GEISTIG BEHINDERT UND PSYCHISCH KRANK

Therapeutische Hilfe der Psychiatrie für behinderte Menschen

Themenbereiche: Therapie, Medizin
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Geistige Behinderung 41, 27-36, 2002
Copyright: © Ernst Berger, Christian Müller 2002

1. Psychiatrie und behinderte Menschen

Der Zusammenhang zwischen Psychiatrie und Behinderung ist in hohem Maße belastet: Historisch durch die führende Rolle der Psychiatrie bei der Ermordung behinderter Menschen in der Nazizeit und aktuell durch die widerstandslose Bereitschaft der psychiatrischen Institutionen, die Segregation behinderter Menschen zu exekutieren. Das Thema kann daher nicht "naiv" und pragmatisch abgehandelt werden, sondern bedarf einer grundsätzlichen Positionierung.

Hier ist nochmals eine historische Tatsache festzuhalten, die die Psychiatrie für alle Zeiten mit einer nicht tilgbaren Schuld belastet hat (vgl. BERGER 1988, 1994):

*) Die Psychiatrie als "Wissenschaft" war unter Anwendung des biologistischen Paradigmas in vorderster Front als Wegbereiterin der Ermordung behinderter und psychisch kranker Menschen tätig. Sie formulierte wesentliche Teile der theoretischen Grundlagen der späteren Vernichtungsaktionen.

*) Die Psychiatrie als gesellschaftliche Institution exekutierte systematisch die menschenverachtenden und menschenvernichtenden nationalsozialistischen Aktionen zur "Ausmerze lebensunwerten Lebens".

*) Zahlreiche Psychiater - darunter auch Österreicher - waren an führender Stelle an der "Aktion T 4" sowie den Nachfolge - Mordaktionen beteiligt.

*) Mit dem Jahr 1945 wurden zwar die Mordaktionen beendet, manche ihrer Akteure kehrten jedoch bald wieder in psychiatrische Leitungsfunktionen zurück. Auch das biologistische Paradigma wirkt - zum Teil bis heute - ungebrochen fort.

Auch in der jüngeren Vergangenheit und in der Gegenwart dienen psychiatrische Anstalten als Institutionen der "Bewahrung" - eigentlich des sozialen Ausschlusses - behinderter Menschen. Die Psychiatrie und die Psychiater haben diese Rolle durch Jahrzehnte widerstandslos übernommen und nie öffentlich problematisiert. "Auffallendes Verhalten schrieb man dem Wesen der geistigen Behinderung zu und hielt es in der Regel nicht für nötig, zu überprüfen, ob es sich möglicherweise um die Manifestation einer psychischen Erkrankung handeln könnte. Viele dieser Personen wurden missbraucht, vernachlässigt ... angefangen von der Isolierung bis hin zur Sterilisation. Ihr Leid wurde mit Hilfe der Irrlehre über ihre Lernunfähigkeit verdrängt" (FLETCHER 1993); so wird die Situation in den USA etwa 1960 beschrieben. Die organisatorischen Veränderungen der Betreuung sind bis heute bei weitem nicht abgeschlossen; immer noch leben behinderte Menschen "fehlplaziert" in psychiatrischen Anstalten; auch heute noch benützen Psychiater ihre Instrumente zur pseudowissenschaftlichen Legitimation von Zwangsmaßnahmen gegen behinderte Menschen (BERGER 1996).

Angesichts dieser Umstände muss die Funktion psychiatrischer Dienste für behinderte Menschen wohlüberlegt und klar begründet werden (FEUSER 1987). Im Zentrum müssen die Fragen nach den Bedürfnissen von (behinderten) Menschen in Lebensphasen mit psychischen Krisen bzw. psychischer Störung sowie nach den grundsätzlichen Zielsetzungen derartiger Dienste stehen.

