in dem sich Leben und Arbeiten, Politik und Kultur, politisches Handeln in Realität und Fiktion verbinden.

Die Realisierung

Geschehen im Sommer 1997 als offenes Ferienprogramm im Franziskuswerk Schönbrunn, der größten vollstationären Behinderteneinrichtung in Oberbayern.

Konzipiert und realisiert von ECHO, Verein für integrative Spiel- und Kulturpädagogik, München in Kooperation mit dem Fachdienst für Freizeit und kulturelle Bildung im Franziskuswerk.

Wie immer bei dieser Projektschiene wurde das Angebot offen ebenso für Betreute der Einrichtung, wie für Kinder und Jugendliche aus dem ganzen Landkreis ausgeschrieben. Integration und Normalität durch gemeinsames Erleben war auch hier wieder eine entscheidende Zielsetzung.

Spielhausen?

"Staatskasse in Spielhausen konfisziert!", "Supergutes Spielhausen", "Die Integration in der Mini-Stadt ist gelungen", "Spielstadt mit Großstadtrealität: Bombendrohung und Lärmbelästigung".

Solche und mehr Schlagzeilen konnte man täglich in der Tagespresse lesen, in der Zeit zwischen 21. Und 28. August 1997. Diese Aufmacher fanden sich aber nicht im "Spielhausener Echo", der Tageszeitung der Spielstadt, sondern in der richtigen, der großen Presse, im Münchner Merkur und der Süddeutschen Zeitung, die dieses neuartige Projekt in der Aula einer Sonderschule im Dachauer Hinterland mit ihren Lokalredaktionen äußerst eifrig und durchaus originell begleiteten.

Cirka 150 MitspielerInnen, Kinder, Jugendliche, Erwachsene, behindert und nichtbehindert, fanden sich täglich schon lange vor Öffnung der kleinen Kommune am Ort der Handlung ein.

Ungefähr zur Hälfte bestand das Publikum aus Menschen mit Behinderung aus der Einrichtung, die andere Hälfte waren Kinder und Jugendliche aus dem Landkreis. Und alle erlagen sie dem Charme des Spiels, das eine überraschende Eigendynamik entwickelte. Nachdem vom Betreuungspersonal nur der Rahmen abgesteckt und die Grundregeln aufgestellt worden waren, ergab sich alles andere aus der Situation.

Die pädagogische Idee im Hintergrund

Mehrere Schlagwörter sind zu benennen im Zusammenhang mit dem Konzept dieser Veranstaltung:

Soziale Integration durch Spiel- und kulturpädagogische Angebote, will heißen, es wird versucht, durch spannende inhaltliche Angebote gemeinsame Erfahrungsbereiche für Menschen mit und ohne Behinderung - hier besonders Kinder und Jugendliche - zu schaffen, ohne das Thema Integration in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen.

Politische Bildung für Menschen mit Behinderung - Seit 1990 macht das sogenannte "Betreuungsgesetz" viele Wahlrechtsaberkennungen ungültig, so daß mittlerweile z.B. in einer Großeinrichtung wie Schönbrunn über 90 % der Betreuten über Wahlrecht verfügen. Ihnen das zur selbständigen Nutzung dieses Rechtes nötige Wissen an die Hand zu geben, ist Ziel des Bereiches der politischen Bildung in der Erwachsenbildungsarbeit mit behinderten Menschen.

Ökologie der Erfahrung - Ökologie wird hier als Wechselverhältnis des Menschen mit der gesamten, ihn umgebenden Umwelt gesehen. In der Praxisumsetzung bedeutet das qualifizierte pädagogische Arbeit: eine Umwelt zu ersinnen und einzurichten, die dazu verlockt, sich auf sie einzulassen. Eine Umwelt, die phantastische Züge hat und die doch von der "richtigen" Welt nicht wegführt, die im Gegenteil einem diese richtige Welt auf den Leib rücken läßt und zwar durch eigenes Erleben anstatt durch Frontalunterricht und Medienkonsum. (Vgl. dazu: Frederic Vester und Horst Rumpf)

Das ästhetische Projekt versucht, die Kräfte anzusprechen, die in landläufigen pädagogischen Konzepten oft ein wenig zu kurz kommen: die Kräfte der sich an sinnlich greifbaren Gegenständen und Ereignissen entzündenden Imagination, die Kräfte der in fremde Häute und Rollen leicht hineinschlüpfenden Identifikation - die Potentiale also, die auf begriffsorientiertes Lernen fixierte klassische Vermittlungsarbeit noch immer für etwas hält, was im Ernst nicht zählt, wenn es um Lebenstüchtigkeit geht. Gerade hier finden sich bei Menschen mit Behinderung oft ungeahnte Ressourcen, die ihr Handicap in der einzelnen Situation oft genug relativieren. (Vgl. dazu: Wolfgang Welsch, Josef Beuys, Gert Selle, Horst Rumpf)

