Typisierungen und abweichendes Handeln

Zur Analyse jugendlicher Randgruppen

Autor:in - Ulrich Gerke
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen in: Manfred Brusten/Jürgen Hohmeier(Hrsg.), Stigmatisierung 1, Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen, Darmstadt 1975. S. 55 - 77; Beide Bände sind leider Vergriffen und werden auch nicht mehr aufgelegt. Der Luchterhand-Verlag hat BIDOK die Erlaubnis zur Veröffentlichung gegeben.
Copyright: © Ulrich Gerke 1975

Einleitung

Die Existenz gesellschaftlicher Randgruppen wird in der Regel als eine Tatsache hingenommen, ohne weiter hinterfragt zu werden. jeder weiß um ihre Existenz und hält sie für ganz natürlich. Entscheidend erscheint dann nur, daß der Staat dafür Sorge trägt, daß sie nicht zu einer Bedrohung der öffentlichen Ordnung werden. Der »Normalbürger« hat festumrissene Vorstellungen über Randgruppen; er weiß sie einzuordnen und sieht, daß seine Mitbürger ebenso denken wie er und daß sie Randgruppen in gleicher Weise verurteilen.

So gibt es gesamtgesellschaftliche Vorstellungen und Typisierungen sowohl für das, was als »normal« gilt, als auch für das, was als »abweichend« zu gelten hat. Diese Typisierungen beziehen sich nicht nur auf die abweichende Handlung, sondern werden auch den jeweiligen Personen oder Gruppen als »Wesens« -merkmal zugeschrieben, d.h. die abweichende Handlung bildet die Grundlage für die Zuschreibung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale. Personen oder Gruppen werden stigmatisiert, sie werden zu Asozialen, Kriminellen, Geisteskranken, Gammlern und Rockern. Zuschreibungen, Definitionen, Stigmatisierungen oder Etikettierungen basieren demnach auf Typisierungen sowohl der Handlungen als auch der Handelnden.

In diesem Beitrag soll nun zunächst der Frage nachgegangen werden, wie solche gemeinsamen Vorstellungen oder Typisierungen, die sich im Bewußtsein der Menschen als Wissen über ihre Alltagswelt niedergeschlagen haben, dazu beitragen, daß sich ein jeder ein bestimmtes Bild von seiner Umwelt und seinen Mitmenschen macht. Es soll gezeigt werden, daß sich aus diesen mit anderen geteilten Vorstellungen entscheidende Konsequenzen für das Handeln in der Alltagswelt ergeben. Auf diesem allgemeinen Hintergrund soll dann die Frage erörtert werden, welche Auswirkungen solche gemeinsamen Vorstellungen für die Ausgliederung von Randgruppen haben, und wie dieser Ausgliederungsprozeß aus der Sicht der Randgruppen aufgenommen wird; das heißt: Ausgliederung soll als ein wechselseitiger sozialer Prozeß betrachtet werden.

1. Der Mensch als Akteur

Zumindest implizit taucht das Typisierungskonzept, wenn auch mit teilweise anderen Umschreibungen, in fast allen soziologischen Ansätzen auf. Einen ganz zentralen Stellenwert nimmt es indes in den handlungstheoretischen Ansätzen der Soziologie ein, insbesondere im Symbolischen Interaktionismus, in der Phänomenologie und in der Ethnomethodologie. Hier sollen zunächst die wichtigsten Aspekte dieses Typisierungskonzepts dargelegt werden, ohne dabei auf den theoretischen Hintergrund dieses Konzepts einzugehen[1]. Ausgangspunkt der Überlegungen ist der Mensch als bewußt Handelnder, als Akteur. Die besondere Qualität des Menschen zeichnet sich dadurch aus, daß er nicht nur auf bestimmte Reize reagiert und durch gesellschaftliche Strukturen festgelegt ist, wodurch er zum Träger ihm zugewiesener Rollen degradiert ist, sondern daß die soziale Wirklichkeit[2], innerhalb derer die einzelnen Menschen leben, als solche durch menschliche Leistungen in Interaktionsprozessen[3] konstruiert wird. Daß die Menschen zur Konstruktion ihrer Wirklichkeit befähigt sind, beruht darauf, daß sie Bewußtsein besitzen. Dieses ermöglicht ihnen, Objekte ihrer Umwelt als solche zu erkennen und mit einem gemeinsamen Sinn oder einer gemeinsamen Bedeutung zu belegen. Aus der Vielgestaltigkeit der Umwelt werden auf diese Weise Sinnzusammenhänge ausgegrenzt und zu einem System von Bedeutungen, dem Alltagswissen, zusammengesetzt.

Das gemeinsame Wissen, mit dem Menschen ihre Umwelt aufordnen, erwächst aus gemeinsamem Handeln und strukturiert wiederum neues Handeln; das heißt: aus dem sinnhaften sozialen Handeln in Interaktionen entwickeln sich gemeinsame Vorstellungen über die gesellschaftliche Wirklichkeit. Handlung und menschliches Bewußtsein bilden somit zwei Ebenen im Interaktionsprozeß, die einander wechselseitig bedingen[4]. Dieser »Wirklichkeitsaufbau« vollzieht sich in einem dreistufigen Prozeß, bestehend aus Entäußerung, Typisierung und Identität[5].

Die Phase der Entäußerung ist dadurch gekennzeichnet, daß jeder Mensch gezwungen ist, in irgendeiner Form zu produzieren, um überleben zu können. Er entäußert sich z.B. in Form bestimmter Handgriffe, Gesten und Worte. Werden solche Entäußerungen von anderen erwidert, besteht die Möglichkeit, daß Entäußerung und Erwiderung wiederholt werden und eine entsprechende Beziehung zwischen beidem im Bewußtsein der Handelnden aufgebaut wird. Dieses Zueinander-In-Beziehung-Setzen gibt der Entäußerung ihre Bedeutung; sie wird mit einem bestimmten Sinn belegt, sie wird zu einem Symbol. Bedeutungen sind somit soziale Produkte, die durch definierende Aktivitäten von miteinander interagierenden Personen hervorgebracht werden (Blumer 1969, S. 5).

Durch die subjektive Wahrnehmung der einzelnen Handlungspartner werden die beobachtbaren Handlungen erfaßt und geordnet. Subjektiv beginnen die Handlungspartner zu wissen, so und nicht anders hängen Teile der Welt zusammen. Sie beginnen zu typisieren, d.h. es werden ganz bestimmte Handlungsalternativen ausgegrenzt, mit einem gemeinsamen Sinn belegt, systematisiert und mit anderen in Beziehung gesetzt. Typisierungen liegen somit auf einer anderen Ebene als Handlungen, sie sind gedankliche Abstraktionen von beobachtbaren Handlungssituationen. Das Gesamt-System der Typisierungen bildet das Alltagswissen; Typisierungen sind die Bausteine, aus denen Wissenssysteme zusammengesetzt sind.

Bewußtes, auf Typisierungen basierendes Handeln spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Identität oder Persönlichkeit des Menschen. Die Gewißheit gemeinsam gefundener Typisierungen ermöglicht es dem Menschen, sein Handeln auf das anderer abzustimmen. Er antizipiert die Reaktionen seiner Gegenüber, indem er deren Rollen übernimmt[6], sich in Gedanken in sie hineinversetzt und aus ihrer Perspektive sich selbst als Handelndem gegenübersteht. Er sieht sich somit selbst als Objekt. An diesen gedanklich vorweggenommenen Reaktionen seines Gegenüber werden die eigenen Handlungen ausgerichtet. Dieser Andere kann sowohl eine konkrete Person als auch ein »verallgemeinerter Anderer«[7] sein, etwa in Form gemeinsam akzeptierter Norm- und Wertvorstellungen. Der Mensch wird sich so seiner selbst bewußt, sowohl als Typisierender als auch als Typisierter in einer bestimmten sozialen Umwelt. Indem der einzelne sich so als Objekt sehen kann, begreift er sich selbst als Teil seiner sozialen Wirklichkeit.