Allgemeine Richtlinien für das medizinische / psychiatrische Handeln ergeben sich daraus, dass

  • psychiatrische Einrichtungen nicht als Lebensraum, sondern als ergänzende und unterstützende Angebote zu fungieren haben;

  • geistige Behinderung per se keine psychische Krankheit ist;

  • geistig behinderte Menschen ebenso wie alle anderen Menschen "psychisch krank" sein können und die pathogenetischen und nosologischen Konzepte, die uns heute - in all ihrer inhaltlichen Beschränktheit - zur Verfügung stehen, somit in gleicher Weise für (geistig) behinderte Menschen Gültigkeit haben;

  • für geistig behinderte Menschen das gleiche Inventar psychiatrischer Interventionsformen anzuwenden ist, wie sonst auch - Psychotherapie, Psychopharmakotherapie, soziale Therapie.

  • für die Einschätzung der psychiatrischen Symptomatik die spezifischen Lebensbedingungen als pathoplastische Faktoren in besonderem Maße in Rechnung zu stellen sind: (geistig) behinderte Menschen haben deutlich geringere Möglichkeiten, basale Aspekte der Lebensgestaltung selbst zu kontrollieren - Wechsel des Arbeitsplatzes, der Wohnumgebung, der persönlichen Umgebung (SMULL 1988); Elemente von Autonomiekrisen - bekannt aus der Jugendpsychiatrie - spielen daher häufig eine wesentliche Rolle in der Symptomgestaltung.

Die Diskussion über den Beitrag psychiatrischer Hilfen für behinderte Menschen mit sehr schweren Verhaltensauffälligkeiten kann nur von dieser Voraussetzung aus geführt werden.

2. Therapie als Teil eines sozialpsychiatrischen Konzepts

Inhaltsverzeichnis

Therapie bei schwerer Verhaltensauffälligkeit kann nicht isoliert - als Behandlungskonzept einer "Therapiestation" - diskutiert werden, sondern nur im Rahmen eines umfassenden - eben sozialpsychiatrischen - Betreuungskonzeptes.

Die Bedingungen von Isolation und mangelnder Selbstbestimmung ("Autonomie"), die in der Lebenswelt (geistig) behinderter Menschen bestimmend sind, führen beim Auftreten von psychischen Störungen häufig zu charakteristischen Symptomkonstellationen (Aggression, Autoaggression, somatische Störungen etc.), die spezifische Bewältigungsstrategien erfordern. Beeinträchtigungen der Kommunikationsfunktionen erfordern gegebenenfalls von den Helfern die Bereitschaft und Möglichkeit zur Anwendung spezieller Kommunikationsformen. MitarbeiterInnen in der allgemeinen Psychiatrie verfügen oft über dieses Wissen nicht in ausreichendem Maße. Überdies hat die Zuschreibung "geistige Behinderung" einen Etikettierungs-Effekt mit Auswirkungen auf die Beurteilung des Verhaltens (Verringerung der Toleranz und Unterschätzung der klinischen Relevanz) (BRUININKS et al. 1988). Somit ergeben sich wesentliche Argumente für ergänzende Organisationsformen in der psychiatrischen Betreuung (geistig) behinderter Menschen:

Verzahnt in die psychiatrische Regelversorgung sind spezifische psychiatrische Dienste für (geistig) behinderte Menschen zu planen, die von den allgemeinen Richtlinien in der Betreuung behinderter Menschen auszugehen haben: Überwindung von Isolation (JANTZEN 1979), Normalisierungsprinzip (NIRJE 1974), Gemeinwesenintegration (ÖKSA 1986). Dementsprechend sind multidisziplinäre, kooperative Handlungsmodelle (BRADL 1993) mit enger Verknüpfung von Psychiatrie, Behindertenpädagogik und Sozialarbeit vorzusehen, die es möglich machen, die Bedürfnisse der Betroffenen jeweils individuell und aktuell zu analysieren und die Hilfsangebote dementsprechend mehrdimensional zu gestalten.

