Wie man lernbehindert wird

Zur Aussonderung "dummer" Schüler

Autor:in - Rudolf Forster
Textsorte: Buch
Releaseinfo: Erschienen in: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 153 - 170
Copyright: © Jugend und Volk 1982

Schulversagen - ein gesellschaftliches Problem

Die (sogenannten) Tatsachen

In Österreich besucht etwa jeder 30. Pflichtschüler eine "Allgemeine Sonderschule". Zum Besuch dieser Institution - früher "Hilfsschule" genannt - sind jene Schüler verpflichtet, die infolge einer "Lernschwäche" oder "Leistungsbehinderung" dem Unterricht der Volks- oder Hauptschule nicht zu folgen vermögen[1].

Die Sonderschulüberstellung erfolgt aufgrund eines gesetzlich geregelten Verfahrens, dessen Auslöser ein Ansuchen der Eltern bzw. Erziehungsberechtigen oder ein Antrag des Leiters der Regelschule ist. Der tatsächliche Anstoß zur Einleitung des Verfahrens geht jedoch in der Regel vom Lehrer des Kindes in der Regelschule aus. Da ein eingeleitetes Verfahren in ca. 90 % aller Fälle zur Sonderschulüberstellung führt, kommt der Initiative des Lehrers ein entscheidender Stellenwert zu.

Die meisten Sonderschuleinweisungen erfolgen im Laufe der ersten vier Grundschuljahre aus den unteren Volksschulklassen. Vorausgegangen sind ihnen in der Regel andere Manifestationen von Schulversagen, vor allem Schulstufenwiederholungen. Die ungenügenden Schulleistungen betreffen v.a. die Fächer Deutsch und Mathematik.

Kinder, die in die Allgemeine Sonderschule überwiesen werden, stammen in ihrer großen Mehrheit aus benachteiligten sozioökonomischen und soziokulturellen Verhältnissen: Ihren nachweisbaren Ausdruck finden diese Milieubedingungen im geringen Bildungsniveau der Eltern, der überwiegend niedrigen beruflichen Stellung des Vaters, der häufig unvollständigen Familienstruktur, der zumeist hohen Geschwisteranzahl und den in der Regel beengten Wohnverhältnissen[2].

Als widersprüchlich fällt bereits bei den Tatsachen auf, daß von der Verpflichtung zum Besuch der Allgemeinen Sonderschule in Wien etwa doppelt soviele Kinder betroffen sind wie im Burgenland oder daß unter den in die Sonderschule überstellten Kindern deutlich mehr Knaben als Mädchen sind. Auch der starke Anstieg der Zahl der in die Sonderschule überstellten Kinder in den letzten 30 Jahren erscheint erklärungsbedürftig[3]. Sollten Lernschwierigkeiten und Leistungsbehinderungen so sprunghaft angestiegen und so unterschiedlich regional oder nach Geschlecht verteilt sein? Oder vermochten Kinder mit diesen Beeinträchtigungen früher dem Unterricht eher zu folgen bzw. vermögen dies heute noch Kinder in einzelnen Regionen eher als in anderen, Mädchen eher als Knaben? Oder variiert die Anwendung der Regeln, durch welche die in den gesetzlichen Bestimmungen zum Ausdruck gebrachte Verpflichtung zum Sonderschulbesuch festgelegt ist?

Die Interpretation der Tatsachen

Das in der Pädagogik und Schuladminstration vorherrschende Interpretationsmodell verkürzt Schulversagen auf das Versagen des Schülers. Ausdrücke wie "lernbehindert", "schwachbegabt", "minderbegabt", "verhaltensgestört" usw. lasten das Schulversagen der defizitären Persönlichkeit des Schülers an. Nicht selten steht dahinter noch immer ein statischer Begabungsbegriff, der in der mangelnden genetischen Ausstattung die eigentliche Ursache sieht[4]. Bei einem solchen, wissenschaftlich längst überholten Verständnis von Lernen und Lernversagen bleibt tatsächlich nur die Zuordnung zu unterschiedlichen Schultypen als "pädagogische" Strategie.

Die enge Verbindung zwischen dem Aufwachsen und Erzogenwerden in unterprivilegierten Lebensverhältnissen und mangelndem Schulerfolg oder verkürzt ausgedrückt: zwischen Armut und Dummheit - ist vielfach nachgewiesen worden (vgl. z.B. die Zusammenstellung bei MÜLLER & v. SALZEN 1981, S.130-139). Die Bedeutung von Umweltfaktoren für die Entwicklung der Persönlichkeit und insbesondere der Begabung ist mittlerweile auch im deutschen Sprachraum weithin akzeptiert. Im Rahmen zahlreicher Untersuchungen wurden auch jene (unterschichts-)milieutypischen Kommunikationsweisen, Erziehungsstile und Lebensbedingungen genauer erforscht, deren Nachteiligkeit für schulischen Erfolg unmittelbar einsichtig ist (a.a.O., S.149f). Ihre Existenz wird z.B. im Begriff des "soziokulturell benachteiligten" Schülers (BEGEMANN 1970) auch in der sonderpädagogischen Diskussion ausgedrückt bzw. anerkannt. Nach dieser Konzeption sind "dumme" Schüler nicht unveränderbar dumm, durch spezifische Förderungsprogramme könnten jene Fähigkeiten erworben werden, die Schulerfolge günstig beeinflussen. Am Erfolg bzw. der Erfolgschance derartiger kompensatorischer Programme werden allerdings erhebliche Zweifel geäußert (zusammenfassend HOMFELDT 1974, S.59f), da sie häufig weder die soziale Lage noch das Schulsystem berühren und sich ausschließlich auf die Person des Schülers richten.

Vielfach hat die Kenntnis bzw. Zurkenntnisnahme des soziokulturellen Milieus der Schulversager allerdings zu einer neuen Rationalisierung, zu einer Verschiebung der pädagogischen Resignation geführt - vom vermeintlich mangelnd begabten Schüler auf das soziale Milieu, das noch unbeeinflußbarer und unveränderbarer erscheint als der Schüler selbst.