[1] Einen entscheidenden Stellenwert nimmt das Typisierungskonzept innerhalb der handlungstheoretischen Ansätze in der Soziologie ein, wie bei Mead (1968) und im Symbolischen Interaktionismus (Blumer 1969), sowie bei Schütz (1971) und in der Phänomenologie (Berger/Luckmann 1969) und der Ethnomethodologie (Douglas 1971, Cicourel 1970). Eine vergleichende Darstellung handlungstheoretischer Ansätze unternimmt Haferkamp (1972). Von einer Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen wurde eine Auswahl zentraler Aufsätze zum Symbolischen Interaktionismus und zur Ethnomethodologie zusammengestellt (1973).

[2] Als soziale Wirklichkeit werden alle diejenigen Ereignisse und Tatbestände verstanden, die das Handeln der Gesellschaftsmitglieder ausmachen und bestimmen (Matthes/Schütze 1973, S. 11).

[3] Interaktionen sind sinnhafte, soziale Handlungen zwischen Menschen.

[4] Das in diesem Zusammenhang oft mißbräuchlich verwendete Marx-Zitat »Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt« (Marx 1947, S. 12) stellt zwar das Primat der Handlungsebene, der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse heraus, vernachlässigt aber, daß die im Bewußtsein verinnerlichten gesellschaftlichen Institutionen und Wertvorstellungen eine eigene Ebene bilden und wiederum strukturierend auf die Handlungsebene zurückgreifen (Marx u. Engels 1953, S. 504). Auf diese Wechselwirkung geht Marx in seinen Überlegungen zu »Basis« und »überbau« ein (vgl. Tomberg 1974).

[5] Dieser dreistufige Prozeß wird von Haferkamp (1974) ausführlich dargestellt.

[6] Die Annahme der Rollenübernahme, so wie sie hier angeführt wird, geht auf Mead zurück (1968).

[7] Der Begriff des »verallgemeinerten anderen« (generalized other) wurde von Mead geprägt (1968, S. 198).

2. Die Kategorie der Typisierung

Will man das Handeln anderer in seiner spezifischen Situationsgebundenheit in der Alltagswelt begreifen, so ist es notwendig, ihre Typisierungen, die sie ihrem Handeln zugrundelegen, zu ergründen[8].

Typisierungen sind Abstraktionen und Generalisierungen früher selbst erlebter oder durch Sozialisationsagenten (Eltern, Lehrer u.a.) vermittelter Handlungssituationen, die es erlauben, nachfolgende gleichartige oder ähnliche Handlungssituationen einzuordnen. Interaktionen sind somit als Interpretationsprozesse zu betrachten, in denen die Handlungspartner ihre Typisierungen aufeinander abstimmen. Das bedeutet jedoch nicht, daß damit zugleich Harmonie erzielt wird, sondern lediglich, daß die Handlungssituation von den Partnern in gleicher Weise eingeschätzt wird.

Wissen wird mit anderen geteilt, zeichnet sich somit durch Intersubjektivität aus. Der Gewißheitsgrad der Intersubjektivität ergibt sich aus den gemeinsam geteilten Typisierungen. Typisierungen werden im Interaktionsprozeß gewonnen, in der gemeinsamen Kommunikation, deren Grundlage eine gemeinsame Sprache ist. Die Sprache wird so zum entscheidenden Typisierungsmedium, sie bietet die Gewißheit für eine gemeinsame Verständigung.

Hinzu kommt die Reziprozität der Perspektiven; das heißt, daß die Handlungspartner in der Lage sind, durch Hineinversetzen in die Rolle des jeweils anderen, die Handlungssituation aus der Sicht des anderen zu interpretieren.

Die Aspekte der Wirklichkeit, die für die Handelnden Relevanz besitzen, unterliegen spezifischen Typisierungen. je näher Handlungssituationen der persönlichen Lebensbewältigung stehen, desto differenzierter sind die Typisierungen, z.B. bei zentralen Belangen der eigenen Gruppe, der Berufstätigkeit oder spezifischer Interessen.

So wie die Menschen versuchen, eine Handlungssituation aufgrund von Typisierungen zu bewältigen, so sehen sie auch den Handlungspartner nicht in seiner vollen Identität, sondern lediglich als Typ. Sie haben ein typisiertes Bild vom anderen. Die Reaktionen des anderen können sie sich nur im Rahmen ihrer eigenen Vorstellungen und Erfahrungen ausmalen. Ein plastisches Beispiel dafür bietet das Spiel eines Kindes mit seiner Puppe. Das Kind versetzt sich dabei in die Rolle der Mutter und sieht sich selbst als Objekt in der Puppe. Durch Rollenübernahme und Nachvollzug typischer Handlungsmuster der Mutter lernt das Kind das von ihm erwartete Sozialverhalten. So wie die Menschen die anderen in ihrer Typikalität sehen, so sehen sie sich selbst ebenfalls als Typ, durch Übernahme der Perspektive des anderen und durch gedankliche Interaktion mit sich selbst als Objekt.



[8] Die radikalste Position in dieser Hinsicht nimmt Douglas ein (1971, S. 11).

3. Typisierung und Interaktion

Die weiterführende Frage ist nun, wie entstehen Typisierungen und auf welchen Ebenen wickelt sich typisiertes Handeln ab. Typisierungen erwachsen aus Entäußerungen, und zwar dann, wenn diese erwidert, symbolisiert und systematisiert werden, d. h. wenn sie auf gedanklicher Ebene Sinnhaft mit anderen Entäußerungen verknüpft werden. Solche Entäußerungen werden zur Gewohnheit, werden habituallsiert, wenn sie z.B. Erleichterungen des gemeinsamen Verständnisses mit sich bringen, wenn sie für die Handlungspartner Relevanz besitzen. Der Sinn habitualisierter Handlungen geht als Routinewissen in den allgemeinen Wissensvorrat ein, er wird zu typisiertem Wissen (Berger/Luckmann 1969, S. 57; Dreitzel 1962, S. 183).

Die Weitervermittlung von Typisierungen ist eine entscheidende Funktion der Sozialisation. Die Alltagswelt kann nicht von jedem in direkten Interaktionen stets neu erfahren werden, sondern wird ihm vermittelt, z.B. durch Eltern, Lehrer, Freunde oder Arbeitskollegen. Typisierungen, die im Sozialisationsprozeß weitervermittelt werden, haben ihre Beziehung zur Entstehungssituation verloren. Sie haben sich verselbständigt, sie sind zu einer eigenen Faktizität geworden, da die Menschen sich nicht mehr bewußt sind, daß diese Typisierungen letztlich aus menschlichen Aktivitäten hervorgegangen sind, daß z.B. das Leistungsprinzip in unserer Gesellschaft kein »natürliches« Prinzip ist, sondern durch menschliche Definitionen entstanden ist[9].

Typisierungen erhalten dadurch im Bewußtsein der Menschen Dingcharakter, sie werden zu personen- und situationsunabhängigen Tatsachen, zu scheinbar objektiven Bestandteilen der sozialen Welt[10]. Die Konsequenz solcher Verdinglichungen ist, daß z.B. die Gesellschaft nicht mehr als von Menschen geschaffen angesehen wird, sondern als etwas Vorgegebenes, unabhängig vom Menschen Bestehendes, in das sich der Mensch einzufügen hat.

