Psychomotorik als heilpädagogisches Konzept der integrativen Pädagogik

Autor:in - Sabine Herm
Themenbereiche: Therapie
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 1-98 Gemeinsam leben (1/1998)
Copyright: © Luchterhand 1998

Psychomotorik als heilpädagogisches Konzept der integrativen Pädagogik

Kinder erkunden, erleben und begreifen ihre personale und dingliche Umwelt in ihren Wahrnehmungs- und Bewegungsaktivitäten. Sie lernen die Fähigkeiten anderer Kinder einzuschätzen, treffen Absprachen im Bewegungsspiel, begreifen Regeln, streiten miteinander, kooperieren miteinander und erwerben auf diese Weise soziale Kompetenzen.

Bewegung ist das erste und wichtigste Kommunikationsmittel, das einem Kind bereits im vorsprachlichen Entwicklungsalter zur Verfügung steht, um sein Bedürfnis nach Interaktion und Kommunikation mit anderen Menschen zu befriedigen.

Auch unterschiedliche intensive innerpsychische Zustände wie z. B. Spannung, Wut, Ärger, Anstregnung oder Freude, Spaß, Aufregung und Neugier spürt und erlebt das Kind in seinen Bewegungsaktivitäten. Bewegung und Sinneserfahrungen sind somit Motor der kindlichen Persönlichkeitsentwicklung.

Für Kinder, die mit einer körperlichen, sinnlichen oder geistigen Behinderung geboren werden, gilt dies in gleicher Weise. Bewegungen können zwar qualitativ und quantitativ anders sein, als bei einem Kind ohne Behinderung, Sinnesfunktionen können eingeschränkt oder gestört sein und dennoch haben Bewegungs- und Wahrnehmungsaktivitäten für behinderte Kinder die gleiche fundamentale Bedeutung wie für jedes andere Kind. Daher ist es eine Aufgabe für Eltern, Pädagogen und Therapeuten die jeweils individuellen Fähigkeiten des Kindes zur Wahrnehmung, Bewegung und Kommunikation zu entdecken und die notwendigen Hilfestellungen bei der Entwicklung von größtmöglicher Bewegungsautonomie und Eigenaktivität zu leisten.

Das Anliegen der Psychomotorik als heilpädagogisches Konzept in der integrativen Arbeit ist, diese kindlichen Lern- und Entwicklungsschritte zu unterstützen. Psychomotorische Angebote werden mit unterschiedlichen Zielsetzungen und Rahmenbedingungen von Pädagogen und Therapeuten gestaltet. Dabei wird Psychomotorik bisweilen mißverstanden als spezielles Angebot zur Förderung von spezifischen Wahrnehmung- und Bewegungsleistungen. Ich verstehe Psychomotorik primär als ein ganzheitliches Entwicklungsprinzip zur Begleitung kindlicher Lern- und Entwicklungsschritte. Im Alltag eines Kindergartens und in besonderem Maße in der Integrations-Kindertagesstätte kann diese ganzheitliche Entwicklungsunterstützung als heilpädagogisches Konzept in unterschiedlicher Weise wirksam werden. Die drei wichtigsten Elemente meines Konzeptes möchte ich ausführlicher beschreiben:

  1. Der psychomotorische Raum

  2. Die Haltung des Erwachsenen

  3. Angebote in der Psychomotorik-Gruppe

1. Der psychomotorische Raum

Räume, in denen Kinder leben, spielen und lernen, sind Erfahrungs- und Erkundungsräume, d. h. sie müssen so gestaltet sein, daß Kinder, behinderte wie nichtbehinderte, ohne Verletzungsgefahr eigenaktiv und kreativ tätig werden können.

Ein erster wichtiger Schritt im Sinne der Psychomotorik ist getan, wenn die Innenräume und Freiflächen des Kindergartens mit kritischem Blick überprüft werden, ob die Kinder genügend Möglichkeiten zu aktiven Bewegungs- und Wahrnehmungsspielen vorfinden. Hängematten, Schaukeln oder Klettertaue, die so angebracht sind, daß sie schon von jüngeren Kindern selbständig zu erklimmen sind, werden zum Experimentierfeld für immer neue Möglichkeiten zum aktiven Handeln.