Wenn von Schulversagen gesprochen wird, kommen zumeist die Schule oder die dort Unterrichtenden gar nicht vor. Von vornherein ist es ausgemacht: "Nicht sie (die Schule, R.F.) behindert den Schüler am Lernen, sondern der Schüler ist lernbehindert, dumm" (TRABANDT 1979, S.8). Nun ist aber "Lernversagen ein Prozeß, den der Lehrer aufgrund seiner Definitions- und Sanktionsgewalt mitsteuert" (HOMFELDT 1974, S.42):

"In bezug auf die konkrete Unterrichtssituation heißt das, einen Schüler lächerlich und unattraktiv zu machen, ihn degradieren und ausschließen zu können, ihm Rollenhilfen .... vorzuenthalten ..... aber auch, den Schüler aufzuwerten, hochzuloben und besonders attraktiv machen zu können" (a.a.O., S.8).

Um den Anteil der Schule an der Entstehung und Verfestigung von Schulversagen, das schließlich durch die Zuschreibung einer Lernbehinderung und die Überweisung in die Sonderschule endgültig auf den Begriff gebracht wird, geht es im folgenden.

"Dumme" Schüler oder "böse" Lehrer?

Bevor ein Schüler als sonderschulbedürftig bezeichnet wird, gehen Experten an die Arbeit. Lehrer und Direktoren, Psychologen und Ärzte begutachten. Das Ergebnis liest sich in "Überstellungsgutachten" dann etwa so:

"Hans-Jürgen kommt oft schmutzig zur Schule. In der Schule täuscht er Geschäftigkeit vor, obgleich er aufgrund seiner Minderbegabung nichts leistet. In der Klasse selbst ist er ruhig und still, doch übt er einen ungünstigen Einfluß auf seine Mitschüler aus, da er sie zu Prügeleien außerhalb der Schulzeit anhält. In seinem Wohngebiet ist er als Schläger und Anführer von Schlägereien bekannt." (zitiert nach HOMFELDT 1974, S.57)

"Fritz ist ein Jahr zurückgestellt worden. Er hat das erste Schuljahr wiederholt und wird das Ziel der zweiten Klasse jetzt nicht erreichen. ... Der Klassenlehrer weist darauf hin, daß er vor allem im sprachlichen Bereich große Schwierigkeiten habe. Während der Testsituation zeigt sich Fritz als zurückhaltendes, scheues Kind. Fritz erscheint ungepflegt und unsauber. Er spricht langsam und ausdruckslos. Er macht zahlreiche Grammatikfehler .... Fritz arbeitet gut mit, im Handlungsteil fallen Interesse und Geduld beim Problemlösen auf .... Die Ergebnisse aller Test lassen eine Förderung in der Grundschule als unzureichend erscheinen. Es wird daher dringend empfohlen, Fritz in die Schule für Lernbehinderte umzuschulen." (KORTE 1980, S.10f)

"Lernschwach; klein, flink, kontaktfreudig - aber hemmungslos, neigt zu grundloser sadistischer Aggressivität. Lernmäßig verwahrlost, braucht ständige Kontrolle. Nur in einer Kleinklasse tragbar." (zitiert nach AGNEW 1979, S.287)

In Gutachten dieser Art wird der Schüler zu einem objektiven Fall: Seine subjektive Sicht der schulischen Situation, seine Beziehung zum Lehrer, zu den Mitschülern, das Verhalten und die Einstellung seiner Eltern zur Schule und zu seinen Leistungen, seine Schulgeschichte und Schulerfahrungen werden ausgeklammert. Die Schule, die Lehrer - was haben sie ihm angeboten, wie haben sie auf Probleme reagiert? - stehen von vornherein außerhalb der Fragestellung. Die Schule und die Experten setzen ihre Sicht der Situation durch.

Nach den Erlebnissen der betroffenen Schüler, ihren Kränkungen, ihrer Angst und Mutlosigkeit wird kaum gefragt. Sie erleben die Schule ihrerseits als feindselig, zerstörerisch, unentrinnbar. Rückblicke "im Zorn", formuliert von ehemaligen Sonderschülern, sprechen eine deutliche Sprache:

"Ich war nie gut in der Schule. Auch im mündlichen Unterricht nicht. Manchmal, wenn ich eine Antwort wußte und deshalb die Hand aufhob, sagte der Lehrer: 'Nimm deine Hand nur wieder herunter, du erzählst sowieso einen Mist: Die andern Schüler lachten."

"Ich war manchmal frech in der Schule. Wenn es wieder einmal so weit war, ließ mich der Lehrer etwas vorlesen. Die nächste Sätzchenaufgabe oder so. Das konnte ich nicht. Ich stotterte. Die andern Kinder lachten, und ich schämte mich. Der Lehrer ließ mich manchmal auch vorlesen, wenn ich gar nicht frech gewesen war. Manchmal war es ein Mißverständnis. Ich habe oft nächtelang nicht geschlafen, aus Angst, am nächsten Tag wieder vorlesen zu müssen." (zitiert nach JEGGE 1979, S.66f)

"Der Lehrer hat zu meinen Kameraden gesagt, daß ich ganz blöd bin und sie sollten nicht mit mir spielen." (zitiert nach AMANN & PETERS 1981, 5.26)

Ist das Problem des Schulversagens somit nicht im dummen Schüler, sondern im "bösen" Lehrer zu suchen? So wie die derzeit von der Schule vorgenommene Verlagerung des Beziehungsproblems Schüler - Schule in die Person des (Problem-)Schülers verkürzt ist, so kurzsichtig wäre seine Auflösung in Persönlichkeitsmerkmalen des Lehrers. Der Handlungsspielraum des Lehrers ist durch institutionelle Gegebenheiten und tradierte Ideologien wesentlich eingeengt. Dennoch kommt dem Lehrer in der Zuschreibung von Dummheit, ja sogar in ihrer Herstellung eine entscheidende vermittelnde Rolle zu, die nicht genügend beachtet und berücksichtigt wird und den Lehrern selbst kaum bewußt ist. Eine Fallgeschichte in den Worten eines betroffenen Schülers (gekürzt wiedergegeben nach JEGGE 1979, S.81-85) soll einer systematischen Analyse des Prozesses vorangestellt werden.

"Eigentlich hat alles schon in der ersten Klasse begonnen, ... Wir mußten jeweils am Setzkasten Wörter setzen. Ich kam da nie ganz mit. Die andern waren einfach vor mir fertig und mußten auf mich warten. Die Lehrerin sagte dann: 'Bist du endlich fertig, Heini?' Und ich schämte mich. Ein paarmal nahm ich den Setzkasten mit nach Hause: Um zu üben. Aber niemand hatte Zeit, mir zu helfen. Da dachte ich: Das lernst du sowieso nie. Und so war es auch..

