Die Theorie der "Integration" und die Praxis der "Behinderung"

Diskussionsbeitrag aus der Sicht einer Betroffenen

Autor:in - Mounira Daoud-Harms
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Behindertenpädagogik, 25. Jg., Heft 2/1986, Seite 139 - 151
Copyright: © Mounira Daoud-Harms 1986

Die Theorie der "Integration" und die Praxis der "Behinderung"

1 . Im September vergangenen Jahres fand auf eine Anfrage der GRÜNEN eine Anhörung durch Abgeordnete des Hessischen Landtages zur Integration "Behinderter" in Kindergärten und Schulen in Hessen statt. Ich erfuhr kurzfristig davon und konnte als "Expertin" für die GEW-Hessen, d.h. als Blinde, als Soziologin, die über Blindheit und Probleme der psychischen Entwicklung körpergeschädigter Menschen promoviert hat, als Lehrerin in der Erwachsenenbildung und als langjähriges aktives GEW-Mitglied teilnehmen. Die GEW hatte sich zu diesem Schritt entschlossen, nachdem sie bei näherer Durchsicht der Liste der Eingeladenen festgestellt hatte, daß Behinderte selbst nicht vertreten waren, sondern nur die Behinderten-Verbände, die Berufsverbände der Behinderten-Betreuer, -Lehrer und -Erzieher, die Verbände der Eltern und die Kirchen sowie Professoren als Repräsentanten der Wissenschaften von den Behinderten und deren Erziehung und Betreuung. Meine Beauftragung als Betroffene durch den Vorstand der GEW mußte bereits gegen den internen Widerstand von einigen nichtbehinderten Sonderschullehrern in der Landes-Fachgruppe Sonderschule, die sich als die berufenen Vertreter der Behinderten in der GEW verstanden, durchgesetzt werden. Sie beriefen sich dabei auf die Tatsache, daß ich zwar behindert, aber keine Sonderschullehrerin und von den Lehrern der Blindenschulen nicht bestimmt worden sei. Nur sie seien kompetent, über die Probleme der "Integration" zu sprechen. Nur sie wüßten aus ihrer Arbeit, wie schwierig die "Integration" durchzusetzen sei.

Bei der Anhörung war in der Tat - wie mir berichtet wurde - außer mir kein weiterer Behinderter anwesend. Was die 28 geladenen Repräsentanten vortrugen, läßt sich in drei Grundpositionen zusammenfassen. Als grundsätzlich notwendig und durchführbar wurde die "Integration" von einer Gruppe befürwortet, wozu vor allem die GEW-Hessen, der Elternbund Hessen (SPD- und GEW-nahe), der Arbeitskreis Grundschule, die Professoren FEUSER (Bremen) und REISER (Frankfurt) gehören, die differenzierte Maßnahmen von der Prävention gegen Aussonderung bis zur Verlagerung der sonderpädagogischen Kompetenz in die Regeleinrichtungen vorschlugen. Auf die in sich nicht einheitlichen theoretischen Konzepte kann ich hier nicht näher eingehen.

Die direkte Gegenposition reduziert sich darauf, die "Integration" von Behinderten in das Regelsystem der Erziehung und Bildung abzulehnen. Am deutlichsten wurde hier der Hessische Elternverein e.V. (CDU-nahe), der "Integration" als weltfremd bezeichnete und den Ausbau spezialisierter Sonderschulen forderte, natürlich zum Schutz der andersartigen Menschen mit angeborenen körperlichen und geistigen Benachteiligungen: "Es gibt unter Kindern ein nicht unerhebliches Maß an ,Grausamkeit' gegenüber Andersartigkeit." (Stellungnahme des HEV, S. 2) Die Andersartigen drohten innerlich zu zerbrechen wegen fehlender Erfolgserlebnisse. Abgesehen von der ideologischen Nähe des Begriffs der Andersartigkeit zur faschistischen Rassentheorie - worauf ich hier nicht näher eingehen kann, verbirgt sich hinter der Absicht, diese bedauernswerten Geschöpfe Gottes vor der Grausamkeit der Menschen zu bewahren, das Ziel, die "normalen" Kinder entsprechend der Theorie der "angeborenen individuellen Begabungen und Neigungen" optimal zu fördern. Dazu müssen die Andersartigen in für sie reservierte Einrichtungen weiterhin konzentriert werden.

Darauf laufen letztlich auch die Stellungnahmen des Kommissariats der Katholischen Bischöfe im Lande Hessen, der Evangelischen Kirche in Hessen, des Landeselternbeirates von Hessen (CDU-Führung), des Deutschen Lehrerverbandes Hessen (dLH) und des Verbandes Bildung und Erziehung im Deutschen Beamtenbund (VBE) hinaus.

Die katholischen Bischöfe erklären grundsätzlich, daß "Integration" für Lernbehinderte, Praktisch Bildbare, Gehörlose, Kranke, Verhaltensgestörte und Blinde nicht möglich ist. Die Evangelische Kirche verlangt, immer wieder neu zu fragen, wie dem "Behinderten" in seiner Notlage geholfen und "wie er mit seinen Kräften und in seinen Grenzen gefördert werden kann." "Bedarf der Begriff ,Integration' nicht der weiterführenden Erläuterung, damit deutlich bleibt, daß jedes Kind zu fördern ist: das behinderte wie das nichtbehinderte Kind?" (Stellungnahme der Ev. Kirche Hessen, S. 2) Der VBE befürchtet - ganz ohne Fragezeichen -, daß durch die "Integration" die Probleme der Sonderschulen auf die Regelschulen übertragen werden und die schon zu geringe Förderung "normaler" Kinder stören würde. Mit einem Satz: Die "Behinderten" behindern die "Normalen". Und so drückte es eine Dame aus, als sie bemerkte, hier würden alle nur von der Förderung der Behinderten sprechen. Sie hätte heute noch keinen gehört, der daran dächte, daß auch die Nichtbehinderten das Recht auf Förderung und Entfaltung hätten.

Die dritte Gruppe der anwesenden Repräsentanten, die den Charakter der Anhörung geprägt hat und zu der hauptsächlich die Verbände der Behinderten-Betreuer gehörten, vertrat eine Position der Scheinheiligkeit, die in unserer Gesellschaft überhaupt dominant ist. Alle proklamierten die "Integration" als Menschenrecht, hinter dem sie jederzeit und mit allen Kräften Stellung beziehen. Die unterschiedlichen Spezialverbände für die jeweiligen Behinderungsarten schlossen jedoch abwechselnd und jeder mit anderer Begründung die Unterrichtung und Ausbildung jeweils ihrer Kinder gemeinsam mit nichtbehinderten aus. Die weiten Teilen der Sonderschulpraxis nach wie vor zugrunde liegende biologistische Einstellung brachte einer dieser Vertreter unverblümt zum Ausdruck mit der lyrischen Bemerkung, "unsere Kinder" seien "wie zarte Pflanzen, die einer besonderen Pflege und Behandlung" bedürften und die in der Regelschule allerdings nicht möglich sei. Diese Denkungsart, die ich von feierlichen Beschwörungen aus meiner Zeit in der Blindenschule nur allzugut kenne, bietet die Grundlage dafür, warum an die "Integration" eine solche endlose Zahl von Haupt- und Nebenforderungen und Sonderbedingungen technischer und pädagogischer Art geknüpft wird, daß der Schluß unausweichlich wird, die Regelschule solle dadurch zur Sonderschule gemacht und das Konzept der "Integration" ad absurdum geführt werden, indem nun alle in die Sonderschule gehen.

