Förderdiagnostik als Lernprozeßdiagnostik

Autor:in - Hans Eberwein
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, 19. Jahrgang, Heft 1/1996, Seite 5 - 14
Copyright: © Hans Eberwein 1996

1. Zur Kritik der traditionellen sonderpädagogischen Diagnostik

Lehrer diagnostizieren täglich im Unterricht, auch wenn sie sich dessen nicht immer bewußt sind. Sie beobachten das Verhalten von Kindern, beurteilen ihre Leistungen und vergeben Zensuren. Dies sind die häufigsten Formen pädagogischer Diagnostik. Darüber hinaus diagnostizieren Lehrer/innen immer dann, wenn die Frage der Sonderschulbedürftigkeit bzw. der integrativen Beschulung eines Kindes zu entscheiden ist.

Im Prozeß der Überprüfung und Begutachtung hinsichtlich des sog. sonderpädagogischen Förderbedarfs wirken in der Regel Volks- bzw. Grund- und Sonderschule als diagnostizierende Instanzen zusammen. Dieses Verfahren mit der normorientierten Statusdiagnose ist in den letzten Jahren auch im Zusammenhang mit der Nicht-Aussonderung zunehmender Kritik ausgesetzt worden, da zumeist in Form einer einmaligen Querschnittserhebung fast ausschließlich standardisierte Schulleistungs- und Intelligenztests zur Anwendung gelangten, die den Förderbedürfnissen der untersuchten Schüler nicht ausreichend gerecht wurden.

Die sonderpädagogische Diagnostik orientiert sich als Selektionsdiagnostik am Krankheitsbegriff des medizinischen Modells. Danach wird abweichendes Lern- und Sozialverhalten analog zu einer somatischen Erkrankung verstanden. Dieser diagnostischen Form liegt die Annahme zugrunde, daß menschliche Verhaltensweisen durch endogene Persönlichkeitsmerkmale determiniert sind. Sie sucht deshalb die Ursache des Versagens ausschließlich im Individuum selbst. Es handelt sich hier also um eine defektorientierte Diagnostik. In der sonderpädagogischen Diagnostik wurden bisher auch nur solche Meßinstrumente entwickelt, die individuelle Merkmale des Schülers erfassen (wie z. B. Intelligenz und Schulleistung). Der Individuumzentriertheit von Diagnostik entspricht die Eigenschaftsorientiertheit des diagnostischen Vorgehens: Intelligenztestwerte werden als indirekte Messungen eines zugrunde liegenden Persönlichkeitsmerkmals interpretiert und von da aus wird auf künftiges Lernverhalten geschlossen. Außerhalb des Individuums wirkende Verursachungsfaktoren geraten dabei weitgehend aus dem Blick.

Die im Sonderschulbereich praktizierte Diagnostik ist von ihrer historischen Entwicklung her gesehen eine Psycho- und keine Pädo-Diagnostik. Letztere wendet sich deshalb gegen eine Test- und Psychodiagnostik, die die Tatsache unberücksichtigt läßt, daß menschliches Verhalten und Handeln nicht nur von inneren, sondern auch von äußeren Bedingungen, Kommunikations- und Unterrichtsstrukturen, besonderen Situationsvariablen und Lebensverhältnissen bestimmt wird. Das IQ-Konzept bzw. die altersbezogene Norm wird außerdem dem Phänomen der Entwicklung nicht oder nur unzulänglich gerecht. Dem Individuum werden damit Fähigkeiten und Eigenschaften als konstante Merkmale zugeschrieben, obwohl menschliches Sein einem ständigen Interaktions- und Entwicklungsprozeß unterworfen ist.