(Die dritte Klasse mußte Heini wiederholen) .... Diese dritte und die vierte Klasse war das Schlimmste, was ich in meinem Leben bis jetzt erlebt habe .... Immer wenn ich einen der Viertklässler sah, dachte ich: Der hat es geschafft, und du - du bist eben dumm .... Mit den neuen Klassenkameraden kam ich nicht richtig aus. Sie wußten, daß ich nicht gut war, und sie sagten es mir auch.

.... Wenn ich mit Lesen drankam, wußte ich von Anfang an, daß ich es nicht können würde. Ich konnte kaum etwas sagen, vor lauter Angst .... Manchmal glaubte ich, ich müßte ersticken. Dann stotterte ich ein, zwei Worte, und die andern Schüler lachten .... Die Lehrerin sagte: 'Du mußt halt üben!' Aber ich wußte, daß das keinen Sinn hatte. Das war wie beim Diktat. Da hatte ich auch geübt zuhause, sicher zwei Stunden lang ... Und dann hatte ich doch zwanzig Fehler, und die Lehrerin sagte: 'Wenn du geübt hättest, hättest Du jetzt nicht so viele Fehler.' Da wußte ich, daß ich hoffnungslos dumm sei.

.... ich hatte überhaupt keine Freude mehr an der Schule. Weil ich doch nur ausgelacht wurde, und weil mich die andern nicht mochten. Jeden Morgen, wenn ich noch im Bett lag, dachte ich: Jetzt mußt du dann in die Schule. Dort kannst du nichts, weil du dumm bist. Dann wirst du ausgelacht. Wenn es doch nur schon wieder Abend wäre! Und wenn ich in der Schule saß, dachte ich immer: Wenn doch die Schule nur schon wieder aus wäre! Ich machte gar nicht mehr richtig mit. Auch nicht bei den Sachen, die ich vielleicht noch gekonnt hätte. Das kam gar nicht mehr darauf an.

.... (zu Hause?) ... war es noch viel schlimmer als in der Schule. Immer, wenn ich eine schlechte Prüfung nach Hause brachte, .... schimpfte der Vater, .... Die Geschwister lachten mich aus, ..... Manchmal wurde ich so wütend, daß ich dreinschlug. Aber dann bekam ich Schläge vom Vater .... Ich hatte das Gefühl, alle Erwachsenen seien gegen mich ..... damals war ich allein, ganz allein. Und das war das Allerschlimmste."



[1] Eine ausführliche Darstellung der gesetzlichen Grundlagen des Sonderschulwesens findet sich bei GRUBER 1978.

[2] Vgl. im einzelnen die Studie von FORSTER u.a. (1981) sowie die Zusammenstellung der Ergebnisse empirischer Untersuchungen für Österreich bei FORSTER 1981 (b).

[3] Zur detaillierten Darstellung statistischer Materialien vgl. FORSTER 1979.

[4] Eine solche Auffassung vertritt etwa der oberösterreichische Sonderschulinspektor Johann FUCHS - vgl. ein entsprechendes Zitat in: erziehung heute, Heft 11/12, Dezember 1981, S.36.

Schulkultur und Schülerwirklichkeit

Leistungsgesellschaft - Leistungsschule

Unsere Gesellschaft versteht sich als Leistungsgesellschaft. Nach diesem Selbstverständnis wird der soziale Status ihrer Mitglieder wesentlich durch die individuell erbrachte Leistung bestimmt: "In diesem Sinn fungiert das Leistungsprinzip auch als eine Norm der Ungleichheit" (BRUSTEN & HURRELMANN 1973, S.13). Wenn sich dieses Prinzip auch zur tatsächlichen Erklärung von Ungleichheit als untauglich erwiesen hat und "als eine präskriptive Norm weitgehend sinnlos und faktisch zu einem Disziplinierungsinstrument geworden ist" (a.a.O., S.13), so ist es doch als Instrument zur Rechtfertigung von Ungleichheit in hohem Maße funktional.

In der heutigen Schule dominiert das Leistungsprinzip uneingeschränkt. Die Schule stuft ein, sortiert, wählt aus, stellt die Weichen für weitere Bildungswege. Noten und Zeugnisse als quantifizierte, einfach zu interpretierende Kategorien sind Inbegriffe der Schulwirklichkeit, auf sie stützen sich auch andere gesellschaftliche Subsysteme wie Arbeitgeber oder Instanzen sozialer Kontrolle. Die Norm der individuell zurechenbaren Leistung erzeugt Konkurrenz, Wettbewerb:

"Er (der Schüler, RF) muß mit seiner Haut zu Markte, bei Prüfungen, bei Noten- und Zeugnisverteilung .... Einzelarbeit, Prüfung, Abgefragt werden ist das Übliche .... Das Ganze ist vergleichbar mit einem gigantischen Rundstreckenlauf, wobei der hier nicht Erfolgreiche sich vor sich selbst und in den Augen der anderen hoffnungslos disqualifiziert. Also muß er erfolgreich sein, zumindest erfolgreicher als einige andere." (JEGGE 1979, S.86f)

Nun ist aber der Leistungsbegriff der (Grund-)Schule ein sehr eng gefaßter: Zentral sind kognitive Fähigkeiten, der Erwerb der Zivilisationstechniken (Lesen, Rechtschreiben, Rechnen). Motivation, Aufmerksamkeit, gute Arbeitshaltung etc. werden nicht geschult, sondern bereits vorausgesetzt, Lernen im Bereich der Gefühle oder im sozialen Bereich wird vorrangig im Hinblick auf die übergeordneten Lernziele forciert (Selbstkontrolle, Disziplin, Akzeptierung von vorgegebenen Normen und Hierarchien, Entsolidarisierung etc.). Die Unterrichtsorganisation ist entsprechend aufgebaut; Frontalunterricht, strenge Zeitstrukturierung, thematische Enge, gleiche Erwartungen und Aufgaben für alle Schüler:

"Die im organisatorischen Rahmen der Schule abverlangten Leistungen sind .... stark vom Zentrum der persönlichen Bedürfnisse abgespalten, .... künstlich und fremd, sie lassen nur auf ganz schmalen und eingeengten Gleisen eine Entfaltung der Persönlichkeit zu." (BRUSTEN & HURRELMANN 1973, 5.16)

