Von der moralisch-pädagogischen Urszene zur Gerechtigkeit

Autor:in - Josef Fragner
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 1/00 Thema: Neue Perspektiven in der Sonderpädagogik Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (1/2000)
Copyright: © Josef Fragner 2000

Vom Wissen zum Verstehen?

Zunächst möchte ich fragen, ob es einen Weg gibt vom Wissen zum Verstehen. Wächst unser Verstehen mit dem Zuwachs von Wissen? Dieses Wissen ist ja unbestritten in den letzten Jahren gestiegen, um nicht zu sagen explodiert. Was früher im Düsteren des Schicksals, der Religion lag, wird jetzt mit dem Laserstrahl der Wissenschaft seziert.

Das ist auch verständlich, denn mit Behinderung konfrontiert, versuchen viele mit einordnender Erklärung diesem Phänomen zu begegnen. Das Wissen versucht, Behinderung dadurch zu bewältigen, indem es einordnet, indem das Andere, das Neue, Unvertraute an dem Bekannten, an dem, wie es sein soll, gemessen wird. Durch einordnendes Erklären versucht das Wissen, den fordernden Charakter der Situation zu bewältigen, also ihn abzutun. Das Erklären, basierend auf dem Zusammenhang von Ursache und Folge, schafft aber nicht nur Erkenntnis, sondern auch Distanz. Durch die Beschreibung und Erklärung wollen wir eine Lebenswelt retten, die nicht auf den Begriff zu bringen ist. Durch die oft krampfhafte Suche nach Information entsteht nicht selten die paradoxe Situation, dass das gegenseitige Verstehen umso mehr darunter leidet, je mehr wir zu "wissen" glauben. Dies wird besonders bei behinderten Kindern deutlich. Das Kind muss das tun, was "die anderen" meinen, was sie wollen, planen und auch erreichen. Fluchtmöglichkeiten aus der "Wirklichkeit der anderen" gibt es selten. Pädagogen wie Eltern versuchen ihre Bilder, ihre Vorstellungen und Träume bei behinderten Menschen zu verwirklichen. Dabei gewinnen "therapeutische Ziele", "Förderprogramme und -pläne" oft ein Eigenleben, das mit dem Leben des behinderten Menschen nichts mehr gemein hat. Es artet nicht selten in ein "Bescheid-Wissen" aus. Da ist auf einer Seite der Wissende, der Gebende, der Mächtigere, auf der anderen Seite der Empfangende, der Nehmende. Die Sicherheit, vermeintlich durch das Festhalten am "Bescheid-Wissen" gewonnen, gerät schnell ins Wanken, wenn wir uns auf das "Verstehen" einlassen. Beim Verstehen ist das "Sich-hinein-Fühlen" die Richtschnur. Das Verstehen setzt aber einen Prozess der aktiven Teilnahme voraus.

Uns scheint immer mehr die Fähigkeit verlustig zu gehen, uns auf das Risiko einer belastenden Interaktion einzulassen, aus der Sorge, unsere Gedanken, unsere Gefühle, unsere Wünsche und Träume, auch unsere Erwartungen und Hoffnungen gehen ins Leere, werden disqualifiziert, als wertlos zurückgewiesen. Der Fachmann muss und soll profundes Können und vielfältige Erfahrungen bezüglich der Lebensgestaltung mit einer Behinderung sammeln, doch sind das seine Erfahrungen und nicht die eines behinderten Menschen selbst. Nicht mehr der behinderte Mensch soll Ansatzpunkt des Handelns sein, sondern die "gemeinsame Welt" soll gesucht und erarbeitet werden. Dies setzt oft einen schmerzhaften Prozess der Selbstveränderung voraus. Verstehen heißt dann nicht einfach, unverständliche Erscheinungs- und Verhaltensweisen von Behinderten in normale Denk- und Handlungsgewohnheiten intellektuell zu übersetzen, verstehen heißt "teilhaftig" werden, sich einnehmen lassen von etwas Unverständlichem, verstehen heißt antworten.