Verdinglichte Typisierungen, zu Wissenssystemen zusammengefaßt, bilden eigene Sinnwelten, z.B. Religionen, Wissenschaften, Gesetze, kulturelle Wertsysteme u.a. (vgl. Berger/Luckmann 1969). Im Bewußtsein der Menschen werden sie zu einer außerhalb von ihnen existierenden Faktizität, die als solche mit normativer Gewalt wiederum Interaktionen strukturiert. Sie geben an, was gesamtgesellschaftlich als »normal« zu gelten hat. Wer dem zuwiderhandelt, wird als Abweichler stigmatisiert und unterliegt entsprechenden negativen Sanktionen[11], die von der Meidung bis hin zur Strafverfolgung reichen können.

Verdinglichte, vom Entstehungszusammenhang losgelöste Typisierungen gehören zum Routinewissen der Alltagswelt. Diese Routine wird gestört, wenn problematische Situationen auftauchen, wenn z.B. Mitglieder unterschiedlicher Gruppen miteinander in Berührung kommen. Bisher hatte jede Gruppe ein typisiertes Bild der anderen, das als gesichert innerhalb der eigenen Gruppe galt, und somit weitgehend problemlos war. Kommt es beim Aufeinandertreff en mehrerer Gruppen zu einer gemeinsamen Interpretation der neuen Handlungssituation, so löst sich das Problem. Kommt kein Konsensus zustande, so erhebt sich die Frage, wessen Vorstellungen sich durchsetzen, welche Typisierungen soziale Geltung und somit eine normative Wirkung haben, und wieweit sich die Unterlegenen ihnen entziehen können.

Entscheidend ist, daß die gesellschaftlichen Gruppen, die ökonomische oder politische Machtpositionen innehaben, im allgemeinen eher in der Lage sind, ihre Typisierungen, ihr Bild von der gesellschaftlichen Wirklichkeit als bindend durchzusetzen als unterprivilegierte Gruppen. Die gesellschaftliche Stellung der Mächtigen ermöglicht es ihnen, ihre Interessen als gesamtgesellschaftlich gültige zu rechtfertigen und in Vorschriften und Gesetzen zu verfestigen.



[9] Diesen Verselbständigungs- und Entfremdungsprozeß charakterisiert Marx sehr treffend: »Die Ausgeburten ihres Kopfes sind ihnen über den Kopf gewachsen. Vor ihren Geschöpfen haben sie, die Schöpfer, sich gebeugt« (Marx 1968, S. 341).

[10] Typisierungen sind in dem Sinne objektiv, als sie im Bewußtsein der Handelnden Realitätscharakter besitzen analog dem Thomas-Theorem: »Wenn die Menschen Situationen als real definieren, sind sie in ihren Konsequenzen real« (zit. nach Merton 1971, S. 144).

[11] Typisierungen haben nicht die normative Gewalt wie institutionalisierte Vorschriften und Gesetze. Die normative Gewalt der Typisierungen liegt eher auf der informellen Ebene, in den Alltagsbeziehungen.

4. Typisierungen der Kontrollinstanzen

Bisher wurde allgemein auf das Typisierungskonzept und seine Bedeutung für das sinnhafte soziale Handeln eingegangen. In den folgenden Abschnitten sollen die Typisierungsaktivitäten der Instanzen sozialer Kontrolle und der sie stützenden gesellschaftlichen Gruppen in Beziehung gesetzt werden zu den Typisierungen gesellschaftlicher Randgruppen. Dazu werden zwei soziologische Ansätze - der Definitionsansatz und der Subkulturansatz - näher charakterisiert und eine Verbindung zwischen beiden hergestellt.

Der Definitionsansatz[12]hat sich als eine Gegenposition zu den traditionellen Ansätzen abweichenden Verhaltens[13] entwickelt. »Durch selektive Mechanismen werden auffällige ... Menschen in Kontakt mit Rechtspflegeinstitutionen gebracht, die diese absondern und als auffällig oder kriminell etikettieren und Somit einerseits die Verhaltenschancen der Personen beschneiden und andererseits bei ihnen einen identitätswandel herbeiführen, der sie fortan im Sinne der Etikettierung handeln läßt« (Schumann/Winter 1971, S. 47). Im Vordergrund dieses Ansatzes stehen weder die Abweichler als Person oder Gruppe noch die Motive und Bedingungen ihres abweichenden Handelns, sondern privilegierte gesellschaftliche Gruppen, die andere als Abweichler typisieren und etikettieren. Sichtbare Vertreter dieser Gruppen sind die Instanzen sozialer Kontrolle, wie die Justiz, die Polizei, und die Sozialarbeit. Sie sollen die Aufrechterhaltung der gesamtgesellschaftlich etablierten Typisierungen garantieren.

Geltende Normen werden von den Vertretern des Definitionsansatzes nicht als feste, unproblematische Bestandteile gesellschaftlicher Wirklichkeit begriffen. Gegenstand der Forschung sind vor allem die noch komplizierten Prozesse der Normverletzung und der darauf erfolgenden Reaktionen (Sack 1972, S. 18). Normen sind dabei nicht nur als Handlungsanleitungen zu verstehen, sondern bilden darüber hinaus die Grundlage zur Rekonstruktion und zur nachträglichen Beurteilung bereits abgelaufener Handlungen. Sowohl die Begehung einer Straftat als auch die Rekonstruktion z.B. vor Gericht ist ein sinnhaftes soziales Handeln. Die Interpretation der Handlung im Gerichtssaal erfolgt jedoch in einem ganz anderen Bezugsrahmen als die als strafbar typisierte Handlung; sie liegt zeitlich später und findet in einer anderen Situation statt. Hinzu kommt, daß die Reditsinstanzen auf ein Normverständnis zurückgreifen, das oft von dem der Angeklagten abweicht. Diese Interpretationsdiskrepanz kann soweit gehen, daß der Angeklagte der Argumentation der Richter nicht folgen kann, wie man häufig in Jugendgerichtsprozessen beobachten kann. So wurden im Rahmen einer empirischen Untersuchung Mitglieder einer delinquenten Jugendgruppe[14] daraufhin befragt, inwieweit sie selbst davon überzeugt sind, Straftaten zu begehen. Ihre Antwort war: Unterbewußt ist man davon überzeugt, eine Straftat zu begehen; das steht aber bei der Begehung der Tat nicht im Vordergrund. Nur wenn man gesehen wird, dann hat man das Gefühl »jetzt biste erwischt«. Später vor den anderen hat man das Gefühl »die Bullen verarscht zu haben«. Fragt man weiter, warum sie das machen, so antworten sie: »Das ist unheimlich spannend. Man macht das, um den anderen zu zeigen, daß man was Besonderes getan hat, z.B. die Bullen verarscht. Oder man macht's, wenn man kein Geld oder keine Zigaretten hat« (Gerke 1973, S. 146).

Die Hilflosigkeit mancher Jugendlicher vor Gericht basiert größtenteils darauf, daß sie eine strafbare Handlung in ganz anderer Weise typisieren als die Rechtsinstanzen. Eher »unbewußt« haben sie die Perspektive der Rechtsinstanzen verinnerlicht, z.B. durch die Sozialisation im Elternhaus oder in der Schule. Doch innerhalb ihrer Gruppe handeln sie nach anderen Prioritäten, während die Rechtsinstanzen nachträglich ein »Motiv« für die strafbare Handlung suchen und dabei von ihren eigenen Norm- und Wertvorstellungen ausgehen. Charakteristisch für diese Interpretationsdiskrepanz sind z.B. die unterschiedlichen Sprachebenen der Rechtsinstanzen und der Jugendlichen.