Die Forderungen in den 60er und 70er Jahren nach Chancengleichheit in einer humanen Schule führten ebenfalls zur Kritik an der herkömmlichen, bezugsnormorientierten Leistungs- und Persönlichkeitsdiagnostik. Es wurde nach neuen Möglichkeiten einer Diagnostik gesucht, die nicht nur Teilaspekte eines Menschen berücksichtigt, sondern im ganzheitlichen Sinne möglichst viele individuelle und außerindividuelle Faktoren erfaßt, die zu einer pädagogischen Problemsituation geführt haben.

Neuere diagnostische Ansätze sind also als Antwort zu sehen auf eine Test- und Psychodiagnostik, deren Grenzen in den letzten Jahren immer deutlicher zutage getreten sind. Die herkömmliche Psychodiagnostik geriet schon früh in eine Krise, hat aber ihre Probleme lange Zeit als Methodenprobleme verstanden und viel Aufwand und Einsatz betrieben für Methodenentwicklung und Testtheorie. Die Probleme waren und sind aber eher substantieller Natur, d. h. es sind Schwierigkeiten, die im Wesen des diagnostischen Ansatzes liegen und deren Überwindung eine Neuorientierung erfordert.

Die Hoffnung richtete sich zunächst auf lernzielorientierte Verfahren. Nach Schuck (1994, 18) ist aber auch die lernzielorientierte Diagnostik gescheitert, weil sie bei Nichterreichen von Lernzielen zu einem gegebenen Zeitpunkt keine Differenzierungs- und Fördermöglichkeiten und nicht genug Informationen über den Lern- und Entwicklungsprozeß der Kinder angeboten hat. Außerdem stehen weder geeignete curriculumbezogene Tests zur Verfügung, noch ist das Problem der Veränderungsmessung gelöst.

Es wäre nun zu fragen, inwieweit die strukturbezogene Diagnostik (Kutzer/Probst 1990) als eine andere Form von Diagnostik sowie ihr immanenter Entwicklungsbegriff einen Ausweg darstellen. Bei diesem Ansatz ist es notwendig, einerseits die Sachlogik des Lerngegenstandes zu untersuchen und in kleinste Lernelemente aufzulösen, andererseits den entsprechenden Entwicklungsstand und die subjektiven kognitiven Strukturen zu erfassen. Dies ist ein sehr schwieriger und aufwendiger diagnostischer Prozeß, bei dem die sozialen Aspekte offensichtlich keine Rolle spielen. Bundschuh (1994, 42) fragt in diesem Zusammenhang zurecht, wie es zu einem kreativen Umgang mit dem jeweiligen Lerninhalt kommen könne, wenn bereits alles in der Sachlogik des Lerngegenstandes vorgegeben sei. Außerdem würden die Belange des Subjekts als erkennende Instanz, das sich seine Wirklichkeit durch Assimilation und Akkomodation selbst konstruiere, nicht ausreichend hinterfragt.

Bei solchen diagnostischen Methodologien wird außerdem davon ausgegangen, daß eine objektive Erkenntnis nur dann annähernd erreicht werden kann, wenn die Subjektivität (als Störvariable) möglichst stark eingeschränkt worden ist. Deshalb wurde bei Testuntersuchungen eine strikte Subjekt-Objekt-Trennung und damit eine Vergegenständlichung des Objekts, also des Schülers, vorgenommen. Das Objekt konstituiert sich aber nicht unabhängig vom erkennenden Subjekt. Lehrer und Schüler sind außerdem Teil eines übergreifenden Lebens-, Sinn- und Interaktionszusammenhangs (Mertens 1977, 201).

Die objektivierte Lernerfolgsmessung beruht auf der Annahme, daß die Vermittlung von Lerninhalten und ihre Aneignung für alle Schüler gleich sei. "Die fälschlicherweise unterstellte Standardisiertheit des Unterrichts als Voraussetzung für eine standardisierte Lernerfolgsmessung verstellt(e) den Blick für eine interaktionistische Betrachtungsweise der schulischen Lebenswelt" (Mertens 1977, 218).