Vielleicht sind unsere Kategorien des Wissens nur auf einer Ebene angesiedelt. Wir kommen dabei kaum weiter, wenn wir immer gründlicher und differenzierter nur diese eine Ebene verfeinern. Die Medizin, die Wissenschaft und letztlich auch die Politik bringen zwar Wissenszuwächse auf der Ebene behindert/nicht behindert, führen aber nicht zu einem dialogischen Verständnis.

Einfühlendes Verständnis ist die Grundlage jeglichen pädagogischen Dialogs. Das Verstehen ist nicht nur Ausgangspunkt, es wird auch oft zum hilfreichen Mittel. Wie oft "ändert" sich ein Verhalten, nachdem man sich intensiv bemüht hat, es zu verstehen. Oft ebnet es auch den Boden, auf dem Zutrauen und Vertrauen entstehen können.

Dabei müssen wir uns befleißigen - Dieter Fischer weist uns darauf hin -, Menschen in ihrer Konkretheit anzuerkennen, die ihr Leben wie ihr Lernen bestimmt. Dies in einer Welt, die Verbundenheit durch Distanz herstellt, die dem anderen in der Ferne nahe ist, die in einem gnadenlosen Mix aus Wichtig und Nichtig die Realität durch Wunschvorstellungen verdrängt. Diesem ungeduldigen Drängen auf Distanzierung durch unser kategorisierendes Wissen dürfen wir den anderen nicht ausliefern.

"Der tiefe, philosophischen Sinn des Begriffs der Praxis besteht darin, uns in eine Ordnung einzuführen, welche nicht die der Erkenntnis, sondern die der Kommunikation, des Austausches, des Umgangs ist" (Merleau-Ponty).

Erst dies eröffnet uns Räume des Verstehens. So schwierig diese Prozesse auch sind, so bilden sie dennoch Dämme gegen inhumane Beziehungen.

Gleichgültigkeit und Ambivalenz

Damit einher geht die Frage, ob wir das Kind mit dem Bade ausschütten, ob wir die Vernunft durch Gefühl ersetzen, oder anders formuliert, ob kategorisierendes Denken und einfühlsames Verstehen sich gegenseitig behindern oder notwendig ergänzende Kategorien sind.

Die Wissenschaft, auch die wissenschaftliche Behindertenpädagogik, kann Menschen wie Gegenstände definieren und behandeln und "muss" sie nicht wie Personen achten. So kann auf Grund theoretischer Konstrukte, deren Vorannahmen nicht immer geklärt und bewusst sind, beobachtet, diagnostiziert, festgestellt und gefördert werden, ohne dass die Lebenswelt dieser Personen, ihre eigenen Erlebnisse, Erfahrungen, Wünsche und Ziele gesehen oder respektiert werden, ohne dass sie selbst (mit-)bestimmende Subjekte ihrer Situation werden.

Es ist aber meiner Meinung nach ein vergeblicher Versuch, den Menschen durch "festgestellte" Fähigkeiten oder Merkmale - seien sie durch noch so verfeinerte diagnostische Methoden erhoben - so zu beschreiben, dass sich daraus künftiges Verhalten vorhersagen läßt. Jeder handelt als Original, situativ abhängig davon, was er gelernt hat, wie er die Situation einschätzt, was er von ihr befürchtet, erwartet, erhofft, welche Vorstellung er von sich selbst hat. "Der Mensch wird zu dem Ich, dessen Du man ihm gewährt" (M. Buber).

Die größte Gefahr besteht darin, dass durch einen kategorisierenden Blick der andere Mensch zu einem Ding, zu einer Sache, zu einem Dingsda reduziert wird.

Diese Entwürdigung des Menschen hat meist keinen Zusammenhang mit der formalen Bildung des Entwürdigers.

Gerade die "hungrigsten" Wissenschaftler waren und sind es, die durch ihr Wissen und ihren Forscherdrang in Bereiche hineindrängen, die mit der reinen instrumentellen Vernunft nicht mehr erklärbar sind.

Der Blick von einem Menschen zu einem Nichtmenschen stellt also in keiner Weise das Gegenteil der Vernunft dar. Insgesamt hat dabei die instrumentelle Vernunft in der Seele die Forderungen des Gespürs für Moral und die Gewissheit des Gemeinsinns besiegt. Und eben dieser Sieg macht seinen Wahnsinn aus.