Mit "Verzahnung in die psychiatrische Regelversorgung" ist folgende Konzeption gemeint: Psychiatrische Betreuungsangebote für behinderte Menschen sind so zu strukturieren, dass Spitalsaufenthalte soweit wie möglich vermieden werden können, indem die erforder¬lichen Hilfen wohnortnahe als extramurale Dienste an¬geboten werden. Die Strukturen einer gemeindenahen psychiatrischen Versorgung (niedergelassene Fachärzte, sozialpsychiatrische Ambulatorien mit multidisziplinäre Teams und 24-Stunden-Bereitschaftsdienst, psychiatrische Stationen in Allgemeinkrankenhäusern) sind Träger der gesamten psychiatrischen Primärversorgung jeweils für eine Region - zuständig somit auch für die psychiatrische Betreuung (geistig) behinderter Menschen. In der zweiten Versorgungslinie gibt es Angebote spezialisierter Hilfe (multidisziplinäre Teams) für komplexe Problemkonstellationen behinderter Menschen, die auch präventive Strategien verfolgen: durch Verbesserung der Coping - Strategien ist eine Verminderung des erhöhten Erkrankungsrisikos zu erwarten. Diese Tätigkeit ist in Form eines Liaisondienstes organisiert, der psychiatrische Beratung und Begleitung der BetreuerInnenteams, (und auch Fortbildung für die MitarbeiterInnen der allgemeinpsychiatrischen und der behindertenpädagogischen Dienste) anbietet.

2.1. Ein Beispiel:

Eine Situationsschilderung aus der Warte eines Psychiaters, der den Liaisondienst zu einer Wohngemeinschaft wahrnimmt, soll zeigen, wie diese Arbeitsform in die Praxis umgesetzt wird:

Es ist 13.30 Uhr und ich bin wie jedes Mal gespannt, wenn ich den Summer am Haustor betätige. Ich betrete den dunklen Flur eines etwas herabgekommenen Gemeindebaus aus den 60-ern. Noch einen Stock habe ich vor mir und meine Gedanken kreisen bereits um Herrn Taschl. Herr Taschl ist einer jener Klienten in dieser WG, die es immer wieder schaffen, ganze Teams zu sprengen. Wie waren die letzten Nächte, hat er wieder durchgeschrieen?, seinen Kopf gegen die Wände geschlagen ?, blutige Nasen oder Ohren ?, die Nachbarn geweckt ?, oder wieder eine Betreuerin attackiert ? Es wäre aber auch möglich, dass er diesmal nur laut brummend die Hälfte der Nacht im Wohnzimmer der kleinen 3-Zimmer-Einheit der WG verbracht hat und den Kühlschrank leer gefuttert hat. Oder ... diesen Gedanken verwerfe ich lieber gleich wieder ... es wäre auch im Bereich des Möglichen, dass vielleicht ... eventuell ... mit ein bisschen Glück ..., na wir werden ja sehen.

Das Team, das heute anwesend ist, scheint auf den ersten Blick gar nicht so genervt oder übermüdet. Gewöhnungseffekt oder Erfolg ? Vorsichtig und etwas zögernd frage ich ob etwas ganz besonders "brennt" oder ob wir die einzelnen KlientInnen der Reihe nach besprechen sollen? Kurzes Schweigen. Dann, wirres Durcheinander, Wortfetzen, schließlich Einigung, Herr Taschl als erster.

Die Teammitglieder und ich versuchen gemeinsam tragfähige Hypothesen über die Verhaltensweisen des Herrn Taschl zu entwickeln und Aspekte der Kommunikation im jeweiligen Verhalten zu erkennen. Wir suchen nach Ansatzpunkten für Schritte der Autonomieentwicklung, der Normalisierung, der Individuation und Integration.

Im Zentrum der Beratungstätigkeit stehen sozialpsychiatrische Prinzipien: Vernetzung zwischen medizinischer Versorgung und dem pädagogisch-therapeutischen Alltag Die Säulen dieser Vernetzung bestehen aus: Soziotherapie, Psychotherapie, Pädagogik, medikamentöser Therapie.