Die Entsubjektivierung als ein Moment der Verdinglichung kann nur durch eine Diagnostik überwunden werden, die den Blick freigibt auf gesellschaftlich-historische und biographisch-genetische Wirklichkeitsdimensionen und diagnostische Ergebnisse als Orientierungsdaten für die Interpretation des Lernverhaltens im Kontext schulischer Interaktionsprozesse und der Sozialisation des Schülers betrachtet (Mertens 1977, 216 ff.).

2. Zum Anspruch und zur Zielsetzung der Förderdiagnostik als Lernprozeßdiagnostik

Mit der sogenannten "Förderdiagnostik" wurde eine Diagnostik entwickelt, die nicht mehr auf die Messung weitgehend unveränderlicher Persönlichkeitsmerkmale gerichtet ist, sondern die Verhalten und Lernen im sozialen und situativen Kontext erfassen sollte, um daraus individuelle Fördermaßnahmen abzuleiten.

Der Förderdiagnostik liegt deshalb eine mehrperspektivische Betrachtungsweise zugrunde. Sie versucht, die Fixierung allein auf abweichende Verhaltensmerkmale des Schülers zu überwinden und sein Verhalten entwicklungsbezogen sowie in sozialen Bezügen zu sehen und zu interpretieren. Im Gegensatz zum medizinischen Modell geht der sozialwissenschaftliche oder interaktionistische Erklärungsansatz von einer Wechselwirkung zwischen gesellschaftlicher Umwelt und Verhalten aus. Jeder Mensch ist in verschiedene Systeme eingebunden, an denen er teilhat und die sein Leben maßgeblich bestimmen, angefangen bei der Familie und der Wohnumgebung, über den Kindergarten, die Schule bis zum Freundeskreis und zum Berufsalltag. Ein systemisch-ganzheitlicher diagnostischer Ansatz hat deshalb alle lebensweltlichen Teilsysteme, in die ein Kind eingebunden ist, mitzubedenken bei der Beurteilung des Lernverhaltens von Schülern.

Im Sinne der Förderdiagnostik sind daher schulische Problemsituationen Ausdruck einer komplexen Lern- und Lebenssituation, die multifaktoriell verursacht worden ist. Aufgabe der Förderdiagnostik muß es also sein, möglichst umfassende lebenswelt-, unterrichts- und interessenbezogene Informationen und Daten zu erhalten, um die pädagogische Problemsituation in ihrem Ursachenzusammenhang analysieren und adäquate Hilfen anbieten zu können. Dazu gehört neben der Analyse der aufgabenspezifischen Schwierigkeiten die Berücksichtigung des Lern- und Entwicklungsstandes, der Umfeldbedingungen, ebenso wie des Sozialisations- und Lebenshintergrundes, aber auch emotionaler Aspekte.

Folgende Fragestellungen könnten z. B. zu Informationen über den gegenwärtigen Stand der Lernentwicklung und des Lernverhaltens eines Schülers führen:

  • In welchen Zusammenhängen, unter welchen schulischen Anforderungen treten Lernschwierigkeiten auf?

  • Inwieweit könnten Veränderungen der Unterrichtsmethoden zur Verbesserung des Lernens beitragen?

  • Welche Voraussetzungen fehlen zur Bewältigung bestimmter Unterrichtsinhalte? Welche Lernschritte müssen wiederholt werden?

  • Welche Lernstrategie, welcher kognitive Lernstil wird von dem Schüler angewendet? Welche Erkenntnisse liefert eine diesbezügliche Fehleranalyse?

  • Welche psychosozialen und motivationalen Aspekte können das Lernverhalten beeinflussen?

  • Welche spezifischen Fähigkeiten, Interessen und Leistungsstärken sind vorhanden?

  • In welchem Maß ist das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler gestört?

  • Welchen Einfluß üben außerindividuelle Faktoren auf das Lernverhalten aus?