Die konkrete Umsetzung

In einer kleinen, voll funktionsfähigen Stadtstruktur konnten die TeilnehmerInnen ihre eigenen Erlebnisse und Erfahrungen in Ernstfallsituationen machen. Sie saßen plötzlich hinter einem Schalter des Arbeitsamtes und vermittelten Stellen oder schlugen sich mit Anordnungen der Stadtverwaltungen herum. Ihre KollegInnen von der Bank zahlten die stadteigene Währung, die "müden Mäuse" aus, welche die in der Stadt geleistete Arbeit entlohnten und mit denen man in der Stadt alles mögliche bezahlen konnte (Essen, Zeitungen, Eintritte, Taxifahrten, die Waren im Spielhausener Einkaufsparadies "SEP" u. v. m.). Ein Großteil der Ware wurde in den Werkstätten und im Kunstatelier unter Anleitung von handwerklich kompetenten Betreuern hergestellt.

Andere MitspielerInnen arbeiteten in der Zeitungsredaktion oder waren mit ihren Übertragungseinheiten für "Play-City-Radio" oder "TV Schönbrunn/Lokalsender Spielhausen" unterwegs und halfen bei der täglichen Produktion der Tagesschau bzw. Radionachrichten und der Zeitung. Wieder andere arbeiteten als Müllmänner, Postboten oder Kellner im Cafe Klatsch oder gründeten eigene Firmen, wie z. B. "Stephans Flitzepost" oder "Alembilog Transports". Zweimal zu "Lebzeiten" der Spielstadt wurden in einem großen Wahlkampf die Stadtverordneten und Bürgermeister gewählt, die für den geordneten Ablauf des Lebens in Spielhausen verantwortlich waren. Der kleine Zirkus "Krullemuckel" und das "Freizeitland" mit Theater, Kino, TV-Übertragungen, Casino und drei kulturellen Abendveranstaltungen rundeten das Bild dieser Stadt ab. Damit das Ganze nicht zu schnell langweilig oder zu leicht durchschaubar wurde, inszenierten die Betreuer täglich ein Sonderereignis von Gerichtstag über Umweltskandal bis Inflation.

Die Besonderheiten - kleiner Versuch eines Resümees

Es war für uns ein Experiment, ein Projekt wie eine Spielstadt - genügend erfolgreiche Beispiele kennt man ja - zu modifizieren für eine neue Zielgruppe und in einer anderen Größenordnung.

Die Konzeptentwicklung war trotz bekannter Vorbilder kein geradliniger Prozeß. Vieles bedingte einander und wirkte aufeinander ein, ein bis zuletzt offener Verlauf und keineswegs frei von Angst auf Seiten der Planer.

Daß kulturpädagogische Projekte durch gemeinsame spannende Lern- und Erlebnisfelder ohne schulischen Leistungsdruck für Integrationsbestrebungen geradezu ideale Voraussetzungen bieten, konnten wir in den letzten 10 Jahren praktischer Arbeit immer wieder feststellen. Ob nun ein Projekt in dieser Komplexität und Vielschichtigkeit nicht die Menschen mit Behinderung zwangsläufig durch Undurchschaubarkeit aus der Gesamtlogik ausgrenzen oder sie vor eine schier unlösbare Verquickung von Realität und Phantasie stellen würde, die nur noch größere Unsicherheit zur Folge hätte, dies war unser Risiko.

Bei der Frage "Was ist machbar?" ging es hier nicht nur um Entscheidungen und Grenzen hinsichtlich der finanziellen, materiellen, räumlichen, zeitlichen und personellen Bedingungen, die für sich bereits genügend Probleme geboten hätten, sondern um die Form der Inszenierung selbst, die vielschichtig genug sein mußte, für alle etwas zu beinhalten und einfach genug, um von allen durchschaut zu werden - was uns oftmals zur Selbstbescheidung und Vereinfachung zwang - ohne dabei ihre Komplexität einzubüßen.

Schließlich stellte sich jedoch heraus, daß gerade die Vielschichtigkeit Möglichkeiten und Nischen zum Lernen, Erleben und Erfahren für alle bot.

Auch die Problematik des Aufeinandertreffens von Phantasie und Realität erwies sich unserem Orientierungsideal, dem Normalitätsprinzip eher förderlich, denn hinderlich.

Als Illustration dazu ein Zitat aus Gerd GRüNEISELs neuestem Buch "Kunst und Krempel", wo er schreibt: "Die reale Verknüpfung von Phantasie und Wirklichkeit hat eine wesentliche Bedeutung für den Bezug der Menschen zu ihren Lebenswelten. Es gibt schließlich nicht nur eine Wirklichkeit der Ding und Gegenständlichkeit der Welt, sondern daraus folgend soziale und kulturelle Wirklichkeiten, in die hinein eine Person geboren wird. Dies ist nicht unabänderlich, wie die Biografien vieler Menschen belegen, aber es braucht Phantasie, um die Grenzen der jeweils vorgegebenen Lebenswirklichkeiten zu überschauen und zu überwinden. Über die Erschließung der empirischen Welt erschließt sich der Mensch selbst, erschließt er seine Bestimmung. Erst dabei gewinnt auch die Wirklichkeit sich selber."

