Inklusiven Unterricht gestalten

Creating Inclusive Education

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 2/2001; Thema: Integration ist unteilbar; Der Titel des workshops "Inklusiven Unterricht gestalten" ist ident mit jenem des INTEGER Basismoduls C, das als Orientierungshilfe und "Handwerkszeug" bei der Planung, Organisation, Durchführung und Reflexion integrativen bzw. inklusiven Lehr- und Lerngeschehens gedacht ist. Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (2/2001)
Copyright: © Gitta Bintinger, Marianne Wilhelm 2001

Einleitung

Die inklusive Schule wird von PädagogInnen getragen, deren professioneller demokratischer und humaner Auftrag darin besteht, den Lebens- und Lernraum Schule als Ort der Kooperation und des Dialogs, sowie als Raum entwicklungsgemäßer Forderung und Förderung für alle Kinder zu gestalten.

PädagogInnen müssen es leisten, "allen SchülerInnen im grundsätzlich gemeinsamen Unterricht ein zieldifferentes Unterrichts- und Lernangebot zu machen, das mittels Innerer Differenzierung durch eine den unterschiedlichen Entwicklungsniveaus der Schüler Rechnung tragende Individualisierung eines gemeinsamen Curriculums über alle (dann ohnehin nur noch formal zu verstehenden) Schulstufen hinweg zieldifferentes und kooperatives Lernen aller miteinander in "einer Schule für alle" ermöglicht." (Feuser 1995)

Die Anforderungen an Schule und PädagogInnen, zu deren Bewältigung die (inklusive) allgemeine Lehrerbildung qualifizieren muss, verweisen im Bereich der Ausbildung auf die Notwendigkeit, sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der methodischen und organisatorischen Ebene neue Wege zu beschreiten.

Zielsetzung

"Inklusiven Unterricht gestalten" - "Creating Inclusive Education" stellt sich der Aufgabe, eine umfassende Einführung in das komplexe Gefüge inklusiven Unterrichts zu geben und Lernprozess auf den Ebenen des Wissens, des Könnens und der Haltungen praxisnah zu unterstützen.

Vor dem Hintergrund des Entwurfs der Inklusiven Pädagogik gibt es einen Überblick über

  • wissenschaftstheoretische Grundorientierungen inklusiven Unterrichts

  • integrationstaugliche didaktische Modelle und Konzepte,

  • den Entwurf einer inklusiven Didaktik;

  • die Planung, Durchführung und Reflexion inklusiven Unterrichts.

Als Leitfaden für den berufspraktischen Teil einer inklusiven Lehrer/innenausbildung soll er Studierende dabei begleiten, sich mit didaktischem Theoriewissen auseinander zu setzen, praktische Handlungsalternativen zu erproben und Ihre Fortschritte auf den Ebenen

  • des Wissenserwerbs

  • der Persönlichkeitsentwicklung

  • der professionellen Handlungskompetenz

  • der Fähigkeit zur Reflexion

zu verdeutlichen und dokumentieren.

Die didaktische Konzeption des Moduls geht davon aus, dass das Studium in Zusammenarbeit mit Lernpartner/innen (Lehrende und Studierende) weitgehend eigenverantwortlich, selbstständig und selbsttätig gestaltet ist. Entsprechend den Prinzipien inklusiven Unterrichts sind alle Lernprozesse im Wesentlichen geprägt vom Wechsel einführender, eigenaktiver und reflexiv-metakommunikativer Phasen. Die Lerngruppe und die Schulklasse stellen "Lernumgebungen" dar, welche helfen, vielfältige Handlungsalternativen zu erarbeiten und zu einem "subjektiven didaktischen Konzept" zu finden.

Begriffsklärungen

Integration - Aspekte einer Realität

Der Begriff Integration nimmt über die Jahrhunderte zahlreiche Bedeutungen an, die von der Naturwissenschaft über die Philosophie zur Politik reichen. In neuester Zeit wird mit dem Begriff vorwiegend die sozial- und bildungspolitische Absicht ausgedrückt, "Behinderte" in die Gesellschaft einzugliedern.