Die detaillierte Informationsbeschaffung ist also eine wichtige Voraussetzung für die förderdiagnostische Arbeit. Es ist nicht möglich, die Komplexität von Lernproblemen in einer einzigen Untersuchung zu erfassen. Bei der traditionellen sonderpädagogischen Diagnostik handelt es sich deshalb um ein reduktives Vorgehen, bei dem nur ein Teilbereich der Persönlichkeit und des Lernumfeldes erfaßt wird. So wird bei einem derart reduktionistischen Vorgehen vernachlässigt, daß " ... nichterkannte, nicht wahrgenommene Bedürfnisse ... die Entfaltung von Möglichkeiten hemmen, Entwicklungen unterdrücken können, und so " ... der Persönlichkeitsentfaltung im Wege stehen" (Bundschuh 1985, 17).

Aus diesem Grunde werden multivariate Ansätze für die Förderdiagnostik unerläßlich; d. h. um Kausalbeziehungen unterschiedlicher Verursachungsfaktoren, sowie Anforderungs- und Lernsituationen und individuelles Lernverhalten zu beschreiben, bedient man sich anderer, von der Testtheorie wegen ihrer geringen Zuverlässigkeit vernachlässigter Methoden wie Unterrichts- und Verhaltensbeobachtungen, informelle Gespräche, Befragungen, Fehleranalysen, Tagebuchaufzeichnungen und Dokumentenanalysen, d. h. Schülerarbeiten. Dies sind zugleich die bedeutendsten förderdiagnostischen Verfahren, wobei die Beobachtung die wichtigste Form der Informationsgewinnung darstellt (vgl. Bundschuh 1985; Belusa/Eberwein 1994).

Während die Feststellung der Sonderschulbedürftigkeit eines Kindes im Sinne der traditionellen sonderpädagogischen Diagnostik eine langfristig wirksame, meist einmalige und irreversible Entscheidung darstellt, ist die Feststellung der Förderbedürftigkeit eine kurzzeitige, im Unterricht ständig zu überprüfende, reversible Entscheidung.

Daher bedarf es hier auch keiner Auseinandersetzung um Grenzwerte auf der IQ-Skala und keiner administrativ verwendbaren Definition von "sonderschulbedürftig" oder "behindert". Nach Auffassung von Kanter (1977, 55) ist die IQ-Diskussion für die moderne Behindertenpädagogik ein Sekundärproblem. Der IQ ist nach seiner Darstellung lediglich von Bedeutung, wenn mit seiner Hilfe eine differenzierte Abklärung sonderpädagogischer Maßnahmen und die Entwicklung von Förderstrategien gelingt.

Die traditionelle Einweisungsdiagnostik fragt allenfalls nach Möglichkeiten, wie ein Problemschüler in das gegebene System am besten eingepaßt werden kann und das einzelne Individuum über eine anonyme, nach verschiedenen Kriterien homogenisierte Gruppe definiert wird. Demgegenüber zielt pädagogische Diagnostik immer auf Lernprozesse und damit auf die Veränderung einer schulischen Problemsituation, in der das Schülerverhalten nur eine von mehreren Variablen darstellt; anders ausgedrückt: Pädagogische Diagnostik bzw. Förderdiagnostik ist Situationsdiagnostik und zugleich immer auch Lernprozeßdiagnostik. Eine so verstandene (sonderpädagogische) Diagnostik hat nicht mehr den einmaligen Charakter einer Querschnittserhebung, einer normorientierten Statusdiagnose, sondern beinhaltet eine historische Dimension, einen Entwicklungsaspekt und geht generell von den Fähigkeiten und dem Lernwillen bei Schülern aus. Förderdiagnostik richtet ihr Augenmerk also nicht nur auf Lernergebnisse, sondern vielmehr auf den Lernprozeß und seine Unterstützung. Auf der Basis dieses Theorie- und Erkenntnismodells sind für die diagnostische Tätigkeit folgende Grundsätze von Bedeutung:

1. Die Erhebung quantifizierbarer Daten tritt hinter die Erfassung qualitativer Ergebnisse zurück. Diagnostisch relevant ist vor allem der lebensweltlich bestimmte Lern- und Interaktionsprozeß. Zur Erfassung individuellen Lernverhaltens sind besonders informelle diagnostische Verfahren geeignet; außerdem die unmittelbare Beobachtung oder Funktionsprüfungen.