Bei Herrn Taschl erwies es sich als notwendig und sinnvoll, eine medikamentöse Therapie zur Behandlung einer affektiven Störung (biologisch-somatischer Aspekt) einzuleiten und die Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus zu beheben. Weiters konnten behindernde Faktoren aus dem Umfeld klar erkannt und benannt werden (symbiotische Elternbindung als psychodynamischer Aspekt), so dass in der Folge durch mehrere Gespräche mit den Angehörigen von Seiten der WG-Leitung und mir eine Besuchsregelung vereinbart wurde, die den Bedürfnissen des Klienten und seines Umfeldes besser entsprach.

Herrn Taschls fehlende Sprachfähigkeit wurde von den BetreuerInnen als erheblicher Hemmschuh zur Integration in die Gruppe wahrgenommen (Sozialer u. Kommunikationsaspekt) und ein speziell adaptiertes Kommunikationssystem entwickelt.

Da Herr Taschl in seiner Lebensgeschichte immer wieder die Erfahrung von Beziehungsabbrüchen machen musste, war das Angebot eines Bezugsbetreuers, der im Besonderen als "Anwalt des Klienten" fungiert und quasi eine Sprachrohrtätigkeit innehat, ein zentrales Element der Betreuungsplanung (Beziehungs-Aspekt).

Diese Hypothesenbildung wurde anschließend von den Teammitgliedern in ein Arbeitskonzept gefasst, und nach vereinbarten Zeitintervallen und Zieldefinitionen während weiterer Konsiliarbesuche immer wieder auf den aktuellen Stand gebracht.

Natürlich wurde Herr Taschl nicht von heute auf morgen ein anderer Mensch, und es kracht bisweilen immer noch ordentlich in der WG. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass sich Herr Taschl und das Team auf einem gemeinsamen Weg befinden und in einen dynamischen Prozess eingetreten sind, der Veränderungen und Entwicklungen zulässt.

Dieser sozialpsychiatrische Liaisondienst für behinderte Menschen ist eine der Säulen, die das Wiener Projekt der Deinstitutionalisierung behinderter Menschen tragen: Seit dem Jahre 1986 werden in Wien betreute Wohnplätze für behinderte Menschen forciert geschaffen, die ein Wohnen außerhalb der psychiatrischen Anstalt möglich machen sollen. Im Jahre 1996 wurde ein zweiter Abschnitt des Projekts gestartet, der speziell jener Klientengruppe gewidmet war, die eines erhöhten Betreuungsaufwandes bedurfte, da die KlientInnen mit niedrigem Kompetenzniveau am Standardprogramm der Deinstitutionalisierung nicht ausreichend beteiligt waren. Die Evaluationsstudie zu diesem Projekt stützt sich mittlerweile auf insgesamt 176 KlientInnen (29% Frauen, 71% Männer) mit einem Durchschnittsalter von 43 Jahren (19 - 75 Jahre) und einer mittleren Hospitalisierungsdauer von 24 Jahren (0,2 - 52 Jahre). Die Erfahrungen mit diesem Projekt zeigen, dass die Langzeithospitalisierung im psychiatrischen Bereich in hohem Maße auch als Folge mangelnder Betreuungskapazität und Betreuungskompetenz im extramuralen Bereich zu verstehen ist. Wenn es gelingt, die extramurale Betreuung (in den Wohn- und Arbeitsbereichen) zu verdichten und fachlich zu verbessern, kann im Fall von Krisen und schweren Verhaltensstörungen "vor Ort" kompetenter und effektiver geholfen werden. Genau diesem Ziel dient der sozialpsychiatrische Liaisondienst.

3. Das Krankenhaus als Ressource für Krisenintervention und Rehabilitation:

Das Krankenhaus - speziell die "behindertenpsychiatrische" Station - erfüllt im Rahmen eines derartigen Konzepts spezifische Teilfunktionen, von denen an dieser Stelle vor allem die Krisenintervention und die Rehabilitation dargestellt werden sollen. Vorauszuschicken ist die Darstellung der strukturellen Angebote, über die unsere Krankenstation verfügt sowie die Arbeitskonzepte, die den stationären Aufenthalt tragen.