Ein ideales Beispiel für den Erfolg des Projektes scheint uns der schwermehrfachbehinderte Robert zu sein, dem es immerhin gelang, in zwei Wahlkämpfen Oberbürgermeister und Bürgermeister zu werden und die Geschichte der Stadt, gerade durch die Solidarität seiner nichtbehinderten "Kollegen" zum Teil mit sehr unortodoxen Methoden entscheidend mitzugestalten, indem er beispielsweise die OB-Wahl mit dem Versprechen, in der Stadt eine eigene Buslinie einzurichten, gewann. Als er sein Versprechen nicht einhalten konnte und die Presse ihm schon zu Leibe rückte, gelang es ihm mit Hilfe seiner nichtbehinderten Amtschefin, die Schuld auf die verzögerten Steuerabrechnungen seitens der Bank abzuwälzen. Dieser kleine Trick verschaffte den beiden Luft bis nach der nächsten Wahl, in der sie zur neuen Oberbürgermeisterin, er immerhin wieder zum Bürgermeister gewählt wurde. Da waren auch noch zwei ältere Herren aus der Einrichtung, die - nach einer anfänglichen Zeit der Betreuung - völlig selbständig das Einwohnermeldeamt führten und mit großer Ausdauer und Akribie tagelang Bürgerlisten führten und Ausweise ausstellten, eine Aufgabe, die den Kindern meist nach einer stunde schon langweilig geworden war. Die beiden identifizierten sich so sehr mit ihrer Rolle, daß sie, auch in ihnen nicht vermittelten Eigenheiten wie Bürokratismus und strenger Einhaltung der Dienstzeiten bald echten Beamten glichen. Ein sonst hyperaktiver Jugendlicher aus der Einrichtung arbeitete in der Küche des Cafes als Spüler mit solcher Begeisterung und Zuverlässigkeit, daß seine Kinderkollegen, die Kellner, völlig selbständig beim Stadtrat eine Ehrenurkunde für ihn beantragten. Ein geistig behinderter Briefträger der infolge seines geringen Arbeitseifers und seines großen Interesses für die Angebote des Cafes seinen Job verloren hatte, erzwang sich vom Stadtrat mit Hilfe von Funk und Presse eine anfangs abgelehnte gerichtliche Untersuchung seines Falles und zwar ohne daß er oder der Stadtrat dabei Beratung eines einzigen Betreuers in Anspruch genommen hätten. Am meisten verschwammen die Unterschiede zu Gunsten der Menschen mit Behinderung in den Präsentationen des Künstlerateliers. In den Vollversammlungen des Stadtrates und bei Gerichtstagen wurde mit erstaunlicher Rücksichtnahme von den nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen auch auf die Belange der Menschen mit Behinderung völlig normal eingegangen. Solche und ähnliche Beispiele gäbe es viele zu erzählen, kurzum, vom integrativen Standpunkt aus war das Projekt ein echter Erfolg.

Ein weiteres Risiko war die verhältnismäßig bescheidene Infrastruktur infolge beschränkter Mittel (im Vergleich mit dem "großen Bruder" Mini München, der mit 2000 Kindern und 50 Betreuern täglich eine wesentlich komplexere Spielstruktur bieten kann). Sollte der Anspruch der inhaltlichen Aktivität vielleicht doch an der Bescheidenheit der Mittel scheitern?

Doch auch dieses scheinbare Hindernis erwies sich im Verlauf immer mehr als Vorteil und man konnte schon bald in der Tagespresse lesen: "Es ist nicht so groß, weshalb nicht so viele Aktionen parallel laufen. Das wiederum macht es für die Mitspieler leichter überschaubar und sie können alles, was geboten wird, mitbekommen."

Die Äußerungen aller Bürger zu ihrer Stadt in Wort und Schrift waren folglich durchweg positiv und wir schließen unseren Bericht mit dem Wortlaut einer Anzeige, die einige Bürger am letzten Projekttag im Spielhausener Echo aufgaben: "Heute ist unsere Spielhausener Spielstadt im Alter von sechs Tagen leider von uns geschieden. Wir gedenken unserer Stadt, die während dieser Woche zum wichtigsten Lebensinhalt aller Bewohner geworden ist, die uns allen Unmengen von Spaß bereitet hat und die wir wohl alle vermissen werden. Wir haben Dich mit allen deinen ecken und Kanten geliebt! Schnief! Deine Spielhausener Bürger."

Brigitte Wurbs, Karl-Michael Brand

ECHO e. V., München

Quelle:

Brigitte Wurbs; Karl-Michael Brand: Spielhausen - Live is live! Eine Spielstadt im Rahmen der politischen Bildung für Menschen mit geistiger Behinderung

Erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 1-98

Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied 1998

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 25.09.2006

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