Der scheinheilige Charakter der Argumente, womit letztlich alle Vertreter dieser Position die Aufrechterhaltung der Sondereinrichtungen und -schulen und die Einweisung der Behinderten rechtfertigen, konzentriert sich auf drei wesentliche Entscheidungsgründe, die wie Generalklauseln für alle Fälle verwendbar, inhaltlich leer und daher mit jedem beliebigen Inhalt gefüllt werden können. Demnach ist über die Sondereinweisung zu entscheiden:

  1. individuell und im Einzelfall und

  2. unter Berücksichtigung "aller relevanten Aspekte".

Höchste Instanz der Entscheidung und deren innerste Legitimation aber ist

  1. der "Anspruch des Schülers auf seinen Fähigkeiten entsprechende Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten."

(Stellungnahme des Bundes deutscher Taubstummenlehrer, Landesverband Hessen)

Da weder einzelne "Fälle" oder die Relevanz von Aspekten noch Fähigkeiten bzw. Unfähigkeiten, weder der Begriff von Behinderung noch die Möglichkeiten der Entfaltung und Entwicklung eines Menschen inhaltlich diskutiert werden, endet der hochgehaltene Anspruch des Schülers doch bei der Entscheidungskompetenz der professionellen Behinderten-Diagnostiker und Sonderschullehrer an den existierenden Sondereinrichtungen. Nachdem sie Ursachen und Folgen der verminderten Lern- und Leistungsfähigkeit festgestellt, Strategien ihrer Überwindung entwickelt, Maßnahmen zur Vermeidung der Sonderschuleinweisung ergriffen haben und dann zur Kenntnis nehmen müssen, daß diese Maßnahmen nicht zu erfolgreicher Mitarbeit, angemessenem Arbeits- und Lernverhalten und positiver Lernentwicklung führen - was immer das heißen mag -, dann endlich tritt der Anspruch des so als "behindert" bewiesenen Schülers in Kraft, daß seinen beschränkten Fähigkeiten und den ihnen entsprechenden Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten "nur in der Sonderschule" Gerechtigkeit widerfahren kann. (Bund deutscher Taubstummenlehrer, S. 2) Das Menschenrecht des Individuums auf die Entfaltung seiner Persönlichkeit wird zum Vorwand, seine Sonderschullaufbahn zu vollenden. Der Berufsethos des Sonderschullehrers und Betreuers harmoniert aufs Glücklichste und Gerechteste mit dem Objektcharakter seines Behinderten.

Der psychische und physische Schmerz, den mir diese Stellungnahmen zufügten, machte es mir unmöglich, sie angemessen zurückzuweisen. Noch nie habe ich die gesellschaftliche Außenseiterstellung so schonunglos erfahren, wie unter so viel fürsorglichen Betreuern. Ich habe dort begriffen, warum die Betroffenen von solchen Veranstaltungen ausgeschlossen werden. BRECHT hat es einmal so gesagt: ,Wo über Betroffene diskutiert wird, haben sie nicht dabei zu sein.'

Man gestattet uns von Zeit zu Zeit, zu unserer Beruhigung und zu der des öffentlichen Gewissens, uns offiziell zu beschweren. Unsere eigenen Angelegenheiten, ob Landtagsanhörungen oder "Integrationsprojekte", werden von Professionellen erledigt und wenn ein Behinderter dabei ist, dann nur unter der Bedingung, einer von ihnen zu sein. Von "Integration" kann aber auch nicht im Ansatz die Rede sein, wenn wir weiterhin als Objekte der Untersuchung verwaltet werden, damit wir die Ergebnisse nicht subjektivistisch verzerren oder opportunistisch verfälschen.

Manche Fachleute gehen soweit, uns vorzuwerfen, wir würden selbst den Unterschied zu den Nichtbehinderten künstlich aufrechterhalten, nachdem sie ihn schon längst integrativ überwunden hätten, wenn wir auf unserer Betroffenheit und dem Gewicht unserer subjektiven Erfahrungen bestehen. In ihren Köpfen gäbe es keine "Behinderten" mehr! Das findet seine Entsprechung bei uns selbst, indem wir vom Glücksgefühl durchdrungen werden, wenn wir glauben, durch die Akzeptanz, die routinierte Anpassung an die "Normalen" und die Verleugnung der Körperschädigung "Behinderung" überwunden zu haben.

Solange nicht unsere eigene Betroffenheit und unsere Interessen in unseren eigenen Angelegenheiten von uns als Subjekte vertreten werden, solange behalten auch die verwendeten Wissenschaften den Charakter von Kontrollwissenschaften.

2. Ich vertausche jetzt die Stellung als Gegenstand und Inhalt der Debatte anderer mit der eines teilnehmenden Subjekts. Als Blinde und als Frau erfahre ich die gesellschaftliche Unterdrückung und Diskriminierung in zwei Formen, die sich vielfältig überlagern und überschneiden, widersprüchliche Verhaltensweisen hervorrufen und sich gegenseitig verschärfen. Im sozialen Alltag wird meine Persönlichkeit in doppelter Weise auf körperliche Merkmale reduziert.

Die Aussonderung und Isolation von Behinderten ist nicht in erster Linie eine räumlich-örtliche Trennung von den Normalen. Diese Abspaltung aufzuheben, ist nur ein längst überfälliger erster Schritt. Er beseitigt ebenso wenig die soziale Unterdrückung der Behinderten wie der Frauen. "Integration" der Behinderten und Emanzipation der Frauen sind zwei Seiten desselben Prozesses der Aufhebung der Reduktion der Persönlichkeit auf körperliche Merkmale. Nur wenn die Behinderten ebenso wie die Frauen in der Frauenbewegung und in den allgemeinen sozialen Bewegungen selbst als Subjekt an diesem gesellschaftlichen Prozeß aktiv teilnehmen, können sie verhindern, daß sie vom Objekt der Aussonderung zum Objekt der Integration werden. Als Frau geht es mir um die gesellschaftliche Gleichstellung mit dem Mann, ohne meine Weiblichkeit aufzugeben, als Blinde um die gesellschaftliche Gleichstellung mit den Sehenden, ohne meine Blindheit zu verleugnen.

Wenn ich als Betroffene Stellung nehme, muß zwischen zwei Seiten der Betroffenheit unterschieden werden. Die eine ist der Schmerz über den Verlust der Sehfähigkeit, den ich weder verdrängen noch beseitigen kann oder will. Denn die visuelle Wahrnehmung bedeutet nicht nur eine Erleichterung der Alltagspraxis, sondern hat auch eine sinnliche Qualität, deren Erfahrung mir tatsächlich fehlt. Der Schmerz über diesen Verlust kann nur verarbeitet werden, wenn er immer wieder neu durchlebt, bewußt als Verzicht auf eine körperliche Fähigkeit begriffen und damit auch immer wieder überwunden wird.