3.1. Strukturelle Ressourcen:

Die Betreuungsaufgaben sind auf die Mitglieder eines multiprofessionellen Teams verteilt: Krankenpflegepersonal, pädagogisches Personal, PsychotherapeutInnen, PsychiaterInnen, SozialarbeiterInnen, MitarbeiterInnen der medizinisch-therapeutischen Assistenzberufe (Logopädie, Ergotherapie, Musiktherapie, Physiotherapie). Diese Aufteilung macht es möglich, den Tagesablauf mit unterschiedlichen inhaltlichen Akzenten zu versehen und auf diese Weise zu strukturieren. Darüber hinaus besteht auch die Möglichkeit, extramurale Betreuungsstrukturen (z.B. Werkstattplatz) in ein teilstationäres Arbeitsmodell einzubeziehen.

3.2. Das Arbeitskonzept:

Wir stützen uns auf ein bio-psycho-soziales Konzept des Verständnisses von menschlichem Verhalten. Dieses Grundverständnis und das Isolationskonzept (JANTZEN 1979; s. Abschn. 3.4.) dienen uns als Leitfaden für die Analyse der Störung und für die Planung der Therapie, die schrittweise erfolgt:

  1. DAS ZIEL: die ungehinderte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Dieses Ziel ist auf dem jeweils höchstmöglichen Niveau von Selbstbestimmung (AUTONOMIE, s. BERGER 1994, 1997) und Normalität zu definieren.

  2. DIE DIAGNOSE: In einem differenzierten diagnostischen Prozess müssen die isolierenden Bedingungen auf allen Ebenen (biologische, psychische, soziale Ebene) aufgesucht und konkret beschrieben werden.

  3. DER HANDLUNGSPLAN: Die festgestellten isolierenden Bedingungen müssen in Abhängigkeit von ihrer aktuellen Relevanz in eine hierarchische Ordnung gebracht werden. Wir müssen versuchen, festzustellen, welche der isolierenden Bedingungen hier und jetzt den größten Stellenwert in der momentanen Lebenssituation hat. Diese Analyse zeigt uns den Ansatzpunkt des nächsten Handlungsschrittes, der die Möglichkeit zur Veränderung der Lebenssituation eröffnen kann.

Die oben genannten strukturellen Voraussetzungen gelangen in der Form zum Einsatz, dass eine Minimierung von Isolation und Maximierung von Autonomie angestrebt wird: die Dauer des stationären Aufenthaltes wird möglichst kurz gehalten, die Aktivitäten im und nach Möglichkeit auch außerhalb des Krankenhauses werden möglichst intensiv gestaltet. Psychopharmaka kommen so zum Einsatz, dass sie diesen Zielsetzungen dienen.

Auf der pragmatischen Ebene ist eine Entscheidung zu treffen über die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit eines stationären Aufenthaltes. Diese Entscheidung orientiert sch nicht primär an der psychopathologischen Analyse oder einer Diagnose bzw. der Beurteilung der aktuellen Verhaltensstörung. Vielmehr ist immer die Wechselwirkung von Verhaltensstörung / Symptomgestaltung und dem jeweiligen Lebensumfeld der maßgebende Faktor. Somit ergibt sich die Indikation zur stationären Behandlung aus der Beurteilung der aktuellen Tragfähigkeit bzw. Irritation der verschiedenen Lebensbereiche, die beispielsweise im DSM in 4 Bereiche gegliedert werden:

  • Beziehung zu Familienangehörigen, Gleichaltrigen etc.

  • Bewältigung von Anforderungen des Alltagslebens (ADL)

  • Bewältigung schulischer bzw. beruflicher Anforderungen

  • Freizeitaktivitäten.

3.3. Krisenintervention:

Geringere oder umschriebene Beeinträchtigungen von Lebensbereichen können im allgemeinen durch Bündelung von extramuralen Ressourcen abgefedert werden. Wenn deutliche und übergreifende Beeinträchtigungen in den meisten Bereichen auftreten, bedarf es der stationären Krisenintervention.