Richterliche Entscheidungen basieren zum einen auf gesetzlich fixierten Normen, zum anderen unterliegen sie bestimmten Ermessensspielräumen, die sich in Formeln wie »Rechtsgefühl«, »Intention« und »Erfahrung« äußern (Sack 1968, S. 461). Handlungen werden von Richtern problematisiert und als auffällig bezeichnet, wenn sie den allgemeinen Typisierungen dessen, was als »normal« bezeichnet und akzeptiert wird, widersprechen. »Der richtige Kriminelle bzw. der typische Fall des Kriminellen ist demnach nicht derjenige, der eine fremde Sache gestohlen hat, sondern derjenige, der zusätzlich etwa folgende Merkmale aufweist: einen unsteten Beruf ausübend, in einer schlechten Gegend wohnend, ein liderliches Leben führend etc.... Dieser Zuschreibungsprozeß einer kriminellen, genereller einer abweichenden Rolle vollzieht sich in einem sozialen Prozeß, dessen nur sichtbare Stationen die Institutionen der sozialen Kontrolle sind. Er ist natürlich eingebettet in ein Netzwerk sozialer Beziehungen, in denen die betreffende Person lebt, und wird in vielfacher Weise vorbereitet, angelegt, verstärkt und verhindert durch informelle Prozesse unterhalb der Schwelle institutioneller >Sichtbarkelt<, ohne daß letztere darum vom Sozialanalytiker weniger beobachtet werden sollten« (Albrecbt/Sack 1969, S. 27).

Zuschreibungen sind kein Privileg und spezifisches Charakteristikum von Kontrollinstanzen, sondern stellen ein generelles Merkmal der interaktiven und kommunikativen Prozesse zwischen Menschen dar (Sack 1972, S. 24). Zuschreibungen basieren auf Typisierungen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, die ihre Vorstellungen von »Normalität« zu gesamtgesellschaftlich verbindlichen erhoben haben möchten. H. S. Becker kommt daher zu dem Schluß, daß die Fähigkeit, normative Regeln aufzustellen und auf andere Gruppen anzuwenden, auf Machtunterschieden beruht, das heißt: Gruppen, die aufgrund ihrer sozialen Stellung Machtpositionen innehaben, sind am ehesten imstande, ihre Regeln durchzusetzen. So dominieren in unserer Gesellschaft Mittelschichtnormen, denen sich auch die Unterschichtangehörigen zu fügen haben, sei es in der Schule, vor Gericht oder anderswo (Becker 1963, S. 17).

Solche mit politischer oder ökonomischer Macht ausgestatteten Gruppen sehen in einer Abweichung von ihren zur Norm erhobenen Vorstellungen eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und damit letztlich ihrer eigenen Interessen. Dieser Gefährdung wird entgegengewirkt, indem nicht nur die abweichende Handlung negativ sanktioniert wird, sondern gleichzeitig das Motiv für die abweichende Handlung in anlage- und milieubedingten auffälligen Persönlichkeitsmerkmalen der Betroffenen gesucht wird. So beschreiben Kontrollinstanzen Rocker als Gewalttäter, bei denen Härte, Rücksichtslosigkeit und Brutalität im Vordergrund stehen (Wol/tWolter 1974, S. 25). Abweichendes Verbalten ist dann nicht mehr ein Produkt sozialstruktureller Ungleichheiten, sondern individueller Unzulänglichkeiten. Es wird daher auch nicht versucht, die soziale Situation der »Auffälliggewordenen« zu verändern, sondern die Abweichler wieder in die bestehende Gesellschaft einzupassen.

Tatsächlich wird die Wiedereingliederung jedoch erschwert, da die mit dem neuen Status des »Kriminellen« oder des »Abweichenden« verknüpften negativen Typisierungen die Betroffenen insofern isolieren, als ihnen die Mitmenschen in den Alltagsinteraktionen nun mit Mißtrauen und Feindseligkeit begegnen. Im Prozeß der Rollenübernahme machen sich die Aufgefallenen diese durch Kontrollinstanzen und »konforme Bürger« an sie herangetragenen Typisierungen zu eigen, sie übernehmen deren Perspektive und identifizieren sich schließlich selbst damit. Solche negativen Typisierungen haben somit die Funktion von »self-fulfilling-prophecies«[15]; das heißt, dadurch, daß die als Abweichler typisierten Personen und Gruppen die an sie herangetragenen Typisierungen übernehmen und sich damit identifizieren, fühlen sich die Kontrollinstanzen im nachhinein in ihren Annahmen bestätigt[16].



[12] Hier wird die Bezeichnung »Definitionsansatz« verwendet. Andere Bezeichnungen dieses Ansatzes sind »labeling-approach« oder »societal-reaction-approach«.

[13] Die Bezeichnung »Verhalten« ist in diesem Zusammenhang irreführend, da hier von einem bewußten, auf andere bezogenen Handeln ausgegangen wird, nicht von Verhaltensweisen unterhalb dieser Schwelle, wie z.B. Reaktionen auf Belohnung oder Bestrafung in lerntheoretischen Ansätzen. Zur Abgrenzung soll daher in folgenden der Begriff »abweichendes Handeln« verwendet werden.

[14] In dieser empirischen Untersuchung von Haferkamp über »Kriminelle Karrieren und gruppengebundene Lernprozesse«, an der der Verfasser der vorliegenden Arbeit mitgewirkt hat, wurde das Zusammenleben unterschiedlicher delinquenter Jugendgruppen und konformer Kontrollgruppen durch teilnehmende Beobachtung erfaßt. Eine delinquente.Jugendgruppe soll hier definiert werden als eine Gruppe, die ihre überwiegende Freizeit zusammen verbringt, die einen festen Treffpunkt hat und durch eine bestimmte, als abweichend typisierte Aktivität zu identifizieren ist.

[15] Merton definiert diesen Begriff folgendermaßen: »Die >self-fulfilling-prophecy< gibt ursprünglich eine falsche Definition der Situation, die ein neues Verhalten hervorruft, welches am Ende die zunächst falsche Vorstellung richtig werden läßt. Die trügerische Richtigkeit der >self-fulfilling-prophecy< verewigt die Herrschaft des Irrtums. Der Voraussagende wird nämlich den tatsächlichen Verlauf der Ereignisse zum Beweis dafür heranziehen, daß er von Anfang an Recht hatte« (Merton 1971, S. 146).

[16] Ein eindrucksvolles Beispiel für eine erfolgreiche Typisierung und Stigmatisierung bietet die psychiatrische Praxis. jemand, der als psychisch krank typisiert und in eine Heilanstalt eingewiesen worden ist, hat erst Chancen auf »Heilung«, wenn er »eingesehen« hat, daß er krank ist, wenn er sich mit seinem neuen Status »Geisteskranker« identifiziert. Erst nach dieser »Einsicht« kann nach Ansicht vieler Anstaltspsychiater mit der Therapie begonnen werden.

5. Die Randgruppe als Subkultur

Die in der Gesamtgesellschaft durchgesetzten Typisierungen bilden bei Ausgliederungsprozessen nur die eine Seite des Problems. Entscheidend ist ebenfalls die Sicht der Betroffenen. Wir müssen wissen, wie diese auf die Typisierungen der Kontrollinstanzen reagieren und wie sie sich selbst als Randgruppen typisieren. Vorallem der Subkulturansatz[17] ist zu einiger Popularität gelangt auch bei den Instanzen der sozialen Kontrolle, so z.B. bei der Analyse delinquenter Jugendgruppen wie etwa »Rocker«, »Fixer« oder »Typen«[18]. Eine allgemeine Definition des Begriffs Subkultur gibt R. König: »Unter Subkultur versteht man die Herausdifferenzierung von Untersystemen kultureller Normen, die unter Umständen von den gesamtgesellschaftlichen Normen beträchtlich abweichen können. Die subkulturellen Systeme können mehr oder weniger organisiert sein« (1967, S. 158). König sieht die Entstehung von Subkulturen in Abhängigkeit vom gesamtgesellschaftlichen Normensystem, das im wesentlichen auf den berufstätigen, männlichen Erwachsenen ausgerichtet ist. Somit ist die Subkulturbildung Jugendlicher als gruppenspezifische Form der Erreichung von Erwachsenenstatus zu verstehen, als Kompensation für mangelnde Integration und als Abhebung gegen die Erwachsenenwelt.