Da es jedoch, im Widerspruch zu der Zielvorstellung von Integration, nach wie vor keinen allgemeinen gesellschafts- und bildungspolitischen Konsens darüber gibt, allen Menschen das Recht auf Integration zuzugestehen, haben in den meisten europäischen Ländern neben integrativ geführten Institutionen die Sonderinstitutionen der traditionellen Art weiterhin Fortbestand. Diese erfüllen ihre ursprüngliche Funktion der Segregation für so genannte "nicht integrationsfähige" Menschen und entheben dadurch die Allgemeinheit der Verpflichtung, sich mit dem Anliegen von Integration eingehend auseinander zu setzen. In der angloamerikanischen Literatur wird diese Politik des Nebeneinanders als "two tracks policy" bezeichnet und als Merkmal einer halbherzigen integrativen Politik gesehen: " ... these countries have parallel but separate segregation and integration policies."[1]

Übung 1:

Welche spezifischen Merkmale muss integrativer/ inklusiver Unterricht Ihrer Meinung nach unbedingt aufweisen?

  1. Sammeln Sie in Einzelarbeit zuerst ihre persönlichen Vorstellungen!

  2. Austausch mit einem(r) Lernpartner/in - Gemeinsamkeiten finden,

  3. Präsentation der Gemeinsamkeiten im Plenum.

Diese Praxis der Integration bringt es auch mit sich, dass "behinderte" Menschen selbst initiativ werden und viele Hürden überwinden müssen, um "integriert" leben zu können.

Zum heutigen Zeitpunkt kann festgestellt werden, dass die Idee der Integration zweifellos Veränderungen von Werthaltungen und Strukturen der Gesellschaft in Richtung Humanisierung und Demokratisierung eingeleitet und eine gewisse Sensibilität für Menschen mit "Behinderungen" angebahnt hat. Es ist bis heute jedoch nicht gelungen, Selektion und Segregation im Bewusstsein der Menschen und in allen Bereichen der Gesellschaft grundsätzlich zu beseitigen.

Angesichts der Tatsache, dass dem Konzept der Integration der Aspekt der Ausgrenzung immanent ist und Segregation nach wie vor Realität und Praxis, scheint es angebracht, sich dem Konzept der Inklusion zuzuwenden, das eine Vertiefung des Integrationsgedankens darstellt.

Inklusion - Aspekte einer Vision

Der Begriff Inklusion kann nur im Zusammenhang mit einem Menschen- und Weltbild Gestalt annehmen, das als ganzheitlich bzw. integral zu bezeichnen ist.

Aus einem integralen Blickwinkel ist jeder Mensch ein "Integrum", eine integrierte Einheit von "Biologischem, Psychischem und Sozialem"[2], wie Pestalozzi es ausdrückt, also eine Einheit aus Kopf, Hand und Herz. Jeder Mensch hat folglich ein unteilbares Anrecht darauf, als gleichwertig und gleichberechtigt respektiert zu werden, sowie selbst bestimmter Gestalter seines Lebens innerhalb der Gesellschaft zu sein, ungeachtet der ihm möglichen oder nicht möglichen Leistungen.

Dieses Bild vom Menschen als Integrum löst jenes ab, das den Wert des Menschen an dessen Produktivität misst und im Hinblick auf genormte Leistungskriterien Individuen als "defekt" und "defizitär" klassifiziert.

Geht man von dieser Vorstellung von Mensch und Sein aus, erübrigt sich die Notwendigkeit von Integration, da eine humane und demokratische Gesellschaft keinen Menschen aus ihrer Mitte ausschließt. Nach dem Denk- und Handlungsmodell der Inklusion kann jedes Individuum darauf vertrauen, dass seine Bedürfnisse und Interessen von der Gesellschaft ohne Selektion und Segregation gewahrt und vertreten werden, da separierende Sondersysteme nicht zu rechtfertigen sind:

"The term inclusion implies a positive process of building systems which from the beginning include all members of society and therefore, no individual is perceived as segregated. The term inclusion is a positive description of what is meant by the term integration." [3]

Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch:

  • als Mensch vollwertig ist - unabhängig von irgendwelchen Leistungen, die ihn für die Gesellschaft oder für Teile der Gesellschaft wertvoll erscheinen lassen;