Diese psychische Verarbeitung hat nichts zu tun mit den dualistischen Konstruktionen von "primärer Behinderung" und "sekundärer Benachteiligung" bzw. von "primärem Defekt" und "sekundärer gesellschaftlicher Behinderung", wovon die Literatur reichlich zu bieten hat.

Aus meiner Sicht ist es ein Mißverständnis des Problems, wenn Psychologen/Pädagogen, persönlich nicht Betroffene glauben, durch Trauerarbeit würden wir uns gesellschaftlich integrieren, indem wir abgespaltene Teile unserer Persönlichkeit wieder in uns aufnehmen. Denn die psychische Verarbeitung und die Trauer werden erschwert oder verhindert durch die andere Seite unserer Betroffenheit, um die es hier nur gehen kann, durch die bei weitem schmerzlichere Erfahrung, daß die fehlende Funktion von Körperorganen als Anlaß und Rechtfertigung genommen wird, uns gesellschaftlich zu diskriminieren, in unseren Entwicklungsmöglichkeiten einzuschränken und uns dadurch in unserer Persönlichkeit zu behindern. Wenn von "Integration" gesprochen wird, dann kann es aus meiner Sicht als Betroffene nur gehen um das Problem der gesellschaftlichen Stellung Körpergeschädigter, des gesellschaftlichen Bewußtseins von dieser Stellung (und das schließt die unseren Verhältnissen entsprechenden Ideologien ein) sowie unseres Selbstbewußtseins als Betroffene von der Notwendigkeit, die Entwicklung unserer Persönlichkeit aktiv durchzusetzen. Darin liegt keineswegs eine Soziologisierung eines psychologischen oder pädagogischen Problems, sondern nur das notwendige Verständnis der gesellschaftlichen Bedingungen der Entwicklung der Persönlichkeit und des didaktischen Verhältnisses von Bewußtseinsbildung und gesellschaftlicher Praxis der Individuen.

Ich werde also im Folgenden versuchen zu zeigen, in welchen versteckten Formen wir Aussonderung, soziale Einschränkung und Diskriminierung erleben und zu verarbeiten haben.

3. Aus der Sicht der Erzieher und Lehrer, vieler Pädagogen und Psychologen erscheint es sinnvoll, die Probleme von "Behinderung" und "Integration" der zeitlichen Entwicklung folgend unmittelbar mit der frühkindlichen Entwicklung beginnend bis zum Abschluß der Schulzeit zu untersuchen. Für ihre tägliche Berufspraxis ist das auch zunächst begründet, läßt mich aber einen wesentlichen Gesichtspunkt vermissen, der mich veranlaßt, die Frage anders aufzurollen.

Es ist den meisten klar, daß Erziehung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen Inhalt und Form allgemein aus dem Ziel gewinnen, sie zu Erwachsenen zu bilden, sie als Subjekte am gesellschaftlichen Leben, d.h. am Produktions- und Reproduktionsprozeß, beruflichen, kulturellen, politischen Leben teilnehmen, und zwar in den verschiedenen sozialen Klassen und Schichten (in der Regel verdeckt durch die Ideologie von Leistungsgesellschaft und Chancengleichheit). Unter der Voraussetzung, daß die Aussonderung körpergeschädigter Kinder ein Gewaltakt ist, der hinter das historisch erreichte Niveau der praktischen menschlichen Beziehungen und der Moral unserer Gesellschaft weit zurückfällt, muß unbedingt an dem Ziel festgehalten werden, körpergeschädigte Kinder und Jugendliche aus ihrer Aussonderung in Heimen, Sonderschulen und/oder Familien herauszuholen, die isoliert mit ihnen leben. Trotzdem bleibt eine so begrenzte integrative Erziehung und Ausbildung hinter erreichbaren Möglichkeiten zurück. Denn die vom herrschenden Bewußtsein vorgeprägte und durch die übliche Praxis angeregte und legitimierte Aussonderung der körpergeschädigten Kinder wird noch innerhalb dieser Integration selbst fortgesetzt, wenn die Erreichbarkeit des allgemeinen Ziels der Entwicklung zum erwachsenen Subjekt von vornherein entsprechend der Art und dem Umfang der Körperschädigung als mehr oder weniger begrenzt oder ganz unmöglich beurteilt wird.

In dieser Perspektive integrativer Erziehung - sie gilt u.a. auch für die Integrationskonzepte auf der Grundlage der Interaktions- und Kommunikationstheorie der Sozialisation - liegt die positive Entwicklung darin, daß die Kinder in Kindergarten und Schule zusammen aufwachsen, miteinander vertraut und Freunde werden, die eigenen Fähigkeiten und Unfähigkeiten und die der anderen erfahren und sich gegenseitig unterstützen und korrigieren. Dadurch werden die Fremdheit und die Angst vor der Interaktion und Kommunikation mit körpergeschädigten Kindern abgebaut. Da die Vorstellung von der Beschränktheit der zukünftigen Lebensbedingungen der körpergeschädigten Kinder, als Erwachsene berufstätig zu werden, eine Familie zu gründen, selbst Kinder großzuziehen, am kulturellen und politischen Leben persönlich teilzunehmen, in die Erziehungspraxis eingeht, endet die Zukunft der körpergeschädigten Kinder und damit die Gemeinsamkeit der Entwicklung mit den normalen auf der Stufe der kindlichen Gegenwart, in der Akzeptanz der Andersartigkeit des Körpergeschädigten und deren Toleranz. In der Tat wird in den vorgestellten Projekten integrativer Kindergärten deutlich, daß die verschiedenen Kinder körperlich und emotional voneinander lernen, und vor allem, daß ihre aktuellen und partiellen Entwicklungsmöglichkeiten zwar unterschiedlich, aber doch auf alle Kinder verteilt sind.

Dennoch bleibt die prinzipielle und langfristige Überlegenheit der normalen Kinder gegenüber den körpergeschädigten erhalten und wird auch als solche erlebt und empfunden, weil den normalen durch die Erziehungspraxis und die soziale Umgebung trotz der aktuellen eigenen Erfahrung vermittelt wird, um wieviel aussichtsreicher ihre Zukunft ist, mit wieviel weniger Widerständen sie auf allen Gebieten zu rechnen, wieviel weniger gesellschaftliche Ablehnung und Diskriminierung sie abzuwehren und wieviel weniger individuelle Anstrengungen zur Bewältigung ihrer gesamten Alltagspraxis sie aufzuwenden haben werden.