Sind diese Geräte gut abgesichert durch Polster, Matten u. ä., so können auch bewegungsgestörte Kinder entsprechend ihren individuellen Möglichkeiten aktiv werden.

Raum für psychomotorische Erfahrungen beinhaltet auch Raum für großräumige, grobmotorische Aktivitäten und für Ruhe und Rückzug. Hinweise zur Umgestaltung des Kindergartens finden sich in einer Vielzahl von Büchern, die in den letzten Jahren zu diesem Thema erschienen sind, siehe Literaturangabe.)

Räume so zu gestalten ,daß Kinder bewegungsaktiv sein können, ist eine Voraussetzung für eine ungestörte psycho-motorische Entwicklung, diesen Raum den Kindern aber auch wirklich zu gewähren, eine weitere Notwendigkeit. Dazu ein Beispiel:

Von zwei Erzieherinnen einer altersgemischten Kindergruppe einer Kita in einem sogenannten "sozialen Brennpunkt" werde ich zu Besuch gebeten, um zwei verhaltensauffällige Kinder, die kürzlich in diese Gruppe gekommen sind, zu beobachten. Die Kindertagesstätte verfügt über einen großen Bewegungsraum, der mit Sprossenwand, Mattenberg, Turnbänken und vielen interessanten Materialien und Kleingeräten ausgestattet ist. Alle Gruppen gehen täglich für einige Zeit in diesen Raum. Die Kinder können sich dann hier "austoben".

Bei meiner Ankunft befindet sich die Gruppe mit ihren Erzieherinnen in diesem Bewegungsraum Mir fällt sofort die hohe Anspannung der Erzieherinnen auf. Sie versuchen stets alle Kinder im Blick zu haben, ordnen die Reihenfolge beim Klettern an der Sprossenwand, versuchen zögerliche Kinder zu motivieren, verbieten in den Geräteraum zu gehen und neue Dinge zu holen oder darin zu toben, müssen Kinder immer wieder von der offenen Tür zur Terrasse wegziehen, sie trösten Kinder, die sich gestoßen und reglementieren andere, die geschubst haben u. v. m.

Ich spüre die angespannte Situation sofort körperlich und vermute, den Erzieherinnen geht es ebenso. Offensichtlich haben viele Kinder dennoch Freude, zu rennen, zu klettern, sich auf den Mattenberg zu werfen u. a. m. Allerdings beobachte ich, daß sie immer wieder in ihrem Tun durch die Äußerungen der Erzieherinnen unterbrochen und irritiert werden, auch wenn sie gar nicht angesprochen sind. Andere haben offensichtlich großen Spaß daran, gerade das zu tun, was reglementiert wurde, sie laufen z. B. in den Geräteraum, verstecken sich hinter Vorhängen oder laufen aus der Zimmertür hinaus ins Freie. Zwei jüngere Kinder fassen an eine Hand der jeweiligen Erzieherin, um sie zu bestimmten Geräten zu ziehen.

Die Lautstärke im Raum ist sehr hoch und die Atmosphäre hektisch.

Im späteren Gespräch mit den Erzieherinnen wird deutlich, wie sehr sie sich mit dieser Situation überfordert fühlen. Einerseits wissen sie, wie wichtig Bewegungsaktivitäten für ihre Kinder sind, andererseits haben sie angst, daß "etwas" passiert, daß sie ihre Aufsichtspflicht vernachlässigen und sich möglicherweise Eltern beschweren. Als weiteres Argument für reglementierend Maßnahmen höre ich, daß auch von Kindern das Einhalten bestimmter Vereinbarungen oder soziale Verhaltensweisen erwartet werden kann.

Diese Äußerungen und die Handlungsunsicherheiten der beiden Pädagoginnen sind mir aus meiner langjährigen Beratungs- und Supervisionsarbeit bekannt und ein Blick von "außen" auf die Situation ist häufig sehr hilfreich.