2. Beim Einsatz psychometrischer Tests (z. B. des HAWIK) können aus der Art der Fehler bzw. der Abweichung von einer Erwartungsnorm und dem individuellen Lösungsverhalten mehr Informationen gewonnen werden, als nur aus den ermittelten Standardwerten. Deshalb empfiehlt sich die Durchführung von Testverfahren unter qualitativen Gesichtspunkten, und zwar dergestalt, daß man über die in der Testanweisung enthaltenen Vorgaben hinausgeht, indem z. B. mehr Zeit eingeräumt wird, zwischendurch ermutigt wird, Rückfragen gestellt werden, Hilfestellungen gegeben werden, um auf diese Weise das Lernverhalten des Schülers besser beurteilen zu können. Auf diese Weise gelingt es, weniger die Defizite, als vielmehr die Fähigkeiten eines Schülers zu erfassen. Dies ist besonders wichtig, da Fähigkeiten Ansatzpunkte für individuelle Fördermaßnahmen bilden. So entsteht allmählich ein differenziertes Lern- und Leistungsprofil des Schülers, das Einblick in seine Stärken und Schwächen sowie Auskunft über seine speziellen Bedürfnisse und Interessen gibt. Eine solche ganzheitliche Betrachtungsweise verbietet die vorschnelle Vergabe von Etiketten wie "lernbehindert" oder "verhaltensgestört". Sie verlangt vom Lehrer statt dessen eine möglichst präzise Beschreibung der Anforderungs- und Lernsituation.

3. Bei der Beobachtung von Lernprozessen sowie der Beurteilung von aufgabenspezifischen Schwierigkeiten ist die genaue Fehlerbetrachtung wichtig, denn diese gibt Einblick in die geistige Tätigkeit eines Kindes. Fehler sind zumeist als entwicklungsbedingte Notwendigkeit zu betrachten. Eine qualitative Fehleranalyse gibt z. B. über die Art der Fehler, über Fehlermuster und über individuelle Strategien Auskunft. Über das innerpsychisch gesteuerte Lernverhalten hinaus gibt die Fehleranalyse auch Auskunft über den Schwierigkeitsgrad der Aufgabenstellung sowie über die didaktisch-methodische Vermittlung von Lerninhalten durch den Lehrer. Die Fehleranalyse kommt hauptsächlich zur Anwendung beim Schriftspracherwerb, in der Fremdsprachenlinguistik und in der Mathematikdidaktik. Eine allgemeine Theorie der qualitativen Fehleranalyse liegt bisher leider nicht vor. Bei der Auswertung schriftlicher Arbeiten sollte sich der Lehrer auch notieren: Was hat das Kind verstanden? Wo ist es unsicher? Was kann es noch nicht? Welche Fehlerart wiederholt sich? Nehmen Fehler zum Ende hin zu? In welcher Verfassung und Situation ist die Leistung zustande gekommen?

4. Auch der Lehrer selbst muß sich als Teil des diagnostischen Prozesses begreifen. Von ihm wird selbstreflektierendes Verhalten erwartet; denn das Lehrerverhalten stellt eine wichtige Variable für das Lern- und Leistungsverhalten von Schülern dar. Lernschwierigkeiten haben nicht selten etwas mit der Aufgabenstellung des Lehrers, seinem methodischen Geschick, der Abstimmung der Lehrerinstruktion auf die Bedürfnisse des Schülers, seinem Verständnis von Lernen, aber auch mit Sympathie und Antipathie gegenüber Schülern zu tun. Lehrer/innen sollten sich dieser Wirkungszusammenhänge bewußt sein.

