Vorwort - Ich möchte arbeiten!

Autor:in - Josef Fragner
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 4/5/1998 ; Thema: Ich will arbeiten! Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (4/5/1998)
Copyright: © Josef Fragner 1998

Inhaltsverzeichnis

Vorwort - Ich möchte arbeiten!

"Wer braucht mich?" ist eine Frage, die der moderne Kapitalismus völlig zu negieren scheint. Das System strahlt Gleichgültigkeit aus. Es tut dies bei den Ergebnissen menschlichen Strebens ebenso wie auf den Märkten des Alles oder Nichts, wo es kaum noch eine Verbindung zwischen Risiko und Belohnung gibt. Der Gewinner bekommt alles. Menschen werden behandelt, als wären sie problemlos ersetzbar oder überflüssig. Solche Praktiken vermindern für alle sichtbar und brutal das Gefühl persönlicher Bedeutung, das Gefühl, für andere notwendig zu sein. Man könnte einwenden, daß der Kapitalismus immer so war. Aber nicht in dieser Weise. Die Gleichgültigkeit des alten klassengebundenen Kapitalismus war grob und materiell; die Indifferenz, die der flexible Kapitalismus ausstrahlt, ist persönlicher, weil das System selbst weniger definiert ist, in seiner Form weniger lesbar.

Dies alles bei denen, die keine Schwierigkeiten, keine Behinderungen haben. Erscheint da nicht die Forderung nach Gebrauchtwerden bei behinderten Menschen überzogen? "Er fühlt sich akzeptiert und gleichwertig, trifft auch häufig Kollegen in der Freizeit" (vgl. Artikel Schabmann/Klipcera) - dies ist schon Begründung genug für die Forderung nach beruflicher Integration.

Pierre Bourdieu zeigt in seinem Buch "Gegenfeuer" (1998), daß die neoliberale Invasion deshalb die einzelnen Gemeinschaften noch nicht in einsame, aber verlorene Individuen auseinandersprengt, weil sie auf eine praktische Gegenkraft trifft, auf einen bestimmten Habitus, der jenen Akteuren und deren Institutionen eigen ist, die in allen möglichen sozialen Berufen arbeiten und die verhindem, daß die ganzen gesellschaftlichen, familiären und anderen Solidaritäten zerbrechen und die Gesellschaft in Chaos versinkt

Wer sich auf diesen praktischen Widerstand gegen den ausartenden Kapitalismus einläßt, muß einerseits mit der symbolischen Abwertung seiner eigenen Arbeit rechnen und braucht auch einen Handlungsspielraum, den die Politik zurückgewinnen muß, um den zerstörerischen Wirkungen der Geldmächte entgegenzusteuern.

Viele praktische "Gegenkräfte" sind in diesem Heft beschrieben. Wesentliche politische Schritte sind in nächster Zeit zu setzen. Da ist die Erfüllung der Einstellungsquote im öffentlichen Sektor nur ein Detail. Es gilt, neue visionäre Modelle zu entwickeln: Etwa eine finanzielle Grundsicherung, gespeist von der Ausgleichstaxe bis zur intelligenten Novellierung des Behinderteneinstellungsgesetzes.

Josef Fragner

Chefredakteur

Quelle:

Josef Fragner: Vorwort - Ich möchte arbeiten!

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 4/5/1998; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 08.02.2005

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