Gemeinsam überlegen wir, in welcher Weise die äußeren Bedingungen an die Bedürfnisse der Kinder angepaßt werden können, im Gegensatz zum bisherigen Versuch, die Kinder an die äußeren Bedingungen anzupassen (z. B. die Gruppe teilen, eine sperre vor die Außentür, wenn diese unbedingt geöffnet sein muß, wenige, aber klare Verhaltensregeln, Umgestaltung des Materialraumes, um ihn für die Kinder nutzbar zu machen).

Unter diesen veränderten äußeren Bedingungen und damit einhergehenden veränderten Bewegungsaktionen der Kinder wird es den Erzieherinnen in der folgenden Zeit möglich, sich aus dem Bewegungsgeschehen der Kinder herauszuziehen und die Position eines "teilnehmenden Beobachters" einzunehmen. Sie erhalten auf diese Weise wichtige Informationen über Fähigkeiten, Interessen und Entwicklungsstand der Kinder. Die beiden neuen, als "verhaltensauffällig" beschriebenen Kinder können genauer beobachtet und einige Beweggründe für ihre Verhalten besser verstanden werden. In kritischen Situationen, die allerdings immer seltener eintreten, sind die Erzieherinnen immer besser in der Lage, adäquat und sicher zu handeln.

Während die Rahmenbedingungen relativ einfach zu verändern sind, ist die Reflexion und Veränderung der eigenen Position und Haltung weitaus schwieriger.

2. Die Haltung des Erwachsenen

Eltern ebenso wie Erzieherinnen sind zentrale Instanzen in den frühkindlichen Lebensabschnitten. Durch ihre Haltung ermöglichen, erschweren oder verhindern sie bestimmte Lern- und Entwicklungsschritte. Unter "Haltung" verstehe ich die Auseinandersetzung mit Fragen wie z. B.

Wie ist mein Bild vom Kind?

Wie lernt ein Kind?

Was braucht ein Kind für die Entfaltung seiner individuellen Fähigkeiten?

Wie verstehe ich meine Rolle im kindlichen Entwicklungsprozeß?

Ein wirksamer und kindgemäßer Einsatz von heilpädagogischer Psychomotorik setzt nach meinem Verständnis eine erzieherische Haltung voraus, die geprägt ist von Vertrauen in die Fähigkeiten von Kindern und der Zuversicht, daß jedes Kind auch "Akteur seiner eigenen Entwicklung" ist.

Diese heute viel beschriebene Sichtweise bildet die Basis einiger pädagogischer Handlungstheorien (z. B. Situationsansatz). Auch in der Psychomotorik ist es Aufgabe der Pädagogen, spontan und kreativ auf Bedürfnisse, Ideen und Fragestellungen von Kindern einzugehen, d. h. ich muß beispielsweise in meiner Psychomotorik-"Stunde" von meinen geplanten Inhalten abweichen können und flexibel im gemeinsamen Geschehen werden.

MILANI-COMPARETTI hat mit seinem "Spiral-Modell" einen Weg für Lernen und Entwicklung aufgezeigt, in dem Lernen als gemeinsamer Prozeß von Kindern und Erwachsenen verstanden wird. Nicht im "Vormachen" und "Nachmachen" (er nennt dies Reiz und Reaktion) besteht der Entwicklungs- oder Lernvorgang, sondern der Erwachsene vertraut auf die schöpferischen Kräfte des Kindes. Autonomie und Eigenaktivität eines Kindes werden gestärkt, wenn im gemeinsamen Tun Vorschläge oder Gegenvorschläge des Kindes wahrgenommen und aufgegriffen werden. Daraus entwickeln sich weitere Ideen oder Handlungen, ein Dialog in die "dritte Dimension" (nach oben offene Spirale), in die Dimension von Kreativität und Wachstum wird möglich. Ein Beispiel:

In die Psychomotorik-Stunde einer Integrationsgruppe (Die Verfasserin leitet zeitweilig, im Rahmen von Kita-zentrierter Psychomotirik-Fortbildung, gemeinsam mit den Stützpädagogen oder Gruppenerzieherinnen Psychomotorik-Gruppen.) habe ich meine Tastsäckchen mitgebracht. Die Kinder benutzen sie üblicherweise zum Fühlen, Werfen, Rutschen usw. und auch heute ist dies mein Angebot. Zwei neue Säckchen, grüner und blauer Samt mit goldfarbenen Sternen und Monden darauf, befinden sich in der Sammlung und ich bin gespannt, ob die Kinder dies bemerken.