In einem förderdiagnostisch orientierten Gutachten kann weitgehend auf den Behinderungsbegriff verzichtet werden, und zwar aus vier Gründen: einmal wegen der semantischen und sachlogischen Ungenauigkeit und Unbestimmtheit dieses Begriffes; zum andern wegen des damit verbundenen Stigmatisierungseffekts; drittens weil im Rahmen von Förderdiagnostik nicht die Frage der Sonderschulbedürftigkeit und damit der Behinderungszuschreibung zu klären ist und schließlich wegen des Widerspruchs, in einer möglichen integrativen Schule ohne Aussonderung Kinder als behindert auszuweisen und sie mit der Terminologie des traditionell separierenden Schulwesen zu klassifizieren.

Der Behinderungsbegriff ist ein relationaler Begriff, was besagt, daß man immer nur behindert ist "in bezug auf ...", z. B. in bezug auf bestimmte Leistungsanforderungen in der Schule, Sollerwartungen der Lehrer, Normerwartungen der Gesellschaft usw. Das aber heißt, daß sich die Diagnose "behindert" nur von Wertsetzungen, didaktischen Vorgaben, Lehrzielen her ableiten läßt; sie bilden den Bezugspunkt für das diagnostische Handeln. Daraus folgt, daß förderdiagnostische Aussagen nicht unmittelbar didaktisches und therapeutisches Handlungswissen liefern. Es verhält sich vielmehr umgekehrt: didaktische Zielsetzungen führen zu bestimmten pädagogischen Maßnahmen und erst die dabei auftretenden Aneignungsschwierigkeiten setzen den förderdiagnostischen Prozeß in Gang. So gesehen kommt der Diagnostik gegenüber der Didaktik eine Hilfsfunktion zu; die Diagnostik ist der Didaktik untergeordnet. Im Idealfall und im Verständnis von Lernprozeßdiagnostik müßte die diagnostische Tätigkeit integrierter Bestandteil pädagogischen Handelns sein.

Im Hinblick auf eine förderdiagnostisch orientierte Begutachtung bedeutet dies, daß die in dem Gutachten getroffenen diagnostischen Aussagen lediglich Auskunft geben über die zum Zeitpunkt der Erhebung festgehaltenen Lebensverhältnisse und Lernvoraussetzungen eines Kindes. Diese praxisvorbereitende, erste Hypothesen liefernde Förderdiagnostik steckt also den Rahmen ab und macht die Strukturen für das spätere pädagogische Handeln in der konkreten Unterrichtssituation deutlich. Erst der praxisbegleitenden Förderdiagnostik, also der Lernprozeßdiagnostik, kommt die Aufgabe zu, die Auswirkungen der vom Lehrer getroffenen pädagogischen Maßnahmen, sein Förderkonzept im Hinblick auf die Zielsetzungen zu kontrollieren und gegebenenfalls zu korrigieren bzw. zu revidieren und neue Hypothesen zu formulieren. Das heißt aber, "daß jeder diagnostische Prozeß nur ein hypothesenorientierter und hypothesengenerierender Erkenntnisprozeß sein kann, der nur vorläufige Aussagen zur gegenwärtigen Situation und den Bedingungshintergrund, zu den erreichbaren und zu erreichenden Zielen einer Förderdiagnostik und zu den notwendigen pädagogischen und sonstigen Maßnahmen und Änderungsumständen hervorzubringen vermag" (Schuck 1994, 24).