  • die Verpflichtung hat, alle anderen Menschen als Gleichberechtigte anzuerkennen;

  • das Recht hat, als Gleichberechtiger anerkannt zu werden;

  • auf die menschliche Gemeinschaft - auf Dialog, Kooperation und Kommunikation - angewiesen ist, um sich als solcher zu entwickeln;

  • als Subjekt seines Lebens und Lernens kompetent handelt;

  • das Recht auf "Mitsein", Teilhabe und Nicht-Aussonderung hat.[4]

Die ungeheure Radikalität und Tragweite des integralen Ansatzes lässt Dreher erahnen, wenn er formuliert: "Inklusiv denken bedeutet, bis an die Wurzeln unseres Denkens, unserer Gestaltung von Bildung und unserer Weltkonstruktion nach Elementen zu graben, die es uns ermöglichen zu einer Überwindung der defizitären Sichtweise von Menschen zu finden."[5]



[1] Ainscow, M.: Special Needs in the Classroom. A Teacher Education Guide. J. Kingsley Publishers / UNESCO Publishing Paris 1994 ,S. 7.

[2] Feuser, G.: Behinderte Kinder und Jugendliche - Zwischen Integration und Aussonderung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1995, S.173

[3] HELIOS II Programme, Thematic Group 9: Enhancing Co-operation between Mainstream and Special Education. A/S Modersmalets Trykkeri, County of Funen, Denmark 1996, S. 7.

[4] Vgl. Spicher, H. J.: Grundlagen des gemeinsamen Unterrichts - Integration von behinderten Kindern in der Regelschule. Verlag Mainz, Wissenschaftsverlag, Aachen 1998, S.51

[5] Dreher, W.: Vom Menschen mit geistiger Behinderung zum Menschen mit besonderen Erziehungsbedürfnissen. Unveröffentlichtes Manuskript. Köln 1998.

Die inklusive Pädagogik als Allgemeine Pädagogik

Die integrative Pädagogik - als Schritt auf dem Weg zu einer (inklusiven) Allgemeinen Pädagogik

Die Vielzahl an Definitionen des Begriffs Integrationspädagogik lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass damit im Wesentlichen der gemeinsame Unterricht von "behinderten" und "nicht behinderten" Kindern umschrieben wird. Obgleich dem Begriffsverständnis von Integration eigentlich ein ganzheitliches Bild vom Menschen, eine Neubestimmung des Behinderungs- und Bildungsbegriffs, ein geänderter Auftrag an Schule, eine neue Sichtweise von Lehren und Lernen inhärent sind, impliziert der Terminus also augenscheinlich, dass es Anliegen und Anspruch dieses "neuen" Weges ist, Kinder und Jugendliche gemeinsam zu erziehen und zu unterrichten, die den Kategorien "behindert" und "nicht behindert" zugeordnet werden.[6]



[6] Die Einengung des Begriffs "integrative Pädagogik" auf eine "Pädagogik für Behinderte und Nichtbehinderte" ist - wenn der Begriffsentfaltung Feusers gefolgt wird - nicht zulässig. Der von Georg Feuser verwendete Begriff (integrative) Allgemeine Pädagogik ist vor dem Hintergrund seines Begriffsverständnisses von Integration in etwa ident mit jenem einer (inklusiven) Allgemeinen Pädagogik, wie sie im vorliegenden Beitrag dargestellt wird.

Die (inklusive) Allgemeine Pädagogik

Zum Begriffsverständnis

Im angloamerikanischen Raum wurden die herkömmlichen Termini "main-streaming" bzw. "integration" in den letzten Jahren zunehmend vom Begriff der "inclusive education"[7] abgelöst. In Abgrenzung von den erst genannten wird von vielen Autoren explizit darauf verwiesen, dass inclusive education inhaltlich nicht mit "integration" gleichzusetzen ist, sondern eine qualitative Weiterentwicklung dieses pädagogischen Konzepts darstellt:

"Inclusion is distinguished from integration in that integration assumes that the school system remains the same but that extra arrangements are made to provide for pupils with special educational needs. Linked to this it is necessary for teachers to develop opportunities to look at new ways of involving all pupils and to draw on experimentation and reflection. For the school a central necessity for inclusive education is planned access to a broad and balanced curriculum which is developed from its foundations as a curriculum for all pupils."[8]

Im deutschsprachigen Raum findet der Terminus "inclusive education" bislang nur vereinzelt Verwendung. Der Begriff Inklusive Pädagogik wird in der Fachliteratur zwar erwähnt, im Allgemeinen aber übersetzt mit "gemeinsamer Unterricht behinderter und nicht behinderter Kinder"[9], ohne auf die inhaltlichen Unterscheidungen einzugehen, die englischsprachige Autoren hervorheben.

Deutschsprachige Autoren, die sich mit dem Begriff differenziert auseinander setzen, gelangen allerdings in Übereinstimmung mit ihren englischsprachigen KollegInnen zur Schlussfolgerung, dass der Begriff Inklusive Pädagogik eine Weiterentwicklung des Begriffs der integrativen Pädagogik darstellt. Die Notwendigkeit dieses "Qualitätssprungs" ergibt sich für diese Autoren aus der Feststellung, dass die integrative Pädagogik eine Pädagogik ist, die allzu häufig eine Minderheit in eine gemeinsame Situation mit einer Mehrheit bringen will und so implizit an einer Zwei-Gruppen- Theorie fest hält, während ein inklusives Konzept diese Trennung überwindet. Der neue Begriff der Inklusionspädagogik symbolisiert aus der Perspektive dieses Verständnisses des Begriffs "Integrationspädagogik" eine allgemeine pädagogische Konzeption, die Kinder nicht auf die Kategorien "behindert" und "nicht behindert" bzw. "mit oder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf" einengt, sondern grundsätzlich von der multidimensionalen Heterogenität jeder Lerngruppe ausgeht.



[7] Vgl.: Ainscow, M. : Special Needs in the Classroom. Jessica Kingsley Publishers London. UNESCO 1994. Farrell, M. : The Special Education Handbook. David Fulton Publishers. London 1998. HELIOS III: Enhancing Co-operation between Mainstream and Special Education County of Funen, Denmark, 1996. Clough, P.: Managing inclusive education: from policy to experience. Chapman, London, 1998. Villa, R. A.: Creating an inclusive school. Association for supervision and curriculum development: Alexandria VA 1995. Ball, M.: School inclusion: the school, the family and the comunity. Joseph Rowantree Foundation, London, 1998.

[8] Farrell, M.: The Special Education Handbook. David Fulton Publishers London 1998, S. 81.

[9] Eggert, D.: Von den Stärken ausgehen - Individuelle Entwicklungspläne (IEP) in der Lernförderungsdiagnostik. 2. Aufl., Borgmann, Dortmund 1997 S. 39.

Aspekte der Pädagogik

Das Konzept der (inklusiven) Allgemeinen Pädagogik trägt den Entwicklungs- und Lernbedürfnissen junger Menschen sowie der Individuallage und den spezifischen Bedürfnissen des Einzelnen Rechnung und ermöglicht es allen Schüler/innen und Jugendlichen, im gemeinsamen Lebens- und Lernraum Schule in Kooperation miteinander auf der Grundlage ihrer momentanen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskompetenzen zu leben und zu lernen.[10] Die diese Pädagogik konstituierenden Momente des Demokratischen und des Humanen finden ihren Ausdruck darin, dass "alle Kinder alles"[11] auf die ihnen adäquate Weise lernen dürfen und jedem Kind alle materiellen und personellen Hilfen zur Verfügung gestellt werden, die es für seine Entwicklung und sein Lernen benötigt.

Das Qualitätsmerkmal dieser "neuen" Pädagogik ist es, Wesenselemente der Reformpädagogik, der "alten" Allgemeinen und der Sonderpädagogik aufzugreifen und zu einem neuen Ganzen zusammenzufügen, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Unter dem Dach einer (inklusiven) Allgemeinen Pädagogik nehmen für alle Schüler/innen die Begriffe Gerechtigkeit, Gleichwertigkeit, Freiheit, Autonomie, Selbstbildung, Selbstbestimmung, Solidarität, Kooperation und Dialog in der Form individualisierender, ganzheitlicher, handlungs- und kindorientierter Lehr- und Lernformen Gestalt an. Vor allem aber finden sich darunter alle Kinder gut aufgehoben, auch jene, die ehemals ausgegrenzt wurden.