Der Inhalt der Krisenintervention lässt sich aus dem vorher gesagten ableiten: es geht um die Restabilisierung der KlientIn in den verschiedenen Lebensbereichen. Dazu bedarf es der Entschlüsselung der Ursachen der aktuellen Krise: Suche nach reaktiven Anteilen (Beziehungsstörungen, Belastungsreaktionen), nach psychodynamischen Komponenten, nach Störungen der inneren psychischen Struktur der KlientIn (Störungen der Ich-Funktionen, der Affektsteuerung, des Antriebs etc.). Aus dem Ergebnis dieser Analyse resultiert dann die Wahl des Therapiesettings und die Entscheidung über den Arbeitsschwerpunkt: steht die Arbeit mit der KlientIn im Zentrum oder die Arbeit mit den Personen eines der Sektoren des Umfeldes (Familie, BetreuerInnen etc.). In jedem Fall ist die Restrukturierung des Umfeldes ein wesentlicher Teil der Krisenintervention, da das Arbeitsmodell "Reparaturwerkstatt" (Patient wird zum Service gebracht) nicht unserer Auffassung entspricht. Die Dauer der Krisenintervention kann zwischen 2 und 6 Wochen schwanken.

3.4. Rehabilitation:

Nicht immer ist es möglich, auf schwere Verhaltensstörungen mit einer Krisenintervention ausreichend zu antworten. Ist dies der Fall, wählen wir das Betreuungsmodell "stationärer Rehabilitationsaufenthalt". Das unter 3.2. dargestellte Arbeitskonzept ist dann durch weitere Elemente zu ergänzen:

  • was sind Inhalt und Zielsetzung von Rehabilitation?

  • wie ist der Rehabilitationsprozess im Krankenhaus zu organisieren?

3.4.1. Inhalt und Ziele von Rehabilitation:

"To pursue rehabilitation means to structure learning and developmental processes of people who have met with somatic or psychic lesions. So it becomes possible for them to take part in an unobstructed way in social life. Rehabilitation therefore in its essence is a pedagogic setting of a task that has to make use of different methods according to the diversity of possible defects in the biotic and psychic level. It stands in need of interdisciplinary cooperation. Rehabilitation, at all times, calls for a holistic approach comprising the biotic, psychic and social level" (BERGER 1993). "Rehabilitation zu betreiben heißt, die Lebenssituation eines Menschen als veränderbar zu begreifen" (BERGER 1995).

Veränderung bezieht sich nicht ausschließlich und oft auch nicht primär auf jene Aspekte, die im medizinischen Denken traditionell im Vordergrund stehen; die Veränderungsmöglichkeiten müssen auf allen Ebenen gedacht werden: auf der Ebene biologischer Funktionen und Fertigkeiten, psychischer Kompetenzen und Eigenschaften und auf der Ebene sozialer Beziehungen.

Damit ist Rehabilitation als pädagogischer Prozess definiert, in den verschiedene Arbeitsmethoden einfließen. Die Zielrichtung dieses Prozesses muss jedoch weiter konkretisiert werden. Wolfgang JANTZEN hatte in seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff "Behinderung" bereits Ende der 70-er Jahre den entscheidenden Schritt getan und sein "ISOLATIONSKONZEPT" entwickelt: "Erfolgen Aneignungsprozesse über lange Zeit nicht, wächst das Individuum unter Bedingungen der Isolation vom gesellschaftlichen Erbe auf" (JANTZEN 1978, S 39). Isolation hatte er gefasst als "allgemeine Kategorie des gestörten Stoffwechsels des Menschen mit der Natur" und in seiner Definition ausgeführt, dass sie sich "auf organische wie psychische wie soziale Fakten" bezieht (JANTZEN 1979, S 36). Im Weiteren konkretisierte er die Unterscheidung der Isolation als Verhältnis des gestörten Informationsaustausches von den isolierenden Bedingungen, die auf den verschiedenen Ebenen der Funktionen des Zentralnervensystems (Informationsverarbeitung, Tätigkeit, Emotionen), der peripheren Anteile des Organismus und in den (gegenständlichen und interpersonalen) Beziehungen zur Umwelt zu suchen sind (JANTZEN 1979, S 43-48). Dieses Konzept, das FEUSER einmal als die kopernikanische Wende in der Behindertenpädagogik bezeichnet hatte, bietet die entscheidende Grundlage, dem Prozess der Rehabilitation seine Richtung zu geben.