Die außerschulischen Sozialerfahrungen und unterschiedlichen Lernvoraussetzungen werden weitgehend negiert: Die Schule geht - trotz verstärkter Betonung des Individualisierungsprinzips - weiterhin vom "Norm- und Einheitsschüler" (EBERWEIN 1975, S.74) aus. Sie arbeitet mit der Fiktion, daß alle Schüler die gleichen Primärerfahrungen mitbringen bzw. daß sie die von der Schule für wünschenswert erachteten Fertigkeiten eigentlich mitbringen müßten (HOMFELDT 1974, 5.52). Und es ist auch keine Frage, welche Kultur hier zur Norm erhoben wird, nach der Ausfälle, Rückstände, Abweichungen festgestellt werden: "Es handelt sich um die Normen der bürgerlichen Schule, im weiteren der verbürgerlichten Gesellschaft überhaupt." (JEGGE 1979, S.129)

Zu den gravierenden Erfahrungen zählt die geforderte Unterwerfung unter die Spielregeln einer Institution: Faktisch bestimmen jetzt Erwachsene und Unterrichtsmittel die Inhalte und Methoden des Lernens: "Unter diesen Bedingungen konstituiert sich im ersten Schuljahr für das Kind die Trennung zwischen Leben und Lernen", der Sinn des Lernens besteht vor allem in der "Erfüllung kurzfristiger Leistungs- und Verhaltensanforderungen", die vom Schüler als das Wesen der Schule wahrgenommen werden: "Er wird nicht mehr lernen, um sein Erkenntnisinteresse zu befriedigen ...., sondern einzig um die Erfüllung der an ihn gestellten Erwartungen." (MÜLLER & v.SALZEN 1981, S.164-166)

Das Dilemma der Kinder aus Unterschichten und Randgruppen

Das schulische Erwartungs- und Normensystem ist eng und einseitig an der Kultur der Mittelschicht orientiert, es widerspricht somit dem breiten Spektrum der Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten in den unterschiedlichen Klassen und Schichten unserer Gesellschaft. Kinder der Unterschicht oder gar Kinder aus einem randständigen Milieu haben einen besonders großen Anpassungsprozeß zu vollziehen: "Schule bedeutet für dieses Kind die Konfrontation mit einer anderen Kultur", mit neuen Inhalten, neuen Formen der Interaktion und Konfliktbewältigung (LÖSEL 1975, 5.11). Auf jene Fähigkeiten und Motivationen, welche die Schule bereits voraussetzt, können diese Kinder weniger zurückgreifen.

Aus den Erfahrungen seiner Arbeit mit Sonderschülern hat Jürg JEGGE die besonderen soziokulturellen und psychischen Barrieren dieser Kinder beschrieben (1979, S.74-75):

  • Kulturelle Anregungsarmut des Milieus, deren augenfälligster Ausdruck die sprachliche Benachteiligung ist.

  • Armut der Beziehungskultur in der Familie, das heißt Vernachlässigung von Rücksichtnahme, Verstehen und Eingehen auf die wechselseitigen Bedürfnisse, bzw. Bloßstellung, Kränkung usw. mit der Folge einer "seelischen Panzerung" als Schmerzschutz.

  • Bildungsfeindlichkeit der Eltern, begründet in ihren Erfahrungen aus der eigenen Schulzeit, in Angst vor Machtverlust gegenüber den Kindern und in kurzfristigen ökonomischen Überlegungen (frühzeitiges Mitverdienen).

  • Hilflosigkeit der Eltern gegenüber Experten und Obrigkeiten, "mißtrauisch geworden durch ihre Hilflosigkeit, vollends hilflos geworden durch ihr Mißtrauen" (a.a.O., S.53).

  • Unsicherheit der Zuwendung und Anerkennung seitens der erwachsenen Bezugspersonen bzw. deren Abhängigkeit von der Befolgung starrer Normen. Dies führt zu beständiger Angst, etwas falsch zu machen und dafür fallengelassen zu werden.

  • Geringe Selbständigkeit und niedriges Selbstwertgefühl des Kindes als Folge von Anpassungsdruck und Kränkungen.

Verschiedene Autoren haben sich gegen die Auffassung gewandt, die Persönlichkeit dieser Kinder sei grundlegend defizitär (LÖSEL 1975, S.11). Die Einstellungen und Verhaltensweisen dieser Kinder sind vielmehr z.T. funktional für ihre Lebenssituation, sie stellen das Ergebnis eines Aneignungs- und Anpassungsprozesses dar. "Vor Schuleintritt werden ... (diese) Kinder seltener als dumm oder schon gar nicht als lernbehindert bezeichnet." (TRABANDT 1979, S.7) Mit dem Eintritt in die Schule gelangen sie aber in das Einflußfeld zweier unterschiedlicher und mächtiger sozialer Systeme, sodaß ihr bisheriges Selbstverständnis und Selbstbild (Identität) erheblich bedroht ist (BRUSTEN & HURRELMANN 1973, S.21; HOMFELDT 1974, S.48).

Die Kluft zwischen den in der Schule geforderten Verhaltensweisen und den durch die bisherigen Erfahrungen geformten Verhaltensmöglichkeiten führt zu Spannungen, die durch Mechanismen der Selbstverteidigung und Konfliktbewältigung (die ihrerseits wiederum stark erfahrungsgeprägt sind) beantwortet werden. Im Kern sind es zumeist aggressive Reaktionen auf der einen, defensive Reaktionen auf der anderen Seite, die aber auch abwechselnd und gemischt auftreten können (JEGGE 1979, S.67-75; BRUSTEN & HURRELMANN 1973, S.20).

Erwartungen und Alltagstheorien der Lehrer

Wie gehen nun Lehrer der Grundschule mit diesen strukturell bereits angelegten Widersprüchen und Konfliktquellen um? Die Ausgangs- und Rahmenbedingungen für ein, den Bedürfnissen und Fähigkeiten aller Kinder gerecht werdendes Verhalten, sind eher ungünstig:

  • Die Lehrer selbst entstammen zumeist jenen höheren Sozialschichten, deren Normensysteme die Schule als allgemeinverbindlich statuiert hat.

  • Die Ausbildung der Grundschullehrer bereitet nicht ausreichend auf die Kenntnis der und den Umgang mit der Lebenssituation und den Verhaltensweisen unterschiedlich sozialisierter Kinder, v.a. der Kinder aus Randschichten, vor.