Schon die frühen Subkulturtheoretiker wie Thrasher (1963) und Whyte (1967) zeigten auf, daß delinquente Jugendbanden nicht willkürlich handeln, sondern daß ihr Handeln strukturiert, systematisiert und organisiert abläuft, und zwar nach Regeln, die der Gesamtgesellschaft oft entgegenlaufen. Der wichtigste Vertreter in der Nachfolge von Thrasher und Whyte ist A. Cohen (1961). Vor allem sein Ansatz ist bei den Instanzen der sozialen Kontrolle bekannt, da er vorrangig delinquente Jugendgruppen aus dem Blickwinkel der Kontrollinstanzen und weniger aus dem Blickwinkel und der Selbsteinschätzung der Jugendlichen analysiert[19].

Nach Cohen stehen delinquente Jugendgruppen in Konflikt mit den gesamtgesellschaftlich geltenden Mittelschichtnormen, sie bilden Kontrakulturen: die gruppenspezifischen Typisierungen sind stark normiert und auf Verletzung der Mittelschichtnormen ausgerichtet. Für Angehörige solcher Gruppen besteht die normative Verpflichtung, daß man die Gesetze der Mittelschichten verletzt, daß man stiehlt, randaliert, vandallert, »trouble« macht (vgl. Sack 1971, S. 275). Die Funktion dieser Gruppenkultur besteht in der Lösung von Status-Problemen der Jugendlichen. Die typische Reaktion der Mittelschichtangehörigen besteht indes darin, diese Gruppe als »Gefährdung der öffentlichen Sicherheit« oder als »kriminell« zu typisieren.

Eine modifizierte Position gegenüber Cohen nimmt W. B. Miller (1968) ein. Miller weist der Unterschicht eine eigene Kultur zu, entstanden in einem langfristigen historischen Prozeß. Er versucht, die kulturellen Kräfte, die auf die Unterschichtangehörigen einwirken, aus der Sicht der Akteure und in ihrer Situationsgebundenheit in der Alltagswelt zu erfassen. Solche unterschichtspezifischen Typisierungen können auch von der Mittelschicht als deviant definierte Akte einschließen, obwohl diese Akte in der eigenständigen kulturellen Tradition der Unterschicht durchaus als konform angesehen werden. Nach Miller finden sich Unterschicht-Jugendliche häufig in gleichgeschlechtlichen Gruppen von Gleichaltrigen, den Eckenstehergruppen[20], zusammen. »Delinquente Banden« sind für ihn Unterarten dieser Eckenstehergruppen. Das Handeln dieser Gruppen basiert für Miller auf Typisierungen, die in der Unterschicht hochbewertet werden, die jedoch nicht auf die absichtliche Verletzung der Normen der Mittelschicht ausgerichtet sind; demnach wird es bestimmt durch die Konformität mit den Typisierungen der Unterschicht und der eigenen Gruppe. Diese Priorität des Handlungsbezuges kann jedoch dazu führen, daß das Handeln die Normen anderer Gruppen verletzt und von diesen als gesetzwidrig definiert wird. Die Zugehörigkeit zu Eckenstehergruppen wird durch Kenntnis der gruppenspezifischen und durch den Besitz der in der Gruppe hochbewerteten Eigenschaften erlangt. Der Status innerhalb der Gruppe wird gemessen an den in der Unterschicht hochbewerteten Typisierungen wie Härte, Gerissenheit, ausdrücklicher Widerstand gegen Autoritäten, Wagemut oder Geschicklichkeit[21].

In neueren Subkulturansätzen, wie denen von Yablonsky und Lerman, werden delinquente Jugendgruppen eher als lose Gruppierungen analysiert, innerhalb derer abweichende Handlungen in Zweier- und Dreiergruppen begangen werden. L. Yablonsky (1962 u. 1971) bezeichnet solche Gruppierungen als »Neargroups« und stellt dafür folgende Merkmale auf:

  • diffuse Rollendefinition der Mitglieder,

  • begrenzter innerer Zusammenhalt der Gruppe,

  • Unbeständigkeit der Gruppen,

  • minimaler Normenkonsensus,

  • veränderliche wechselnde Mitgliedschaft,

  • ungeklärte Führerschaft,

  • begrenzte Definition von Mitgliedschaftskriterien (vgl. Yablonsky 1971, S. 227).

Er bemängelt, daß die Instanzen sozialer Kontrolle, die sich mit solchen Jugendgruppen auseinanderzusetzen haben, mit einem vorgefaßten, aus ihrem Blickwinkel typisierten Bild an diese Gruppen herantreten. Daß sich eine Gruppe dann tatsächlich nach diesem Bild entwickelt, ist für ihn eine Konsequenz aus der Konfrontation mit den Kontrollinstanzen, und beruht damit letztlich auf einer »self-fulfilling-prophecy« oder, wie Yablonsky es bezeichnet, auf einer »group-fulfilling-prophecy« (1974 S. 230). Delinquenz ist für ihn nicht das zentrale Merkmal der »Neargroups«, abweichendes Handeln bietet jedoch eine gute Möglichkeit, sich innerhalb der Neargroup Ansehen zu verschaffen. Yablonski schreibt den Unterschichtjugendlichen, speziell den Slumbewohnern, ein Sozialisationsdefizit zu, das dazu führt, daß sie soziale Beziehungen nur schwer verinnerlichen, sich nicht mit anderen identifizieren und somit Ablehnung außerhalb ihres Wohnsitzes zu spüren bekommen. Die Neargroup dient ihnen als Vehikel, um dieses Defizit im Rahmen ihrer beschränkten Möglichkeiten auszugleichen, um soziale Beziehungen aufzubauen und Ansehen zu erlangen. Dabei bieten vor allem Gewalttätigkeiten eine Möglichkeit, um dem Einzelnen Ansehen und einen schnellen Aufstieg innerhalb der Gruppe zu verschaffen (Yablonsky 1971, S. 233).

Ähnlich wie Yablonsky distanziert sich P. Lerman (1967/68) von den frühen Subkulturtheoretikern, die delinquente Jugendgruppen mit organisierten und strukturierten Banden gleichsetzten. Er unterstreicht insbesondere die Beziehung zwischen subkulturellen Typisierungen und konkreten Interaktionen zwischen den Jugendlichen als einen sich wechselseitig bedingenden Prozeß. Er geht von einer Subkultur der Jugendlichen mit eigenen abweichenden Situationsdefinitionen aus, die auf einer eigenen Sprache, d.h. auf eigenen typisierten abweichenden Sprachsymbolen beruhen. Innerhalb dieser abweichenden Sprachgemeinschaft, die Lerman »Netzwerk« nennt, gibt es kleinere Gruppen, Zweier- und Dreiergruppierungen sowie größere Gruppierungen mit und ohne eigene Gruppennormen.

Lerman übernimmt nicht die Annahme der anderen Subkulturtheoretiker, die Unterschichtzugehörigkeit und mangelnde Anpassung an Mittelschichtnormen als die eigentliche Ursache für abweichendes Handeln ansehen, sondern er beschreibt lediglich ein Nebeneinader von konformen und abweichenden Wertvorstellungen. Die Existenz delinquenter Jugendgruppen erklärt er damit, daß abweichende Wertvorstellungen für männliche Jugendgruppen attraktiver sind als konforme. Abweichende Handlungen vollziehen sich nach seinem Ansatz auf der Basis von Zweier- und Dreierbeziehungen; das abweichende Handeln beruht auf der Spontaneität der Akteure, auf gegenseitiger Stimulierung und auf günstigen Gelegenheiten.



[17] Einen allgemeinen Überblick über das Subkulturkonzept und die Beziehung zwischen Kultur und Subkultur gibt F. Sack (1971).