Hannah Arendt interpretiert das Böse (wie im Fall Eichmann dargestellt) als ein Produkt der Gedankenlosigkeit. Eichmann war nicht bloß gedankenlos, müsste man ergänzen, sondern vor allem gefühllos. Was in Wahrheit das Böse freisetzte, war Eichmanns Gleichgültigkeit gegenüber der Bedeutung des Leidens, der Zufügung von Schmerz. "Es gibt keinen uninteressierten Zugang zum Phänomen des Leidens; wenn man die Fähigkeit zu fühlen aus der Moralität ausschließt, schließt man die Humanität aus ihr aus."

Wurden wir früher mit offener Ablehnung und Intoleranz konfrontiert, so heute mit einer Gummiwand aus Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit empfinde ich als bedrohlicher, obwohl sie in der Maske der Freundlichkeit daherkommen kann. Gleichgültigkeit herrscht unter Dingen, unter Dinggleichen. Und Gleichgültigkeit ist sehr schwer aufzubrechen.

Gefühle durchbrechen Gleichgültigkeit.

Gefühle entziehen den Anderen aus der stereotypen Gewissheit und werfen ihn in ein Universum des Fragens und der Offenheit. Gefühle entwinden den Anderen der Welt der Routine und normativ erzeugter Monotonie. Dadurch macht die emotionale Bindung den Anderen zum Problem und zur Aufgabe des Selbst für das Selbst. Der Andere verwandelt sich in die Verantwortung des Selbst, und hier genau beginnt die Moral als Möglichkeit der Wahl zwischen Gut und Böse.

Ein Ziel könnte die Gleichwertigkeit sein:

Gleichwertige Lebensmöglichkeiten können aber nicht nur durch Maßnahmen am einzelnen "Behinderten" erreicht werden, sondern nur durch Teilnahme am gemeinsamen Leben mit wechselseitigem Lernen. Nur ein Leben mit gegenseitigen Beeinflussungen, mit wechselseitigen Beziehungen, mit gemeinsamen Erfahrungen kann Verstehen und ein Miteinander aufbauen. Ein gleichwertiges Leben für alle sollte individuelle spezifische Lebensformen zulassen und zugleich Orientierungen an gemeinsamen kulturellen Mustern und Werten ermöglichen.

Gleichwertige Lebensmöglichkeiten können wir nur im Miteinander aufbauen, sie bereichern unser Leben meist erheblich.

Auf eine häufige Fehlinterpretation sei ausdrücklich hingewiesen: Gleichwertigkeit bedeutet keineswegs Gleichartigkeit. Genau das Gegenteil ist der Fall: Die Anerkennung der Gleichwertigkeit, also des demokratischen Prinzips, ist inkompatibel mit "einheitlichen" Lebensformen.

Wir dürfen diesem Geflecht von Vernunft und Gefühl, von Verstehen und Antworten, diesem Zusammenspiel leiblich-sinnlicher Intersubjektivität nicht entfliehen, moralisch zu handeln bedeutet, sich dieser unheilbaren Ambivalenz zu stellen.

Der Mythos der Anthropotechniken

Die immer wieder aufgegriffene Metapher von Zygmunt Baumann für die Moderne ist die des Gärtners, der der Natur seine künstliche Ordnung abringt. Die Intensität dieses Eingriffs bewegt sich von der Pädagogik bis zur Medizin, heute hin zur Gentechnik oder dem Wort "Anthropotechnik", das unlängst der Philosoph Sloterdijk geprägt hat. (Seine Argumentation, wenn Sie mir diese Nebenbemerkung erlauben, bewegt sich darauf hin, wenn er auch oft Platon, Heidegger oder Nietzsche sprechen lässt, dass wir es lange genug mit den Pädagogen probiert hätten, die Resultate nicht genügten und nun über härtere Maßnahmen gesprochen werden müsse. Und dieser Diskurs dürfe nicht mit moralischen Bedenken oder historischen Argumenten behindert werden.)