An dieser Stelle kann man zurecht einwenden, daß bei 20 Kindern pro Klasse der pädagogische Bezug zu dem einzelnen Schüler nur sehr eingeschränkt möglich ist und im Sinne von Komplexitätsreduktion generalisiert werden muß. Förderdiagnostisches Vorgehen und lernprozeßorientierte Diagnostik sind in diesem Falle nur schwer realisierbar. Neue Möglichkeiten eröffnet diesbezüglich jedoch das Mehr-Lehrer-System, wie es in integrativen Schulen praktiziert wird. Innerhalb dieses Systems kann immer ein Lehrer freigesetzt werden für spezifische diagnostische Aufgaben im Rahmen von Unterricht. Aber auch Lehrer/innen im traditionellen Unterricht sollten davon ausgehen, daß Lernschwierigkeiten eine normale Erscheinung im Aneignungsprozeß darstellen und daß es notwendiger Bestandteil von Unterricht sein muß, aufgabenspezifische Schwierigkeiten zu diagnostizieren und individuelle Hilfen zu ihrer Überwindung anzubieten.

Die Schwierigkeit jedoch, aus einer Vielzahl von diagnostischen Daten immer auch die richtigen didaktischen oder therapeutischen Konsequenzen abzuleiten, kann freilich auch die Förderdiagnostik nicht lösen; denn zwischen Diagnose und Unterricht besteht - wie gesagt - kein direktes Ableitungsverhältnis. Zumeist läßt ein diagnostisches Ergebnis mehrere didaktisch-methodische Handlungsmöglichkeiten zu. Dieser Sachverhalt macht deshalb hypothesenorientierte und lernprozeßbegleitende Diagnostik unbedingt erforderlich.

Praktisches Beispiel für die Schwierigkeiten der Ableitung von Fördermaßnahmen aus den diagnostischen Daten

(vgl. Schlee 1985, 159 f.)

"Bei einem Schüler sinken nach einem durch Umzug bedingten Schulwechsel die Lese- Rechtschreibleistungen rapide ab. Die Notwendigkeit einer Sonderschulüberweisung ist zu befürchten. In einer "Förderdiagnose" wird herausgefunden, daß der Schüler als Einzelkind sich in seiner neuen Klasse nicht wohl fühlt. Die Kommunikationsschwierigkeiten mit den Klassenkameraden behindern sein Lernen. In Einzelsituationen vermag er offensichtlich viel mehr zu leisten als im Klassenverband.

Mögliche Reaktionen

  • Eine Lehrerin A folgert aus dieser Diagnose "unmittelbar", daß der Schüler Einzel-Förderunterricht im Lesen und Rechtschreiben erhalten müsse, um damit seine Schulleistungen wieder auf ein erforderliches Mindestniveau zu bringen.

  • Eine Lehrerin B folgert aus dieser Diagnose "unmittelbar", daß der Schüler in einer Gruppe zu fördern sei, um ihm angenehme Gruppenerlebnisse zu vermitteln und weil er erfahren müsse, daß sich schulisches Lernen immer in Gruppen ereigne.

  • Eine Lehrerin C folgert aus dieser Diagnose "unmittelbar", daß der Schüler aus der für ihn bedrohlichen Klasse herausgenommen und in die Parallelklasse eingeschult werden müsse.

  • Eine Lehrerin D folgert aus dieser Diagnose "unmittelbar", daß der Schüler ein Kommunikationstraining erhalten solle, daß er sich besser mit seinen Mitschülern auseinandersetzen könne.

  • Eine Lehrerin E folgert aus dieser Diagnose "unmittelbar", daß der Schüler täglich nach einer programmierten Unterweisung eine halbe Stunde Lese- und Rechtschreibübungen zu machen habe.

  • Eine Lehrerin F folgert aus dieser Diagnose "unmittelbar", daß die Klasse des Schülers einen l4tägigen Schullandheimaufenthalt durchzuführen habe, damit sich in der Klasse das Klima und die Stellung zu Außenseitern verbessere.

  • Eine Lehrerin G folgert aus dieser Diagnose "unmittelbar", daß eine Kombination von einigen dieser Maßnahmen angezeigt sei.

