Psychotherapie in der Behindertenpsychiatrie

Themenbereiche: Therapie
Textsorte: Vortrag
Releaseinfo: Vortrag im Rahmen der Tagung "Psychotherapie in der Psychiatrie", Herbst 1995, Univ. Graz
Copyright: © Berger, Hochgatterer, Heumayer 1995

1. DIE BEDINGUNGEN

Nach wie vor sind Menschen, die sich beruflich mit geistig behinderten Menschen befassen, einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, der gelegentlich in die Frage gekleidet wird: "Ja, zahlt sich denn das überhaupt aus?" Je höhergradig der biologische Defekt ist, der der Behinderung zugrundeliegt [1], desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß auch bei somatisch-medizinischen Maßnahmen - z.B. Implantation eines Herzschrittmachers - diese Frage gestellt wird. Im Felde der Psychotherapie begegnen wir dieser Frage durchaus nicht selten. Es ist daher notwendig, zu einigen grundlegenden Voraussetzungen der Arbeit in diesem Feld Stellung zu beziehen:

  1. Die Lebensrealität behinderter Menschen liegt im sozialen Abseits des Alltags und der Psychiatrie; es besteht ein deutlicher Mangel an Plätzen in betreuten Wohn- und Beschäftigungseinrichtungen; die Integration behinderter Kinder ins Regelschulwesen stößt nach wie vor auf beträchtliche Widerstände; in psychiatrischen Krankenhäusern sind die Behindertenstationen personell und materiell am schlechtesten ausgestattet.

  2. Die psychotherapeutische Arbeit in diesem Feld war über mehrere Jahrzehnte nicht existent und wird auch heute noch weitgehend vernachlässigt.

  3. Die Fachterminologie in diesem Feld wird von Begriffen dominiert, die - zu Metaphern der Entwertung gemacht - wertlos geworden sind: Die Begriffe "Blödheit, Schwachsinn, Idiotie, Propfpsychose" etc. reichen zwar für negative Stigmatisierungen, sind darüber hinaus aber inhaltsarm.

  4. Die Reflexion der Geschichte verweist auf die Führungsrolle der Psychiatrie bei der Tötung behinderter Menschen in den Jahren 1939-45 [2]. Dieses Faktum stellt auch heute - 50 Jahre später - noch in so mancher Familienhistorie ein verborgenes, oft therapierelevantes Element dar [3].

Diese Fakten sollten vor Einstieg in die Außenseitertätigkeit "Psychotherapie mit (geistig) behinderten Menschen" einer bewußten Reflexion unterzogen werden, um einerseits dem Rechtfertigungsdruck leichter standhalten zu können und andererseits Durststrecken, die in jedem Therapieprozeß auftreten können. Leichter zu überwinden.



[1] WHO:The International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps. World Health Organization; Geneva 1980.

[2] BERGER E.: Psychiatrie im Faschismus. Behinderte 11, 5, 59-62, 1988

[3] MÜLLER-HOHAGEN J.: Verleugnet, verdrängt, verschwiegen; die seelischen Auswirkungen der Nazizeit. Kösel, München 1988

2. DAS KONZEPT

Inhaltsverzeichnis

"ISOLATION"

W. JANTZEN [4][5] benennt "Isolation" als Kernproblem von Behinderung im allgemeinen; er unterscheidet zwischen den isolierenden Bedingungen, die auf biologischer, psychischer oder sozialer Ebene auftreten und die menschliche Entwicklung beeinflussen können vom Prozeß der Isolation, der als Summe sozial bedingter Ausgrenzungen von umfassender Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verstanden werden kann. Isolierende Bedingungen können - je nach der Entwicklungsperiode, in der sie wirksam sind - pathogene und phasenspezifisch pathoplastische Wirkungen entfalten. In der Konsequenz stellen sie jedenfalls einen beträchtlichen Risikofaktor in der Konstituierung einer stabilen Ich-Identität dar, dessen konkrete Wirksamkeit allerdings von der Summe der Entwicklungsbedingungen abhängig ist. Somit müssen die pathologischen Konsequenzen (Syndrombildungen) jeweils individuell konkret bestimmt werden.

Daraus ergeben sich die Ansatzpunkte und die Leitlinien der psychotherapeutischen Arbeit mit (geistig) behinderten Menschen:

  1. Ziel der Psychotherapie ist ein Beitrag zur Konstituierung von Ich-Identität

  2. Voraussetzung ist die individuelle biographisch geleitete Analyse der konkreten Ausformung von Isolation (psychopathologisches Syndrom, aktueller Stellenwert eines biologischen Defekts, soziale Lebenssituation)

  3. Der Weg besteht in der (kollektiven) Reflexion der aktuellen Lebensrealität und ihrer Veränderung. Hauptthema der Psychotherapie ist somit das "hier und jetzt".

KLINISCHE INDIKATIONSBEREICHE (nach ICD-10):

Die hier aufzuzählenden Themen stellen den derzeitigen Einsatzschwerpunkt der Psychotherapie in unserem klinischen Alltag dar; sie sind nicht als erschöpfende Liste möglicher Einsatzbereiche zu verstehen.

1. Akute Belastungsreaktonen:

Posttraumatische Belastungsstörungen (F 43.1) wie sie im klinischen Alltag vor allem nach dem Verlust von Bezugspersonen, nach Gewalterlebnissen, nach dem Eintritt einer Gravidität auftreten.

