Achtung, Anerkennung und Gerechtigkeit

Autor:in - Josef Fragner
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 4/5/2002; Thema: Achtung und Anerkennung Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (4/5/2002)
Copyright: © Josef Fragner 2002

Achtung, Anerkennung und Gerechtigkeit

Der vorliegende Beitrag versteht sich als Skizze. Er ist im Wesentlichen beeinflusst von den Veröffentlichungen von Dederich (2000, 2001), Schnell (2001) und Rösner (2002). Er soll aber die Lektüre dieser anspruchsvollen Bücher nicht ersetzen, sondern im Gegenteil dazu anregen.

Hat es nicht einen bitteren Beigeschmack, wenn wir uns Gedanken machen über Moral, Ethik, Verantwortung und Anerkennung? Sollten wir uns nicht lieber über die Ökonomisierung des Sozialen, über die zunehmenden ökonomischen Zwänge, die die Arbeit im sozialen Feld kontinuierlich verschlechtern, über die "unersättliche Gier" des Finanzkapitalismus Sorgen machen? Stellt der global wirkende Kapitalismus nicht wieder die Frage an erste Stelle, wie Kapitalismus und Demokratie, wie also Wirtschaftseffizienz und soziale Sicherung zu vereinen sind? Die "Aufkündigung des sozialstaatlichen Kompromisses" (Habermas) in den Nationalstaaten macht immer deutlicher, dass immer mehr Menschen nicht mehr gebraucht, also "überflüssig" werden.

Die Forderung nach solidarischer Anerkennung kann zur Beschwörungsformel verkommen, um ungenierter den Sozialstaat zum Auslaufmodell erklären zu können (vgl. Zur Ökonomisierung der Sozialpolitik Bourdieu, 1998). Oder müssen wir durch die gesellschaftliche wie auch institutionelle Schwächung von sozialen Bindekräften, die auch im Bereich der Erziehung, Beratung, Pflege zu einer Aushöhlung von "Kernfähigkeiten des Sozialen" (Gamm 2000) führen, wieder verstärkt über moralische Aspekte diskutieren? Es sind nämlich nicht immer ökonomische Interessen und Verteilungsungerechtigkeiten, die Anerkennung und Wertschätzung von Menschen mit Behinderung verhindern. Macht deshalb die Idee einer sozialen oder kulturellen Achtung und Wertschätzung des Anderen einen erweiterten Begriff von Gerechtigkeit notwendig? Bei der Suche nach diesem erweiterten Begriff geht es Rösner (2002, 17) darum, "das unhintergehbare Anderssein sowohl des Selbst als auch des Anderen zum zentralen Bestimmungsgrund moralischen Denkens zu erklären. Von diesem moralischen Gesichtspunkt aus zeichnet sich eine neue Verantwortung und Achtung im Denken des Anderen ab, indem der andere Mensch nicht einer jeweiligen Idee vom wahren Menschen unterworfen wird, sondern als Nächster immer auch unvordenklicher Anderer bleibt". Er versucht das anthropologische Paradigma der Behinderung durch ein ethisches zu ersetzen, das jedoch nicht auf symmetrischer Anerkennung aufbaut, sondern "jenseits normalisierender Anerkennung" angesiedelt ist. Hier erwächst aus der Nähe zum Anderen - wie E. Levinás immer wieder ausführt - eine vor aller Selbstsorge liegende einseitige und unabweisbare Verantwortung für dessen Wohl.

Intersubjektive Anerkennung

(Honneth, Tugenhat, Seel)

Die Abhandlungen von Axel Honneth (1994), Ernst Tugendhat (1993) und Martin Seel (1995) stellen den Umgang mit dem Anderen und die Geltung des Lebensschutzes auf eine intersubjektivitätstheoretische Basis. Der normative Gehalt von Moral muss sich anhand bestimmter Formen reziproker Anerkennungsverhältnisse begründen lassen. Damit wird Moral zum Inbegriff für Einstellungen und Verhaltensweisen, mit denen sich Menschen gegenseitig die Bedingungen ihres guten Lebens sichern. Anerkennungsverhältnisse sind nach Markus Dederich der Ermöglichungsrahmen individuell gelingenden Lebens.

Nach Axel Honneth (1994) sind menschliche Wesen auf die intersubjektive Anerkennung ihrer Fähigkeiten und Leistungen angewiesen, um zu einer geglückten Selbstbeziehung gelangen zu können.

Er arbeitet drei unterschiedliche, jedoch miteinander verknüpfte Formen intersubjektiver Anerkennung heraus:

  • die emotionale Zuwendung,

  • die rechtliche Anerkennung,

  • die solidarische Zuwendung und gemeinsame Orientierung an Werten.

Die drei Formen der Anerkennung verweisen auf

  • Intersubjektivität in vis-a-vis Beziehungen, das ist der eigentliche Ort einer Moral der Fürsorge, die sich kontextsensibel ausgestaltet und weniger an abstrakten universalistischen Prinzipien orientiert ist,

  • die Sphäre des Rechts (und damit der Politik), die die Anerkennung als Person und als Rechtssubjekt gewährleistet und auf diesem Weg Grundlagen für eine gerechte politische und soziale Ausgestaltung des Gemeinwesens liefert,

  • solidarische Lebenskontexte der Achtung und Wertschätzung individuellen So-Seins und des jeweiligen Beitrags zu einem Gemeinwesen, das Werte teilt, also einen gemeinsamen Wertehorizont hat (vgl. Dederich 2001, 209f).

Mit ihnen korrespondieren drei positive Einschätzungen der menschlichen Subjekte zu sich selbst: Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstschätzung. Sie sollen zusammengenommen die sozialen Bedingungen für eine anzustrebende gerechte Gesellschaft sein.

