Von den Anfängen der Integration zur heutigen Integrationspädagogik

Eine kritische Zwischenbilanz

Autor:in - Sabine Knauer
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 1/2003 Thema: Behindert sein oder behindert werden, S.14-25 Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (1/2003)
Copyright: © Sabine Knauer 2003

Eine kritische Zwischenbilanz

Wer sich mit der Geschichte des Anspruchs

auf gemeinsames Leben und Lernen von Menschen

mit und ohne Beeinträchtigungen beschäftigt, kommt an

Hans Eberwein nicht vorbei.

Vor 30 Jahren gelang es Hans Eberwein, erstmalig einen Beitrag zur Integration in der Zeitschrift für Heilpädagogik zu veröffentlichen, vor nahezu 20 Jahren prägte er den Begriff "Integrationspädagogik", der seither untrennbar mit seinem Namen verknüpft ist. Seinem Wirken verdanken wir Begriffsklärungen und -klarheiten, die auch - denn Sprache prägt Bewusstsein - gesellschaftliche Wirklichkeiten veränderten. Die integrative Schule als alltägliche pädagogische Praxis ist ohne sein unbeugsames Bemühen und Drängen, sein Argumentationsgeschick nicht denkbar, und doch ist aus jener Alltäglichkeit noch keineswegs Selbstverständlichkeit geworden; Sonderpädagogik und Sonderschule existieren fort, ja nehmen sich sogar ihrerseits der Integrationsdebatte an - oder versuchen sie zu vereinnahmen? - argumentativ ohne Chance, ihre ethisch-anthropologische und praktische Unzulänglichkeit zu widerlegen.

Wenn Hans Eberwein nun in den Ruhestand tritt, ist es an der Zeit, ein Fazit zu ziehen - weniger über sein Werk, das sich jeglicher kritischen Betrachtung enthebt, noch über das von ihm faktisch Erreichte. Vergleichbare Betrachtungen laufen immer Gefahr, sich unversehens in die Nähe von Nachrufen zu begeben. Es steht hingegen außer Frage, dass Hans Eberwein sich weiter engagieren wird, um endlich die schulische Benachteiligung von Kindern mit Beeinträchtigungen und ihre gesellschaftliche Ausgrenzung zu überwinden; zu sehr ist ihm dieser berufliche Schwerpunkt persönliches Anliegen. Nein, ein Fazit zu ziehen kann in diesem Falle nur heißen, zu urteilen über die Fähigkeit und Bereitschaft der bildungspolitischen und bildenden Institutionen und ihrer Vertreter, von ihm zu lernen, eigene Positionen zu überdenken und ggf. zu revidieren.

Diese Stellen öffnen sich dem Integrationsgedanken allerdings nach wie vor nur widerstrebend und zögerlich.

Eine kurze Skizzierung mag dies verdeutlichen. Bemerkenswert hieran ist, und dies möge fortwährend mitgedacht werden, dass die integrative Praxis nicht nur Vorläuferin der Theorie, sondern auch stets formal-rechtlichen und -organisatorischen Rahmungen voraus war; damit hat sie zwar einerseits die administrativen Hierarchien auf den Kopf gestellt, andererseits aber natürlich die strukturelle Definitionsmacht nicht umkehren können. So ist festzuhalten, dass auf unterschiedlichen Ebenen des Bildungswesens die integrativen und integrationspädagogischen Entwicklungen und Erkenntnisse unterschiedlich in Art, Intensität und Umfang rezipiert wurden. Genauer gesagt: Das Bildungswesen der Bundesrepublik, fasst man darunter die politische Entscheidungs- und die Verwaltungsebene, die Hochschulen, hier besonders die Lehrerbildung, und die Schulen, lässt kaum eine konsistente Klammer erkennen, sondern erscheint so disparat, dass sich die Rede von einem Bildungssystem so gut wie verbietet; vielmehr wird der Eindruck vermittelt, dass ein Bereich mit dem anderen wenig bis nichts zu tun hat, ja kaum etwas voneinander weiß. Das ist deshalb so dramatisch, weil gleichzeitig Entscheidungshierarchien einseitige Abhängigkeiten schaffen, die es beispielsweise Schulen formal-rechtlich verunmöglichen, reformpädagogische Programme umzusetzen, und den Hochschulen eine verantwortungsbewusste Lehrerbildung auf der Folie einer "Professionstheorie" (s. u.) pekuniär nicht erlauben - von den strukturellen Sperrigkeiten innerhalb der Institutionen noch abgesehen.

Ursprünge

Die Integrationsbewegung entstand in der Blütezeit der emanzipativen gesellschaftlichen Basisbewegungen der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts; ihre Wurzeln speisten sich aus der Anti-Psychiatrie, d. h. der Negation der Subjekt-Objekt-Definitionen als Herrschaftsinstrument. In Berlin, der Hochburg gesellschaftskritischer Aktivitäten in der damaligen BRD, gelang es Eltern von Kindern mit - im medizinischen Sinne - Behinderungen, die Ausgrenzungsroutinen zu durchbrechen und den Weg zum gemeinsamen Kindergarten, zur gemeinsamen Schule anzubahnen. Im damaligen, reformfreundlichen Klima fanden sie Unterstützung in einer aufgeschlossenen, zumeist jungen, selbst kritisch politisierten Lehrerschaft, mit der es gelang, zunächst im Rahmen von Schulversuchen, später als "abweichende Organisationsform", in einzelnen Schulen die Aussonderungspraxis zu überwinden. In diesem Stadium galt es, die Möglichkeiten und Vorteile integrativer Unterrichtspraxis auszuloten und unter Beweis zu stellen. Zum Schuljahr 1989/90 endlich wurde - nach nahezu 20 Jahren intensiver Anstrengungen - die schulische Integration als Regelfall im Berliner Schulgesetz vorgesehen. Nun konnten sich die Integrationsvertreter verstärkt inhaltlichen Fragen der Ausgestaltung von Gemeinsamkeit, aber auch der Theorieentwicklung widmen.

Flankiert und unterstützt wurde dieser Prozess durch die Aufnahme des Diskriminierungsverbots in das Grundgesetz 1994, durch internationale (UNESCO-Weltkonferenz in Salamanca 1994), europäische (Europäische Kommission 1996) und nationale (Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 1997) Beschlüsse zum Vorrang integrativer Praktiken sowie internationale, gesellschaftspolitische (Dekade der Behinderten 1983 - 1992; WHO 1980 u. 1990) und nationale, schulpolitische (KMK-Beschlüsse 1994 u. 2000) Neuorientierungen.

Wo stehen wir heute?

In Fortschreibung der skizzierten Entwicklung - und kein Gesetz, keine Verordnung wurde bislang revidiert - könnte vermutet werden, dass neben üblichen Schwierigkeiten und Rückschlägen und diesen zum Trotz die gemeinsame Schule als "Schule der Zukunft" (Fragner 1996, 69) in greifbare Nähe gerückt sei.

Doch leider ist es nicht an dem, im Gegenteil; dies anhand einiger Beispiele aus unterschiedlichen Bereichen zu illustrieren, soll der nächste Schritt sein.

Zur gegenwärtigen schulischen Realität

Obschon sich das Recht auf schulische Nichtaussonderung in Deutschland großflächig etabliert und sogar weit in den Sekundarschulbereich hinein ausgeweitet hat und durch höchstrichterliche Beschlüsse (Bundesverfassungsgericht Oktober 1997) untermauert wird, erfährt der gemeinsame Unterricht angesichts leerer Kassen eine innere Aushöhlung.

Beispiel Berlin: Bei der Einführung der flächendeckenden, wohnortnahen Integration wurde das so genannte "Uckermark-Modell" zugrunde gelegt, d. h. eine Integrationsklasse hatte eine Frequenz von maximal 21 Schülern - zwei mit und 21 ohne "Behinderung". Für die Schüler mit Beeinträchtigung standen, dem individuellen Bedarf entsprechend, je vier bis zehn wöchentliche Förderstunden bereit und die gesamte Klasse erhielt zehn zusätzliche Teilungsstunden.

Heute ist die Frequenzbeschränkung aufgehoben, eine Integrationsklasse muss mindestens drei Schüler mit "Behinderungen" vorweisen und Teilungsstunden gibt es nur noch wie für alle anderen Klassen bei Überschreitung der Richtfrequenzen (z. Zt. 24 Schüler). Die zusätzlichen "sonderpädagogischen" Förderstunden stehen häufig nur auf dem Papier, weil der faktische Bestand an Lehrerstunden entweder gar nicht den schulamtlichen Statistiken entspricht (z. B. infolge von Langzeiterkrankungen) oder weil sie für Vertretungsunterricht in anderen Klassen verwendet werden.

An Teamarbeit oder gar kooperativen Unterricht (vgl. Eberwein/Knauer 2002; Kreie 2002; Zielke 2002), der als Kernstück von Integration gelten darf, ist unter diesen Bedingungen gar nicht zu denken. Und eine individuelle Betreuung der Schüler, wie überhaupt differenzierende und individualisierende methodische Unterrichtsangebote sind nahezu unmöglich. Verständlicherweise fühlen sich - anfänglich durchaus motivierte und engagierte - Lehrkräfte von derartigen Arbeitsbedingungen überfordert, brüskiert, in ihrem beruflichen Ethos und Selbstanspruch konterkariert, zumal ihre Wochenarbeitszeit gleichzeitig kontinuierlich gesteigert wurde. Hinzu kommt, dass das Durchschnittsalter (!) der Lehrer in Deutschland bei ca. 50 Jahren liegt und immer noch anwachsende, zusätzliche Belastungen deren psychische und physische Grenzen überschreiten.

Die PISA-Studie, wie auch alle anderen Vergleichsuntersuchungen, bescheinigt der Bundesrepublik mangelhafte Ergebnisse ihres Schulsystems in jeglicher Hinsicht. Das verwundert Integrationsvertreter, die seit Jahrzehnten eine organisationsstrukturelle, methodisch-didaktische, zeitlich-räumliche Flexibilisierung und Reformierung von Schule und Unterricht einfordern, nicht im Mindesten.

Der als Reaktion auf die Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse zu beobachtende Aktionismus[1] der Bildungsplaner und -politiker hätte ermutigen können, wenn er in die richtige Richtung gezielt hätte. Doch geschah und geschieht etwas gänzlich Anderes.



[1] Dass dieser Eindruck nicht vollkommen aus der Luft gegriffen ist, mag dadurch untermauert sein, dass der Tagesspiegel in seiner Ausgabe vom 27.11.2002 den Präsidenten der deutschen Hochschulkonferenz mit eben diesem Begriff zitierte; er bemängelt gleichfalls das Vorliegen inhaltlicher Konzepte.

Zur schulpolitischen Situation

Die Verwendung des Begriffs "Aktionismus" deutet es bereits an: hektische Betriebsamkeit soll eifrige Anstrengungen und entschlossene Handlungsbereitschaft signalisieren, verschleiert allerdings bestenfalls zurückliegende Versäumnisse und scheint überfällige Entscheidungen zu ersetzen. Die allerorten zu hörenden Schlagwörter "Zentralabitur", "Vergleichsarbeiten", "Sprachstandsmessung" sind mit dem Kulturföderalismus der BRD sowie mit dem Trend zur vermehrten Verantwortungsübergabe an die Einzelschulen nur schwer zu vereinbaren. Sie verraten indes die Interpretationsmuster und die aus ihnen geschlossenen Zielvorgaben seitens der Bildungspolitik: Schulen und Schüler seien mit den bisherigen Freiräumen nicht verantwortungsbewusst umgegangen, hätten nach-, ja fahrlässig "Kuscheleckenpädagogik" (so der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog) betrieben, hätten infolgedessen die "hard skills" vernachlässigt, die aber für eine Wettbewerbsfähigkeit unerlässlich seien. Es sei zu wenig geprüft und ausgelesen worden und schon die Elternhäuser hätten die Erziehung zur Leistungsbereitschaft vernachlässigt.

Zu erwarten steht demnach statt einer Deregulierung des ohnehin verkrusteten und überbürokratisierten Schulwesens ein Mehr an Kontrolle, externer Evaluation, detailliert festgeschriebenen Lerninhalten und Lernzielen, kurz: eine Rückwärtsbewegung hin zu verstärktem Leistungsdruck, der an die Schüler weitergereicht werden wird. Auch steht nicht etwa die Überwindung des viergliedrigen Schulsystems in Aussicht, im Gegenteil: mit dem Argument, die PISA-Ergebnisse ließen in Deutschland eine Leistungselite vermissen, wird das traditionelle deutsche Gymnasium mit seinem Selbstbild als Bildungsanstalt der - bürgerlichen - Elite neuerlich Urständ feiern.

Und dabei entspricht es nicht nur der Überzeugung von Integrationspädagogen, sondern einer allgemeinen pädagogischen Erkenntnis, dass flexiblere Schul- und Unterrichtsformen ohne äußere Differenzierungsmaßnahmen alle Schüler besser fördern und zu qualitativ höheren Abschlüssen führen. Dies beweisen nicht nur das gute Abschneiden Finnlands in der PISA-Studie, sondern auch die noch erfolgreicheren Ergebnisse deutscher Reformschulen, der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden und der Bielefelder Laborschule (vgl. Der Tagesspiegel v. 14.1.2002).

Zu befürchten steht indes, dass reformpädagogische Modelle allenthalben zurückgestutzt werden, dass binnendifferenzierende Praktiken zugunsten noch durchgreifenderer äußerer Segregation nach dem Schulleistungsprinzip verdrängt werden. Ein Beispiel hierfür liefert die allmähliche Aushöhlung der sechsjährigen Berliner Grundschule: Vermehrt bieten Gymnasien ihren Besuch schon ab der fünften Klasse an und ermöglichen überdies das Abitur nach nur zwölf, statt 13 Schuljahren. Am Rande sei hier eine Nebenbemerkung erlaubt: Dieses Schullaufbahnangebot wurde forciert unterbreitet, als der Sitz der deutschen Regierung von Bonn nach Berlin verlegt wurde; argumentativ untermauert wurde diese Maßnahme mit dem Hinweis auf die zuziehenden Bonner Schüler der Klassen fünf und sechs, die doch bereits den Wechsel von der Grundschule vollzogen hätten und denen man nicht erneut den Besuch einer Primarschule zumuten könne. Bemerkenswert, dass diese Argumentation a) von keiner Seite in Frage gestellt wurde und b) offensichtlich jedermann davon ausging, dass Bonner Schüler per se Gymnasiasten seien - denn vergleichbare Möglichkeiten gibt es weder an Haupt-, Real- noch Gesamtschulen. Soviel nur zur Rationalität schulpolitischer Entscheidungen ...

Immerhin ergreifen auch mehr und mehr Berliner Eltern - oft unter Zähneknirschen - die Chance, ihre Kinder, sofern deren Zensuren es zulassen, ab der fünften Klasse auf ein Gymnasium zu schicken; die Nachfrage übersteigt mittlerweile bei weitem das Angebot. Ursachen hierfür sind u. a. in einer schweren Erschütterung des Vertrauens in die Grundschulen zu suchen, die meist nach wie vor undifferenzierten Einheitsunterricht durchführen, der keiner Schülergruppe gerecht wird.

Während aber ein konsequent differenzierender Unterricht - wiewohl in den Rahmenplänen als selbstverständlich erwähnt - faktisch zu keiner Zeit als Standard galt und eingefordert wurde, reagierte die Schulverwaltung vor gut einem Jahr auf die schlechten Ergebnisse der TIMSS-Studie sofort mit der Anordnung äußerer Differenzierungsmaßnahmen in Klasse fünf und sechs der Grundschule. In einem Automatismus quasi wurde das schlechte Abschneiden von Siebt- und Achtklässlern in Mathematik und Naturwissenschaften unhinterfragt dem Standort Grundschule angelastet (obwohl Physikunterricht z. B. erst ab Klasse acht erteilt wird). Eine Diskussion zur Verbesserung der Unterrichtsqualität fand hingegen nicht statt.

Diese Beispiele mögen ausreichen zu dokumentieren, dass Bildungspolitik in Deutschland derzeit nur

  • defensiv und auf Hiobs-Botschaften reagiert,

  • keine grundlegenden Reformen anstrebt,

  • die traditionelle Viergliedrigkeit des Schulwesens in wachsendem Ausmaß estschreibt,

  • infolgedessen eine - wie von der Integrationspädagogik geforderte - Allgemeine Pädagogik (vgl. Feuser 1998) auf hohem qualitativem Niveau für nicht erforderlich hält.

Zusätzlich verstärkt werden diese Tendenzen durch die katastrophal angespannte Finanzsituation, die - allen Wählerstimmen rekrutierenden Beteuerungen zum Trotz - jedweden weiteren Einschnitt in die Ausstattung des Schulwesens nach dem Rasenmäherprinzip zu rechtfertigen scheint und offensichtlich anstelle vermehrter Anstrengungen mit den Ressourcen auch das Nachdenken über kreative und produktive Auswege aus der Krise verknappt.

Dies aber bedeutet nichts anderes, als dass in Zeiten um sich greifender Armut (Kinder unter 18 Jahren stellen 6,8 % der Sozialhilfeempfänger; 28,1 % der Haushalte allein erziehender Frauen leben von Sozialhilfe; vgl. Armutsbericht der Bundesregierung, XXII) gerade die Belange individuell und sozial benachteiligter Kinder zusätzlich gesellschafts- und bildungspolitisch ins Hintertreffen geraten. Armut ist aber heute wie zu allen Zeiten einer der maßgeblichsten Faktoren für Benachteiligung und Behinderung: "Armut bedeutet für Kinder eine Einschränkung ihrer Erfahrungs-, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten. Kinder sind vor allem dann in ihrer Entwicklung beeinträchtigt, wenn belastende Faktoren kumulieren." (ebd., XXV) Aufwachsen in Armut zieht soziale Isolation und lebenslange Beeinträchtigung nach sich: "Kinder erleben, dass die Einschränkung im Konsum und die Ausgrenzung von (Bildungs-)Angeboten daraus resultiert, dass den Eltern die Möglichkeiten fehlen, ihre Wünsche und Interessen zu unterstützen. Armut bedeutet dann für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen Einschränkung und Ausgrenzung als fundamentale Erfahrung des Aufwachsens. Die möglichen Konsequenzen für die Kinder sind geringes Selbstwertgefühl, Depressivität, Einsamkeit, Misstrauen, Nervosität, Konzentrationsschwäche und Resignation in Bezug auf berufliche Chancen." (ebd., 115) Treten gesundheitliche Probleme der Eltern hinzu, ist das schulische und soziale Scheitern der Kinder gewissermaßen vorprogrammiert: "Haushalte mit behinderten Elternteilen verfügten im Schnitt über weniger als halb so viel Geld wie der durchschnittliche Haushalt mit Kindern in Deutschland; die Einkommenssituation von Frauen mit Behinderung stellte sich dabei sowohl im Vergleich mit behinderten Männern als auch mit nichtbehinderten Menschen als besonders schlecht dar." (ebd., 33)

Schulische Integration gerinnt, wenn man sie unter Haushaltsvorbehalt (d. h. abhängig von vorhandenen finanziellen, sächlichen und personellen Ressourcen) stellen zu müssen meint, in diesem Zusammenhang zur Gnade und zum vermeintlichen Luxus; in finanziellen Krisensituationen der öffentlichen Kassen werden nicht nur verantwortungslos individuelle Lebenschancen gemindert, sondern überdies in verwerflicher Weise gesellschaftliche Humanreserven verschwendet.

Immerhin, so hat es den Anschein, kommt wenigstens in die deutsche Lehrerbildung endlich Bewegung. Daher soll im Folgenden untersucht werden, inwieweit die angedachten Strukturveränderungen der Lehramtsstudien aus Sicht der Integrationspädagogik "modernere" Lehrer (Fragner 1996, 69) hervorbringen werden. Und mit dem Blick auf die Hochschulen sollen auch die aktuellen äußeren Bedingungen und inneren Entwicklungen der Integrationspädagogik selbst angerissen werden, um deren künftige Aufgaben und Aussichten auf die Grundlage realistischer Einschätzungen zu stellen.

Integrationspädagogik in der Lehrerbildung und als universitärer Lehr- und Forschungsgegenstand

Die deutsche Lehrerbildung ist seit einigen Jahren ins Gerede gekommen: zu praxisfern, zu wenig fachwissenschaftlich, zu wenig didaktisch-methodisch, universitär nicht anschlussfähig. Gleichzeitig vielfältige Problematiken sind hiermit angesprochen, die in diametrale Lösungsvorschläge münden müssen. Es sollen verschiedene Aspekte betrachtet und daraufhin überprüft werden, ob sie dem Anspruch der Integrationspädagogik genügen bzw. dem integrationspädagogischen Ansatz gerecht werden. Zunächst heißt dies allgemein:

  • "Alle Lehrer sollten zumindest ein Fach gründlich studiert haben; und zwar weniger, um es entsprechend de- und reduziert an ihre Schüler weiterzugeben, sondern um selbst die Erfahrung gründlicher Auseinandersetzung mit einem Gegenstandsbereich gemacht zu haben, dies schließt das Aushalten von Widersprüchen und eigenen Sperrigkeitsphänomenen sowie das dialogische und dialektische Überwinden derselben ein. Nur wer selbst Wissensdurst, Bereicherung durch Wissen, dessen direkte Anwendung und im Transfer, aber auch Lern- und Verstehenshemmnisse erfahren hat, kann einfühlsam und geschickt mit dem Lernen anderer umgehen.

  • Lehrer für eine "Schule der Zukunft" müssen neben Kenntnissen in den Nachbardisziplinen der Erziehungswissenschaft (besonders Psychologie und Soziologie) auch die Fähigkeit zu interdisziplinärer und multiprofessioneller Zusammenarbeit erwerben.

  • Studierende benötigen Einblick in und Teilhabe an Forschung, um später, als Lehrer, analytisch-induktive Verstehens- und Verständigungsvollzüge bewerkstelligen zu können.

  • Schließlich hat die "Schule der Zukunft" Bedarf an "reflektierten Praktikern" (was im Übrigen handwerkliches und musisches Können keineswegs ausschließt). Zur Reflexion gehört aber in erster Linie, sich mit eigenen Alltagstheorien, die unversehens zum "heimlichen Lehrplan" und - unhinterfragt - zu Dissonanzen in der eigenen Persönlichkeit führen, auseinanderzusetzen. Um dies leisten zu können, bedarf es der Ordnungsmechanismen, die Theorieschulen bieten." (Knauer 2000, 277 f.)

Hinsichtlich spezieller integrationspädagogischer Studieninhalte sind i. e. S. zu fordern:

  • "mehrsemestrige, integrationspädagogische Seminare in engem Theorie-Praxis-Bezug (kontinuierliche Unterrichtsbeobachtung und -auswertung) in geschlossenem Teilnehmerkreis;

  • Übung in Methoden qualitativer Sozialforschung (Teilnehmende Beobachtung, Interview, kommunikative Validierung etc.) und Auswertung/Interpretation in Partnergruppen;

  • Unterrichtsversuche im Partnerteam im Rahmen der Praktika;

  • Möglichkeiten zur individuellen Interessenschwerpunktsetzung im Zusammenhang allgemeindidaktischer Seminare;

  • Möglichkeiten zu gemeinsamer Anfertigung von Abschlussprüfungsarbeiten." (Knauer 2000, 285)

Wenn in Berlin seit drei Jahren der Besuch einer integrationspädagogischen Veranstaltung verpflichtendes Additum aller erziehungswissenschaftlichen und Lehramtsstudiengänge ist, so ist dies gewissermaßen als Pyrrhussieg eines zähen Ringens anzusehen. Unschwer ist nachvollziehbar, dass Studierende, die gegen Ende ihres ohnehin an Pflichtveranstaltungen prallen Studiums nun mit noch einer zusätzlichen Verpflichtung gesegnet werden, diese nicht unbedingt mit großer Eingangsmotivation besuchen. Aus ihrer Sicht müssen sie neben dem "Ausländerschein" (Besuch einer Lehrveranstaltung zum Unterricht mit Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache) jetzt noch einen, vom übrigen Studienkanon isolierten "Behindertenschein" zur Prüfungsanmeldung mitbringen. Um diesen zu erhalten, sitzen sie derzeit in "Seminaren" mit 100 bis 150 Teilnehmern, und es ist mehr als überraschend, dass es dennoch zumeist gelingt, ihr Interesse an der Thematik zu wecken und sogar zum Frontalbetrieb alternative Formen zu entwickeln. Die ursprüngliche Absicht jedoch, und diese ist untrennbar mit den Prinzipien der Integrationspädagogik verknüpft, eine durchgängig andere Lehr-/Lernorganisation modellhaft für integrativen Unterricht anzubieten, wird parodiert. Und da zudem - nach dem Weggang von Hans Eberwein - an der Freien Universität diese Lehrangebote nahezu ausschließlich durch Lehraufträge abgedeckt werden, die semesterweise erteilt werden, sind Forschung, Kontinuität der Lehre sowie die Möglichkeit, integrationspädagogische Studien- und Prüfungsschwerpunkte zu setzen, so gut wie ausgeschlossen.

Wird eine künftige, reformierte Lehrerbildung diesen Missstand beheben?

Im Oktober 2002 fand in Berlin die Tagung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft zur "Lehrerbildung zwischen Reform und Neubildung" statt und Vorschläge aus verschiedenen Bundesländern wurden vorgelegt und diskutiert. Im Mittelpunkt stand die geplante Umgestaltung der mit Staatsexamina abschließenden Lehramtsstudien in Bachelor- und Masterstudiengänge. Hierzu gab es unterschiedliche Strukturierungsvorstellungen, die in ihrer Summe das gesamte Spektrum der Kritik an der derzeitigen Situation berücksichtigten, aber eben im Einzelnen wiederum Schwerpunktsetzungen vornahmen, so dass andere Gesichtspunkte in den Hintergrund rückten. Insgesamt lässt sich der Eindruck nicht verhehlen, dass es sich hier im Wesentlichen - in Umkehrung des Sprichworts - um alten Wein, diesmal in neuen Schläuchen - handelt, allerdings zeitlich gestrafft, und der eigentliche Motor der Sparzwang der Hochschulen ist. Denn um Inhalte wurde kaum gerungen, je nach Provenienz der Vortragenden standen eher fachwissenschaftliche, didaktisch-methodische, praxisorientierende oder organisationsstrukturelle Perspektiven zur Debatte. Der Begriff "Integrationspädagogik" fiel während des gesamten Tages nicht einmal, noch nicht einmal sonderpädagogische Kompetenzen wurden als erforderlicher Bestandteil der allgemeinen Lehrerbildung erwähnt; die Ausbildung zum Sonderschullehrer hatte hingegen als eigenständiger Studiengang unangefochten Bestand.

Diese Beobachtung nährt die Vermutung, dass ein tatsächlicher Paradigmenwechsel in der Lehrerbildung überhaupt nicht ins Auge gefasst wird. Anzusetzen wäre aus wissenschaftlicher Sicht bei der Suche nach dem Aufgaben- und Fähigkeitsprofil des Lehrberufes und der Entwicklung einer Professionswissenschaft für Lehrer, die nämlich mit der Erziehungswissenschaft keineswegs deckungsgleich ist (vgl. Kahl 2000; Reich 1996; Bauer/Kopka 1996, 1994; Flach/Lück/Preuß 1995; Bäuerle 1989). Sodann wäre zu fragen, was die universitäre Lehrerbildung im Hinblick hierauf wie leisten könne. Erst auf der Basis wissenschaftlich fundierter, inhaltlicher Überlegungen, die ausgetretene Pfade verlassen und alte Streitpunkte (mehr Fach - mehr Pädagogik) überwunden hätten, würde eine Neustrukturierung mit Sinn gefüllt.

Auch an diesem Punkt ist aus integrationspädagogischer Sicht also keine Verbesserung zu erwarten.

Hans Eberwein hat einmal geschrieben, dass die Integrationspädagogik ein transitorischer, d. h. ein Übergangsbegriff sei (vgl. Eberwein 1995, 37 f.). Sie habe "dann ihren Auftrag erfüllt, wenn die Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen in Schulen und Vorschulen endgültig überwunden ist. Wenn Nicht-Aussonderung den Regelfall darstellt, bedarf es nicht mehr verschiedener Pädagogiken" (Eberwein 1996, 33).

Ist die Entwicklung tatsächlich so weit fortgeschritten, dass an einen Verzicht auf den Integrationsbegriff gedacht werden sollte, um nicht autopoietischem Narzissmus zu verfallen?

Verschiedene Publikationen scheinen in diese Richtung zu weisen. Hinz beispielsweise überschreibt einen Beitrag "Von der Integration zur Inklusion" (2002, 354) und benennt "aus inklusiver Sicht drei Kritikpunkte" an der Integration: "Die Fixierung auf die administrative Ebene, das Festhalten an einer Zwei-Gruppen-Theorie und die administrative Etikettierung mit entsprechenden individuellen Curricula." (ebd., 356) Seine Kritik und seine Ausführungen zur "Inklusion" erwecken allerdings den Eindruck, als habe er die Weiterentwicklung der wissenschaftlichen und praktischen Integrationspädagogik zumindest der letzten zehn Jahre nicht aufmerksam genug verfolgt; was er nämlich in einer tabellarischen Gegenüberstellung (ebd., 359) der Inklusion zuschreibt, ist längst Standard des Integrationsdiskurses. Vielmehr ist zu bemängeln, dass der Beitrag seinem eigenen Anspruch, den individuumzentrierten Ansatz - der obendrein fälschlich der Integration unterstellt wird - zu überwinden, nicht gerecht wird; ist doch die Rede von "vielen Kindern mit deutlichen Entwicklungsproblemen" (ebd., 358).

Wem kann eine solche Debatte zurzeit nützen?

Vermutlich am ehesten den Integrationsgegnern, die eine Chance wittern, die Integrationsbewegung könne sich durch interne Positionsstreitigkeiten selbst schwächen und daher umso leichter gespalten und in die Bedeutungslosigkeit zurück gedrängt werden.

Das Ringen um vollständige, uneingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit jeder Art von Beeinträchtigungen darf aber nicht zur Spielwiese persönlicher Eitelkeiten und verbandspolitischer Gruppeninteressen verkommen.

Es ist daher nicht ungefährlich, den Inklusionsbegriff zu verwenden zu einer Zeit, da gesellschaftliche Entwicklungen eher einem entgegengesetzten Trend folgen, indem sie eine zunehmende soziale Segregation und Separation mit der Folge verstärkter Marginalisierung großer Bevölkerungsanteile signalisieren (vgl. Ramseger 1998, 324 f.).

Wenn die Praxis der "Inklusion" in greifbare Nähe gerückt wäre, bedürfte es in der Tat keiner speziellen Pädagogiken mehr, denn die Ziele der Integrationspädagogik wären erreicht, die Forderung Feusers nach einer "Allgemeinen Pädagogik" im eigentlichen Sinne wäre erfüllt. 1995 (38) schrieb Hans Eberwein: "Der systemtranszendierende Weg dorthin führt über die Integrationspädagogik. Sie stellt sozusagen die Brücke dar zwischen Sonderpädagogik und Allgemeiner Pädagogik." Diese Auffassung ist bis heute unwiderlegt und immer noch aktuell.

So wenig die Integrationspädagogik den international verbreiteten Begriff der Inklusion zurückweist oder meidet, sondern selbstverständlich offen ist für eine - auch sprachliche Erweiterung ihrer Grundlagen, ebenso wenig sollte auf einen Begriff verzichtet werden, der sich dank Hans Eberwein als "Markenzeichen" im allgemeinen Bewusstsein verankert hat.

Denn von den überdauernden Zielsetzungen der Integrationspädagogik sind wir, wie aufzuzeigen war, noch weit entfernt - vielleicht weiter denn je.

Schlussbetrachtung

Vorstellbar ist indes, dass Kinder mit Beeinträchtigungen in gar nicht allzu ferner Zukunft zusammen mit Schülern, die aus den verschiedensten Gründen weniger schnell und weniger erfolgreich schulisches Wissen erwerben, durch äußere Differenzierung selektiert werden und ihre gezielte Förderung auf ein Minimum reduziert wird; weiter ist denkbar, dass sich die Sonderschule in ihrem Bestreben um Selbsterhalt als die humanere, innovativere und effizientere Alternative präsentiert und sich als Angebotsschule zur Wahl stellt, indem sie die ihr verfügbaren finanziellen Ressourcen in organisationsstrukturelle Reformen umsetzt.

Es scheint keineswegs undenkbar, dass man sich des Normalitätsbegriffs der Integrationspädagogik bedient und eine perfide Argumentationskette konstruiert nach dem Muster: wenn es normal ist, verschieden zu sein, wird dieser Verschiedenheit durch äußere Differenzierung Rechnung getragen - und es bedarf nicht einmal mehr des Behinderungsbegriffs, um das soziale Gefälle der bundesrepublikanischen Gesellschaft erneut im Bildungssektor selektiv abzubilden.

Derweil noch Hoffnungen von Integrationsvertretern genährt werden, Nichtaussonderung und gemeinsames Lernen befänden sich auf dem Wege zur Regelpraxis, weht bildungs- und gesellschaftspolitisch bereits ein ganz anderer, scharfer Wind.

Unter dieser Voraussetzung würde die Integrationspädagogik ihrer Klientel einen Bärendienst erweisen, wenn sie an der engen Zielsetzung schulischer Nichtaussonderung innerhalb der Regelschule festhielte, ohne dass diese sich in erforderlicher Weise reformierte. Normalität hieße dann, den zahllosen mangelhaften und beklagenswerten Normalitäten eine weitere hinzugefügt zu haben.

Es erscheint auf den ersten Blick nicht einfach, für die widersprüchlichen Tendenzen, wie ich sie beispielhaft aufzuzeigen versucht habe, eine sie in Zusammenhang bringende Klammer zu finden. Da werden einerseits rechtliche Grundsatzregelungen getroffen, die andererseits durch Vorschriften ausgehöhlt werden; es werden Absichtserklärungen, Willensbekundungen und Umgestaltungsvorschläge im Hinblick auf eine dringend veränderungswürdige Praxis unterbreitet, deren Verwirklichung von den organisationsstrukturellen Rahmenbedingungen eben jener Praxis und der Systematik administrativer Entscheidungsprozesse unterlaufen wird; zukunftsweisend werden Programmatiken ausgerufen, obschon alles darauf hindeutet, dass gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Entwicklungen gerade gegenläufigen Tendenzen folgen.

Die wiederholte Erfahrung enttäuschter Erwartungen hinsichtlich der Verbesserung der partizipativen Möglichkeiten für beeinträchtigte und benachteiligte Menschen erzeugt mittlerweile einen Wachsamkeitsreflex ganz anderer Art: Die erste Frage lautet nicht mehr "Wie werden sich die angelegten Verbesserungen niederschlagen?", sondern "Welche Lücke wird sich bieten, um die Hoffnung auf eine bessere Ausgangslage in Verschlechterungen umzuinterpretieren?" Sind vor diesem Hintergrund die in Aussicht gestellten Erneuerungen lediglich euphemistische Verheißungen?

Die Integrationspädagogik ist angetreten mit dem erklärten Anspruch auf Bejahung von Vielfältigkeit in Gemeinsamkeit. Damit ist sie - historisch betrachtet - eine für die Transformation in die Spät-(oder Post-)Moderne charakteristische Erscheinung. Während kennzeichnend für die Moderne der Versuch des Menschen war, mit Hilfe der Vernunft und der einwertigen Logik objektive und eindeutige Lösungen und Ordnungen zu finden, besteht ein wesentliches Merkmal des derzeitigen Übergangs in der Relativierung jeder wie immer gearteten Realität. Wirklichkeiten sind wiederhol- und wandelbar; sie werden von "Hyperrealitäten" (Bauman 1997, 127) überlagert, jeweilige (hergestellte) Kontexte und Botschaften suggerieren unterschiedliche Wahrheitsgehalte. Zum Urteilsmaßstab und zur Maxime sittlichen Handelns geriert zunehmend der subjektive Beobachterstandpunkt (vgl. Reich 1996), der aber seinerseits stets gewechselt werden kann. Dies fordert dem Individuum und der Gesellschaft ein außerordentliches Maß an Ambivalenz- und Ambiguitätstoleranz ab. Widersprüche und aus ihnen erwachsende Probleme müssen ausgehalten und permanent bearbeitet werden, einfache Antworten sind nicht in Sicht (Bauman 1997, 125); möglicherweise geht es sogar weniger darum, richtige Antworten zu finden als die passenden Fragen.

Diese neue Sicht auf Vielfältigkeit mag erklären, weshalb historisch gewachsene Regulierungs- und Strukturierungsmechanismen und ihnen zugrunde liegende Sprachmuster Wirklichkeiten gestaltende Kraft einbüßen. Aus einem Satz, einer Situation lassen sich, je nach Kontext und Beobachterstandpunkt, diverse Wirklichkeiten und Konsequenzen konstruieren.

Soll aber die Vielfalt möglicher Wirklichkeiten nicht zu Orientierungslosigkeit und Beliebigkeit der Standpunkte verkommen, sondern Toleranz und Solidarität als die Menschheit erhaltende Grundhaltungen erzeugen (vgl. Bauman 1997, 24), bedarf es wachsamer und behutsamer Steuerungsinstrumente.

Der von Hans Eberwein mehrfach zu Recht kritisierte Haushaltsvorbehalt der Länder gegenüber der integrativen Unterrichtung (vgl. 2002, 368-370) ist - postmodern argumentiert - eine der möglichen Folgen aus integrationsfreundlichen Bestimmungen. Im Klartext führt er jenen, die noch am Eindeutigkeitsgebot von Sprache festhalten und das gesprochene wie geschriebene Wort für eine dahinter stehende Absicht erachten, die veränderte Wirklichkeitsbeziehung vor Augen. Würde er fallen, stünde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Verschlechterung der Lernbedingungen aller Kinder zu befürchten; denn die für integrativen Unterricht erforderlichen Rahmenbedingungen sind - nicht ohne Grund - rechtlich nicht verankert und somit nicht einklagbar (s. o. das Beispiel Berliner Schulen).

Wie bereits am Anfang meines Beitrages befürchtet, wird der in dieser Hinsicht paradigmatische Charakter der Integrationspädagogik bis heute verkannt. Denn trotz der Fülle wahrnehmbarer Realitäten: die vollzogene gesellschaftliche Inklusion zählt sicher nicht dazu.

Es wird demnach Aufgabe einer künftigen wissenschaftlichen Integrationspädagogik sein, die mit den Wirklichkeiten vieldeutig gewordene Sprache auf ihre Semantiken abzuklopfen und dafür Sorge zu tragen, im Babylon der Meta-Begrifflichkeiten nicht die Orientierung auf das Wesentliche zu verlieren: Die Durchsetzung der vollständigen, gleichberechtigten Teilhabe aller Menschen an einer vielfältigen Kultur der Gemeinschaftlichkeit gemäß ihren jeweiligen Bedürfnissen. Hans Eberwein möchte ich bitten, uns hierbei auch in Zukunft mit Begriffsklärungen und -klarheiten zu helfen.

So gesehen ist es unverständlich, dass die Freie Universität Berlin seinem Weggang Hans Eberweins die Integrationspädagogik sichtlich vernachlässigt. Hans Eberwein hat der FU ein integrationspädagogisches Profil verliehen, mit dem sie durchaus einen Ruf zu verlieren hat.

Literatur

Bauer, K.-O./Kopka, A./Brindt, St.: Pädagogische Professionalität und Lehrerbildung. München 1996.

Bauer, K.-O./Kopka, A.: Vom Unterrichtsbeamten zum pädagogischen Profi - Lehrerarbeit auf neuen Wegen. In: Rolff, H.-G./Bauer, K.-O./Klemm, K./Pfeiffer, H./Schulz-Zander, R. (Hrsg.): Jahrbuch der Schulentwicklung, Bd. 8. Weinheim/München 1994, 267-307.

Bäuerle, S.: Wir benötigen gute Lehrer. In: Bäuerle, S. (Hrsg.): Der gute Lehrer: Empfehlungen für den Umgang mit Schülern, Eltern und Kollegen. Stuttgart 1989, 5-6.

Bauman, Z.: Postmoderne Ethik. Hamburg 1996.

Bauman, Z.: Postmoderne als Chance der Moderne. In: Bardmann, Th. M. (Hrsg.): Zirkuläre Positionen. Konstruktivismus als praktische Theorie. Opladen 1997, 121-128.

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Die Autorin

Dr. Sabine Knauer, Grund- und Sonderschullehrerin, Sozialpädagogin. 1993-1998 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Integrationspädagogik an der Freien Universität Berlin, seither dort Lehrbeauftragte und freiberufliche Erziehungswissenschaftlerin.

Libellenstraße 7

D-14129 Berlin

Quelle

Sabine Knauer: Von den Anfängen der Integration zur heutigen Integrationspädagogik. Eine kritische Zwischenbilanz

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft. Nr. 1/2003; Reha Druck Graz, S.14-25

Version)

Stand: 09.02.2005

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