Anpassungsstörungen (F 43.2) wie zum Beispiel aufgrund fortgesetzten sexuellen Mißbrauchs oder im Zusammenleben mit psychotischen Elternteilen.

2. Autonomiekrisen (F 92):

Behinderte Jugendliche oder junge Erwachsene, die in wachsendem Widerspruch zu ihren überbehütenden (familiären) Betreuungssystemen geraten, bringen diesen Widerspruch häufig über psychopathologische Syndrombildungen (häufig mit Symptomen der Fremd- und Autoaggression, der Regression, der Handlungsstereotypie) oder über somatische Symptome zum Ausdruck. Die Entschlüsselung derartiger Konstellationen und - sofern Aussicht auf Veränderung besteht - ihre psychotherapeutische Bearbeitung sind häufig Inhalt einer erweiterten psychiatrischen Krisenintervention.



[4] JANTZEN W.:Grundriß einer allgemeinen Psychopathologie und Psychotherapie. Pahl-Rugenstein, Köln 1979

[5] JANTZEN W.:Allgemeine Behindertenpädagogik; Bd. I (Sozialwissenschaftliche und psychologische Grundlagen). Beltz, Weinheim 1987

3. METHODIK

Zentrales Prinzip ist die schulen-übergreifende Arbeitsweise, die bewußte Anwendung eines psychotherapeutischen Eklektizismus, wie ihn auch W. SPIEL [6]für die Kinder- u. Jugendpsychotherapie fordert. Aufgabe des Therapeuten ist es, den für die aktuellen Bedürfnisse des Patienten richtigen methodischen Weg zu finden. Ungeachtet der Tatsache, daß unser Denkhintergrund dem tiefenpsychologischen Konzept psychischer Vorgänge und psychischer Entwicklung nahesteht, kommen zahlreiche Elemente anderer Schulrichtungen zur Anwendung.

Der Verzicht auf therapeutische Abstinenz ist ein weiteres Arbeitsprinzip. Der therapeutische Prozeß - ob einzeln oder in Gruppen - wird stets dialogisch geführt.

Sofern in der Therapie Übertragungsagieren auftritt, wird es als Material in den dialogischen Prozeß eingebaut; auf offensive Deutungen bzw. Unterbindung des Übertragungsagierens wird verzichtet.

Die Mittel der Kommunikation stammen aus dem verbalen und dem mimisch-gestischen Bereich unter Einbeziehung diverser Gestaltungsmaterialien (Zeichen- u. Spielmaterialien, Musik, Puppen etc.)

Der Themenzugang muß meist aktiv durch den Therapeuten eröffnet werden. Auf der Grundlage der klinischen Diagnostik und der Kenntnis der Biographie des Klienten werden jene Themen ausgewählt, die den Konfliktfeldern des aktuellen Lebens nahezustehen scheinen und die vermutlich die wesentlichsten veränderbaren Elemente der aktuellen psychosozialen Dynamik darstellen. Diese Themen werden vom Therapeuten als "semidirektiver Vorschlag" in den Dialog eingebracht.

Stets ist parallel zu eigentlichen Therapie eine begleitende Arbeit mit den unmittelbaren Bezugspersonen (oft Elternarbeit) erforderlich. Derzeit geschieht dies vorwiegend unter dem Gesichtspunkt einer stützenden Beratung. Die Anwendung eines systemischen Settings wäre zu erwägen.



[6] SPIEL W., SPIEL G.:Kompendium der Kinder- u. Jugendneuropsychiatrie. Reinhardt, München 1987

4. PRAXIS

Wir arbeiten in einem stationären Setting mit erwachsenen Patienten einer behindertenpsychiatrischen Station sowie mit Kindern und Jugendlichen. Die Indikationen zur stationären Aufnahme ergeben sich aus der Notwendigkeit zur psychiatrischen Krisenintervention und aus Vorhaben der Planung und Anbahnung psychiatrischer Rehabilitationsmaßnahmen. Auf der Symptomebene dominieren Fremd- und Selbstaggression, katatoniformer Rückzug, pseudopsychotisch-produktive Bilder und somatische Konversion.

Die Therapiedurchführung liegt vorwiegend in Händen der Stationspsychologin und der MitarbeiterInnen der rehabilitationspädagogischen Arbeitsgruppe. Im Jahre 1994 wurden etwa 1700 Psychotherapie-Einheiten durchgeführt.

LITERATUR

WHO: The International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps. World Health Organization; Geneva 1980.

BERGER E.: Psychiatrie im Faschismus. Behinderte 11, 5, 59-62, 1988

MÜLLER-HOHAGEN J.: Verleugnet, verdrängt, verschwiegen; die seelischen Auswirkungen der Nazizeit. Kösel, München 1988

JANTZEN W.:Grundriß einer allgemeinen Psychopathologie und Psychotherapie. Pahl-Rugenstein, Köln 1979

JANTZEN W.: Allgemeine Behindertenpädagogik; Bd. I (Sozialwissenschaftliche und psychologische Grundlagen). Beltz, Weinheim 1987

SPIEL W., SPIEL G.: Kompendium der Kinder- u. Jugendneuropsychiatrie. Reinhardt, München 1987

Quelle:

Ernst Berger, Paulus Hochgatterer, Monika Heumayer: Psychotherapie in der Behindertenpsychiatrie

Vortrag im Rahmen der Tagung "Psychotherapie in der Psychiatrie", Herbst 1995, Univ. Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 18.01.2006

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