Auf der anderen Seite unterscheidet Honneth drei Formen der Missachtung: Vergewaltigung, bei der dem Individuum die Sicherheit des eigenen Wohlergehens geraubt wird; Entwertung, hier wird das Individuum in seiner Integrität - als zurechnungsfähiges und vertragsfähiges Wesen - missachtet; und Entwürdigung, hier wird dem Individuum durch Demütigung und Respektlosigkeit veranschaulicht, dass seinen Fähigkeiten kein Wert beigemessen wird.

Es wird zwar zunehmend rechtliche Anerkennung gewährt, doch Menschen bedürfen darüber hinaus auch Anerkennung in Form sozialer Wertschätzung, die eine Person wissen lässt, dass die in ihr verkörperten Eigenschaften und Fähigkeiten von den Übrigen als wertvoll anerkannt werden. Dann entsteht Selbstachtung und ein Selbstwertgefühl. Damit stößt Honneth dort an die Grenze, inwieweit Solidarität auch jenen Menschen zuteil werden kann, die nicht über kulturell anerkannte Eigenschaften und Fähigkeiten verfügen. Auch der "Kampf um Anerkennung" führt nicht zu einer Verantwortung ohne Sorge um Gerechtigkeit.

Auch Ernst Tugenhat (1993) siedelt die Reichweite moralischer Verpflichtung in einem wechselseitigen und symmetrischen Verhältnis überlegungs- und kooperationsfähiger Personen an, die gemeinsam Regeln des Zusammenlebens festlegen. Für Tugenhat können es nur das Wollen und die Interessen aller Mitglieder der moralischen Gemeinschaft sein, die den Maßstab für das gute Leben abgeben sollen. Er meint aber mit allen Mitgliedern nur solche, die auch moralische Pflichten übernehmen und ihre moralischen Ansprüche in Form von Wille und Interesse artikulieren können.

Martin Seel (1995) wendet dagegen ein, dass jede Person in ihrer Existenz und in ihrem Wohlergehen auf ein zuwendendes Verhalten anderer angewiesen ist und damit den Status eines moralischen Gegenübers einnimmt. Damit erweitert er die Anerkennung auch auf jene Menschen, die auch ohne Pflichten die gleiche Wertschätzung genießen sollen wie alle anderen Menschen. Seine Argumente für diese asymmetrische moralische Berücksichtigung leitet er von dem Begriff der Angewiesenheit ab. Und solange Menschen nach Seel in irgendeiner Weise subjektiv wahrnehmungsfähig sind, haben sie nicht nur ein Recht auf Leben, sondern auf eine uneingeschränkte Wahrung dieses Rechts ihnen gegenüber.

In den "Grenzbereichen" zwischen Leben und Tod werden diese Aussagen aber dann relativiert.

Der-Eine-für-den-Anderen

(Emmanuel Levinás)

Die Ethik von Levinás erklärt die Art und Reichweite der Rücksichtnahme gegenüber dem konkreten Anderen als asymmetrische Verpflichtung. "Auch im Angesicht eines noch oder wieder oder immer sprachlosen menschlichen Gegenübers werde ich aufgerufen zur Verantwortung. Ohne einen definitiven und bedeutsamen Akt der Abwendung bzw. der Indifferenz ist es mir nicht möglich, ihn gleichgültig wie ein Ding zu behandeln" (Rösner 2002, 134).

Aus der Nähe zum Anderen erwächst nach Levinás eine vor aller Erfahrung liegende einseitige und unabweisbare Verantwortung für dessen Wohl. Diese ethische Beziehung liegt jenseits universalisierbarer Geltungsansprüche. Aus der asymmetrischen Begegnung mit dem Anderen erwächst die Einzigheit des Subjekts und die Radikalität seiner Verantwortung. Sobald ich mich dem Anderen im Zuge einer objektivierenden Erkenntnis zuwende, verfehle ich ihn. Der Andere geht nicht auf in ein Wissen, er ist der unendliche Andere, der sich jeder Vermittlung in eine Totalität entzieht. Die Unmittelbarkeit des Antlitz spaltet das Subjekt als herrscherliches Ich. Dieser Bruch mit der Totalität der Selbstheit offenbart eine soziale Dimension und schafft die Voraussetzung für eine ethische Praxis. Der Begriff des Antlitz bezieht sich nicht auf ein bereits Erkennbares oder Beobachtbares in der sichtbaren Erscheinung des Anderen, sondern legt eine Tiefenstruktur der Subjektivität frei, die auf der Ebene der empirischen Einstellung verborgen bleibt. Subjektivität ist "der-Eine-für-den-Anderen" und geht auf eine nicht auf den Begriff zu bringende Sensibilität und Verwundbarkeit der Sinne zurück (vgl. Rösner 2002, 190).

Levinás versucht die ethische Kraft des Subjekts nicht als Tätigkeit eines schon gegebenen Bewusstseins zu denken, sondern als Verantwortlichkeit, die nicht im Bewusstsein des Menschen liegt, sondern in seiner leibhaft-sinnlichen Verfassung. "Die Empfindlichkeit der Sinne, die diesseits der Intentionalität liegt, macht ein Verhältnis möglich, das sich nur jenseits der Intentionalität ereignen kann: Das Verhältnis zum Anderen als ethisches Verhältnis" (ebd. 195).

Postmoderne Ethik

(Z. Baumann)

F. Lyotard gelangt zu der These, das Unbehagen, an dem die heutigen Gesellschaften leiden, das Elend der Postmoderne ist die Ausschließung des Anderen. Eine Postmoderne, die nur eine Vielfalt von Möglichkeiten verteidigt, stößt nie auf ein Anderes, von dessen Ausschluss sie doch lebt. Diesen Ausschluss nicht auf sich beruhen zu lassen, ist das Anliegen von Z. Baumann (1995). Ihm geht es darum, den Anderen in den inneren Kreis des moralischen Selbst zurückzuholen.