  • Die Einbindung der Lehrer in ein bürokratisch-hierarchisches System, der Erwartungsdruck der Schulaufsicht (aber auch der Eltern der "konformen" Schüler), die Fremd- (und auch Selbst-) Definition des beruflichen Erfolgs anhand der Erfüllung der geschilderten Leistungs- und Verhaltenskategorien, erzeugen hohen Konformitätsdruck und erschweren eigenständige und unübliche Formen des Umgangs mit Problemschülern.

Verschiedene empirische Untersuchungen über die Verhaltensnormen von Lehrern, ihre Wahrnehmungsraster gegenüber ihren Schülern und über die subjektiven "Theorien", die Lehrer bezüglich der Persönlichkeit ihrer Schüler und ihr soziales Milieu in sich tragen, haben ergeben, daß sich im Bewußtsein der meisten Lehrer die Normen der Schule und der kulturell dominierenden Gesellschaftsschichten in hohem Maße durchsetzen.

Die Zentralität des Wertes "Leistung" und der individuellen Leistung jedes Schülers rückt in den Verhaltenserwartungen der Lehrer all jene Verhaltensweisen der Schüler in den Vordergrund, die die Erfüllung der vorgegebenen Leistungsnormen fördern oder gefährden können. Das Fazit von Untersuchungen über den "idealen Schüler":

"Von den Lehrern wird vor allem ein Schülertyp gewünscht, der den Unterrichtsablauf und Unterrichtserfolg nicht gefährdet. Neben der Leistung sind Fleiß und selbstkontrolliertes Wohlverhalten zentrale schulische Werte .... Es dominiert die Forderung nach Anpassung; für einen Großteil kindlicher Verhaltensweisen ist in der Schule kein Platz." (LÖSEL 1975, S.10)

Nicht nur in der Erwartung, sondern auch in der tatsächlichen Wahrnehmung fallen Leistung und Konformität eng zusammen: "Gute" Schüler werden auch eher als "brav", "schlechte" Schüler als "schlimm" wahrgenommen und umgekehrt: "Jede Beurteilung der Leistungen eines Schülers wird faktisch zur Beurteilung seiner Persönlichkeit." (BRUSTEN & HURRELMANN 1973, S.16 und 159)

Schüler, die diesen Erwartungen nicht entsprechen, werden von ihren Lehrern relativ global und vereinfacht typisiert: Schwache Schüler werden als "dumm", "unkonzentriert" oder "interesselos" beschrieben (HÖHN 1967, S.47ff). Die Verletzer zentraler schulischer Normen werden ziemlich global negativ bewertet (LÖSEL 1975, S.13), und die Ursachen dafür werden in moralischen Kategorien wie "Faulheit" und "mangelndem guten Willen" gesehen. Viele Lehrer entwickeln eine "pragmatische Devianztheorie", nach der die negativ abweichenden Schüler als unveränderbar und daher auch als durch pädagogische Maßnahmen unbeeinflußbar eingeschätzt werden (BRUSTEN & HURRELMANN 1973, S.162f).

Trotz zu erwartender bzw. nachgewiesener Tendenzen, daß die betroffenen Schüler das erwartete Rollenverhalten tatsächlich entwickeln (s.u.), konnte die Vereinfachung und Verallgemeinerung dieser "impliziten Persönlichkeitstheorie" der Lehrer auch empirisch widergelegt werden (LÖSEL 1975, S.13f).

In den Alltagstheorien der Lehrer über die Persönlichkeit und die abweichenden Verhaltensweisen des Schülers spielt auch deren soziale Herkunft eine wichtige Rolle: Von Kindern unterer Sozialschichten werden geringere Leistungsstandards und problematisches Verhalten eher erwartet; diese - durchaus realistische - Erwartung geht aber häufig nicht mit einer Erhöhung der Toleranz und Bereitschaft zu anderen Formen der Auseinandersetzung einher, sondern dient durch die Annahme fixer Zusammenhänge zwischen Milieu und Charakter zur entlastenden Rechtfertigung für die geringen Möglichkeiten der Schule (HOMFELDT 1974, S.66).

Die Logik der institutionatisierten Aussonderung

Das Mahlen der Schulmühle

Die skizzierten Ausgangsbedingungen münden im schulischen Alltag, insbesonders in der Interaktion zwischen Lehrer und benachteiligtem Kind, leicht in einen "Kreislauf der Verzerrung" (LÖSEL 1975, S.17). Aufgrund einiger grober Kategorien ("Begabung", "Arbeitsverhalten", "Schwierigkeit", "Erscheinungsbild", "Interesse der Eltern" etc.) entsteht beim Lehrer ein Bild des Schülers, das als Erwartung in seine weitere Interaktion eingeht: Schüler, die Lehrern aufgrund fingierter Tests als "Aufblüher" gemeldet wurden, "blühten" tatsächlich auf (Studie von Rosenthai und Jacobson, zitiert nach LÖSEL 1975, S.21); die (scheinbar wissenschaftlich) vordefinierte Lernfähigkeit eines Schülers hatte erheblichen Einfluß auf das Lernverhalten und das Lernergebnis (Studie von Beez, zitiert nach HOMFELDT 1974, S.51); Lehrer erwarteten von besseren Schülern nicht nur bessere Leistungen, sie gaben ihnen auch mehr Hilfe, Ermutigung und Lob; bei schlechten Schülern brachen sie umgekehrt die Interaktion schneller ab, fragten andere Schüler, gaben weniger Rückmeldung und lobten bei richtigen Lösungen weniger oft (Studie von Brophy & Good, zitiert nach LÖSEL 1975, S.18). Problemschüler werden selektiv wahrgenommen, mehr kontrolliert, ihre Handlungen werden anders interpretiert, das (Negativ-)Bild fixiert sich immer stärker. Die Schule hat keine institutionellen Vorkehrungen (Beratung, Supervision des Lehrers) getroffen, um dieser Dynamik entgegenzusteuern.