In mancher Euphorie und kleinlicher Sichtweise reflektieren wir nicht die gravierenden ökonomischen und sozialen Prozesse in den 90iger Jahren. Wir wollen wahrscheinlich nicht sehen, wie tiefgreifend die kulturelle Deformation der Gleichwertigkeit durch die neoliberale Rechtfertigung der Begabungseliten ist. Neue amerikanische Publikationen vertreten wieder die These vom vererbten Intelligenzquotienten und den darauf gegründeten gesellschaftlichen Eliten. Einseitige erbbiologische Sichtweisen bezüglich Intelligenz scheinen wieder zunehmend Akzeptanz zu finden.

Der biologische Reduktionismus streut seine Versprechungen aus. Den Geisteswissenschaften wird durch die Naturwissenschaften ein wahrhaft verführerischer Weg gewiesen zur Wurzel der Objektivität. Hinter dem Geist stehe schließlich das Gehirn, und was sei dies anderes als ein Knäuel verschalteter Neuronen? Der Schaltplan liege in den Genen vorprogrammiert und alles Menschliche könne in adaptive epigenetische Regeln aufgelöst werden. Für die Geisteswissenschaften ist dieser verführerische Traum ein alter Bekannter, denn auf ihm liegt der dogmatische Schimmer der Theologie. Doch dieser glänzende Zaubertrick macht die Würde des Menschen antastbar. Sobald der Mensch - etwa durch die Unterscheidung Person und Nicht-Person - quasi zu einem Ding gemacht wird.

Solche Weltbilder liefern die willkommene, ideologische Begründung für den Sozialabbau und für den überhöhten Selbstwert der Erfolgreichen in unserer Gesellschaft. Und die Politik kann immer lauter die als überholt angenommenen restriktiven und selektiven Maßnahmen der Vergangenheit als Lösung für die Zukunft anpreisen. Die Kosten für Gesundheit, Bildung, Alter, Soziales sollen von der Solidargemeinschaft ins Private transformiert werden, so der Zeitgeist neoliberaler Gesellschaftspolitik. Abbau des Sozialstaates und Massenarbeitslosigkeit sind alltäglich.

Wenn wir die historischen Linien der Segregation nachzeichnen, so sehen wir, wie Soziales psychologisiert, damit Objektives subjektiviert, Psychisches biologisiert und naturalisiert wird. Mittels psychodiagnostischer Verfahren wird eine individuelle "Beeinträchtigung" zur "Behinderung", diese wiederum zum Mythos, der in Gestalt zahlreicher dogmatischer Zuschreibungen das vermeintliche "innere" Wesen, die "Natur" des betroffenen Menschen ausmachen, mittels derer der Ausschluss gerechtfertigt wird, sich selbst reproduziert. Diese Praxen müssen ideologisch verbrämt werden, was im wesentlichen geschieht mit den Begriffen "Behinderungsspezifität", "Schonraum" und "Homogenität".

Wir müssen die Mythen der Moderne - Humangenetik, Gentechnologie, "Euthanasie" und individuelles Glück scharf und unerbittlich analysieren, wollen wir der Entmenschung durch diese Mythen entgegentreten.

Die erschütterndste Lehre aus der Analyse des "komplexen Phänomens Auschwitz" ist die Tatsache, so analysiert Zygmunt Baumann in "Dialektik und Ordnung", "dass die Wahl physischer Vernichtung als des richtigen Mittels zur Entfernung der Juden das Ergebnis eines bürokratischen Entscheidungsprozesses war, bei dem Kosten-Nutzen-Überlegungen, Finanzfragen und einheitliche Regelauslegung eine Rolle spielten. Die moderne Bürokratie bringt nicht notwendig holocaustartige Phänomene hervor, dennoch sind die Grundsätze eines instrumentellen Rationalismus eindeutig ungeeignet, derartige Phänomene zu verhindern" (Baumann 1992, S 31).

Die Problemstellungen, deren Lösung das "Social Engineering" in Angriff nimmt, entsprechen einer "Natur", die "beherrscht", "gebändigt" und "gebessert" oder "umgestaltet" werden muss wie ein Garten, dessen Planung notfalls gewaltsam durchzusetzen und zu sichern ist. Der Geist des instrumentellen Rationalismus und seine moderne bürokratisch-institutionalisierte Ausprägung ermöglichte die Lösungsmöglichkeiten in der Art des Holocaust nicht nur, sondern machte sie auch "rational" begründbar und erhöhte damit die Wahrscheinlichkeit, daß man sich für sie entschied. Unterstützt wurde diese Tendenz nicht zuletzt durch die Tätigkeit moderner bürokratischer Systeme, das Handeln vieler, an sich ethisch eingestellter Individuen derart zu koordinieren, dass am Ende jedes noch so unethische Ziel zu verwirklichen ist.