[10] Feuser, G.: Behinderte Kinder und Jugendliche zwischen Integration und Aussonderung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1995 , S.174.

[11] Feuser, G. ebda., S.173

Aspekte der Didaktik

Analog zur (inklusiven) Allgemeinen Pädagogik wird die Didaktik der Inklusion gleichermaßen vom Merkmal der Allgemeinheit bestimmt, sowie von jenen der Basalität und Kindzentriertheit.

Dies bedeutet, eine Pädagogik und Didaktik der Inklusion ist:

  • basal, da sie sich auf alle Entwicklungsniveaus, Denk- und Handlungskompetenzen bezieht;

  • kindzentriert, da sie Individuum und Heterogenität anerkennt;

  • allgemein, da sie keinen Menschen ausschließt.[12]

In diesem Entwurf einer neuen pädagogischen Theorie und Praxis, in der allgemein didaktische und sonderdidaktische Konzeptionen zu Gunsten einer neuen Qualitätsstufe von Didaktik aufgehoben sind, wird die Didaktik "wieder vom Kopf auf die Beine"[13] gestellt. In der Tradition der Reformpädagogik stehend ist sie nämlich nicht einseitig am Aspekt der Kognition bzw. an der "Sach- und Dingwelt" orientiert, sondern trägt bei allen Lehr- und Lernprozessen den Aspekten der Persönlichkeit, des Wollens, der Emotion, des Handelns, der Kooperation und des Sozialen gleichermaßen Rechnung. Ein Unterricht, in dem all diese Dimensionen gleichrangig zur Geltung kommen, bedarf konsequenterweise einer Lehr- und Lernkultur, die die sozio-emotionale Dimension der Lernenden unter Wahrnehmung ihrer Lebenswelt berücksichtigt;

allen Schülern vielfältige Möglichkeiten des Dialogs, der Interaktion, der Kommunikation und Kooperation miteinander ermöglicht;

ganzheitliche, selbst bestimmte, selbsttätige, kooperative und reflexive Prozesse der Wissensaneignung und des Fertigkeitserwerbs anregt;

spezifisch therapeutischen Erfordernissen im Sinne des Prinzips der "integrierten Therapie"[14] Rechnung trägt.

Übung 2:

Die Arbeit am Gemeinsamen Vorhaben

Pädagogisieren von Lerninhalten 1

Sachstruktur -

Welches "Wissen" ist dem Vorhaben immanent?

(Sozial-kommunikative, psychomotorisch - affektiv-kooperative, - inhaltlich-fachliche, methodisch-strategische Komponenten)

Handlungsstruktur

Welche "Lernhandlungen" - Aktivitäten - sind dem Vorhaben immanent?

Tätigkeitsstruktur

Welche sind die Entwicklungsebenen der Kinder?

Exemplum: "Geometrische Körper"

Sachstruktur:

Formen, Volumina, Größe, Flächen, Kanten, Winkel, Spiel, Ästhetik, Umwelt usw.

Handlungsstruktur:

schütten, füllen, messen, berechnen, drehen, drucken, fühlen, kippen, zeichnen, herstellen, vergleichen usw.

Tätigkeitsstruktur

Kind denkt konkret, operativ, abstrakt.

(Vgl. Piaget, Aebli)

Führen Sie zu einem Inhalt Ihrer Wahl - nach dem Beispiel "Geometrische Körper" - die Strukturanalyse durch. Stellen Sie diese grafisch dar und präsentieren Sie Ihr Ergebnis im Plenum.