3.4.2. Ein Beispiel:

Özkan, derzeit (September 2001) 17 Jahre alt, lebt seit ca. ½ Jahr in einer betreuten Wohngemeinschaft und war davor insgesamt 5 Jahre in ambulanter und stationärer Behandlung unserer Abteilung. Er wurde 1984 in Wien geboren, seine Familie stammt aus Südosteuropa. Özkan war in früher Kindheit mehrmals wegen einer fehlenden Sprachentwicklung, Handlungsstereotypien, Antriebssteigerung und autoaggressiven Verhaltens in mehreren Spitälern zur diagnostischen Abklärung (Diagnose: atypisches autistisches Syndrom). Mit 12 Jahren wurde er in seiner Heimat einer rituellen Beschneidung ohne Narkose unterzogen. Ab diesem Zeitpunkt häuften sich die Verhaltensauffälligkeiten und schwere Selbst- und Fremdaggressionsakte machten den Verbleib in der Familie unmöglich. Zum Zeitpunkt der Aufnahme war Özkans Verhalten geprägt von hochgradiger Unruhe und Selbstverletzungen, die bis zum selbst zugefügten Oberarmbruch reichten. Im weiteren Verlauf waren massive Fremdaggressionen an der Tagesordnung, vor allem geprägt durch Schlagen und Beißen, wodurch auch Mitarbeiterinnen erheblich verletzt wurden. Medikamentöse Sedierungsversuche brachten nur geringe Erfolge. Es war also notwendig, einen längerfristigen Rehabilitationsplan zu erstellen. Es wurde bald klar, dass eine Rückkehr in die Familie nicht realistisch war - als neuer Lebensplan wurde die Integration in eine betreute Wohngemeinschaft und (nach Schulabschluss) der Besuch einer Beschäftigungstherapiewerkstatt formuliert.

Als zentrale Themenbereiche der Rehabilitation wurden definiert:

  1. Orientierung in Zeit und Raum: Özkan reagierte auf Änderungen der Situation mit Angst und Aggression. Antwort: Klare und stabile Struktur des Tagesablaufs mit expliziter Vermittlung von Orientierungsgrundlagen an den Übergängen.

  2. Kommunikation / Informationsaustausch: Özkan verfügt über keine expressive Sprache; seine rezeptive Kompetenz liegt in einem Sprachraum, der uns nicht verfügbar ist (Fremdsprache). Antwort: Aufbau eines an Bildkarten, Zeichnungen und Symbolen orientierten Kommunikationssystems, dessen Einsatz verbal begleitet wurde. Dieses System ermöglicht Özkan in wachsendem Maße Expression und Rezeption von Informationen.

  3. Beziehungsstabilität: Vertrauensverlust gegenüber der Familie (Beschneidungsakt), Irritation durch unverständliche und undurchschaubare Anforderungen. Antwort: Einführung einer "Brückenperson" - eine Bezugsperson vermittelt neue Kontakte zu anderen Personen. Ebenso begleitet sie ihn an neue und fremde Orte. Diese Brückenperson erfüllte mit der Zeit mehrere Aufgaben: Hilfs-ICH, Übersetzer, Sprachrohr, Projektionsfläche und Spiegel in den Interaktionen, Freund und Kumpel, Grenzenzieher, Begleiter und Katalysator in den jeweiligen Entwicklungsphasen.

  4. Vermeidung bzw. Abbau von Stereotypien: Özkan setzte stereotype Schaukelbewegungen vorwiegend zum Spannungsabbau ein. Antwort: Rückzugszeiten im Tagesplan, die in der Hängematte bzw. mit Spaziergängen verbracht werden konnten.