Neben den Eltern, die einer gemeinsamen Erziehung grundsätzlich aufgeschlossen gegenüberstehen und ihre Kinder darin einbeziehen, erwägen andere inzwischen, ihre Kinder deshalb in integrative Kindergärten zu geben, um ihnen das Gefühl der Überlegenheit zu vermitteln. Kürzlich berichtete mir Frau A., daß ihr zweites Kind, ein Junge, der mit seinen fünf Jahren in seiner motorischen und sprachlichen Entwicklung auffällig hinter seinen Spielkameraden zurückgeblieben ist, durch die Trennung von ihrem Mann noch weiter zurückzubleiben droht. Er näßt ins Bett und wird von anderen gehänselt. Um ihm das nicht länger zuzumuten, wird sie ihn jetzt aus dem normalen Kindergarten herausnehmen und ihn in einer integrativen Einrichtung anmelden.

Auf meine Frage, ob sie sich über die Konzeption und die Ziele der integrativen Erziehung informiert hätte und ob sie davon überzeugt sei, sagte sie, sie habe sich noch nicht erkundigt, aber sie wolle ihren Sohn unbedingt in eine Einrichtung bringen, wo vor allem körpergeschädigte oder mehrfach behinderte Kinder sind. "Dort wird er auf jeden Fall erfahren, daß er zu den Größeren und Stärkeren gehört, und daß es andere gibt, die nie so weit kommen werden wie er."

Die Reduzierung der Zukunftsperspektive körpergeschädigter Kinder auf die Akzeptanz ihrer Andersartigkeit erhält ihre Abhängigkeit von den anderen und ihr Angewiesensein auf deren Hilfe aufrecht und beseitigt letztlich auch nicht ihre gesellschaftliche Unterlegenheit, vermittelt über ihre körperliche Schädigung. Das Gefühl der Dankbarkeit, von den "normalen" unterstützt und anerkannt zu werden, bleibt so letztlich bestimmend für ihr Selbstwertgefühl. Die auf Akzeptanz und Toleranz körpergeschädigter Kinder gerichtete integrative Erziehung kann die Behinderung ihrer Entwicklung zum erwachsenen Subjekt nicht aufheben.

4. Aus meiner Betroffenheit, die diese Überlegungen vermittelt, ziehe ich den Schluß, daß Grundlage und Ausgangspunkt der "Integrations"-Diskussion die soziale Stellung der körpergeschädigten Erwachsenen im Produktions- und Reproduktionsprozeß sein muß. Die Analyse unserer sozialen Stellung macht deutlich, daß die bloße Teilnahme am Arbeitsprozeß - ebenso wie am Bildungsprozeß -, überhaupt eine Arbeit zu haben (in der Regel in den einfachsten Tätigkeiten), unsere soziale und persönliche Diskriminierung innerhalb der "Integration" fortsetzt. Die meisten von uns nehmen am Prozeß der gesellschaftlichen Arbeit zwar teil, aber nur als geduldetes, zu versorgendes, letztlich aber doch verzichtbares Anhängsel. Der Arbeitsprozeß scheint uns zu seiner Funktionstüchtigkeit entbehren zu können und nur aus reiner Menschlichkeit aufzunehmen. Unsere Stellung als überschüssiger Teil der Bevölkerung ergibt sich nicht allein aus mangelnder Bereitschaft der Unternehmer und des Staates, uns als Arbeitskraft zu beschäftigen, sondern wird uns subtil vermittelt von unseren selbst abhängig beschäftigten Arbeitskollegen.

Wenn wir die für uns reservierten Berufe des Bürstenmachers, Korbflechters, des einfachen Handwerks am Rande der industriellen Produktionsweise verlassen, werden wir auch mit höherer Ausbildung - gesetzt den Fall, wir werden zugelassen - entweder als zu bewundernde Ausnahme oder als karrierebewußte Aufsteiger und besonders gefährliche Konkurrenten angesehen. Und das nicht nur von den Nichtbehinderten, sondern unter Umständen in besonders krasser und widerwärtiger Form von Behinderten selbst, die den Konkurrenzdruck, unter dem sie leiden, auf diese Weise weitergeben.

Ich habe auf diesem Gebiet persönlich vielfältige Erfahrungen gemacht. Aufgrund besonders günstiger Bedingungen, die letztlich auf meine soziale Herkunft zurückzuführen sind, ist es mir gelungen, das Internat für Blinde zu besuchen, als erste Blinde in der Bundesrepublik Soziologie zu studieren und Anfang der siebziger Jahre das Diplom zu erwerben. Es ist zwar zutreffend, daß die anschließenden Schwierigkeiten, eine entsprechende Berufstätigkeit zu finden, für Soziologen generell gegeben waren - besonders für Frauen - und bis heute sich noch erheblich verschärft haben. Dennoch lagen die Gründe für mich nicht in einem allgemeinen Bedarfsmangel. In mehreren Institutionen des staatlichen Ausbildungssektors, wo ich mich auf ausdrücklich für Soziologen eingerichtete Arbeitsplätze beworben habe, wurde ich in allen Fällen ausschließlich wegen meiner Blindheit abgelehnt. Als Begründung wurde mir beispielsweise mitgeteilt, zur Unterrichtung und Beurteilung der Studenten sei die Wahrnehmung ihrer mimischen Ausdrucksformen unerläßlich. Um es klar zu machen: Es war keine Schauspielschule.

Ein Professor, der neu an das Soziologische Institut gekommen war, mußte dringend eine Assistentenstelle besetzen und bevorzugte sogar eine Frau. Ich meldete mich umgehend telefonisch in seinem Sekretariat, um Genaueres über die Stelle zu erfahren. Die Sekretärin war sehr erfreut, daß sich bereits eine Bewerberin meldete, nahm meine Personaldaten auf und bat, mich sofort vorzustellen. Ich hatte noch nicht meine Wohnung verlassen, als ich vom Professor angerufen wurde: "Sie sind die blinde Kollegin, die gerade angerufen hat? Ich wollte Ihnen gleich mitteilen, daß Sie nicht in Frage kommen, damit Sie den Weg nicht umsonst machen müssen. Ich bedanke mich für Ihr Interesse."

An einer Fachhochschule sollte ein Lehrauftrag in Soziologie vergeben werden. Über einen Kollegen, der dort arbeitete, konnte ich diesmal ein Vorstellungsgespräch erreichen. Ich wurde sehr höflich empfangen und nach zehn Minuten mit freundlichem Dank verabschiedet. Man wolle mir in Kürze die Entscheidung mitteilen. Ich habe sie nie offiziell, sondern nur über den Kollegen erfahren, nachdem ich mehrmals in ihn gedrungen war, mir die Wahrheit zu sagen. Man hatte mich abgelehnt mit der Begründung, man wolle mir den täglichen Weg zur Arbeit nicht zumuten: "Wie soll diese Frau jeden Tag hierher kommen? Wie soll sie sich selbständig ohne Hilfe in unseren Gebäuden bewegen?" Und schließlich könnten sie es ihren Studenten nicht antun, von einer Körpergeschädigten unterrichtet zu werden.

Der Protest des Kollegen, der mich aus dem Studium und dem Studentenheim kannte, blieb erfolglos. Man ging schließlich soweit, den soziologischen Lehrauftrag lieber einem Fachfremden zu übertragen, bevor man eine körpergeschädigte Frau beschäftigt hätte.