[12] Dreher, W.: Denkspuren Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung Basis einer integralen Pädagogik. Wissenschaftsverlag Aachen Verlag Mainz EFA 1997, S.146

[13] Dreher, W.: ebd. S.147

[14] Feuser, G. Behinderte Kinder und Jugendliche zwischen Integration und Aussonderung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1995 S. 191

Inklusiven Unterricht gestalten

Die "Arbeit am Gemeinsamen Gegenstand"

Es liegt auf der Hand, dass das große Spannungsfeld von Individualität und Heterogenität, innerhalb dessen sich inklusiver Unterricht bewegt, nur mit Hilfe von Lehr- und Lernformen nutzbar gemacht werden kann, die den Unterschiedlichkeiten der Schüler Rechnung tragen und dabei gleichzeitig bedeutungsvolle individuelle sowie kooperative Lernprozesse begünstigen.

Die "Arbeit bzw. Kooperation am Gemeinsamen Gegenstand"[15] - auch als Arbeit am/an gemeinsamen Vorhaben bezeichnet - wird diesem hohen Anspruch gerecht und stellt daher das pädagogisch - didaktische Kernstück von inklusivem Unterricht dar. Diese Art schulischen Lernens, die in etwa mit Lernen in Projekten vergleichbar ist, ermöglicht eine weitgehend individualisierte Unterrichtsgestaltung, bei der dennoch die Zielvorstellung des Miteinanders in Kooperation gewahrt bleibt.

Gemeinsame Lernvorhaben -

  • gehen von den Interessen, Bedürfnissen und Stärken der Schüler aus;

  • berücksichtigen gesellschaftliche Erfordernisse;

  • ermöglichen bedeutungsvolles Lernen, d.h.

  • inhaltlich - fachliches Lernen

  • (Wissen, Verstehen, Erkennen, Urteilen),

  • methodisch - strategisches Lernen

  • (Methodenkompetenz: z.B. Exzerpieren, Strukturieren, Zitieren, Markieren Nachschlagen, Entscheiden, Organisieren, Gestalten, Planen, Visualisieren, Ordnung halten, Arbeit mit Lernkartei, Gruppenarbeit, Mnemotechniken, Freie Rede, Aktives Zuhören),

  • sozial - kommunikatives - kooperatives Lernen

  • (Solidarität üben, Hilfestellung geben und akzeptieren, Annehmen, Zuhören, Begründen, Argumentieren, Fragen, Diskutieren, Kooperieren, Integrieren, Gespräche leiten, Präsentieren),

  • affektives - psychomotorisches Lernen

  • (Selbstvertrauen und Selbstkompetenz entwickeln, Identifikation und Engagement entwickeln, Werthaltungen aufbauen);[16]

  • sind von Lehrer/innen und Schüler/innen geplante pädagogische Situationen und/oder ergeben sich aus spontanen Lebenssituationen heraus;

  • beachten das Prinzip des multisensorischen und multimedialen Angebots;

  • gestehen jedem Kind individuelle Lernwege und Lernstile zu;

  • beinhalten das Prinzip der integrierten "therapeutischen" Hilfestellung;

Im engeren Sinn erfordert die Realisierung inklusiver Lernvorhaben als "Arbeit am/an Gemeinsamen Vorhaben" vom Pädagogen:

  • die Einschätzung der momentanen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskompetenzen der Lernenden im Sinne einer entwicklungsbezogenen "Tätigkeitsstrukturanalyse",

  • die Einbeziehung der individuellen Denk - Handlungsmöglichkeiten, die "Handlungsstrukturanalyse",

  • die Gestaltung eines adäquat strukturierten Lern- und Handlungsfeldes, in dem die Lernenden auf Grund der "Sachstrukturanalyse" mit exemplarisch aufbereiteten Bildungsinhalten konfrontiert werden.[17]

Hinter diesem Konzept steht also die pädagogische Herausforderung, jedes gemeinsame Vorhaben in die "Gestalten" zu bringen, in denen sie alle SchülerInnen auf der Ebene ihrer jeweiligen Wollens-, Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkkompetenz als bedeutsam annehmen und sich aneignen können.[18]

Die Schule als das "Haus des (inklusiven) Lebens und Lernens"

Das Bild von Schule als ein "Haus des Lebens und Lernens" macht sehr schön deutlich, dass

inklusives Lehren und Lernen in einer Schule stattfindet, die sich als Ort der Begegnung und des Miteinanders, als Stätte der Annahme, der Kooperation, des Dialogs, als Raum der Anregung, Orientierung und Lebenserschließung versteht Lernwelt Schule.