[18] Der Begriff »Rocker« ist eine Typisierung der Kontrollinstanzen und umschreibt Tätigkeiten wie Randalieren, Belästigungen oder Schlägereien. »Fixer« und »Typen« sind Sprachsymbole der Drogensubkultur. »Fixer« spritzen »harte Drogen« wie Opiate, »Typen« nehmen »weiche Drogen« wie Haschisch oder LSD.

[19] Gerade in der Sozialarbeit, speziell der Jugendarbeit, ist dieser Ansatz verbreitet. Einschränkend muß jedoch bemerkt werden, daß dieser Ansatz sowie die frühen Subkulturansätze auf Untersuchungen von organisierten Jugendbanden in amerikanischen Slumvierteln basieren, deren Ergebnisse man nicht ohne weiteres auf deutsche Verhältnisse übertragen kann.

[20] Die Bezeichnung »Eckensteher« stammt aus amerikanischen Untersuchungen. Eckenstehergruppen haben in der Regel einen festen Treffpunkt, meist eine Straßenecke, von der aus sie ihr Revier kontrollieren.

[21] Miller charakterisiert die Lebensweise der Unterschicht sowie die aller eigenen kulturellen Gruppen durch eine Anzahl von Kristallisationspunkten, die jeweils als eine Dimension angesehen werden, innerhalb derer die verschiedenen Handelnden in den verschiedenen Situationen einen recht weiten und differenzierten Bereich alternativen Verhaltens folgen können (1968, S. 341).

6. Typisierungen in jugendlichen Randgruppen

Die unterschiedlichen Subkulturansätze haben gemeinsam, daß sie subkulturelles Handeln als sinnhaftes soziales, auf Typisierungen beruhendes Handeln verstehen. Drei Hauptaspekte lassen sich aus diesen Ansätzen herauskristallisieren:

  1. 1 Sukultur- und Kontrakulturbildung sind als Reaktionen auf Kontakte mit Kontrollinstanzen und >Normalbürgern< zu

  2. verstehen.

  3. 2 Die Bildung von Subkulturen ist für Unterprivilegierte und sozial Benachteiligte eine Chance zur Selbstverwirklichung - und zwar durch gruppenspezifische Kriterien der Zugehörigkeit und Statuserlangung.

  4. 3 Abweichendes Handeln nimmt nur einen begrenzten Raum innerhalb der Aktivitäten subkultureller Gruppen ein. Es ist spontan und episodenhaft. Zumeist werden solche Akte in Zweier- und Dreiergruppierungen durchgeführt.

Delinquente Jugendgruppen durchlaufen in der Regel verschiedene Stadien, vom recht lockeren Zusammenschluß und minimalen Normenkonsensus bis hin zu strukturierten »Clubs« und »Banden« mit eigenen Satzungen und Mitgliedschaftsregeln. Fester strukturierte Gruppen zentrieren sich zumeist um eine bestimmte Aktivität, die für sie von Relevanz ist und eine Verwirklichung ihrer Ideale darstellt. So lassen sich etwa »Fixer« und »Typen« durch gemeinsamen Drogenkonsum identifizieren. Drogenkonsum bietet die Möglichkeit des Rückzugs aus sozialen Zwängen und das Erleben einer besseren Traumwelt, als Kompensation des eigenen Unvermögens in der Alltagsrealität. Für jugendliche Diebesgruppen bedeutet Stehlen und der Weiterverkauf der gestohlenen Sachen die Möglichkeit, sich Geld zu beschaffen und den »großen Mann zu markieren«. Für jugendliche Motorradfans, von den Erwachsenen oft als »Rocker« typisiert, bietet das Motorrad die Möglichkeit, unabhängig und frei zu sein. Dabei anfallende Schlägereien bieten zusätzlich die Chance, die Stärke der eigenen Gruppe unter Beweis zu stellen.

Um dieses für Außenstehende nur schwer einsehbare Selbstverständnis delinquenter Jugendgruppen zu illustrieren, sollen im folgenden einige Typisierungen einer delinquenten Jugendgruppe angeführt werden. Das Freizeitverhalten dieser Gruppe wurde in einer dreimonatigen Phase der teilnehmenden Beobachtung intensiv untersucht. Die Gruppe, die ihren Haupttreffpunkt in einem »Haus der offenen Tür« in einem typischen Unterschichtviertel hatte und dort die Freizeit gemeinsam verbrachte, umfaßte ca. 40 Jugendliche. Sie setzte sich aus mehreren Untergruppierungen zusammen. Die Gruppe der älteren Jungen bestand aus Mitgliedern zweier ehemaliger »Clubs«, die nach Konflikten mit den Kontrollinstanzen auseinandergefallen waren. Ihre Aktivitäten bestanden in starkem Alkoholkonsum, in Musikhören und in Glücksspielen wie Pokern oder 17 + 4. Die Jüngeren zentrierten sich um ihr gemeinsames Interesse an Motorrädern. Die Mädchen, die 13-16 Jahre alt waren, bildeten eine gesonderte Gruppe, wenn sie nicht gerade mit einem der Jungen eine engere Freundschaft geschlossen hatten. Sie hatten den geringsten Status in der Gruppe und wurden als »Weiber« oder »Keulen« bezeichnet.

Der engere Kern, der sich am stärksten mit der Gruppe identifizierte und auch innerhalb der Gruppe den höchsten Status hatte, umfaßte ca. 10 zumeist ältere Jungen. Sie waren fast alle irgendwann einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten, z.B. durch Schlägereien, Randaliererei, Verkehrsvergehen oder kleinere Diebstähle. Die Jüngeren waren vor allem durch Diebstähle von Mopeds und Mopedteilen auffällig geworden. Sie hatten sich in einer Schonung ein Lager angelegt und dort Mopeds »umfrisiert« (umgebaut) oder neu zusammengesetzt, die sie dann selbst fuhren oder verkauften. Die gesamte Gruppe wurde sowohl von den Instanzen sozialer Kontrolle als auch von den Anwohnern als »Rocker«, »Diebe«, »Säufer« und »Gammler« typisiert, und fast täglich fanden Kontrollen durch die Polizei statt.

Die folgenden Äußerungen von Gruppenmitgliedern stammen zumeist aus Gruppendiskussionen, die vom Beobachter angeregt wurden (vgl. Gerke 1973). Im normalen Zusammenleben bilden sie einen festen Bestandteil des Routinewissens der Gruppe und werden dort nicht weiter problematisiert.

»... daß in letzter Zeit sowenig los ist, ist einfach eine Zeiterscheinung. Früher haben wir alle für >Böcke< (Motorräder oder Mopeds) geschwärmt, und als wir dann welche hatten, ist auch viel losgewesen. Da sind wir immer rumgefahren und haben auch viel unternommen. Vor allem sind wir damals immer zusammengewesen und haben alles gemeinsam unternommen.

Aber diese Zeit ist jetzt vorbei. Die meisten sind jetzt älter geworden und haben teilweise Autos. Hinzu kommt, daß viele von uns eine feste Freundin haben und sich dann von den anderen absondern. Solche festen Freundschaften haben auch den alten >Club< kaputtgemacht.