Zygmunt Baumann (1992, 1995) weist in eindrücklicher Weise nach, dass der Übergang von persönlicher Verantwortung in technisch-formale Verantwortung die Greuel der Moderne ermöglichte. Der traditionelle Zivilisationsbegriff wird getragen von einer großen Koalition wissenschaftlich-intellektueller Lehrmeinungen, zu der die liberalkonservative Vorstellung vom glorreichen Ringen zwischen Vernunft und Aberglauben zählt; Max Webers Konzept von der Zweckrationalität, die immer mehr mit immer weniger Aufwand erreicht, das psychoanalytische Versprechen, das Animalische im Menschen zu entlarven, zu packen und zu bändigen; die Marxsche Prophezeiung, Leben und Geschichte würden schließlich, seien die Beschränkungen der Produktivkräfte nur erst abgeworfen, vom Menschen beherrscht; die Zivilisationstheorie von Norbert Elias, die eine Verdrängung der Gewalt aus dem Alltagsleben annimmt; und nicht zuletzt die zahllosen Fachleute, die versichern, soziale Probleme könnten durch vernünftige Politik behoben werden. Im Kern stützt sich diese Allianz auf eine Vorstellung vom "Gartenstaat", die die regierte Gesellschaft als Feld der Planung, Veredelung und Unkrautvernichtung begreift.

In seinem Buch "Postmoderne Ethik" (1995) versucht Zygmunt Baumann aufzuzeigen, dass der Zusammenbruch bestimmter moderner Hoffnungen und Ambitionen es uns erlaubt, die wahre Natur moralischer Gegebenheiten deutlicher zu sehen als je zuvor. Der "ursprüngliche" Status der Moral sieht uns in einer Situation der moralischen Wahl. Wir sind sozusagen unentrinnbar-existenziell-moralische Wesen: Wir sehen uns der Herausforderung des Anderen gegenüber, im Speziellen die Herausforderung der Verantwortung für den Anderen oder der Situation des Fürseins.

Nach Baumann wohnt Ambivalenz im Kern der "Primärszene" des Menschlichen von Angesicht zu Angesicht. Diese Annahme setzt wiederum voraus, dass überhaupt die Verantwortlichkeit - für den Anderen zu sein, noch bevor man mit ihm sein kann - die "erste Wirklichkeit des Selbst ist". An diese Wirklichkeit reiche die Moderne erst gar nicht heran, denn ihr formaler und universeller ethischer Kode in Theorie, Politik und Recht reduziert Andersheit auf einen Einzelfall, einen Kode oder auf eine Vorstufe wahrer Identität. Die von Baumann untersuchte Dialektik der Ordnung und Ambivalenz der Moderne wird durch eine Theorie der Postmoderne ergänzt, die Ambivalenzen als unaufhebbar betrachtet.

In den sogenannten postmodernen Zeiten wird das ethische Monopol des Staates nicht mehr ausgeübt (noch nicht mal mehr von ihm gewünscht) und das Angebot an ethischen Regeln im Großen und Ganzen privatisiert und den Kräften des Marktes überlassen und somit kehrt die Notwendigkeit der Wahl zurück.

Die neue Ethik sorgt sich um "den Anderen", weil sie jedoch jede Beziehung zu einem Gesetz verweigert, kann sie gnädig sein und gleicher Maßen gnadenlos. In beiden Fällen zeigt die neue Ethik, da sie auf Prinzipien verzichtet, "die besten Absichten".

Dennoch ist es möglich zu zeigen, was es bedeutet, wenn moralische Verantwortung repersonalisiert wird. Moral ist ein Faktum, ein nicht rationalisierbarer und letztbegründbarer "Grund". Moralische Verantwortung widersetzt sich ethischer Kodierung, sie fügt sich keinem Kalkül (Zweck, Reziprozität, Vertrag). Normen und Verhaltenserwartungen sind ein übergreifendes Allgemeines, welches wechselseitige Verhaltenskontrollen unter den einzelnen Akteuren ermöglicht. Von dieser Reziprozität unterscheidet Baumann die asymmetrische Beziehung einer "moralischen Partei". In ihr bin ich, vom Anderen angerufen, unersetzbar. Ich verfüge nicht darüber, wie der Andere von sich aus zu mir steht. Ich begegne dem Anderen. "Moral ist Begegnung mit dem Anderen als Antlitz". Von der Symmetrie des gesellschaftlichen Miteinander unterscheidet sich die Asymmetrie der moralischen Partei. Aber da das geregelte Miteinander nicht durch die moralische Partei ersetzt werden kann, muss gezeigt werden, wie ersteres aus der Sicht dieser Partei möglich ist. Damit ist Baumann bei Levinàs' Problem der Verhältnisbestimmung von Nähe und Gerechtigkeit angelangt. Schnell (2001) schlägt vor, Baumanns Überlegungen so zu interpretieren, dass die moralische Partei ein "Diesseits" ist, welches einer liberal oder kommunitaristisch strukturierten Gesellschaft bereits vorausgegangen ist. Im Lichte dieser These müssen Akteure als moralische und als soziale Personen betrachtet werden. "Als moralische Person bin ich allein" hinsichtlich der Last der Verantwortung für den anderen, "obwohl ich als soziale Person immer mit anderen bin" und unser Miteinander "durch kodifizierbare Normen" geregelt wird. Das Mitsein ist bereits aus der moralischen Partei erwachsen als etwas, das einer Ordnung des Dritten, in der "Recht und Gesetz herrschen", untersteht. In der sozialen Gruppe sind Akteure miteinander vergleichbar, ihre Handlungen werden an allgemein und reziprok geltenden Regeln bemessen. Hier ist der Einsatzort der Diskursethik:

Verantwortung und Schutz der Integrität

Markus Dederich (2001, 171 ff.) geht von der These aus, dass humane Qualität von zwei Säulen getragen wird, die miteinander verbunden sind. Auf der einen Seite realisiert sie sich durch Verantwortung, auf der anderen durch die Bewahrung und Förderung von Integrität. Ein zentrales Bindeglied zwischen diesen Säulen ist die Achtung. Die Philosophie von Emmanuel Levinás denkt die Beziehung zwischen Menschen von ihrer Wurzel her prinzipiell asymmetrisch. Der Andere ist als Anderer zur respektieren, und der Bezug realisiert sich nicht durch Angleichung, sondern durch Nähe, die die Andersheit und die in ihr angelegte Asymmetrie nicht aufhebt. Verantwortung wird um des Anderen willen übernommen, auch dort, wo der Andere keine Rechte einklagt oder Forderungen stellt. Sie ist daraufhin angelegt, das Sein des Anderen zu schützen, seine Integrität zu wahren und zu fördern. Auch wenn die Pädagogik über Verantwortung legitimiert wird, stellt sich die Aufgabe, das Verhältnis von Eingriffen, Geboten, Forderungen und Ansprüchen von Seiten des Erziehenden und der fundamentalen Forderung nach Wahrung und Förderung der Integrität genau zu ermitteln und zu bestimmen. Erziehung bewegt sich dem zufolge in einem Spannungsfeld, das nicht auflösbar ist: zwischen den Polen der Achtung vor dem Anderen und seiner Einzigartigkeit und dem Pol der vielfältigen Anforderungen und Erwartungen, die von sozialer und gesellschaftlicher Seite an den Einzelnen herangetragen werden.

Der Begriff Verantwortung liefert keine Anhaltspunkte dafür, was es konkret bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Wenn wir von der Verantwortung für den Anderen sprechen, stellt sich die Frage: Wer ist dieser Andere? Verantwortung impliziert einen Fürsorglichkeitsanspruch, auch wenn sie sich nicht darauf reduzieren lässt.

Fürsorglichkeit ist an Nähe gebunden. Wir müssen des Anderen in seiner existentiellen und emotionalen Situation gewahr werden, um angemessen antworten und handeln zu können. Wenn Verantwortung responsiv ist, dann muss die moralische Beurteilung einer Handlung berücksichtigen, ob und inwieweit diese Handlung dem Anderen, von dem der Anruf ausgeht, tatsächlich gerecht wird. Dabei muss allerdings auch geklärt werden, ob die Ansprüche des Anderen überhaupt gerechtfertigt sind. Ein entscheidendes Kriterium hierfür ist die Verletzbarkeit des anderen Menschen, und zwar die Verletzung seiner Integrität.

Honneth zufolge impliziert der Begriff der Integrität mehrere Ebenen:

  • Die Ebene leiblicher Integrität.

  • Die Ebene, die das normative Selbstverständnis der Person und den Besitz von Rechten betrifft. Verletzt wird diese Ebene vor allem durch soziale Ausgrenzung und Entrechtung, in deren Folge die Person eine elementare Selbstachtung verlieren kann.

  • Die Ebene, die die individuelle und kollektive Lebensweise von Individuen und Gruppen betrifft. Verletzt wird diese Ebene durch die Verweigerung der Anerkennung von spezifischen Formen der Selbstbestimmung durch den Entzug von Solidarität.

Die Bewahrung von Integrität kann als Schutzvorrichtung verstanden werden, die Voraussetzung dafür ist, Menschen eine positive Selbstbeziehung, Selbstverwirklichung und ein selbstbestimmtes, sinnerfülltes Leben innerhalb positiv erlebter, förderlicher Sozialstrukturen zu ermöglichen.

Dederich (2001) zeigt, dass eine Leitlinie für moralisches Handeln bestimmte Grundbedürfnisse des anderen sind, nämlich solche, die dem Schutz und der Entwicklung seiner Integrität dienen und die auf seine Anerkennung als Mensch und Mitmensch hinauslaufen. Wenn man die Behindertenarbeit in ihrer Einbettung in übergreifende gesellschaftliche Kontexte betrachtet, wird deutlich, dass eine Ethik der Verantwortung für den Anderen alleine nicht reicht. Gerade der derzeit maßgebliche ökonomische Aspekt der Qualitätsdiskussion verweist auf die Notwendigkeit einer auch politisch motivierten Gerechtigkeitsethik, die gesellschaftlichen Tendenzen zur Selektion und Ausgrenzung entschieden Grenzen setzt, denn auch systembedingte Ungerechtigkeit kann personale Integrität verletzen. Moralisch verantwortliches Handeln ist folglich nicht auf die zwischenmenschliche Ebene zu beschränken, auch wenn es hier seinen Ursprung hat. Verantwortliches Handeln muss konkrete Handlungskontexte und in ihnen enthaltene Bedingungen berücksichtigen. Der Verantwortungsbegriff umfasst auch die Forderung nach rechtlichen Formen zur Wahrung der Integrität des Individuums und diejenigen nach Gerechtigkeit. Allerdings ist auch eine universalistische Gerechtigkeitsethik kein Garant für moralisch richtiges Handeln.

Taylor setzt in seiner Studie "Quellen des Selbst" (1993) dem Menschenbild des Liberalismus, also dem atomisierten, primär autonom gedachten Subjekt eine Konzeption entgegen, in der das Subjekt als radikal situiert gedacht wird. Die Genese der Person und ihre Identität wird hier in ihren komplexen sozialen Bezügen, in ihrer Geschichtlichkeit und in ihrer Einbettung in eine kulturelle Lebensform gesehen.