Abb.1: Das Haus des inklusiven Lebens und Lernens

Übung 5:

Das Haus der inklusiven Lehrerbildung

1. Entwickeln Sie ein "Haus der inklusiven Lehrerbildung" und stellen Sie es grafisch dar.

  • In welchen Bereichen ist Ihre Institution bereits ein Haus der inklusiven Lehrerbildung?

  • Welcher Bereich bedarf Ihrer Meinung nach vorrangig der Erneuerung?

  • Was können Sie in diesem Bereich sofort ändern bzw. einbringen?

  • Zeichen Sie Ihre persönliche Entwicklungslinie, tragen Sie Teilschritte, geplante Zeitstruktur und jene Personen ein, die Ihnen bei der Realisierung der Teilschritte behilflich sein können!



[15] Feuser, G.: ebd. S.178

[16] Vgl. Klippert, H.: Methoden Training. Beltz Praxis, Weinheim und Basel, 1994.

[17] Feuser, G.: Behinderte Kinder und Jugendliche zwischen Integration und Aussonderung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1995 S.,176 ff.

[18] Vgl. Bruner, J.: Entwurf einer Unterrichtstheorie. Berlin Verlag Berlin 1974.

Aspekte der Lehrerbildung

Wie aus den Ergebnissen der neueren Lehr- und Lernforschung immer deutlicher wird, sind "alte" Konzepte der Wissensvermittlung nur sehr bedingt tauglich, qualitätsorientierte Lernprozesse im Sinne von "deep level learning"[19] zu generieren, wie sie dem inklusiven Paradigma entsprechen.

In Hinkunft werden deshalb auch im Bereich der Lehrer - Bildung beispielsweise die Aspekte der Persönlichkeit, der Selbstbildung, der Handlungsorientiertheit, der Ganzheitlichkeit, der Kooperation, der Differenzierung sowie der Reflexion in den Vordergrund treten und Veränderungen auf der

  • inhaltlichen Ebene (Integration - Inklusion)

  • methodischen Ebene (initiative, reflexive Ansätze)

  • organisatorischen Ebene (Zusammenführung von getrennten Ausbildungsstrukturen bzw. Fakultäten, modularisierte Struktur)

mit sich bringen.

Die im "Haus des inklusiven Lebens und Lernens" bereits dargestellten Wesens- und Gestaltungselemente inklusiven Lernens sind auch auf das "Haus der inklusiven Lehrerbildung" übertragbar.

Sollen Lehrer/innen eines Tages im Sinne des inklusiven Paradigmas unterrichten, müssen sie während ihrer Ausbildung Gelegenheit dazu bekommen, an sich selbst zu erfahren, wie ertragreich, befriedigend und sinnschaffend Lernen sein kann, wenn es auf der Basis der eigenen biografischen Verfasstheit, in Interaktion und Kooperation mit anderen, sowie auf selbst bestimmte, selbsttätige und reflexive Art und Weise erfolgt.



[19] "Deep level learning" steht in Gegensatz zu "surface level learning": die entsprechenden deutschsprachigen Begriffe sind bedeutungsvolles bzw. bedeutungsloses Lernen.

Ein Resümee

Aus den obigen Ausführungen wird deutlich, dass schulische Inklusion eine fundamentale Wende von Erziehung und Unterricht bedeutet, von deren Dimensionen alle, die mit Erziehung, Unterricht und Lehre befasst sind, betroffen sind: "Im Bereich der Schule werden zum Beispiel die Begriffe des Lernens, der Intelligenz, der Vererbung, und auch der Pathologie, der Diagnostik, der Therapie und nicht zuletzt des Organisationssystems einer gründlichen Revision unterworfen werden müssen. Schüler und Lehrer werden nicht mehr das sein können, was sie bisher waren."[20]

Allen, die sich auf den Weg der Inklusion begeben, ist bewusst, dass die Herausforderung der Inklusion mit "Verunsicherung und sogar mit lähmender Angst" einhergehen wird, aber nur in der Annahme dieser Provokation und in der Überwindung dieser Unsicherheit und Ängste "neues Land" gewonnen werden kann.[21]



[20] Köppel, K.: Schulische Integration im Kontext. In: Erziehung und Unterricht. Österreichische Pädagogische Zeitschrift. 5 / 1989 S. 284.