An moralischen Fragen entzünden sich immer dann keine Kontroversen, wenn die moralische Dimension des Handelns nicht erkennbar ist und deren Aufdeckung oder Diskussion bewusst vermieden wird. Zusammenhänge sind schwer erkennbar: Die Beschäftigten einer Waffenfabrik feiern einen "arbeitsplatzsichernden" Rüstungsauftrag, um abends vor dem Fernsehschirm ehrlich erschüttert zu sein über die Menschen im ehemaligen Jugoslawien; oder "fallende Rohstoffpreise" werden freudig begrüßt, während man über "hungernde Kinder in Afrika" tief bestürzt ist.

Das Ethos der Gleichgültigkeit entwickelt sich rasant mit dem Auseinanderfallen von Raum und Zeit. Was sich zur selben Zeit und in enger Verbindung miteinander abspielt, braucht - im Gegensatz zu früheren Epochen - nicht am gleichen Ort geschehen. Damit werden viele soziale Mechanismen aus dem früher ortsgebundenen "Bett" (A. Giddens) ihres Geschehens herausgehoben und über große raum-zeitliche Distanzen hinweg neu strukturiert. Wenn wir über die Differenz, über den behinderten Menschen als den Anderen in seiner Einzigartigkeit nachdenken, dürfen wir nie die Gefahren eines solchen Diskurses vergessen, Gefahren, die letztendlich in Rassismus enden können.

In der modernen Welt, die beseelt ist vom Ideal der Selbststeuerung und Selbstorganisation, erklärt der Rassismus bestimmte Menschengruppen für endemisch und hoffnungslos unsteuerbar und immun gegen jegliche Verbesserungsbemühungen. Es können nur die "gesunden" Glieder des Körpers trainiert und geformt werden, nicht aber die von Krebs befallenen Teile. Die Konsequenz ist, dass Rassismus zwangsläufig mit der Strategie der Ausgrenzung verknüpft ist.

Der Verlust der Wörter

Die kulturelle Deformation, die notwendig ist, um politisches Handeln zu legitimieren, erkennt man auch am Verlust von bestimmten Wörtern oder dem Aufkommen bestimmter "Diskursformen".

Ich kann das hier nicht näher ausführen, aber es wäre schön zu zeigen an der "Globalisierungsrhetorik". Einer Rhetorik, in der uns suggeriert wird, dass die Globalisierung ein Naturgesetz mit tugendhaften Auswirkungen sei, und nicht menschengemacht. Ihr Ziel ist der "flexible Mensch", dessen Ängste nicht mit den Auswirkungen des Kapitalismus verbunden, sondern individuell begründet werden. Wenn das Wort Solidarität als Wärmestube, in der sich die letzten sogenannten Gutmenschen zusammenkauern, verkommt, wenn das Wort Integration eine Allerweltsbedeutung bekommt, wird die sprachliche Basis entzogen, die der öffentliche Diskurs so notwendig benötigt. Wenn der Bürger zum Kunden verkommt, sind die demokratischen Mechanismen in Gefahr.

Wir erlebten das in der Integrationsbewegung: Die früheren Gegner sprachen plötzlich genauso wie die Befürworter. Jeder meinte aber unter dem Wort "Integration" etwas anderes. Die einen "integrieren (besser müsste man sagen: "trimmen") leistungsschwache und vom Scheitern bedrohte Schüler in die traditionelle Regelschule, ohne an dieser nur annähernd etwas zu ändern. Diejenigen, die trotz Stützlehrer und Förderkurse nicht leistungsnormkonform "gemacht" werden können und Gescheiterte bleiben müssen, sind eben "integrationsunfähig" und gehen leicht aus dem Blickfeld verloren.