Für den als schlecht und/oder schwierig bezeichneten Schüler stellt die Situation eine massive Bedrohung dar. Zu dieser trägt bei, daß in der Regel nicht nur seine Eltern bzw. außerschulischen Bezugspersonen, sondern auch seine Mitschüler die zentralen Wertstandards der Schule bzw. die Definitionen der Lehrpersonen übernehmen. Der Leistungsstatus eines Schülers bestimmt in hohem Maße seine Beliebtheit (TRABANDT 1979, S.11), die Frustrationen des leistungsschwachen Schülers werden von der Gruppe nicht aufgefangen, sondern eher verstärkt (BRUSTEN & HURRELMANN 1973, S.20). Der auf allen Schülern lastende Leistungs- und Konkurrenzdruck findet in dieser Distanzierung ein Ventil bei den Schwächsten. Die betroffenen Schüler - und insbesonders jene aus Unter- und Randschichten - stehen diesen Prozessen realitv ohnmächtig gegenüber. Jene Verhaltensweisen, die sie zur Abwehr dieser Bedrohung setzen, z.B. die aggressive Behauptung der Gruppenposition durch Demonstration körperlicher Stärke, oder den resignativen Rückzug bis hin zum Schulschwänzen, werden vom Lehrer und den Mitschülern zumeist nicht als (ungeeigneter) Versuch einer Lösung bzw. Bewältigung wahrgenommen, sondern als weitere Bedrohung und gleichzeitig als Bestätigung der bisherigen Annahmen. Die wechselseitigen Handlungs- und Interpretationsspielräume verengen sich zusehends, der Verhaltensspielraum wird immer enger, die Auswege werden immer seltener. Im Zuge dieses Prozesses verändert sich das Selbstbild des Schülers zunehmend in Richtung des ihm zugeschriebenen Negativbilds: "Nach einer Phase der Auflehnung gegen die Fremddefinitionen und -erwartungen kann es .... zu einer resignierenden Identifikation mit ihnen kommen (BRUSTEN & HURRELMANN 1973, S.160):

"....war Fritz von Anfang an der Obhut seiner Geschwister überlassen. Schon bald merkte der Kleine, daß alles, was ihm große Mühe bereitete, diesen viel leichter fiel ... Aus unzähligen solchen Erlebnissen zog Fritz für sich den Schluß: ‚Ich bin eben sehr ungschickt.' ... er wurde zusehends ruhiger und traute sich weniger zu.

.... Es kam der Tag, an dem er zur Schule mußte .... Es zeigte sich, daß Fritz gegenüber den meisten seiner Klassenkameraden einen großen Rückstand aufwies. Allein schon in sprachlicher Hinsicht war er den Anforderungen kaum gewachsen .... Manche Wörter, die die Lehrerin oder andere Schüler brauchten, hatte er noch nie gehört. So galt er bald als sprachlich schwach .., Oft nahm er ein Leseblättchen mit nach Hause .... aber die Wörter und Sätze wollten ihm .... einfach nicht im Kopf bleiben. Am nächsten Tag sagte dann die Lehrerin: 'Du hast wahrscheinlich wieder nicht geübt.' .... So hatte er bald den Eindruck: 'Ich bin nicht nur ungeschickt, ich bin auch dumm.' Von diesem Augenblick an wurden auch seine Leistungen im Rechnen schlechter. Er traute sich weniger zu, zog sich immer mehr zurück, und die Lehrerin sagte von ihm: 'Er macht einfach nicht mit.'

.... Er begann die Hausaufgaben zu vernachlässigen, und das trug ihm natürlich Strafarbeit ein. Jetzt wußte er: 'Ich bin nicht nur ungeschickt und dumm, ich bin auch ein 'lausiger' Schüler, einer, der gestraft werden muß.'

.... Es kam, wie es kommen mußte: Fritz erreichte am Ende der ersten Klasse das Lehrziel nicht und mußte repetieren .... Man schimpfte mit dem Buben, sprach von Schande ... So 'lernte' Fritz daraus noch etwas weiteres: 'Ich bin das schwarze Schaf in der Familie.'

... Um nun doch etwas zu 'leisten', Aufmerksamkeit zu erlangen, begann er, den Klassenclown zu spielen und wurde bald auch noch 'frech'. .... Man sagte zu ihm: 'Ich weiß gar nicht, was mit dir los ist. Du warst früher so brav: Nun 'wußte' er: 'Ich bin nicht nur dumm, ich bin auch böse, man mag mich nicht.'" (zitiert nach JEGGE 1979, S.38 - 40)

In diesem Zusammenhang ist es naheliegend, eine Anmerkung zum Postulat der Chancengleichheit anzufügen. Es ist nicht nur so, daß die gesamte "Schulkultur", daß das, was in der Schule für wünschenswert gehalten wird, den Primärerfahrungen der Kinder unterer Sozialschichten stärker widerspricht, vielmehr werden durch die Unterrichtsorganisation und die Interaktions- und Typisierungsprozesse die Chancen einer Verringerung dieser Differenz weiter geschmälert, die Selektivität des Schulsystems verstärkt: Die Schule ist weniger Verteilerin von Sozialchancen, sie "erweist sich eher als Statusbestätigung ... Es sind gar keine realen Sozialchancen zu verteilen" (GAMM 1970, S.16).

Zuschreibung der Sonderschulbedürftigkeit

Die geschilderten Prozesse laufen mehr oder weniger stark in den meisten Lehrer-Schüler-Interaktionen ab. In einem kleinen Teil der Fälle werden die Unterschiede zwischen Lehrererwartung und Schülerverhalten jedoch schließlich in einem Ausmaß auseinanderklaffen, das den Toleranzspielraum des Lehrers überschreitet. In dieser Situation (bzw. bereits vor diesem Zeitpunkt) ist es nun entscheidend, was dem Lehrer (und dem Schüler) institutionell angeboten wird. Kann der Lehrer sich - auch im Hinblick auf sein eigenes Verhalten - beraten lassen, kann er durch andere Lehrer entlastet, unterstützt werden, einen Neubeginn mit diesem Schüler suchen oder auch eingestehen, daß es ihm unmöglich ist, einen bestimmten Schüler zu fördern? Oder werden ihm vor allem Lösungsmöglichkeiten der Aussonderung angeboten, die ihn fast zwingend verleiten, aus dem Schüler einen "Fall" zu machen, für den eine solche Sondermaßnahme schließlich die einzig vorstellbare und auch richtige ist?