Alle Kinder bemerken die neuen Säckchen sofort, bestaunen, fühlen, knautschen und riechen an diesem neuen Material. Anna ruft: "Das riecht ja so wie Weihnachten" (Es ist Anfang Dezember und Weihnachten beschäftigt die Kinder) - Auf meine Frage -"Ja, wie riecht denn Weihnachten?" - entwickelt sich zunächst ein Gespräch über Tannenduft, Weihnachtskekse usw. "Gibt es so etwas, was nach Weihnachten riecht, auch in eurer Kita?" - Einige Kinder schauen sich im Raum um, schnuppern an verschiedenen Gegenständen, andere suchen im Gruppenraum nebenan, zwei laufen in die Küche zum Koch und kommen mit Lebkuchengewürz zurück. Nach einer Weile haben wir eine Vielzahl, von dingen, die "wie Weihnachten" riechen, z. B. Tannenzweige, Staniolpapiersterne, glitzerndes Geschenkband, Nüsse, Lebkuchengewürz und Tannenzapfen. Wir beschnuppern und befühlen ausführlich alle Dinge und tatsächlich riecht sogar (auch für mich) dieses glitzernde Geschenkband nach Weihnachten.

Christine, das Mädchen mit einer spastischen Körperbehinderung, richtet ihre ganze Aufmerksamkeit auf zwei Tannenzweige. Zunächst tippt sie vorsichtig mit einer Hand auf die piekenden Tannennadeln, später werden beide Hände eingesetzt. Ich beobachte in ihrem Gesicht abwechselnd einen Ausdruck von Anspannung, Abwehr, aber auch Neugier und Interesse. Begleitet werden die Handlungen von unterschiedlichen Lauten. Die ganze Aktion endet mit dem Anzünden der Kerze und dem Singen von Weihnachtsliedern. - So hatte ich den Ablauf dieser Psychomotirik-Stunde vorher gewiß nicht geplant.

Beziehung als stabile Basis für Entwicklung

Eine entwicklungsfördernde Haltung beinhaltet auch die Fähigkeit zur Beziehungsaufnahme zum anvertrauten Kind und das Wissen um die Bedeutung einer stabilen Beziehung.

Auf die Welt zugehen, - die Umwelt mit all ihren Herausforderungen wahrzunehmen, zu bestaunen, sich aktiv auseinanderzusetzen u. v. m., kann dem kleinen Kind nur wirklich gut gelingen, wenn es in den ersten Lebensmonaten ein festes Fundament durch Zuwendung, Geborgenheit, Angenommensein und uneingeschränktem Vertrauen in die Beziehung zu seinen Eltern oder anderen nahen Bezugspersonen erworben hat.

KLAUS FISCHER beschreibt drei unterschiedliche, aufeinanderfolgende Lebensthemen im ersten Lebensjahr eines Kinds. Für die Psychomotorik-Arbeit, insbesondere mit entwicklungsgestörten Kindern, können wir daraus wichtige Handlungsgrundlagen erhalten.

In der ersten Phase (die ersten Lebensmonate umfassend) ist das vordringliche Lebensthema die "interpersonale Beziehungsgestaltung". Alle Aktivitäten des Säuglings, z. B. sein Schauen und Zuhören, seine Gesten und Mimik sind auf Interaktion ausgerichtet, auf Beziehungsaufnahme zur Mutter. Auch die Mutter nimmt diese Beziehung auf und eine wechselseitige "Absprache" gelingt. Diese gelungene "interaktive Passung" benennt FISCHER als "Basis für die Herausbildung der eigenen Identität und weiteren Öffnung (Aufmerksamkeitsausrichtung) zur Welt" (FISCHER, S. 21).