Die soziale Diskriminierung, die ich in diesen Fällen nicht anders als meine körpergeschädigten Schulfreunde und Studienkollegen und zahllose andere arbeitslose Hochschulabsolventen - besonders Frauen - erfahren habe, besteht nicht in erster Linie darin, daß falsche oder gar keine Vorstellungen und Kenntnisse über unsere Fähigkeiten vorhanden sind - das könnten wir in der Auseinandersetzung mit den Betreffenden persönlich ändern. Es fehlt jedoch vielen von ihnen jegliche Bereitschaft, sich ein realistisches Bild von unserer Persönlichkeit zu machen. Die Diskriminierung hat ihren harten Kern darin, daß wir a priori in unseren Handlungsfähigkeiten, in unseren Arbeitsleistungen und in allen dazu erforderlichen vor- und nachgelagerten Tätigkeiten auf den Körperschaden reduziert werden, d.h. auf den Mangel einer organischen Teilfunktion. Wir werden als Mängelwesen definiert.

Die materielle Grundlage dieser Reduzierung - das zeigen die Beispiele deutlich - ist nicht die Angst vor einer Andersartigkeit, sondern die handfeste Befürchtung, sich durch die Aufnahme einer körpergeschädigten Mitarbeiterin zu besonderen und zusätzlichen organisatorischen Tätigkeiten zu verpflichten, die man aus moralischen Gründen nicht verweigern kann, wenn man sich einmal zu einem solchen Schritt entschlossen hat. An den Anforderungen an einen wissenschaftlichen Assistenten ist das besonders gut erkennbar. Der Professor möchte eine wissenschaftliche Kraft beschäftigen, die ihm in seiner Arbeit assistiert, ihm bei der Bewältigung seiner Lehr- und Forschungsverpflichtungen zur Verfügung steht. Es liegt auf der Hand, daß mich als Soziologin diese Arbeit nicht überfordert, daß ich aber als Blinde selbst eine Vorlesekraft benötigt hätte, um sie auszuführen.

Da die Beschäftigung von Vorlesekräften für Blinde, obwohl nach dem Schwerbehindertengesetz möglich, in der alltäglichen Berufspraxis schwer durchsetzbar ist ich habe selbst 10 Jahre darum kämpfen müssen - und diese Möglichkeit dem Professor wie den meisten Menschen völlig unbekannt war, sah er zusätzliche Arbeit auf sich zukommen, wo er selbst welche abgenommen haben wollte. Tatsächlich ist ein wichtiger Grund, warum wir für Arbeiten abgelehnt werden, für die wir qualifiziert sind, daß eine besondere Ausstattung des Arbeitsplatzes gesellschaftlich nicht gelöst und deshalb individuell bewältigt und durchgesetzt werden muß.

Das bestätigte mir kürzlich meine ebenfalls körpergeschädigte Freundin Cornelia, als sie folgendes berichtete. Sie hatte den Professor für Naturwissenschaften, bei dem ihr nichtbehinderter Mann gerade mit Auszeichnung promoviert hatte, mit dessen Frau, einer Lehrerin, zum Abendessen eingeladen. Beide Ehepaare kennen sich gut und sind seit Jahren befreundet. Der Professor bewundert besonders die Kochkunst meiner Freundin und schätzt die Unterhaltung mit ihr über Musik. Cornelia hat Musik studiert und spielt sehr gut Klavier, der Professor ebensogut Klavier wie Orgel. Im Verlauf des Abends kam die Unterhaltung auf die z.Zt. laufenden Integrationsprojekte. Der Professor berichtete von den Musikfreizeiten, die er neben seiner Arbeit organisiert und an denen auch Blinde regelmäßig teilnehmen. Besonders begeistert war er von deren musikalischer Improvisationsfähigkeit.

Seine außerordentliche Überzeugung von den Fähigkeiten von Blinden und körpergeschädigten Menschen überhaupt - er hat selbst eine geistigbehinderte Verwandte, die in eine Sonderschule geht, deren Auflösung er selbst befürwortet - ermutigte Cornelia zu der Feststellung, daß es guttäte, mehr Menschen mit solchen positiven Einstellungen auch am Arbeitsplatz zu begegnen. Ohne Zögern antwortete er mit der Direktheit und Offenheit, die Cornelia an ihm schätzt, man müsse zwischen Freizeit und Beruf unterscheiden, und er könne sich allerdings nicht vorstellen, wie er mit einem blinden Naturwissenschaftler zusammenarbeiten sollte, obwohl er wisse, daß es sehr gute gebe. Das sage nichts aus über die Qualität dieser Leute. Sie könnten auch ausgezeichnet abstrakt denken, aber meiner Freundin könne er das ja ruhig sagen, die Zusammenarbeit mit den Kollegen laufe über schriftliche und graphische Darstellungen, die die Auseinandersetzung abkürzen. Einem Blinden müßte er das alles sprachlich verständlich machen. Das koste nicht nur Zeit und Konzentration, sondern die Fähigkeit müsse er sich dazu auch erst erwerben. Um das zu bewältigen, müsse er z.B. eine Diplomarbeit weniger betreuen oder in der Freizeit entsprechend weniger Musik machen. Er wisse nicht, ob er darauf wirklich verzichten wollte. Auf die Verwunderung seiner Frau, meiner Freundin und ihres Mannes sah er sich veranlaßt, weiter auszuführen, in der Hektik der täglichen Arbeit würden die Kollegen roh miteinander umgehen. Gegenüber einem blinden oder auch sonst körpergeschädigten Kollegen habe er aber das Gefühl, besonders rücksichtsvoll sich verhalten zu müssen. Das sei in der Arbeit nicht zu leisten, und er wisse nicht, ob ihn das nicht überfordern würde.

Abgesehen davon, daß der Professor seine Problem- und Lösungsdarstellung gegenüber Studenten in jedem Fall verbal erklären können muß, machte ihn die Sorge vor einer zusätzlichen Belastung, vor besonderer Rücksichtspflicht und vor einer Einschränkung seiner Freizeitbeschäftigung offenbar so befangen, die Kooperation mit einem blinden Kollegen nur noch unter dem Gesichtspunkt zusätzlicher Anforderungen an ihn zu sehen. Er vernachlässigte völlig, daß z.B. ein blinder Kollege, der auf demselben wissenschaftlichen Niveau arbeitet wie er, seinerseits ihm Impulse und Unterstützung in seiner Arbeit geben könnte wie seine anderen Kollegen auch.

Ich möchte hier ausdrücklich betonen, daß meine Freundin und ihr Mann den Professor als einen außerordentlich hilfsbereiten Hochschullehrer schildern, der sich für seine Studenten, Diplomanden und Doktoranden ungewöhnlich einsetzt und sie über die Ausbildung hinaus auch in ihrem beruflichen Fortkommen unterstützt.