Nach Charles Taylor ist jede Moral durch ihr Personenkonzept auf ein Gut bezogen. In der Moderne sind Respekt, Achtung und Würde hochrangige Güter, deren Qualitäten auch denen zustehen, die aus kontextuell begrenzten Gemeinsamkeiten herausfallen bzw. keinen Zugang zu ihnen haben oder finden. Derartige Güter sind Moralquellen, die die Akteure für moralische Beanspruchungen und ethische Herausforderungen empfindlich machen. Taylor bezieht sich auf Ricoeur, wenn er betont, dass wir unser Leben als "narrative Darstellung" begreifen müssen, und zwar im Hinblick auf die Suche nach unserem "Standort im Verhältnis zum Guten". Für Ricoeur liegt in der Problematik der Narrativität die Frage nach der Identität und Selbstheit des Selbst. Eine narrative und zugleich ethische Identität ist konzeptuell nur im Durchgang durch Andersheit zu gewinnen. Zur authentischen Selbstheit gehört .... ein "Moment der Selbstenteignung", die mich "für andere verfügbar" macht. Damit ist nicht nur gesagt, dass meine Lebensgeschichte "zur Geschichte der anderen" gehört, sondern auch, dass das Selbst unausweichlich von Andersheit durchzogen und affiziert wird, was sich letztlich auf sämtliche Dimensionen der ausdifferenzierten Gerechtigkeitsfrage auswirkt.

Zugänge zur Gerechtigkeit

Der moraltheoretische Diskurs der Moderne, in dem es nur um die Problematik und die Begründung einer gerechten Gesellschaft geht, verwendet im Wesentlichen drei Modelle:

  • die Kantsche deontologische Moraltheorie, die gutes und richtiges Handeln aus einer Pflicht zur Achtung des moralischen Gesetzes begründet,

  • der konsequentialistische Utilitarismus, der das Gute und Richtige von den positiven und negativen Folgen des Handelns her zu bestimmen sucht und

  • der Kontraktualismus mit seinem Modell einer Vertragssituation, in der moralische Prinzipien aus der wohlerwogenen Übereinkunft auf der Grundlage eines eingelebten Gerechtigkeitsverständnisses genommen werden.

Bei den deontologischen Ansätzen ist Gerechtigkeit nur über einen Minimalbestand von Grundsätzen des Rechtes zu erzielen. Die Fragen des Glücks bleiben außerhalb dieser Überlegungen. Der Utilitarismus erhebt zwar diesen Anspruch, doch das menschliche Handeln besteht einzig in der Verfolgung des eigenen Nutzens, bewusster Interessen oder Präferenzen. Der Kontraktualismus hat gute Gründe, sich unparteiisch nur um die Anerkennung der Menschen als Personen mit gleichen Rechtsansprüchen zu kümmern. Doch die rechtliche Achtung als allgemeiner Anderer hat nicht notwendigerweise die Wertschätzung als konkreten Anderen zur Folge. Mit dem Begriff "Mensch" und seiner "Würde" denken seine Vertreter zuallererst an das unversehrte, sprach- und handlungsfähige Subjekt.

Jürgen Habermas hat einen Begriff moralisch begründeter politischer und sozialer Gerechtigkeit entwickelt. Er hat seine "Theorie des kommunikativen Handelns" zunächst in Richtung einer "Diskursethik" und beide hinsichtlich einer "Diskurstheorie, des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates" ausgebaut. Anders als die "auf die Sphäre der Lebenswelt beschränkte moralische Kommunikation" ist die Sprache des Rechts ein "Transformator" mit einer "Scharnierfunktion zwischen System und Lebenswelt". Nur in der Sprache des Rechts können normativ gehaltvolle Botschaften gesellschaftsweit zirkulieren; ohne die Übersetzung in den komplexen, für Lebenswelt und System gleichermaßen offenen Rechtscode, würden diese in den mediengesteuerten Handlungsbereichen auf taube Ohren stoßen. Das Recht hält System und Lebenswelt füreinander offen. In seiner Untersuchung erweist sich "Faktizität und Geltung" als ein dem Recht innewohnendes Spannungsverhältnis, das sich in der Rechtsgeltung, dem Rechtssystem und der politischen Herrschaft äußert. Habermas geht es darum, Solidarität und Gerechtigkeit als normative Gehalte freiheitlicher Institutionen demokratischer Rechtsstaaten heraus zu präparieren. Kernstück des normativen Demokratieverständnisses ist ein "Verfahren deliberativer Politik". Deliberative Politik beruht nicht allein auf einer handlungsfähigen Bürgerschaft oder den Institutionen des Staates, sondern auf Kommunikationsprozeduren und dem Zusammenspiel von institutionellem Beraten und öffentlicher Meinung.

Von wo aus sollen aber das Andere und damit auch das Eigene in den Blick genommen werden? Für Habermas sind es der "moral point of view" und seine rechtlichen und politischen Varianten. Dieser Gesichtspunkt impliziert einen normativen Universalismus, von dem Habermas sagt, dass er die "relationale Struktur von Andersheit und Differenz" zur "Geltung bringt". Moralischer und rechtlicher Respekt gebührt nicht nur Gleichartigen, sondern auch "anderen in ihrer Andersartigkeit". Bezogen sind Eigenes und Anderes auf ein nicht-substanzielles Wir, das niemanden ob seiner Andersheit ausgrenzt.

Damit wird der kategorische Imperativ durch das Diskursprinzip ersetzt: Normen sind nur dann gültig, wenn sie in praktischen Diskursen die Zustimmung aller finden. Gültigkeit wird durch eine diskursive Einlösung von Geltungsansprüchen ermittelt.