Auch von MARGARET MAHLER kennen wir (aus psychoanalytischer Sicht) die Bedeutung dieser ersten Lebensphase, in der sich Mutter und Kind miteinander mit den gegenseitigen Reaktionen vertraut machen. Die Mutter lernt, die kindlichen Signale richtig zu deuten und angemessen zu reagieren. Die unmittelbar richtige "Antwort" auf diese Signale und Bedürfnisäußerungen vermittelt dem Säugling das Empfinden von Sicherheit und in der Welt aufgenommen zu sein, - ein positives Lebensgefühl kann sich entwickeln.

Erst auf dieser sicheren Basis kann der Säugling die Auseinandersetzung mit seiner nahen Umwelt beginnen. "Wenn Kinder in den ersten Lebensmonaten diese tiefe zwischenmenschliche Beziehung nicht erleben, hat das nachhaltige Konsequenzen für die gesamte weitere Entwicklung. Ihre eigene Wertschätzung, ihr Körpererleben, ihre Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit und jegliche Lernprozesse basieren auf eine tragfähigen, frühkindlichen Beziehung zur verantwortlichen Bezugsperson." (HERM 1996, S. 110)

In der zweiten Phase (4.-7. Monat) werden die "Erkundungsaktivitäten durch handeln" (FISCHER) zum beherrschenden Element dieses Entwicklungsabschnitts. Alle Sinne sind darauf gerichtet, durch Beißen, Lutschen, Anschauen, Befühlen, Fallenlassen, Horchen, Zusammendrücken usw. die Eigenschaften des Spielgegenstandes zu erkunden und zu einem "multimedialen Eindruck" verschmelzen zu lassen.

Für diese Erkundungsaktivitäten nutzt der Säugling alle Sinne, jedoch ist das wichtigste Sinnesorgan in dieser frühen Lebensphase die Haut. Die feinen Rezeptoren der Haut erspüren alle Empfindungen des Berührens und Berührt-Werdens, angenehme wie unangenehme Berührungskontakte und leiten sie weiter zu den entsprechenden Abschnitten im Gehirn, wo diese Empfindungen verarbeitet und gespeichert werden (vergl. HERM S. 95 ff).

In der dritten Phase (etwa ab 8 Monate), mit Beginn der Fortbewegung (Krabbeln, Kriechen, Rutschen, Laufen, Klettern u. ä.) erhält die perzeptive Orientierung eine neue Dimension. Dinge außerhalb der Reichweite können erlangt und untersucht werden, der Blickwinkel ist verändert und die unterschiedlichen Untergrundbeschaffenheiten können eigenaktiv erreicht und wahrgenommen werden.

All diese Umweltangebote verlangen die Aufmerksamkeitszentrierung des gesamten Wahrnehmungssystems des Kindes.

Als Hauptaufgabe des Kindes in diesem Entwicklungsabschnitt beschreibt Fischer aus seiner entwicklungs-theoretischen Sicht Erkundungsaktivitäten mit dem Ziel einer gelungenen "Passung" zwischen dem Kleinkind und der personalen wie dringlichen Umwelt (S. 21). Dabei ist die Wahrnehmungsentwicklung immer multimedial ausgerichtet und nicht auf isolierte Wahrnehmungsleistungen beschränkt. Sie ist zudem wesentlich abhängig von der Selbstbewegung, d. h. von den eigenmotorischen Erfahrungen des Säuglings und Kleinkindes.

Wenn wir diese Aussagen für die pädagogische Arbeit nutzen, bedeutet es, daß die "interpersonale Beziehungsgestaltung", d. h. der Aufbau einer stabilen, vertrauensvollen Beziehung zwischen Erzieherin und Kind, die Voraussetzung für Lernangebote und befriedigende Entwicklungsprozesse ist. Die Pädagogin hat viel erreicht, wenn diese Beziehung möglich geworden ist.

3. Die Angebote in der Psychomotorik-Gruppe

In den letzten Jahren werden von Fachleuten der Vorschulpädagogik (0-6 Jahre) immer wieder neue pädagogische Ansätze entwickelt (z. B. Situationsansatz, Reggio-Pädagogik, Offener Kindergarten). Wichtige darin enthaltene Themen sind die Sicht vom Kind, von seinen Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten und die Diskussion um kindorientierte pädagogische Angebote. Die Diskussion um diese pädagogischen Konzepte und Handlungsgrundlagen berührt zum Teil auch die Psychomotorik-Konzeption.