Selbst bei einem hohen Maß an Hilfsbereitschaft, Anerkennung und sehr positiver aktueller und partieller Beziehungen zu Körpergeschädigten in Verwandtschaft und Freundeskreis setzt sich im Arbeitsprozeß das herrschende gesellschaftliche Bewußtsein durch. Es kristallisiert sich darin, jede Anforderung als Zumutung abzuwehren, die im individuellen Konkurrenzkampf im Beruf nur Nachteile zu bringen scheint. Nicht nur lenkt die Kooperation mit Körpergeschädigten davon ab, ein Maximum an Zeit zu sichern, um Vorsprünge gegenüber Konkurrenten, z.B. bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen, zu erobern, den Arbeitsdruck zu senken oder sich von unangenehmen Verpflichtungen oder Arbeiten zu entlasten. Die herrschende doppelte Moral zieht es darüber hinaus vor, statt die ganze Rohheit und Rücksichtslosigkeit dieser Konkurrenz gegenüber dem Körpergeschädigten selbst direkt und offen auszutragen und sich damit Schuldgefühle und schlechtes Gewissen einzuhandeln, ihn lieber von der Konkurrenz und vom Arbeitsprozeß ganz auszuschließen.

Obwohl es sich bei den hier dargestellten Erfahrungen um eine besondere Gruppe akademischer Arbeitskräfte im öffentlichen Dienst handelt, die weder im privatkapitalistisch organisierten Produktionsprozeß stehen, noch selbst Unternehmerfunktion ausüben, unterscheidet sich ihr Denken und Verhalten bei aller persönlichen Integrität letztlich nicht von dem eines auf dem Markt konkurrierenden Unternehmers, der den Körpergeschädigten nicht einstellt, weil ihm die Kosten zu hoch und die betriebsorganisatorischen Aufwendungen zu teuer erscheinen, gemessen an dessen Ausbeutbarkeit und Ausnutzbarkeit für den privaten Profit bzw. Vorteil.

Dabei liegt das Rückschrittliche des Denkens und Verhaltens der Kollegen nicht etwa darin, sich nicht individuell opfern zu wollen für eine Belastung, die in der allgemeinen Betriebsorganisation und Kostenrechnung nicht vorgesehen ist, sondern darin, keine solidarischen, allgemein gesellschaftlichen Lösungen anzustreben für Probleme, die individuell gar nicht lösbar sind. Sie weichen den gesellschaftlichen Anforderungen aus und berauben uns damit des wesentlichen Teils unserer Existenzgrundlage.

Damit nicht genug: Bei einer Berufsberatung für blinde Abiturienten berichteten auch körpergeschädigte Lehrkräfte aus ihren Berufserfahrungen. Sie haben einen Arbeitsplatz gefunden, sie haben durchgesetzt, daß der Arbeitgeber Vorlesekräfte für sie beschäftigt, und sie bewältigen ihre Arbeit. Sie mußten aber wiederholt erleben, daß ihre Vorlesekräfte - besonders, wenn diese Männer waren - von ihren Familienangehörigen, Ehepartnern, Freunden und Bekannten als Führhund und Blindenführer bezeichnet wurden. Die Vorleser berichten, wie oft sie, wenn sie von der Arbeit nach Haus kommen, sich verteidigen müssen, daß sie eine solche Tätigkeit überhaupt ausüben. Es würde nur von ihrer Unfähigkeit zeugen, eine bessere Arbeit zu suchen, denn lesen könne jeder. Obwohl sie meistens vom Schwierigkeitsgrad der Anforderungen und der Vielfältigkeit der Aufgaben persönlich überzeugt sind, fällt es ihnen schwer, diesem Druck lange standzuhalten, und übertragen ihn schließlich in den Arbeitsprozeß selbst. Den Höhepunkt erreichen diese Angriffe regelmäßig dann, wenn die Vorlesekräfte ebenso wie die Lehrerinnen selbst - und ich habe es nur von Frauen erfahren - sich dem Vorwurf stellen müssen, daß der Staat die Steuergelder verschwende, wenn er zwei Arbeitskräfte für eine Arbeit beschäftige, obwohl wir genügend arbeitslose Akademiker und speziell Lehrer hätten. Manche ziehen es dann vor, arbeitslos zu werden, sich umschulen zu lassen oder auch einfachere und schlechter bezahlte Arbeiten anzunehmen, wenn sie dem ständigen Druck nicht mehr gewachsen sind.

Dadurch werden wir in unseren Arbeitsbedingungen immer wieder neuen Schwierigkeiten unterworfen und dazu verleitet, die Ursachen dafür in unserem persönlichen Verhalten und unserer Körperschädigung zu suchen und nicht in den objektiven gesellschaftlichen Bedingungen, die durch die Lebensverhältnisse der Vorlesekraft vermittelt werden - abgesehen davon, daß jeder nicht mit jedem gleich gut zusammenarbeiten kann. Die Lehrerinnen konnten solchen Problemen auch nicht dadurch ausweichen, daß sie weibliche statt männliche Vorlesekräfte beschäftigten. Sie haben wiederholt die Erfahrung gemacht, daß diese Frauen die Vorlesetätigkeit verwechselt haben mit mütterlicher Fürsorge.

Ein Ansatz zur "Integration", der diesen Zusammenhang von Diskriminierung praktischer Beziehungen der Menschen untereinander und Produktionsverhältnissen vernachlässigt und nicht das Verhältnis von Kapitalverwertung, Konkurrenz und Kooperation im Arbeitsprozeß zur Grundlage macht, kann keinen wirksamen Beitrag zur Aufhebung der gesellschaftlichen Behinderung und der Einschränkung der Persönlichkeitsentwicklung Körpergeschädigter leisten.

5. Gesellschaftliche Beziehungen sind nicht auf den Arbeitsprozeß beschränkt, obwohl er deren materielle Grundlage bildet. Zu den wesentlichen menschlichen Bedürfnissen gehört die Erfahrung von Liebe und Sexualität, Geborgenheit und Vertrauen in Partner- und Familienbeziehungen, in denen der einzelne an der kulturellen Reproduktion einer Gesellschaft teilnimmt und worin die nachfolgenden Generationen heranwachsen. Auf die Befriedigung dieser Bedürfnisse zwangsweise zu verzichten, bedeutet eine soziale Unterdrückung, die unmittelbar körperlich erfahren wird und die Entfaltung unserer Persönlichkeit dort einschränkt, wo wir sie in direktester Form empfinden. Sie schließt uns aus nicht nur vom Genuß unserer Sinnlichkeit und Sexualität, sondern auch vom persönlichen Erleben der kulturellen Tradition und der Orientierung auf eine mit allen gemeinsame bessere Zukunft. Wir werden in jener Sphäre der Emotionalität eingeschränkt, in der sich die menschliche Handlungs-, Beziehungs- und Entwicklungsfähigkeit in jedem Individuum widerspiegelt.

Es leuchtet unmittelbar ein, daß intime Beziehungen nicht auf der Akzeptanz der Andersartigkeit aufgebaut werden können. Sie setzen ein Maß an Übereinstimmung der Alltagspraxis, der Lebensziele, der Interessen und der Gegenseitigkeit sinnlicher Bedürfnisse voraus, das historisch-kulturell, klassen-, schichten- und geschlechtsspezifisch bestimmt und unterschieden ist.