Eine weitreichende Kritik an liberalen Gerechtigkeitsmodellen kommt von Philosophen wie F. Lyotard, E. Levinás, J. Derrida, B. Waldenfels oder P. Ricoeur. Diese Vertreter eint die Gemeinsamkeit, Theoretiker der Andersheit zu sein. Sie fordern dazu auf, das irreduzible Anderssein sowohl des Selbst als auch des Mitmenschen zum zentralen Bestimmungsgrund moralischen Denkens zu erklären.

Andersheit und Fremdheit haben jetzt einen anderen Status. Der kategorische Imperativ wie auch das Rechtsgesetz sprechen mich durch eine "Stimme" als ein "Du" an. Dieses Ansprechen ist mehr als eine gewöhnliche Anrede, da es einen Anspruch an mich richtet, der ein Anfang ist, hinter dem ich nie war und hinter dem ich nie zurückkomme. Der Anspruch des Imperativs ist selbst keiner Universalisierungsregel unterworfen, er steht nicht zur Wahl, da er unausweichlich ist. Das Andere ist demnach nicht eine weitere Stimme im pluralen Konzert der Besonderheiten. Umgekehrt ist der moralische Gesichtspunkt nicht die bloße Allgemeinheit des Jedermann, die als Hülle das Besondere schützt. Vielmehr spricht mich im Anspruch des Gesetzes eine Andersheit an. Diese Dimension sprengt das Schema von formaler Allgemeinheit und materialer Besonderheit.

Durch die Umstellung vom "du sollst" auf das anonyme "jedermann" verfehlt die Diskursethik das Moment der Affektion und Verbindlichkeit durch eine Andersheit im Gesetz. Für Habermas hat die Moral es mit dem zu tun, was "jeder", "was man tun soll": Die intersubjetkive und prozedurale Umformung des kategorischen Imperativs ersetzt diesen Imperativ schließlich durch einen Diskurs- und Universalisierungsgrundsatz, der als Doppelprinzip an seine "Stelle tritt". Notwendige Argumentierungsregeln ordnen die Struktur von Argumenten, sie sprechen aber keine Personen an.

Nach Schnell können jene Theorien den Zugang zur Gerechtigkeit nicht oder nur unzureichend erklären, die die Theorien der Andersheit nicht kennen. Gerechtigkeit wird dabei als normative Ebene verstanden, auf der es jeweils auf die Festlegung und/oder Überprüfung der Lebensgestaltung geht. Es ist die anonyme Allgemeinheit des Jedermann, die Rawls so treffend als Verschleierung beschrieben hat, unter der besondere Individualitäten ihren Platz finden. Das Neben- und Miteinander der Akteure ist geregelt, doch es bleibt unklar, woher die Motivation, Aufforderung, Weckung zur Gestaltung, Regelung und Überprüfung des Lebens kommen soll, sofern die beste aller Welten nicht alleinherrschende Legalität sein soll. Nur eine Andersheit, die Gestaltung veranlasst, selbst aber nicht durch die Gestaltung oder Überprüfung aufgezehrt wird, kann diese Lücke ausfüllen.

Axel Honneth spricht nicht vom Anderen unter dem Gerechtigkeitsgesichtspunkt, sondern vom "Anderen der Gerechtigkeit". Die destruktive Kritik an einem Logos, der Andersheit ausschließt, um zu sich selbst zu gelangen, geht in den konstruktiven Versuch über, "die unverwechselbare Besonderheit der konkreten Person oder der sozialen Gruppe als den schützenswerten Kern einer jeden Moral- und Gerechtigkeitstheorie zu verstehen". Aus der Sicht von Honneth ist das zentrale Anliegen der postmodernen Ethik die "moralische Berücksichtigung des Besonderen" und "Heterogenen". Damit rückt die Postmoderne in eine sachliche Nähe zu Adornos Anwaltschaft für das Nichtidentische. Honneth sieht in der Theorie einer "asymmetrischen Verpflichtung zwischen Personen" die einzig "wirkliche Herausforderung" für das von Habermas und Apel vertretene Konzept der Diskursethik. Denn für die "Theorien der Asymmetrie" kann das, was Honneth als Besonderes bezeichnet, "nicht durch eine Erweiterung der Perspektive der Gerechtigkeit" und überhaupt der Reziprozität berücksichtigt werden, sondern nur durch "ihr Anderes", das Honneth als "menschliche Fürsorge" auffasst. Honneth schlägt deshalb vor, den moralischen Gesichtspunkt der Gleichbehandlung durch den Gesichtspunkt "der konkreten Verpflichtung gegenüber hilfsbedürftigen Einzelsubjekten" zu ergänzen und zu korrigieren.

Sein Vorschlag läuft auf einen dreistufigen Bau hinaus: Gerechtigkeit bedeutet formale Gleichbehandlung, Solidarität materiale Gleichbehandlung, und Fürsorge ist "einseitige, vollkommen interesselose Hilfeleistung".

Aufforderung zum guten und gerechten Leben

(Paul Ricoeur)

Wenn das gute und gerechte Leben eine Bedeutung haben soll, müssen dann nicht, so fragt Ricoeur, manche Aussagen von Levinás und auch von Baumann als Übertreibungen angesehen und deshalb neu überdacht werden?

Ricoeur (1996, 358) versucht im Unterschied zu Levinás "Anerkennung" als eine "Struktur des Selbst" zu begreifen, "das die Bewegung reflektiert, welche die Selbstschätzung zur Fürsorge und diese zur Gerechtigkeit führt. (...) Indem sich die Gegenseitigkeit der Freundschaft und die proportionale Gleichheit der Gerechtigkeit im Selbstbewusstsein widerspiegeln, machen sie die Selbstschätzung selber zu einer Gestalt der Anerkennung". Er verweist darauf, dass nur ein Selbst einen Anruf des Anderen vernehmen und ihm in einer Bewegung der Verantwortung entsprechen kann.