In der gemeinsamen Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderung halte ich regelmäßig stattfindenden psychomotorische Aktivitäten in der Kindergruppe als sinnvolle Entwicklungsunterstützung. Angebote durch den Erwachsenen, die flexibel verändert werden können, gemeinsames Bewegungserleben in der Gemeinschaft und eigenes, kreatives Explorieren der Kinder sind die Säulen dieser heilpädagogischen Maßnahme.

Zielsetzungen

Psychomotorische Spiele sind Bewegungs- und Wahrnehmungsangebote, die mit unterschiedlicher Zielsetzung und unterschiedlichen Rahmenbedingungen in die pädagogische oder therapeutische Arbeit einbezogen werden.

"Es ist nicht möglich, für einzelne Kinder in der psychomotorischen Praxis Ziele zu formulieren oder zu "erarbeiten", die in eine ferne Zukunft gerichtet sind. Die heilpädagogische Psychomotorik, so wie ich sie vertrete, orientiert sich am Hier und Jetzt, an dem, was im Augenblick wichtig und möglich ist. Mit dieser "psychomotorischen Haltung" wird die Erzieherin oder der Therapeut spüren, daß unnötiger und unerfüllbarer Erfolgsdruck von allen Beteiligten genommen ist und die kleinen Entwicklungsschritte, die im Augenblick geschehen, mit Freude gesehen werden und die angemessene Bedeutung erhalten" (HERM 1996), S. 114).

Ein Nahziel ist die oben schon beschriebene Entwicklung einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Erwachsenen und Kind, sowie der Kinder untereinander. Dies gilt als Entwicklungsbasis eines jeden Kindes, aber in besonderem Maße für Kinder mit einer schwerwiegenden Behinderung. Verständlicherweise löst bei vielen Eltern kurz nach der Geburt ihres Kindes die Diagnose "behindert" einen Schock aus. Trauer, Selbstzweifel, Schuldgefühle, Depressionen, soziale Isolation, bedrohte oder zerstörte Lebensplanungen u. v. m. sind zu verarbeiten und verhindern die normale, ungestörte Beziehungsaufnahme zum Kind. Auch von Seiten des Kindes erschwert die Behinderung oft die Beziehungsentwicklung, wenn z. B. die Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit beeinträchtigt ist, das frühe Lächeln ausbleibt, die Kontaktaufnahme schwierig ist u. a. m.

Für das kleine Kind ist es entwicklungsnotwendig, immer wieder die Erfahrung von Angenommen- und Willkommensein zu machen.

In der Psychomotorik bieten die vielen Anlässe zu körperlicher Berührung zwischen Kindern und Erwachsenen gute Möglichkeiten zum In-Kontakt-kommen, zum Mit-Fühlen, zur Kommunikation auf elementar körperliche Weise.

Ein weiteres Ziel ist die Integration des behinderten Kindes in Gruppenprozesse der Spielgefährten und die damit einhergehende Erweiterung von Handlungs- und Kommunikationskompetenz für alle Kinder. Hilfreich hierbei ist die überschaubare Anzahl von Spielgefährten in dieser Kleingruppe (5-8 Kinder), die über einen längeren Zeitraum konstant zusammenbleiben. Ein Beispiel:

Mirko (3 Jahre) ist schwer geistig behindert und noch nicht in der Lage, sich selbständig fortzubewegen. Gemeinsam mit 5 anderen Kindern aus seiner Gruppe nimmt er an der regelmäßig stattfindenden Psychomotorik-Stunde teil. Die Kinder sind freundlich zu ihm, aber vorsichtig im Kontakt.