Das Instrumentarium unserer Schulen ist - trotz Förderunterricht und einzelnen Schulversuchen zur integrativen Beschulung von Problemschülern - noch immer relativ undifferenziert. Schulstufenwiederholung und Sonderschuleinweisung sind die dominanten Strategien zur "Lösung" des Problems dauerhaften Schulversagens. Auf den "Unsinn der Repetition" (JEGGE 1979, S.89-93), ja ihre zerstörerische Wirkung gerade bei Schülern, die Anregung, Ermutigung brauchen, soll hier nicht weiter eingegangen werden (desgleichen auf die Problematik der Rückstellung bei jenen Kindern, deren soziale Umgebung kaum in der Lage ist, ihre "Schulreife" zu fördern). Die Existenz der Sonderschule für lernbehinderte Kinder und auch das von der Sonderpädagogik vermittelte Bild des lernbehinderten Kindes prägen in ganz spezifischer Weise die Interaktion des Regelschullehrers mit abweichenden Kindern. Eine "andere" Schule für "andere" Kinder legt den Schluß nahe, daß einige Problemschüler schlicht in der falschen Schule sein könnten:

"Interaktionsschwierigkeiten lassen sich irgendwann zu Ordnungsproblemen umdefinieren, weil für Ordnungsprobleme ein Instrumentarium zur Verfügung steht .... diese Zuschreibung einer festen Eigenschaft .... bringt Ordnung, man kann eine Reihe von Schülern guten Gewissens aussondern, weil sie nicht dahin passen." (HOMFELDT 1974, S.68)

Die starken Überlappungen der Intelligenzquotientenverteilung von Sonderschülern und Regelschülern (KLEIN 1973, S.17) ebenso wie der Verbleib "eigentlich" sonderschulbedürftiger Kinder in der Volksschule (FUNKE 1972, S.151f) lassen allerdings vermuten, daß dem Grundschullehrer ein relativ breiter Spielraum für die Zuschreibung der Sonderschulbedürftigkeit bleibt. Die entscheidende Wahrnehmungskategorie dürfte sein, ob es sich bei den zu beurteilenden Verhaltensweisen nach Ansicht des Lehrers um "Ausrutscher" oder persönlichkeitsbedingte Abweichungen handelt (TRABANDT 1979, S.3). In dieser "entweder-oder-Strategie" (HOMFELDT 1974, S.55) wird die soziale Herkunft zu einem entscheidenden Faktor; Wenn auch die Eltern keine Konformität mit schulischen Erwartungen zeigen, dürfte die Definition der Sonderschulbedürftigkeit eher erfolgen:

"Frau L. erschien erst nach dreifacher Aufforderung zur Rücksprache über die Umschulung. Sie machte einen unordentlichen, gleichgültigen Eindruck." (zitiert nach HOMFELDT 1974, S.62)

Schlechte Schulleistungen, störende Verhaltensweisen, soziale Außenseiterstellung, Vernachlässigung der Kinder durch ihre Eltern werden zu den zentralen Begründungen für die Einstufung als sonderschulbedürftig (TRABANDT 1979, S.14-20). Die formalen Erfordernisse der Rechtfertigung eines Sonderschulantrags führen zu einer zunehmenden Isolierung von Faktoren und einseitigen Interpretationen, in denen die Bezugspunkte für die Ursache - Folge - Erklärung nicht mehr klar sind. Einer "Beziehungsblindheit" (HOMFELDT 1974, S.78) zum Opfer gefallen sind jedenfalls die möglichen eigenen Anteile:

"B. kann sich in eine Gemeinschaft nur sehr schwer einfügen außer bei Spielen, die Raufereien ähnlich sind. Ihn in einen normalen Arbeitsgang einzugliedern, ist kaum möglich, er spielt vor sich hin und stört auch. Seine Hausaufgaben fertigt er nur selten an. ... In letzter Zeit zeigt er sich aufsässig und uneinsichtig. Die Ursache für Bernds Versagen scheint in seiner starken Konzentrationsschwäche und einer offensichtlichen Gemüts- und Kontaktarmut zu liegen. Sein Urteilsvermögen ist nur gering. Er bleibt völlig oberflächlich, ist sprunghaft und außerordentlich ich-bezogen." (zitiert nach HOMFELDT,1974, S.50)

Als Ergebnis einer empirischen Untersuchung stellt dagegen TRABANDT (1979, S.16f) folgende Hypothesen auf: Mit dem Verdacht auf Sonderschulbedürftigkeit setzt eine drastische Reduktion von Leistungsanforderungen, eine Abkoppelung von schulischen Lernprozessen ein. Die Definition der Sonderschulbedürftigkeit seitens des Lehrers erfolgt geraume Zeit vor dem Überstellungsverfahren, ohne daß in dieser Zeit spezielle Maßnahmen eingesetzt werden. Das formale Erfordernis, daß aufgrund der schwerwiegenden Entscheidung für die Sonderschulüberstellung die Hinweise für Sonderschulbedürftigkeit einen hohen Grad an Plausibilität haben müssen, erzeugt so eine Art pädagogischen Nihilismus. Aus der Praxis einer Volksschullehrerin sieht das so aus:

"Schon nach einigen Schulwochen werden leseschwache und rechtschreibschwache Schüler festgestellt, ihre Schultauglichkeit angezweifelt. Das Be- und Aburteilen des Schülers geschieht verfrüht." (SCHULHEFT 24,1981, S.49)

Für den Lehrer der Regelschule wird der Wunsch "d a s Kind umzuschulen, das viel Kraft braucht, das die Bemühungen nicht dankt und nicht lohnt, das selbst wenig Erfolg hat und auch den Erfolg nicht mehr sucht .... zu einem 'wohlwollenden Verzicht'" (KODRITSCH 1977, S.139). An dieser Entlastung haben die Sonderschulpädagogen selbst mit der Idealisierung der Sonderschule als spezifischem Förderangebot für benachteiligte Kinder wesentlichen Anteil.

Das Einweisungsverfahren in die Sonderschule ist gesetzlich genau geregelt - die diskriminierende Wirkung der Sonderschulüberstellung, ihre weitreichenden Folgen und faktische Endgültigkeit verlangen eine "zweifelsfreie" Entscheidung und damit auch eine entsprechende Absicherung. In einer empirischen Analyse von Akten stellte AGNEW (1979) eine Reihe von Mängeln der einzelnen Gutachten fest (S.273-285). Die offiziellen Bestrebungen, das Aufnahmeverfahren weiter zu objektivieren, können hier sicherlich noch einiges verbessern, an der grundsätzlichen Funktion dieses Verfahrens werden sie kaum etwas ändern. Denn diese ist untrennbar mit den derzeitigen Möglichkeiten des Umgangs mit Problemschülern, also der Verlagerung der pädagogischen Auseinandersetzung mit dieser Schülergruppe in die Sonderschule, verbunden. Statt (pseudo-)wissenschaftlicher "Objektivität" fordert JEGGE (1979, S.78) das genaue Gegenteil:

"Ohne Subjektivität ist es doch überhaupt nicht möglich, die Probleme, ja Leiden dieser Kinder wirklich objektiv zu erkennen und zu erfassen. Und ist es mit dem Erfassen getan? Welchen Wert hätte wohl eine 'Wissenschaftlichkeit', die Parteinahme für Leidende ausschlösse?"