Ricoeur bezeichnet die ethische Ausrichtung als eine auf das "gute Leben" mit Anderen und für sie in gerechten Institutionen. Die Rede ist hier von "den Anderen" im Plural. Innerhalb der Pluralität gibt es eine Differenz, einerseits das von-Angesicht-zu-Angesicht bzw. das Ich-und-Du, andererseits die Dritten, dementsprechend zwei Dimensionen. Die eine ist die der Fürsorge. Die Fürsorge gibt dem Selbst einen Anderen zum Gegenüber, der ein Angesicht ist - in dem starken Sinne von Emmanuel Levinás. In der Fürsorge singularisiert sich der Andere. Aus den Anderen ist der Andere geworden. Der Bereich der Dritten ist gegenüber der Fürsorge der der Gerechtigkeit, die zwar eine ausgeweitete Fürsorge ist, von dieser aber verschieden bleibt. Gerechtigkeit bezieht sich nämlich auf Dritte, auf Anonyme, Entfernte, auf Jedermann.

Das Selbst findet sich in einer Passivität vor, die das Aufgefordertsein durch das Gewissen bezeugt. Das Selbst zeigt, indem es mit eigenen Möglichkeiten auf diese unhintergehbaren Aufforderungen antwortet, wie es sein Leben ausrichtet und normativ überprüft. Ricoeur spricht von drei Aufforderungen, die die Trias der "kleinen Ethik" ausmachen (vgl. dazu Schnell 2002, 252 ff.).

"Ich bin dazu aufgerufen, gut zu leben, mit dem Anderen und für ihn, in gerechten Institutionen: dies ist die erste Aufforderung" (Ricoeur 1996), die den ethischen Bereich eröffnet. Die Pluralität der Akteure ordnet sich in den Dimensionen der "Intersubjektivität" und der "Gesellschaft" an. Das intersubjektive Verhältnis von Ich und Du wird in drei Relationen entfaltet. Das "Meister / Schüler"-Verhältnis stabilisiert sich durch die Anerkennung der überlegenen Autorität, das "Leidender/Sorgender"-Verhältnis durch Sympathie. Die Gewalt in der "Henker- bzw.Herrscher/Sklave"-Beziehung verhindert eine stabile Freundschaft. Die Gesellschaft ist die Dimension der Dritten, des Jedermann. Jedem gebührt sein Recht durch stabile Institutionen der Gerechtigkeit. In beiden Dimensionen bekundet sich Reziprozität und Gleichheit: In der Freundschaft und im Zusammen-Können in der Gesellschaft. Dem entsprechen verschiedene Arten der Gegenseitigkeit von Selbst und Anderem: Die Ähnlichkeit als Gleichwertigkeit der Schätzung des Selbst und des Anderen, die Austauschbarkeit bzw. Umkehrbarkeit der Rollen und die Unvertretbarkeit der Person.

Wie geschieht der Übergang von der Ethik zur Moral? "Du sollst nicht töten" ist die zweite Aufforderung, die den moralischen Bereich der Verpflichtung und des Verbots eröffnet. Ricoeur nimmt an, dass eine ausgearbeitete Gerechtigkeit auf ein ethisches Vorverständnis von gerecht und ungerecht zurückgreift. Der moralische Konflikt besteht zwischen der universalen Idee der Menschheit und der "konkreten Situation, in der die Andersheit der Person nach Anerkennung verlangt". Eine Antwort auf diese Konflikte gibt die "kritische Phronesis", die die dritte und ausschlaggebende Stufe der "kleinen Ethik" ist. In der kritischen Phronesis durchdringen sich die moralische Achtung der Person und die ethische Fürsorge für die unersetzliche Person. Die Idee, die Ricoeur nahe legt, ist, dass sich die Achtung der Person auf das freundschaftliche und gesellschaftliche Miteinander auswirken bzw. auch von diesem Miteinander her fassbar sein muss.

"Hier stehe ich! Ich kann nicht anders!" Die jetzt erfolgte dritte Aufforderung, als eine zur Suche nach einem moralischen Situationsurteil, bekundet sich in einer Überzeugung, "auf deren Passivitätsaspekt das Gewissen aufmerksam macht". In intersubjektiver Hinsicht nimmt die kritische Phronesis die Gestalt einer "kritischen Fürsorge" an, die eine Ausnahme zugunsten des Anderen macht. In gesellschaftlicher Hinsicht berät die "öffentliche Phronesis" über die Gestalt von Gerechtigkeit.

Martin W. Schnell schlägt vor, die drei Aufforderungen, die an das Selbst ergehen können und die die Richtungen möglicher Antworten beschreiben, rückwärts zu verstehen. Ausgangspunkt ist die kritische Phronesis, deren Zustandekommen wir in kritischer Absicht nachträglich aufdecken: Von der moralischen Situationsentscheidung zurück zur Moral, zur Ethik und zur Bezeugungs-Aufforderung.

Ricoeur kann mit der ethisch-gnoseologisch bestimmten Freundschaft und der öffentlichen Phronesis/Macht der Bürger in der Gesellschaft Mittel und Ort angeben, durch die und von dem aus bestimmt wird, welche konkrete Ausrichtung das gute und gerechte Leben mit Dir und Jedermann als schutzwürdige Personen nehmen sollte. Der Ansatz von Levinás bietet diese Möglichkeit nicht.

Wie wollen wir leben bzw. nach welcher lebensweltlichen Gerechtigkeit? Für Levinás sind Institutionen, Regeln, ist also Gerechtigkeit immer schon in Kraft. Aber welche? Eine formale, eine barmherzige oder doch eine durch den Exodus ins messianische Reich der Gerechtigkeit?

Viele Fragen bleiben offen

Gerät der behinderte Mensch - hochstilisiert als irreduzibler Anderer - nicht in die Sphäre des Metaphysischen oder in die der absoluten Unzugänglichkeit?