Mirko sitzt meistens auf dem Schoß der Erzieherin oder auf einer Matte in der Nähe der Kinder. Ich beobachte, daß immer wieder einige Kinder ihr Bewegungsspiel unterbrechen, zu Mirko laufen, den Jungen streicheln, wieder zurückkehren zu ihren Spielaktionen. Anfangs ist Mirko mit der aufregenden Situation, dem zeitweilig hohen Lärmpegel und den oft ungestümen Bewegungen der anderen Kinder überfordert. Manchmal weint oder schimpft Mirko, wenn es ihm zu viel wird. Die Kinder sind dann irritiert, einige versuchen ihn zu trösten. Wir verabreden einige Umgangsregeln wie z. B. darauf achten, daß keine Bälle oder andere Spielgeräte Mirko bedrängen und daß die Kinder aufmerksamer beim Toben werden. Die Kinder begreifen sehr bald Mirkos stimmliche Äußerungen als individuelle Möglichkeit des Jungen, auf sich aufmerksam zu machen.

Nach wenigen Wochen ist dem kleinen Jungen die Situation in der Psychomotorik-Stunde vertraut. Er macht sich lautstark bemerkbar, wenn ihm etwas mißfällt, freut sich über körperliche Rangeleien und läßt sich, wenn er weint (was nur noch selten vorkommt) von Kindern trösten.

Mirko ist nicht mehr unmittelbar auf die schützende Nähe des Erwachsenen angewiesen. Von dieser Zeit an beobachte ich häufiger, daß Kinder den kleinen Jungen in ihr Spiel einbeziehen, z. B. bauen sie die Bärenhöhle (im Anschluß an das Spiel "Bärenjagd") genau da, wo er sitzt und bezeichnen Mirko als "Bärenjunges". Beim Spiel mit dem Schwungtuch wird Mirko ganz behutsam eingewickelt und beim anschließenden "Wind und Wellen"-Spiel achten die älteren Kinder genau darauf, daß die Wellen nicht zu stürmisch werden.

Mirko ist auf einer qualitativ neuen Stufe Teil der Kindergruppe geworden, sein Selbstbewußtsein wird u. a. dadurch gestärkt, denn er Ausdrucksmöglichkeiten gefunden hat und einige Kinder "seine Äußerungen verstehen können". Neue Entwicklungsschritte werden möglich.

Psychomotorische Spiele

"Jedes Praxis-Konzept der psychomotorischen Spiele ist abhängig von den konkreten Bedingungen "vor Ort", d. h. von der räumlichen und materiellen Ausgestaltung, von der konkreten Kindergruppe und letztlich von den Fähigkeiten und den individuellen Persönlichkeitsmerkmalen der professionellen Erzieherin". (a. a. O. S. 109). Die Erfahrungen aus meiner psychomotorischen Praxis sind daher nur als Hinweise für ein jeweils eigenständiges Handlungskonzept zu verstehen.

Den Rahmen meiner Psychomotorik-Stunden bilden Rituale, "gute Gewohnheiten", die gemeinsam mit den Kindern in der Gruppe entstanden sind. Diese Rituale strukturieren den Ablauf und bieten Orientierung und Verläßlichkeit. Dazu gehören u. a.:

Die Sternendecke, auf der sich die Kinder zu Beginn versammeln

Das Begrüßungslied

Vor der Entspannungsphase einige Tropfen wohlriechendes Öl auf die Hände der Kinder tropfen, sie verreiben das Öl und riechen an de Händen

Ein Vers zum Abschied in Geheim-Sprache

Rituale, die in der Gruppe entstehen, unterstützen die Beziehungsaufnahme zwischen allen Beteiligten.

Bei meinen Spielangeboten gehe ich davon aus, daß die Kinder ganz unterschiedliche Entwicklungsverläufe, Fähigkeiten und aktuelle Interessen haben, so daß es nicht immer möglich ist, Spiele und Materialien so auszuwählen, daß alle Kinder stets gleichermaßen am Geschehen beteiligt sind. Es ist auch nicht notwendig, daß alle Kinder stets zur gleichen Zeit das Gleiche tun (Stichwort "Binnendifferenzierung). Ich würde sonst die einen Kinder überfordern und die anderen unterfordern und in vielen Fällen das individuelle Lerntempo nicht adäquat berücksichtigen.

Wir können dennoch darauf vertrauen, daß Kinder aus der Fülle von Wahrnehmungs- und Bewegungsreizen das jeweils adäquate herausfinden. Dazu ein Beispiel:

Nach gemeinsamen Spielen in der Gruppe haben die Gruppenerzieherinnen und ich einen Kletter- und Balancierparcour aufgebaut. Die meisten Kinder klettern, balancieren oder rutschen über die verschiedenen Geräte.