Diese Zeit kann wieder aufleben, doch der Nachwuchs fehlt. Keiner von den Alten ist bereit. Neue um sich zu scharen. Und die Neuen allein schaffen es nicht, sich zusammenzurotten. Sie brauchen einen Älteren, der es versteht, sie um sich zu scharen. R. ist so einer gewesen, aber daraus ist auch nicht das richtige geworden. Und die Älteren machen das ebenfalls nicht mehr. Die meisten von uns haben noch die Nase voll. Wir haben damals alle Verbandlungen gehabt und viele haben jetzt noch Bewährung. Die schlagen sich auch nicht mehr, es sei denn sie werden angegriffen.«

Aufgrund gruppenspezifischer Typisierungen, die zu einem alltagstheoretischen Wissenssystem zusammengefaßt wurden, waren die Jugendlichen in der Lage, ein Ablauf- oder Zirkelmodell zu erstellen, wie Jugendgruppen sich strukturieren und wieder zu lockeren Gruppierungen übergehen. Entscheidend bei der Strukturierung der Gruppen ist eine zentrale Beschäftigung, hier das Motorradfahren. Werden die Jugendlichen älter, bricht die strukturierte Gruppe, der »Club« auseinander. Die Gründe sind meist Beziehungen zu Mädchen und Konflikte mit den Kontrollinstanzen. Nur Ältere, die die alten Zeiten noch miterlebt haben, sind in der Lage, Jüngere für die Neugründung eines »Clubs« zu begeistern. Wie man Zugehörigkeit und Status in einer Gruppe erlangt, zeigen die Äußerungen von Mitgliedern einer Untergruppe, die »weiche Drogen« wie »Shit« (Haschisch) oder »Trips« (LSD) nahm. Auf die Frage, warum man »Gift« (Drogen) nimmt, antworteten sie:

»Zuerst aus Neugierde, dann findet man's gut, macht Spaß. Man gewöhnt sich daran, es gibt einem Befriedigung. Man fühlt sich zugehörig zu der Gruppe, die Gift nimmt. Man will >in< sein, mit der Mode gehen. Die Gruppe wird verfolgt, weil es nicht erlaubt ist. Man will der Gruppe zeigen, daß die Erwachsenen einem den Buckel runterrutschen können.

Die Technik spielt eine Rolle, um innerhalb der Gruppe >in< zu sein. Man muß wissen, wie man einen Joint dreht und daran zieht, welche Namen es für Shit und Trips gibt und wie man sich bei Trips verhalten muß. Man muß immer etwas in der Tasche haben, das man vorzeigen kann. Das ist wie beim Saufen, da hat auch am meisten Prestige, wer am meisten vertragen kann, wer am schnellsten ist und wer >Pils< und >Ex< unterscheiden kann. Das trifft aber nur zu, wenn alle mitmachen.«

Als Ursache für die Gruppenbildung wurde von den Jugendlichen angeführt:

»Die Masse ist stark, der Einzelne schwach. Die Leute haben sich getroffen, weil sie zuhause keine Liebe, kein geregeltes Familienleben hatten. Dann haben sich mehrere von denen hier zusammengefunden und andere sind nachgezogen, z.T. aus denselben Gründen.«

Ihre Absetzung von den Erwachsenen charakterisierten sie folgendermaßen:

»Wir tun das Gegenteil von dem, was die Erwachsenen machen. Wir nehmen nicht jede Arbeit an, nur um zu arbeiten. Wir lassen uns nicht anmotzen, z.B. bei der Arbeit.

Wir tun gern das, was verboten ist, z.B. Rauchen schon mit 12 Jahren. Wir führen kein geregeltes Leben, sind nicht in der Familie, daraus entsteht dann das, wie hier an unserem Treffpunkt.

Beschimpfungen als Kriminelle oder Rocker geben gerade den Anreiz, das zu tun. Die Erwachsenen sehen nicht die Gründe für Straftaten, sie sehen nur die Straftaten, nicht die Familienverhältnisse, z.B. kein Vater oder der Vater ein Säufer.«

Die kriminellen Delikte, die sie begingen, waren ebenfalls typisch für ihre Situation: »stramm« (betrunken) oder ohne Führerschein Autofahren, Auto- oder Motorradteile stehlen, Ladendiebstähle, Automaten aufbrechen, Zigaretten »kloppen« (aus Automaten entwenden) oder Drogen nehmen. Schlägereien wurden von den Jugendlichen nicht als kriminelle Delikte typisiert. Sie besaßen jedoch ein eigenes Wissens- und Bewertungssystem über körperliche Auseinandersetzungen. Sie differenzierten nach Auseinandersetzungen mit Erwachsenen und mit anderen Jugendlichen, wobei sie die Jugendlichen noch in Gruppen und Einzelpersonen unterteilten. Starker Alkoholkonsum bildete nach ihrer Meinung die treibende Kraft, die überhaupt erst entsprechende Situationen entstehen ließ. Schlägereien mit rivalisierenden Gruppen sind zumeist Ausdruck eines Konkurrenzkampfes, in dem die Gruppen ihre Stärke maßen. Solche Konfrontationen ereigneten sich zumeist in einer Phase, in der die Gruppe fester strukturiert war und durch Motorräder eine gewisse Mobilität gewann. Auf die Frage, ob es in letzter Zeit noch Schlägereien gegeben habe, antworteten die Jugendlichen:

»Das hat alles stark nachgelassen. Daß wir so wie früher zusammen auf die Kirmes fahren, daß es dann wohl auch schon mal zu einer Schlägerei kommt, das ist heute kaum noch drin. Das hat sich alles irgendwie überlebt. Aber damals, als wir noch mit den >Highways< zusammen waren, waren wir unschlagbar. Da hätte sich keiner getraut, gegen uns anzugehen.«

Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Jugendlichen werden in der Regel als Zweikämpfe ausgefochten. Versuchen sich Dritte einzumischen, werden sie von den anderen Jugendlichen mit den Worten »laßt die, das machen die untereinander aus« zurückgehalten. Auseinandersetzungen mit Erwachsenen werden als Ausdruck des Generationenkonflikts empfunden, z.B. wenn Erwachsene am Handeln und am Erscheinungsbild der Gruppe Anstoß nehmen. Ein Jugendlicher schildert eine solche Konfrontation.

»Wir haben an der Bar gesessen und waren auch schon nicht mehr ganz nüchtern. Da hat sich einer zwischen uns gedrängt und uns angepöbelt. Rabe hat dann eine Auseinandersetzung mit ihm gehabt, aber eine Schlägerei haben wir in der Bar nicht machen wollen. Wir wollten immer mit dem anderen rausgehen, aber das wollte der nicht. Er hat dann mit mir weitergestänkert. Ich selbst wollte nichts machen, aber als der andere mich in die Haare packte, ist's aus gewesen. So was kann ich auf den Tod nicht haben.

Da hab' ich ihn zusammengehauen. Wir sind dann abgehauen aber eine Barfrau hat sich die Nummer von unserem Auto gemerkt.«

Anlässe für Schlägereien bilden zumeist Provokationen wie »Anrempeln«, »Anpöbeln« oder »Anmotzen«. Bei Konfrontationen zwischen Jugendlichen sind alle Mittel erlaubt, ohne eine bestimmte Technik schlagen sie »wild drauflos«. Schlägereien mit Erwachsenen werden als »irgendwie anders« typisiert, das »kommt drauf an, wie der andere gebaut ist«, »kommt auf die Situation an«. Körperliche Auseinandersetzungen haben vor allem den Zweck, die Stärke der eigenen Gruppe unter Beweis zu stellen, die eigene Stärke zu demonstrieren, andere zu verteidigen oder die Gegner in ihre Schranken zu verweisen.

Die Typisierung »Kumpel« gehört zum Routinewissen der Gruppe. jeder weiß, was ein Kumpel ist. Nur auf Nachfrage wird sie erläutert.

»Mit denen ist man fast immer zusammen. Die müssen so sein wie ich selbst, kameradschaftlich, müssen dieselben Einstellungen haben, auch zu den Mitmenschen und zum Leben. Mit denen muß ich mich verstehen können, wir müssen einer Meinung sein, müssen dieselben Interessen haben. Man muß sich mit ihnen über alles unterhalten können, über Frauen, Fußball, Musik, über bestimmte Probleme, z.B. zuhause, Geldprobleme, Arbeit. Man muß ihnen vertrauen können, sie dürfen nicht alles weitererzählen. Sie müssen alles mitmachen, zusammen saufen, ab und zu Blödsinn machen, z.B. Leute verarschen, kleine Streiche und Brüche machen oder Stoff (Haschisch) rauchen.«

Diese gruppenspezifischen Typisierungen illustrieren die Hauptkriterien der angeführten Subkulturansätze, wie Absetzung von den Erwachsenen, eigene Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und die Begehung abweichender Handlungen.