Oder erfordert gerade die Erfahrung des Zusammenbruchs von Verständigung eine neue "ethische Dimension" der Kommunikation (Kleinbach 1994), die Kommunikation als prinzipiell asymmetrisch und zu keinem Zeitpunkt und unter keinen Bedingungen umkehrbar ansieht. Verlieren wir damit im pädagogischen Handeln die Begründung durch Sinn oder artikuliert sich durch eine "Ästhesiologie der Nähe" - in Blick, Stimme und Haut miteinander verwoben - eine ethische Dimension, die dem Sinn vorausgeht?

Kommen existierende Kommunikations- und andere Probleme nicht mehr in den Förderungshorizont und werden die Zweifel und Unsicherheit am Sinn und Zweck des eigenen Tuns durch die Überbetonung der Fremdheit des Anderen verstärkt? Könnte die Unzugänglichkeit des Anderen wieder Konzepte legitimieren, die längst überwunden geglaubt schienen? Oder führt diese Sichtweise zu einer professionellen Umorientierung, "mit der sich ein erweiterter Blick für die Differenz von Intention und Wirkung pädagogischen Handelns eröffnet" (Rösner 2002, 209)? Diese Differenz muss nicht als Scheitern interpretiert werden, sondern als offener Interaktionsspielraum und kann ermöglichen, das eigene normierende Denken in Frage zu stellen. Dies würde eine pädagogische Haltung fördern, die gekennzeichnet ist von Offenheit und Solidarität.

Jedes vorschnelle und unbedingte Verstehen-wollen würde zu einer gewaltsamen Ethik führen, die die Unterscheidung Levinás von "Gesagtem" und "Sagen" einebnet. Nach Levinás reicht das Ereignis des Sagens tiefer als jede intentionale Verständigung. In der Verantwortlichkeit für den Anderen liegt der Grund des Sagens. Das sprechende Subjekt versucht in der ethischen Kommunikation der Vergegenständlichung durch die Sprache stets neu zu entkommen.

Nach Rösner (2002, 194) führt Levinás die Intentionalität auf eine fundamentalere Schicht zurück, nämlich "Sensibilität oder Empfindlichkeit der Sinne": Die Subjektivität ist Sensibilität.

Karlheinz Kleinbach begreift Kommunikation nicht nur als Prozess des Verstehens, sondern als verantwortliches Geschehen unter Fremden in der Nähe. Das paradoxe Zugleich von Eigenem und Fremdem wird in der Relation Pädagoge - Kind als "Selbstsein im Anderen" sichtbar. Es gibt keine Einordnung des Fremden ins Eigene noch in eine übergeordnete Struktur der Verständigung. Damit werden die pädagogischen Technologien in ihrer Begrenztheit sichtbar und die pädagogische Bewährungsprobe liegt gerade in den "Irritationen, Sprachlosigkeiten und im Nahesein des Unverstandenen".

Ist es überhaupt denkbar, dass jemals eine positive Ordnung verwirklicht werden kann, die der Selbstzweckhaftigkeit der Person völlig gerecht wird? Kann die Ausrichtung der Freundschaft und des gesellschaftlichen Lebens jemals zur gewaltlosen Versöhnung mit dem geschichtlichen Sein führen? Hat das sich ethisch schätzende und moralisch achtende Selbst die Gewissheit, in einer vernünftigen Welt zu leben? Und politisch: Fehlt der kontraktualistischen Konstitution der Politik nicht die Bezeugung der Person als Selbstzweck?

"Was letzten Endes das Politische mit dem Ethischen, die Ordnung mit der Barmherzigkeit verbindet, das ist die Achtung der Person in ihrem Leben und in ihrer Würde"(Ricoeur 1974, 242).

Literatur

Baumann, Z.: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg 1992

Baumann, Z.: Postmoderne Ethik. Hamburg 1995

Bourdieu, P.: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz 1998

Dederich, M.: Menschen mit Behinderung zwischen Ausschluss und Anerkennung. Bad Heilbrunn 2001

Dederich, M.: Behinderung - Medizin - Ethik. Behindertenpädagogische Reflexionen zu Grenzsituationen am Anfang und Ende des Lebens. Bad Heilbrunn 2000

Gamm, G.: Nicht Nichts. Studien zu einer Semantik der Unbestimmtheit. Frankfurt 2000

Honneth, A.: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt 1994

Kleinbach, K.: Zur ethischen Begründung einer Praxis der Geistigbehindertenpädagogik. Bad Heilbrunn 1994

Mac Intyre, A.: Die Anerkennung der Abhängigkeit. Hamburg 2001

Ricoeur, P.: Das Selbst als ein Anderer. München 1996

Ricoeur, P.: Geschichte und Wahrheit. München 1974

Rösner, H.-U.: Jenseits normalisierender Anerkennung. Reflexionen zum Verhältnis von Macht und Behindertsein. Frankfurt/Main 2002

Schnell, M. W.: Zugänge zur Gerechtigkeit. München 2001

Seel, M.: Versuch über die Form des Glücks. Frankfurt 1995

Stäblein, R.: Glück und Gerechtigkeit. Moral am Ende des 20. Jhdts. Frankfurt und Leipzig 1999

Taylor, Ch.: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt 1993

Tugenhart, E.: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt 1993

Waldenfels, B.; Dämann, I. (Hrsg.): Der Anspruch des Anderen. München 1998

Der Autor

Dr. Josef Fragner

Direktor der Pädagogische Akademie des Bundes

Kaplanhofstraße 40

A-4020 Linz

Quelle

Josef Fragner: Achtung, Anerkennung und Gerechtigkeit.

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft. Nr. 4/5/2002; Reha Druck Graz, S.37-48

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 11.07.2005

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