Warum aber fehlt es so auffällig an solchen Übereinstimmungen mit Körpergeschädigten? Was an einem Menschen schön und sinnlich ist, welche Fähigkeiten, intellektuellen und körperlichen Eigenschaften er haben muß, um liebenswert zu erscheinen, um heiratsfähig zu sein, von den Eltern und Geschwistern aufgenommen zu werden und im Freundes- und Bekanntenkreis vorzeigbar zu erscheinen, das alles sind Formen des vom einzelnen mehr oder weniger durchschauten und bewußt reflektierten, sich individuell mehr oder weniger durchsetzenden gesellschaftlichen Bewußtseins, in dem soziale Merkmale der Art der Berufstätigkeit, der darin eingenommenen hierarchischen Position, des entsprechenden Einkommens und des dazugehörigen Bildungs- und Ausbildungsniveaus grundlegend sind und vielfach vermittelt sich ausdrücken.

Es ist bekannt - und in verschiedenen Untersuchungen bestätigt -, daß die meisten "Behinderten", die Frauen bei weitem häufiger als die Männer, keine Partner haben und nicht verheiratet sind oder untereinander heiraten, wobei sie in manchen Fällen auf den Segen der Katholischen Kirche verzichten müssen. Zum Teil wird uns die Sexualität ganz abgesprochen, zum Teil - wenn wir Frauen sind - werden wir für kurze Abenteuer als gut befunden, für die Ehe aber als untauglich abgelehnt. Wir werden von Erziehern, Betreuern und den eigenen Eltern von vornherein auf einem so kindlichen Niveau zu halten versucht, daß sich unsere Sexualität kaum entwickeln kann, weil sie uns - besonders den Frauen - den Schmerz ersparen wollen, später keinen Partner zu finden.

Ich habe Körpergeschädigte, darunter sogenannte Geistigbehinderte, spastisch Gelähmte und Blinde, kennengelernt, die ihr Alltagsleben auf verschiedenen Niveaus persönlicher Selbständigkeit bewältigen, aber an Partner- und Familienbeziehungen meistens ganz, zumindest aber dauerhaft gehindert werden.

Rosi, eine 23jährige junge Frau aus einer Anstalt für "Geistigbehinderte", führte für ein Mitglied der Anstaltsleitung den Haushalt, versorgte die Kinder und schloß eine Hauswirtschaftslehre bei ihm ab. Bei verschiedenen Einladungen im Haus habe ich erlebt, wie Rosi von anwesenden Männern sexuell provoziert wurde. Als sie die Provokation erwiderte, wurde sie von ihrer Leiterin in die Schranken gewiesen und rausgeschickt. Als einige Anwesende, die das beobachtet hatten, die Hausfrau darauf hinwiesen, daß Rosi provoziert worden sei, begründete sie ihre Maßnahme damit, Rosi würde ihr leidtun, weil sie doch nie einen Mann bekäme, und sie solle sich keine Illusionen machen. Ich muß hinzufügen, daß Rosi nie mit der gleichen Achtung begegnet wurde wie den anderen Frauen.

Eine andere Erfahrung, die wir häufig machen, ist, daß der Bruch einer Liebes-Beziehung mit unserer Körperschädigung begründet wird. Besonders unsere nichtbehinderten männlichen Freunde sehen sich so massivem Druck seitens ihrer Familien, Freunde und Berufskollegen ausgesetzt, daß sie eine zeitlang versuchen, die Beziehungen zu uns versteckt zu halten und sie schließlich abbrechen. Rita, die durch eine Kinderlähmung gehbehindert ist, erzählte mir kürzlich, daß sie trotz der Diskriminierung lange an einer Beziehung festgehalten hatte, obwohl sie die Freundschaft am liebsten selbst beendet hätte. Nachdem sich schließlich ihr Freund mit der üblichen Begründung von ihr getrennt hatte, er wisse nicht, wie er mit einer behinderten Frau leben soll, mußte sie sich von einer elterlichen Freundin, bei der sie Verständnis und Schutz suchte, sagen lassen: "Du bist eine gutaussehende und attraktive Frau, ich kann mir vorstellen, mit Dir würde jeder Mann gerne ins Bett gehen, trotz Deiner Behinderung. Nachts sind alle Katzen grau, mein Kind. Zur Ehe gehört ein bißchen mehr. Ich kann dem Mann nicht übel nehmen, daß er Dich nicht heiraten wollte. Ich muß Dir diese Wahrheit sagen, um Dir Dein Vergnügen zu lassen, Dich aber vor weiteren Enttäuschungen zu schützen."

Daß sich solche Erfahrungen nicht einfach vermeiden lassen, wenn die Kinder schon gemeinsam in Kindergarten und Schule aufwachsen, macht eine Geschichte deutlich, die mir Anita erzählt hat, mit der ich im Internat bis zum Abitur in einem Zimmer gewohnt habe. Sie hatte einen Freund, mit dem sie schon in früher Kindheit gespielt hatte und dessen Familie mit ihrer Familie eng befreundet war. Anita fuhr häufiger nach Hause als wir alle, um ihren Freund zu sehen; auch er kam sie regelmäßig besuchen. Schon vor dem Abitur stand für Anita fest, worum viele von uns sie beneideten: ihren Freund zu heiraten. Als sie nach dem Abitur ihm in einem Gespräch über ihre Zukunft begründete, daß sie nicht studieren wollte, weil Ehe und Studium sie überfordern würden, sagte er ihr, sie würden sicher beide nicht daran zweifeln, wie sehr sie sich liebten. Aber habe sie wirklich geglaubt, er würde sie heiraten? Das Studium sei für sie wirklich besser. Noch im gleichen Jahr heiratete er eine nichtbehinderte Frau, die zehn Jahre jünger war als er.

Männer, die dem sozialen Druck der Umgebung trotzen und dauerhafte Beziehungen mit körpergeschädigten Frauen eingehen, müssen erfahren, wie die Diskriminierung ihrer Frau auf sie übertragen wird. Sie müssen sowohl die Bewunderung ihrer Tat als auch ihren Sonderstatus ertragen. Dabei handelt es sich nicht um jene Bewunderung des nacheifernswerten Vorbilds, sondern um die des erstaunlichen Opfermutes, den gewisse Fachleute auch gelegentlich als "Helfersyndrom" zu qualifizieren belieben. Im Zuge solcher Mentalität werden diese Männer letztlich als verehelichte Betreuer und Pfleger verstanden. Wie man die Frau nach ihrer Körperschädigung definiert, verpflichtet man ihren Mann in praktischer Konsequenz und in gleicher Weise wie Mutter, Vater und Geschwister auf die alleinige und vollständige Zuständigkeit und Verantwortung für alle Tätigkeiten, die in irgend einer Form aus der Körperschädigung resultieren oder zu resultieren scheinen. Wie die Persönlichkeit der Frau auf ihr Körpermerkmal, wird die ihres Mannes auf die Tätigkeit der Betreuung reduziert. Während unseren Männern noch Opfermut angerechnet wird, wirft man uns Undankbarkeit vor, wenn wir es wagen, differenzierte Vorstellungen zu haben und Erwartungen an unsere zukünftigen Partner zu stellen.