Integration - erlauben Sie mir diese Nebenbemerkung - wie wir es verstehen, fordert eine Richtungsänderung des Denkens. Als pädagogische Idee beispielsweise zielt Integration nicht nur auf organisatorische Maßnamen ab, sondern es geht um die Vision einer humanen Schule, die für alle Kinder integrationsfähig ist und die Gleichwertigkeit und Würde jedes Kindes bei unterschiedlichster Leistungsfähigkeit Realität werden lässt. Wir fragen ausschließlich nach der Integrationsfähigkeit der Schule (nicht der Schüler!). Es gibt nur eine integrationsfähige Schule und Gesellschaft, nicht aber integrationsfähige Schüler!

Wenn wir die Wörter verlieren, kann uns auch kein "Gegendiskurs" mehr gelingen, der dringend nötig wäre für eine kritische Öffentlichkeit.

Wiedergewinnung der ethischen Dimension

Zygmunt Baumann, ich habe schon darauf hingewiesen, weist in eindrücklicher Weise nach, dass der Übergang von persönlicher Verantwortung in technisch-formale Verantwortung die Greuel der Moderne ermöglichte.

In den sogenannten postmodernen Zeiten wird das ethische Monopol des Staates nicht mehr ausgeübt (noch nicht mal mehr von ihm gewünscht) und das Angebot an ethischen Regeln im Großen und Ganzen privatisiert und den Kräften des Marktes überlassen.

Die neue Ethik sorgt sich um " den Anderen", weil sie jedoch jede Beziehung zu einem Gesetz verweigert, kann sie gnädig sein und gleichermaßen gnadenlos.

Die Postmoderne ist zugleich Fluch und Chance der moralischen Person. Und es ist ihrerseits eine moralische Frage, welches der beiden Gesichter der postmodernen Situation sich als ihr bleibendes Bildnis herausstellen wird.

Welche Bedingungen müsste ein Zusammensein erfüllen, das nicht darauf aus ist, Distanz zu halten und die Zeit zu verkürzen; eines, das ganz und andauernd ist oder wird und dazu neigt, es zu sein? Für eine derart andere Art und Weise des Bezugs steht das Fürsein. Fürsein ist ein Sprung aus der Isolation zur Einheit; gleichwohl nicht zu einer Verschmelzung, sondern zu einer Legierung, deren Kostbarkeit allein auf der Erhaltung der Andersheit und Identität ihrer Ingredienzen beruht. In das Fürsein tritt man um des Schutzes und der Verteidigung der Einzigartigkeit des Anderen willen ein; und diese Vormundschaft, die vom Selbst als eine Aufgabe und Verantwortung übernommen wird, macht das Selbst wahrhaft einzig, im Sinne von unersetzlich; ganz gleich, wie zahlreich die Verteidiger der einzigartigen Andersheit des Anderen sein mögen, das Selbst wird von der Verantwortung nicht freigesprochen. Fürsein ist ein Akt der Transzendenz des Mitseins.

Der Übergang vom Mitsein zum Fürsein ist der Weg von der Konvention zu Engagement und Bindung, ist das Herunterreißen der Masken, bis das nackte, wehrlose Gesicht sich zeigt und gesehen wird. Ist das Reich der Moral erst einmal mit dem Reich des Fürseins identifiziert, dann ist es eingeschlossen in den Rahmen der Sympathie, der Bereitschaft zu dienen, Gutes zu tun, sich selbst um des Anderen willen zu opfern. Wachwerden für das Antlitz kommt, wie Lévinas nie müde wird zu wiederholen, einem Erschrecken gleich: den unhörbaren Hilferuf zu vernehmen, den die Verletzlichkeit und Schwäche des Anderen, offenbart in der Nacktheit des Antlitzes, ausstößt, ohne zu sprechen; diesem Erschrecken, das so überwältigend ist, dass es alle jene rationalen Erwägungen, die sich im Eigendünkel der Welt der Konventionen und Vertragsverpflichtungen baden, lächerlich unbedeutend erscheinen lässt. Die Geburt der moralischen Person ist das Gebot, das man sich selbst gibt: Er/sie ist meine Verantwortung und meine Verantwortung allein. Dies bedeutet, ich und ich allein bin für ihre/seine Integrität und für ihr/sein Wohlbefinden verantwortlich. "In dem Moment, wo ich für den Anderen verantwortlich bin, bin ich einzigartig. Ich bin einzigartig, insofern ich unersetzlich bin, insofern ich erwählt bin, zu antworten" (Lévinas). Moralische Verantwortung zu übernehmen bedeutet, den Anderen nicht mehr als Exemplar seiner Spezies oder Kategorie zu begreifen, sondern als einzigartig, und sich dadurch selbst zur Würde der Einzigartigkeit zu erheben.