Tina (knapp 3 Jahre alt), ein Mädchen mit Down-Syndrom, sitzt auf einer Matte ganz in der Nähe einer Leiter, die sehr niedrig in die Sprossenwand gehängt ist. Tina kann sich seit einigen Wochen aus der Bauchlage in die Rückenlage drehen und selbständig zum sicheren Sitz gelangen. In der Kleingruppe fühlt sie sich wohl und hat auch zu mir eine vertrauensvolle Beziehung entwickelt.

Tina beobachtet zwei Kinder, die immer wieder über die Holzleiter balancieren. Ich bemerke, wie Tina plötzlich durch kleine Körperdrehungen so nahe an die Leiter gelangt, daß sie nun das Gerät anfassen kann. Sie klopft auf das Holz, beißt, leckt, legt ihre Wange auf die Leiter, wenn Kinder sehr dicht vorbei balancieren. Tina ist ganz wach und in Bewegung, sie ist voller Energie für neue Herausforderungen.

Kurz vor dem Abräumen dieser Klettergeräte beobachten wir, wie Tina immer kräftiger an der Leiter rüttelt und sich an ihr aufrichten möchte. Mit geringfügiger Hilfe von mir gelingt es Tina, sich in den Kniestand hochzuziehen. Alle Kinder und wir Erwachsenen sind begeistert und Tina lacht. Ein weiterer Schritt zu mehr Bewegungsautonomie ist ihr gelungen.

Hier wird deutlich, wie wichtig für Psychomotoriker (oder Pädagogen ganz allgemein) die Beobachtung von Aktivitäten und Verhaltensweisen der Kinder ist. Nur so können wir sie verstehen und angemessene Impulse für Wachstum und Entwicklung geben.

Abschließend möchte ich den oben beschriebenen Bedingungen, unter denen die Psychomotorik in der integrativen Pädagogik wirksam werden kann, eine letzte hinzufügen: Wenn auch der Erwachsene (Eltern, Pädagogen, Therapeuten) die Lust und die Freude der Kinder an Wahrnehmungs- und Bewegungsaktivitäten teilen kann, wenn er seine körperlichen Energien (und auch die körperlichen Blockaden) spüren kann, wenn er neugierig bleibt und sich an den Erkundungsaktivitäten von Kindern erfreuen kann, so ist dies die beste Voraussetzung für ein gemeinsames Wachstum im Sinne der Psychomotorik.

Literatur

Aucourturier, B./Lappierre, A.: Bruno Ernst Reinhardt Verlag 1995 (2. A.)

Dreisbach-Ölsen u. a.: Nischen, Höhlen, Hängematten. FiPP Verlag, Berlin 1955

Fischer, Klaus: Wahrnehmung als Erkundungsaktivität. In: Motorik, 1996/1, Schorndorf

Herm, Sabine: Gemeinsam spielen, lernen und wachsen - Psychomotorik in der integrativen Arbeit mit behinderten und nichtbehinderten Kindern. Luchterhand 1996

Herm, Sabine: Psychomotorische Spiele für Kinder in Krippe und Kindergarten, Luchterhand 1997 (10. A.)

Mahler, Margaret: Symbiose und Individuation. Klett-Cotta 1986 (4. A.)

Miedzinski, Klaus: Die Bewegungsbaustelle. Verlag modernes lernen 1991

Milani-Compareti, Adriano: Von der "Medizin der Krankheit" zu einer "Medizin der Gesundheit". In: Dokumentation einer Fachtagung des paritätischen Bildungswerkes, Frankfurt 1988

Voss, Reinhard (Hrsg.): Das Recht des Kindes auf Eigensinn. Ernst Reinhardt Verlag 1989

Autorin

Sabine Herm,

Kindertagesstätten-Beratung der Arbeiterwohlfahrt Berlin

Hallesches Ufer 32, 10963 Berlin

Quelle:

Sabine Herm: Psychomotorik als heilpädagogisches Konzept der integrativen Pädagogik

Erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 1-98

Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied 1998

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 23.01.2006

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