Es muß hier nicht ausgeführt werden, welche psychischen und sozialen Belastungen eine Beziehung zu bewältigen hat, die unter solchen ideologischen und praktischen Einschränkungen sich entwickelt. Wenn sie trotzdem gelingt, dann vor allem deshalb, weil sie sich nicht darin erschöpfen kann, daß die individuellen alltäglichen Handlungen zufällig übereinstimmen und sich ergänzen und spontan oder traditionell verteilt werden. Sie müssen viel bewußter geplant und in gegenseitiger Ergänzung von Teilaspekten ausgeführt werden. Solche bewußte gegenseitige Lebensplanung ist nur möglich, wenn sich die Partner in ihren Lebenszielen und -interessen gegenseitig voranbringen können, gemeinsam neue Ziele und Interessen erzeugen und damit die praktischmaterielle Grundlage schaffen für eine gegenseitige produktive Bedürfnisbefriedigung. Das gerade schließt aus - in der Partnerschaft - wenn auch noch so subtil, zu konkurrieren, sich auszunutzen oder sich auf Hilfeleistung und -empfang zu beschränken, und macht es möglich, sich der Verdinglichung der menschlichen Beziehungen in der warenproduzierenden Gesellschaft entgegenzustellen. Die Qualität einer solchen Beziehung liegt in ihren kreativen Elementen, durch die erst die Sinnlichkeit von ihren Klischees der modischen Warenästhetik getrennt und als unverwechselbarer, dauerhafter und entwicklungsfähiger Teil der Persönlichkeit erfahrbar wird.

6. Das Ziel, Ausschluß und Einschränkung der Persönlichkeitsentwicklung in jeder Form aufzuheben, verlangt bei weitem mehr individuelle und gesellschaftliche Auseinandersetzung, als hier dargestellt werden konnten. Als Betroffene geht es mir nicht um "Integration", nicht um Akzeptanz oder Toleranz irgendeiner Andersartigkeit. Was uns unterscheidet, ist nicht, daß wir von anderer Art wären, sondern daß die Entwicklung unserer Persönlichkeit anders verläuft, daß wir uns die gesellschaftliche Wirklichkeit und das überlieferte Erbe der Menschheitsgeschichte mit unseren individuellen Mitteln und sinnlichen Modalitäten aneignen. Inhalt, Gegenstand und Ziel dieses Prozesses sind die gleichen wie bei allen anderen Individuen auch. Wenn wir dennoch auffällige Besonderheiten des Verhaltens bis hin zu psychischen Störungen entwickeln, dann - wie übrigens alle Menschen - in erster Linie deshalb, weil der massive und allgegenwärtige Zwang sozialer Einschränkungen in allen Bereichen gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion sie erzeugt, bei uns speziell vermittelt durch die Denk- und Verhaltensformen der Menschen, die uns auf unser Körpermerkmal reduzieren. Die Gemeinsamkeit des Inhalts und Ziels der menschlichen Entwicklung kann letztlich nur in der Kooperation von erwachsenen Subjekten erarbeitet werden. Daran muß sich die gemeinsame Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen orientieren, und nur darin hat sie ihren einheitlichen Gegenstand und die gleiche Motivation des Lernens, wie FEUSER in seinem Konzept entwickelt hat.

Das gilt grundsätzlich auch für jene Menschen, die unter den heute herrschenden Verhältnissen der Lohnarbeit vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen oder in zukünftigen, anderen gesellschaftlichen und technologischen Bedingungen des Arbeitsprozesses an diesem nicht teilnehmen können. Viele, die heute nicht als arbeitsfähig gelten oder es nicht sind, werden es unter besseren Bedingungen sein. Viele werden davon auch entlastet werden können (eine Möglichkeit, die heute nur von Angehörigen der Kapitaleigner genutzt werden kann).

So utopisch und weltfremd das manchem auch klingen mag, müssen doch heute schon die Bedingungen geschaffen werden, daß sie nicht am Produktionsprozeß teilzunehmen brauchen und dennoch als selbstbewußte Persönlichkeiten gesellschaftlich anerkannt sein werden, weil sie am gesellschaftlichen Gesamtprozeß der sozialen, kulturellen und politischen Kooperation an anderer Stelle kreativ tätig sind.

Das aber setzt voraus, daß wir nicht auf die Körperschädigung reduziert werden, sondern in der Gesamtheit unserer Fähigkeiten am einheitlichen Gegenstand und Ziel mit allen gemeinsam uns entwickeln können. Unter diesen Bedingungen ist nicht "Integration" von "Behinderten" die Aufgabe, sondern die solidarische Kooperation aller Subjekte auf der Grundlage ihrer Fähigkeiten. Dann wird gelten, daß die eigene Menschlichkeit nur in der aller anderen sich verwirklichen kann.

Literatur

DAOUD-HARMS , Mounira: Blindheit. Zur psychischen Entwicklung körpergeschädigter Menschen. Frankfurt/New York (Campus) 1986. - dies.: Behinderung und Frauenproblematik. BEHINDERTENPÄDAGOGIK 25(1986)1, S. 64-68. -

DEPPE-WOLFINGER, Helga: Die gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern - Überlegungen zur bildungsökonomischen Funktion integrativer Schulversuche. BEHINDERTENPÄDAGOGIK 24(1985)4, S. 392-406. -

FEUSER, G.: Gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder (Integration) als Regelfall?! BEHINDERTENPÄDAGOGIK 24(1985)4, S. 354-391. - ders.: Integration: Humanitäre Mode oder humane Praxis? Unverzichtbare Grundlagen und Formen der gemeinsamen Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder in Kindergarten und Schule. Demokratische Erziehung 12(1986) 1, S. 22-27. -

KLEIN, G., KREIE, G., KRON, M., REISER,H.: Interaktionsprozesse in integrativen Kindergartengruppen mit behinderten und nichtbehinderten Kindern. Abschlußbericht der wissenschaftlichen Begleitung. J.W. Goethe-Universität, Institut für Sonder- und Heilpädagogik, Frankfurt/M. 1985. -

KULTURPOLITISCHER AUSSCHUSS DES HESSISCHEN LANDTAGES (KPA): Anhörung zum Antrag der Fraktion der GRÜNEN betreffend Konzept zur Integration behinderter Kinder in die Regelschule (Drucks. 11/3073) am 26. September 1985. Stellungnahme der eingeladenen Sachverständigen, Verbände und Institutionen (Ausschußvorlage KPA/11/131), Wiesbaden O.J. (1985)

Anschrift der Verfasserin:

Dr. Mounira Daoud-Harms

Jean-Albert-Schwarz-Str. 6

D-60488 Frankfurt

Quelle:

Mounira Daoud-Harms: Die Theorie der "Integration" und die Praxis der "Behinderung" - Diskussionsbeitrag aus der Sicht einer Betroffenen

Erschienen in: Behindertenpädagogik, 25. Jg. Heft 2/1986, Seite 139 - 151

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 18.07.2005

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