Die Fragestellung beim Überstellungsverfahren ist bereits soweit eingeengt, daß nur mehr die Korrektheit der Leistungseinschätzung des Regelschullehrers geprüft wird, nicht mehr aber die Möglichkeiten einer Förderung oder Unterstützung des betroffenen Schülers außerhalb der Sonderschule (FORSTER u.a. 1981, S.18). In den von ihr durchgesehenen Gutachten fand AGNEW (1979, S.293) keine Hinweise darauf, unter welchen Bedingungen ein zur Überstellung vorgeschlagener Schüler vielleicht doch in der Regelschule bleiben könnte.

Durch manche Gutachten wird nur die schon eingeleitete Etikettierung verstärkt:

"Leistungsbehindert, multipler Stammler, Erethismus - fluktuierende Aufmerksamkeit, Konzentrationsstörung, gering belastbar, schlampig, graphisch stark retardiert - arbeitet am besten unter Druck. - ASO!" (zitiert nach AGNEW 1979, S.287)

"Neben Konzentrations- und Willensschwächen konnten eine leichte Ermüdbarkeit und ein sehr langsames Arbeitstempo beobachtet werden. .... Aufgrund dieser Beobachtungen mußte es zu einem Versagen in der Volksschule kommen." (zitiert nach HOMFELDT 1974, S.69)

Daß das betreffende Kind Lernrückstände hat, wurde schon in der Regelschule festgestellt. Welche Möglichkeiten es unter optimalen Bedingungen hätte, kann weder in diesen Gutachten noch durch eine psychologische Untersuchung herausgefunden werden. Denn auch diese kann die bisherigen Lernerfahrungen, die motivationalen Komponenten, den Einfluß von psychischen Problemen etc. in einer einmaligen Beurteilung kaum erfassen (KODRITSCH 1977, S.131-135). Der zentrale Stellenwert der Intelligenzmessung im Überweisungsverfahren, der sowohl vom Untersuchungsziel, den Untersuchungsmethoden und der inkonsequenten Verwendung der Ergebnisse kritisierbar ist (FORSTER 1981 (a), S.214), "entlarvt" sich durch die faktische Irrelevanz der Testanwendung (der Nutzenzuwachs für die Entscheidung geht realiter gegen Null) als Entlastungs- und Konfliktvermeidungsstrategie (PROBST 1978, S.147-171).

Für das betroffene Kind bedeutet die Aussicht auf Sonderschulüberstellung in der Regel eine massive Bedrohung. Daß dabei für manche Kinder die psychologische Untersuchung zu einer Situation wird, in der sich vielleicht zum ersten Mal Erwachsene lange und gründlich mit ihnen beschäftigen und sie ermutigen, gewinnt angesichts des eingeschränkten Untersuchungsziels (Aussonderung/Nicht-Aussonderung) fast den Charakter einer "Beziehungsfalle":

"Nachdem ich drei Tage lang der große Freund war, nachdem ich stundenlang seine Seele in Bewegung gebracht habe, schleiche ich mich leise weg und lasse ihn im Stich, allein in seiner Not. Und wenn der berühmte grüne Brief vom Schulamt kommt, der die Umschulung in die Sonderschule verkündet, dann habe ich wahrscheinlich die Probleme dieses Kindes vergrößert." (KORTE 1980, S.15)

Ein einmal eingeleitetes Verfahren kann auch auf das Schulverhalten des Kindes negativ bestätigend zurückwirken. So nahm etwa ein Bezirksschulinspektor zu einem von der Sonderschulüberweisung abratenden Gutachten eines Sonderschuldirektors wie folgt Stellung:

"Aussprachen mit der Klassenlehrerin, mit der Kindesmutter und mit dem Kind ergeben: Das Kind arbeitet in der Klasse nicht mehr richtig mit, weil es sich schon auf die 'neue' Schule freut. Es fehlt sehr oft. Die Sprache des Kindes ist kleinkindhaft und gestört. Im Elternhaus ist keine Förderung zu erwarten (viele, z.T. behinderte Kinder). Unter den gegebenen Umständen muß die ASO empfohlen werden:' (zitiert nach AGNEW 1979, S.288)

Die reduzierte Aussonderungs- und Rechtfertigungsfunktion der Untersuchungen und Tests zeigt sich auch darin, daß in den Gutachten kaum spezifische pädagogische Förderungsmaßnahmen vorgeschlagen werden (AGNEW 1979, S.291).

Das ganze Verfahren gleicht so einem Wettkampf, in dem die stärkere zweier gegeneinander spielenden Mannschaften im entscheidenden Spiel um den Abstieg auch den Schiedsrichter stellt (HOMFELDT 1974, S.72). Am Ende ist so aus dem gesellschaftlichen, kulturellen und schulpolitischen Problem des "schlechten" Schülers aus benachteiligten sozialen Verhältnissen das individuelle Problem des als lernbehindert definierten Kindes geworden.

Literaturverzeichnis

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KNIEL, A., Die Schule für Lernbehinderte und ihre Alternativen - Eine Analyse empirischer Untersuchungen, Schindele, Rheinstetten 1979.

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LÖSEL, F.,Prozesse der Stigmatisierung in der Schule, (Stand: 12.04.2005, Link aktualisiert durch bidok) in: M. BRUSTEN, J. HOHMEIER (Hrsg.), Stigmatisierung 2. Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen, Luchterhand, Neuwied und Darmstadt 1975, S.7-32.

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PROBST, H., Die scheinbare und die wirkliche Funktion des Intelligenztests im Sonderschulüberweisungsverfahren, in: I. ABE, H. PROBST, u.a., Kritik der Sonderpädagogik, Achenbach, Lollar 1978, (3.Auflage), S.107-184.

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TRABANDT, H., Wem hilft die Sonderschule? Untersuchungen über die Herstellung und Verwaltung von Dummheit, Hain Meisenheim, Königstein 1979.

Quelle:

Rudolf Forster: Wie man lernbehindert wird

Erschienen in: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 153 - 170

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 12.04.2005

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