7. Die Beziehung zwischen gesamtgesellschaftlichen und subkulturellen Typisierungen

Sowohl der Definitions- als auch der Subkulturansatz beschreiben jeweils einen Aspekt eines sozialen Prozesses, die Ausgliederung von Randgruppen, in unserem Fall delinquente Jugendgruppen wie Rocker, Diebe oder Drogenabhängige. Beide Ansätze versuchen, die Bedingungen für gruppenspezifisches Handeln in der Alltagswelt zu analysieren und bedienen sich dabei des Typisierungskonzepts. Zuschreibungen und subkulturelle Situationsdefinitionen beruhen auf jeweils unterschiedlichen gruppenspezifisch typisierten Wissensbeständen.

Typisierungen sind gedankliche Abstraktionen und Generalisierungen. Sie setzen sich je nach Relevanz für einzelne Gruppen zu bestimmten Wissenssystemen zusammen, dem gruppenspezifischen Wissen von der Wirklichkeit. Bezogen auf die Problematik der Ausgliederung von Randgruppen heißt das, daß sowohl die Produzenten abweichenden Handelns als auch ihre Kontrolleure in ihren Situationsdefinitionen auf dieselben Entäußerungen - nämlich die konkreten Handlungen - zurückgreifen, sie jedoch in unterschiedlicher Weise - je nach Relevanz und Interesse - typisieren.

Schlägereien zwischen Jugendlichen oder auch zwischen Jugendlichen und Erwachsenen erscheinen für Kontrollinstanzen als Randaliererei, Körperverletzung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Jugendliche dagegen besitzen ihr eigenes Wissenssystem über Schlägereien, wie die Ausführungen im vorangegangenen Kapitel zeigen. Der Beweis körperlicher Stärke ist für sie ein Mittel, um Status und Ansehen zu erlangen und die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu demonstrieren.

Gesamtgesellschaftlich akzeptiertes Statusstreben vollzieht sich auf andere Weise: durch gute Schulbildung, berufliches Vorwärtskommen oder Anhäufung von Eigentum. Konforme Gruppen, die diese Typisierungen übernehmen, sehen dann im Handeln der von uns untersuchten Jugendlichen-Randgruppen eine potentielle Bedrohung. Dieses Handeln wird daher als »abweichend«, im Extremfall als »kriminell« definiert, also mit Merkmalen belegt, die nicht in direkter Beziehung zur ursprünglichen Handlungssituation stehen. Es handelt sich hierbei also um Typisierungen zweiten Grades, daß heißt um Interpretationen von Handlungen, die der Typisierende im Vollzug der Typisierung selbst nicht begeht.

»Konforme Gruppen«, die das Leistungsprinzip als höchstes und quasi natürliches Prinzip innerhalb einer Gesellschaft begreifen, ohne hierbei die spezifischen Interessen der ökonomisch und politisch herrschenden Gruppen zu erkennen, sehen in gesellschaftlichen Randgruppen eine Bedrohung. Die Ursache für das »gestörte Verhältnis« gegenüber dem Leistungsprinzip, das diese Randgruppen nach Ansicht der »Konformen« haben, wird jedoch nicht in den sozialen Benachteiligungen dieser Gruppen gesehen, sondern in der Persönlichkeitsstruktur der Randgruppenmitglieder selbst. Man glaubt daher, der angeblichen Bedrohung am ehesten dadurch entgegenwirken zu können, daß man das Problem individualisiert und auf die Feststellung abweichender Persönlichkeitsmerkmale reduziert, ohne die eigentlichen strukturellen Ursachen zu beseitigen. Das einzelne Mitglied einer Randgruppe wird somit sehr bald als »Abweichler« und »Auffälliger« Objekt institutioneller Maßnahmen der Instanzen sozialer Kontrolle, als deren Aufgabe es angesehen wird, jede Bedrohung durch Abweichler und Randgruppen abzuwenden und die Gesellschaft selbst in ihrer »Normalität« zu erhalten.

8. Konsequenzen

Welche Konsequenzen ergeben sich nun aus dieser Analyse? Sie soll zunächst einmal dazu anregen, gesellschaftliche Ausgliederungsprozesse und die Existenz von Randgruppen nicht als eine »natürliche« Tatsache einer jeden Gesellschaft einfach hinzunehmen, sondern diese vor allem als eine Folge sich wechselseitig bedingender sozialer Prozesse zwischen »konformen« und »abweichenden« Gruppen aufzufassen. Die scheinbare Zwangsläufigkeit der Ausgliederung gleicht dabei einem Teufelskreis, dem nur schwer zu entrinnen ist. Ein aktuelles Beispiel für einen solchen Teufelskreis sich gegenseitig aufschaukelnder Vorurteile bietet die Radikalisierung politischer Hochschulgruppen. Dort, wo sie unbequem werden, werden sie als eine Bedrohung der »freiheitlich-demokratischen« Grundordnung dargestellt. Sie gelten nun nicht mehr als vollwertige Gesprächspartner, sondern werden als »Phantasten« und »Spinner«, im Extrem als »Kriminelle« abgestempelt. Entsprechend reagieren diese Gruppen auf die ihnen entgegengebrachten Vorurteile und bestätigen damit ihrerseits die vorgefaßte Ansicht ihrer politischen Gegner.

Ein Ansatzpunkt zur Veränderung und Aufhebung von Ausgliederungsprozessen wäre es, zu versuchen, solche Randgruppen aus ihrer inneren Logik heraus zu begreifen und ihr Handeln vor dem Hintergrund seiner Situationsgebundenheit zu sehen. So wäre ein erster Schritt getan, die von Randgruppen geteilten gruppenspezifischen Typisierungen als eine bestimmte Form von Abwehrmechanismen zu begreifen, die letztlich nur die Folge struktureller Benachteiligungen und Vorurteile darstellen.

Diese Einsicht in die soziale Dynamik von Randgruppen wäre vor allem für die Instanzen sozialer Kontrolle von Bedeutung, da gerade sie unmittelbar mit »abweichenden Gruppen« zu tun haben. Eine Änderung der Einstellungen der Kontrollinstanzen könnte jedoch Konflikte mit den herrschenden Gruppen heraufbeschwören, deren Interessen sie bislang in erster Linie vertreten haben. Doch böte gerade ein solcher Konflikt die Chance, das bisherige Routinewissen der Herrschenden zu verunsichern und damit die Einstellung gegenüber Randgruppen zu verändern. Eine gewandelte Einstellung aber würde sich wiederum auf die Interaktionen mit den Randgruppenmitgliedern selbst auswirken. Die Erkenntnis, daß man Randgruppen und ihre Mitglieder nicht pauschal als »asozial« abqualifizieren kann, könnte somit ein wichtiger Schritt sein, um soziale Benachteiligungen und Diskriminierungen abzubauen.

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Zur Person:

Ulrich Gerke, geb. 1945, Dlplom-Soziologe, Doktorand an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Arbeitsgebiete: Soziologie abweichenden Verhaltens, Subkulturtheorien, Integration jugendlicher Epileptiker.

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Quelle

Ulrich Gerke: Typisierungen und abweichendes Handeln. Zur Analyse jugendlicher Randgruppen

Erschienen in: Manfred Brusten/Jürgen Hohmeier(Hrsg.), Stigmatisierung 1, Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen, Darmstadt 1975. S. 55 - 77

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 02.03.2005

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