Durchgängige und themenübergreifende Strategien:

  • Aufbau von Befriedigungsaufschub: behutsame und klare Grenzziehung und Erklärungen (Bildkommunikation mit verbaler Begleitung) über gegenwärtige und künftige Handlungs- und Aktivitätsmöglichkeiten

  • Familienarbeit: Özkan geriet anfangs bei Begegnung mit Familienmitgliedern immer in immense Spannungen mit selbst- u. fremdaggressiven Handlungen. Die Kontakte mit der Familie mussten daher vorerst unterbrochen werden, um anschließend erneut über Vermittlung der Brückenperson neu aufgebaut zu werden. Diese Kontakte wurden zuerst außerhalb der Station aufgebaut, um Özkan auch eine räumliche Trennung der beiden Lebenssphären zu ermöglichen. Zusätzlich begann eine therapeutische Begleitung der Familie zur Unterstützung von Özkans Ablösungstendenzen.

Diese zentralen Elemente des Rehabilitationsplanes sowie die einzelnen Therapieschritte wurden in 14-tägigen Teambesprechungen reflektiert.

Nachdem im stationären Bereich Sicherheiten geschaffen waren und das Kommunikationssystem etabliert war, konnten die nach außen orientierten Maßnahmen intensiviert werden. Ziel war die Eingliederung in eine Werkstätte der Behindertenhilfe. Den Zeitpunkt dieses Schrittes gab Özkan selbst vor, in dem er begann, die Station zu verlassen und seine nähere Umgebung zu erkunden.

Dieser Abschnitt wurde in folgende Teilschritte gegliedert:

  • Interne Aufbauphase der Kontakte zu MitarbeiterInnen eines externen Werkstättenteams. Dazu war eine Einbeziehung der externen Betreuungspersonen ins Stationsteam notwendig. Zur gleichen Zeit begannen die Organisationsarbeiten zur Erlangung einer Wohnmöglichkeit der Behindertenhilfe, ohne jedoch Özkan noch mit einzubeziehen.

  • Externe Kontaktaufnahme und interne Ablösephase: Inhaltliche Schwerpunkte bestanden aus der Erweiterung des Außenaktivitätsrahmens - Erkundung des Weges zur Werkstätte in Begleitung der Brückenperson, später auch erste Kontakte mit den Mitarbeitern der Werkstätte. Einen wichtigen Teil der Arbeit stellte in dieser Phase die Vermittlung des Betreuungskonzeptes an das Werkstättenteam dar.

  • Eingewöhnungsphase in den neuen Arbeitsbereich: Eine vom Werkstättenteam definierte Brückenperson übernahm analog die Aufgaben der früheren Bezugsperson an der Station, wobei für eine gewisse Zeit beide Bezugspersonen erhalten blieben. Der Weg in die Werkstätte wurde zuerst von der internen Brückenperson, anschließend von der externen Brückenperson begleitet und zuletzt nur noch vom Fahrer des Fahrtendienstes durchgeführt.

  • Begleitung der Stabilisierungsphase: Aufrechterhaltung der Strukturgebung und Bezugsperson im extramuralen Bereich, gleichzeitig Verringerung der intramuralen Angebote.

In gleicher Weise wurde später auch die Einbegleitung in eine Wohngemeinschaft durchgeführt. Die Gesamtdauer der stationären Rehabilitation (einschließlich der anfänglichen Krisenintervention) betrug drei Jahre. Von dieser Periode lag 1 Jahr außerhalb des Therapiekonzepts und war organisatorischen Verzögerungen bei der Erstellung des Wohnplatzes geschuldet.

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Korrespondenzadresse:

Ernst Berger, Univ. Prof. Dr.

Neuropsychiatrische Abteilung f. Kinder u. Jugendliche / Neurologisches Krankenhaus Rosenhügel

Riedelgasse 5

A-1130 Wien

e-mail: ernst.berger@univie.ac.at

Quelle:

Ernst Berger, Christian Müller: GEISTIG BEHINDERT UND PSYCHISCH KRANK. Therapeutische Hilfe der Psychiatrie für behinderte Menschen

erschienen in: Geistige Behinderung 41, 27-36, 2002

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 26.09.2007

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