[21] Cuomo, N.: Schwere Behinderungen in der Schule Unsere Fragen an die Erfahrung. Klinkhardt Bad Heilbrunn 1989.

Literatur

Begemann, Ernst: Lebens- und Lernbegleitung konkret. Rieden,Klinkhart 1997.

Foerster, H.V. u.a.: Einführung in den Konstruktivismus. München 1997 (3)

Eichelberger, Harald: Handbuch zur Montessori-Didaktik. Innsbruck, Studienverlag 1998.

Eichelberger, H.: Freiheit für die Schule, Wien 1997

Eichelberger, H. (Hg.): Lebendige Reformpädagogik, Innsbruck 1997

Feuser, G. / Meyer, H.: Integrativer Unterricht in der Grundschule. Solms, Jarick Oberbiel 1987.

Galperin, P.J./ Leontjew, A.N.: Probleme der Lerntheorie, Berlin 1972.

Gudjons, H.: Didaktik zum Anfassen: Lehrer/in Persönlichkeit und lebendiger Unterricht. Bad Heilbrunn, Klinkhartdt, 1998.

Kösel, Edmund: Die Modellierung von Lernwelten. Ein Handbuch zur Subjektiven Didaktik. Elztal-Dallau,Verlag Laub1995.

Krawitz, R. (Hg.): Die Integration behinderter Kinder in die Schule, Bad Heilbrunn 1995

Maschmann, I. / Oelkers, J. : Peter Petersen Beiträge zur Schulpädagogik und Erziehungsphilosophie. Agentur Dieck, Heinsberg 1985.

Montessori, Maria: Die Entdeckung des Kindes. (Hrsg. Oswald /Schulz-Benesch) Freiburg, Herder 1950.

Rogers, C.R.: Freiheit und Engagement. Personenzentriertes Lehren und Lernen, München 1984.

Sander, A.: Integration und Sonderpädagogik, Röhrig 1991

Schöler, J.: Methodisch-Didaktische Aspekte integrativen Unterrichts. (Kurs Nr. 04092). Hagen: FernUniversität

Wagenschein, Martin: Verstehen lehren. Weinheim, Beltz 1989.

Die Autorinnen

Marianne Wilhelm ist Professorin an der pädagogischen Akademie des Bundes in Wien für Erziehungs- und Unterrichtswissenschaften und Sonder- und Heilpädagogik. Sie ist gemeinsam mit Harald Eichelberger und Gitta Bintinger Begründerin und Leiterin des Institutes für Reformpädagogik, Schulentwicklung und Inklusive Pädagogik. Koordinatorin des Jenaplan-Hochschullehrganges; Teilnahme und Mitarbeit an EU-Projekten zur Curriculumsentwicklung und zur Lehrer/innenfortbildung (INTEGER, ETAI, EUROMOBIL, TRADE). Zahlreiche Schulentwicklungsprojekte in Ostösterreich. Publikationen zu den Themen Integrative Pädagogik, Sexualpädagogik und Reformpädagogik und Schulentwicklung.

Gitta Bintinger ist Pädagogin an der Pädagogischen Akademie des Bundes in Wien mit den Schwerpunkten "reformpädagogisch-integrativer Unterricht" und "integrative Ausbildung" in der Arbeit mit Studierenden. Sie ist Mitarbeiterin im EU-Projekt INTEGER, Proponentin der "Inklusiven Pädagogik", wissenschaftliche Autorin und in der Lehrer/innenfort- und -weiterbildung tätig.

Pädagogische Akademie des Bundes in Wien

Ettenreichgasse 45a

1100 Wien

Tel. 01 / 602 91 92

Fax 01 / 603 41 39

Quelle

Gitta Bintinger, Marianne Wilhelm: Inklusiven Unterricht gestalten. Creating Inclusive Education

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft. Nr. 2/2001; Reha Druck Graz, S.41-60

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 26.04.2005

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