Ein Geheimnis, notierte Max Frisch - und der Andere ist ein Geheimnis - , ist etwas Erregendes, aber man neigt dazu, dieser Erregung müde zu werden. Und so "macht (man) sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat". Ein solches Bild vom Anderen führt zur Ersetzung des Anderen durch sein Bild; der Andere ist nun ausgemacht - wie beruhigend und tröstlich. Es gibt nichts mehr, worüber man sich erregen müsste. Ich weiß, was der Andere braucht, weiß, wo meine Verantwortung beginnt und wo sie endet. Was immer der Andere nun tun mag, wird festgehalten und gegen ihn verwendet werden.

Wenn sich die moralische Beziehung auf das Zusammensein von der Art des Fürseins gründet, dann kann sie als ein Projekt existieren und dabei das Verhalten des Selbst nur solange leiten, wie ihre Natur (die eines noch nicht vollendeten Projekts) nicht verneint wird. Moral ist, wie die Zukunft selbst, ewig noch-nicht. Nur weil wir dem Zusammensein seine Möglichkeiten zugestehen, die allein die Zukunft enthüllen kann, haben wir in der Gegenwart eine Chance, moralisch zu handeln und manchmal sogar, gut zu sein.

Wiedergewinnung der politischen Dimension

Eine der entscheidenden Fragen, wenn ein Mensch in eine Krise gerät, ist: Zieht er sich zurück, hadert er mit "seinem" Schicksal, empfindet er es als persönliches Versagen, oder beschließt er, den öffentlichen Raum zu betreten, Freunde zu finden, seine Rechte einzufordern, den Anteil der gesellschaftlichen Verantwortung einklagend.

Die pädagogische wie die moralische "Urszene" entfaltet sich zwischen dem Ich und dem Anderen - auf der moralischen Ebene wird E. Lévinas nicht müde, dies aufzuzeigen. Innerhalb dieses Raumes liegt der Geburtsort der Pädagogik und Moral und alle Nahrung, die das moralische Ich braucht, um sich am Leben zu erhalten: die stumme Herausforderung durch den Anderen und meine hingebungsvolle und zugleich selbstlose Verantwortung.

Dies ist zwar ein weites Feld, dennoch ein zu enges, was das menschliche In-der-Welt-sein betrifft.

Was passiert, sobald "das Dritte" in die moralische Partei der Zwei einbricht, das heißt, wie ist die Gültigkeit der ethischen Beziehungen unter den Bedingungen des gewöhnlichen Lebens zu retten?

Die Einzigkeit des Anderen, so unvergleichbar, wenn durch moralische Verantwortung konstituiert, hilft nicht viel weiter. Wir müssen über GERECHTIGKEIT nachdenken. Eine Demokratie ist die notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung der Gerechtigkeit. Die Demokratie an sich fördert nicht (geschweige denn: garantiert) die Umwandlung von Toleranz in Solidarität - das heißt, die Anerkennung des Unglücks und Leidens anderer Menschen als in meine Verantwortung fallend und die Linderung und Aufhebung des Elends als meine Aufgabe. Meistens übersetzen heute Demokratien Toleranz mit Gefühllosigkeit und Gleichgültigkeit.

Wir haben also auch in eine Welt vorzudringen, die über die enge Sphäre der moralischen Zweipartei hinausreicht, in eine Welt, die nicht nur von persönlicher Verantwortlichkeit, sondern von Gerechtigkeitsprinzipien beherrscht wird. Der Weg von der "moralischen Urszene" zur Makroethik führt über politisches Handeln.