Welche Lehrerin hat nun "recht"? Welche weiteren "gezielten" Maßnahmen ergeben sich nun "wirklich" direkt aus den diagnostischen Daten? Es zeigt sich bereits an diesem kleinen Beispiel, daß sich die konkreten Hinweise für eine Förderung keineswegs eindeutig und unmittelbar aus den diagnostischen Daten ergeben. Dieses prinzipielle Problem wird auch durch eine gründliche diagnostische Erhellung des gesamten Umfeldes nicht gelöst" (Schlee 1985, 159 f.).

3. Schlußbemerkungen

Jedes Kind ist anders, lernt anders, besitzt andere Stärken und Schwächen und organisiert die Aneignung von Wirklichkeit selbst. Es gibt deshalb keine Garantie für eine Entsprechung von Lehren und Lernen. Lernen ist nur begrenzt methodisierbar. Daraus folgt für die Diagnostik, daß Lehrer/innen in einem verstehenden Zugang versuchen sollten, das individuelle Bedingungsfeld, in dem der Schüler Lernen aktiv gestaltet, zu erkunden und auf diesem Informationshintergrund entsprechende Lernmöglichkeiten bereitzustellen sowie als Lernbeobachter und -begleiter in Problemsituationen Hilfen anzubieten. Dabei ist das Kind systemisch-ganzheitlich zu betrachten und die Prozeßhaftigkeit von Lernen und Verhalten zu berücksichtigen.

Fördermaßnahmen dürfen nicht als Interventionen verstanden werden, weil diese unterstellen, daß der Lehrer in normativer Absicht genau weiß, was für das Kind gut ist, was es braucht und was es zu tun hat und deshalb seine Wirklichkeitskonstruktionen mißachtet. Das traditionelle Lernmodell geht vom sogenannten Normalschüler, vom Durchschnittsschüler aus, den es aber in der Realität so nicht gibt. Jedes Kind ist individuell spezifisch lernfähig. Im übrigen existiert kein pädagogisch-diagnostisches Verfahren für die Unterrichtspraxis, um Lernvoraussetzungen und Fähigkeitsprofile, sowie den sachstrukturellen Entwicklungsstand in den einzelnen Fächern bei Schülern angemessen zu ermitteln und auf die Lernvoraussetzungen adäquate Differenzierungsmaßnahmen abzustimmen. Das schließt freilich nicht aus, daß Lehrer/innen sich bemühen sollten, die Lernprozesse der Kinder so zu unterstützen, daß diese sich an der Zone der nächsten Entwicklung orientieren.

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Autor

Prof. Dr. Hans Eberwein

Prof. Dr. phil., Studium der Pädagogik/Sonderpädagogik, Psychologie und Soziologie an den Universitäten Frankfurt, Mainz und Marburg. Zehn Jahre Sonderschulpraxis. Seit 1980 Professor für Sonderpädagogik an der Freien Universität Berlin, Fachbereich Erziehungs- und Unterrichtswissenschaften, Institut für Sonderpädagogik, Arbeitsbereich Lernbehindertenpädagogik und Integrationspädagogik. Seit 1994 Hochschullehrer am Institut für Grundschul- und Integrationspädagogik; Arbeitsschwerpunkte: Integrationspädagogik, Förderdiagnostik, Integrative Didaktik, ethnographische Schulforschung, Fremdverstehen sozialer Randgruppen, Lebenswelt- und Deutungsmusteranalysen. Leiter der Arbeitsstelle "Integrationspädagogik".

Freie Universität Berlin

Institut für Grundschul- und Integrationspädagagik

D-14195 Berlin, Königin-Luise-Straße 24-26

Quelle:

Hans Eberwein: Förderdiagnostik als Lernprozeßdiagnostik

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, 19. Jahrgang, Heft 1/1996, Seite 5 - 14

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 11.05.2005

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