In unserem Teil der Welt besteht die deutliche Tendenz, Nächstenliebe, Mitleid und brüderliche Gefühle an Karnevalsereignisse und Betroffenheitsproduktionen á la Vera zu delegieren und damit ihr Nichtvorhandensein im täglichen Leben zu legitimieren und für normal zu erklären. Durch den Anblick menschlichen Unglücks ausgelöste moralische Impulse werden gefahrlos in sporadische Ausbrüche von Mildtätigkeit kanalisiert. Gerechtigkeit wird zum Fest- und Feiertagsereignis; dies hilft das Gewissen zu beruhigen und das Manko an Gerechtigkeit während der Werktage hinzunehmen. Der Mangel an Gerechtigkeit wird zur Norm und täglichen Routine.

Es scheint immer wahrscheinlicher zu sein, dass Gerechtigkeit eher eine Bewegung als ein Ziel oder ein beschreibbarer "Endzustand" ist. Nur wenn wir dies wissen, wird die Sehnsucht nach Gerechtigkeit gegen die allerschlimmste Gefahr immun sein - die der Selbstzufriedenheit und eines ein für allemal reinen und ruhigen Gewissens. Moral wie Gerechtigkeit sind Projekte mit offenem Ausgang, die sich ihrer mangelnden Endgültigkeit bewusst sind. Der Schlüssel zu einem so großen Problem wie der sozialen Gerechtigkeit liegt in einem (scheinbar) so kleinen Problem wie dem moralischen Urakt, Verantwortung für den Nächsten, den Anderen in Reichweite zu übernehmen - für den Anderen als Antlitz.

Hier wird moralische Sensibilität geboren, hier wachsen ihre Kräfte, bis sie stark genug ist, die Bürde der Verantwortung für jeden einzelnen Fall menschlichen Leidens und Unglücks zu tragen. Und das ist auch das Feld der Pädagogik.

Gibt es einen Ausweg?

Trotz düsterer Zukunftsszenarien sind dennoch viele junge Menschen entschlossen, Berufe und Tätigkeiten anzustreben und auszuüben, um solche negativen Entwicklungen zu verhindern. Sie wollen sich nicht als ohnmächtige Zuschauer des Geschehens, sondern als verantwortliche Mitgestalter begreifen. Bilden diese Menschen eine Gegenkraft oder sind sie noch der letzte Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält?

Pierre Bourdieu zeigt in seinem Buch "Gegenfeuer" (1998), dass die neoliberale Invasion deshalb die einzelnen Gemeinschaften noch nicht in einsame, aber verlorene Individuen auseinandersprengt, weil sie auf eine praktische Gegenkraft trifft, auf einen bestimmten Habitus, der jenen Akteuren und deren Institutionen eigen ist, die in allen möglichen sozialen Berufen arbeiten und die verhindern, dass die ganzen gesellschaftlichen, familiären und anderen Solidaritäten zerbrechen und die Gesellschaft in Chaos versinkt. Wer sich auf diesen praktischen Widerstand gegen den ausartenden Kapitalismus einlässt, muss einerseits mit der symbolischen Abwertung seiner eigenen Arbeit rechnen und braucht auch einen Handlungsspielraum, den die Politik zurückgewinnen muss, um den zerstörerischen Wirkungen der Geldmächte entgegenzusteuern.

Behinderte Menschen und deren Eltern müssen heute wieder vermehrt Formen dieser Kooperation zurückgewinnen. Sie dürfen nicht in ihrer persönlichen Betroffenheit verharren, sondern müssen immer wieder den öffentlichen Raum, den politischen Diskurs einfordern, um ihre Anliegen auch durchzusetzen.

Zum Nachlesen

Baumann, Z.: Dialektik der Ordnung - Hamburg 1992

Baumann, Z.: Unbehagen in der Postmoderne - Hamburg 1999

Lévinas, E.: Die Spur des Andern. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie - Freiburg-München 1993

Lévinas, E.: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht - Freiburg-München 1992

Merleau-Ponty, M.: Phänomenologie der Wahrnehmung - Berlin 1966

Der Autor

Dr. Josef Fragner

Direktor der Pädagogische Akademie des Bundes

Kaplanhofstraße 40

A-4020 Linz

Quelle:

Josef Fragner:Von der moralisch-pädagogischen Urszene zur Gerechtigkeit

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 1/00; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 02.03.2005

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation