Pflege für Menschen mit hohem Hilfebedarf

Eine pädagogische Aufgabe?

Autor:in - Theo Klauß
Themenbereiche: Psychosoziale Arbeit
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 5/2007, Thema: Basale Begegnungen, S.22-36. Behinderte Menschen (5/2007)
Copyright: © Behinderte Menschen 2007

Pflege für Menschen mit hohem Hilfebedarf

Abgesehen vom Unterrichtsfach Sport ("Leibeserziehung") und dem eher marginalen Bereich der "Gesundheitserziehung" (vgl. Breihecker 1996) befasst sich die Schulpädagogik kaum mit der Frage des körperlichen Wohlbefindens. Ihre Aufgabe ist die "Bildung", und dabei scheinen Bildungsangebote im körperlichen Bereich kaum eine Rolle zu spielen. Dies ändert sich jedoch, wenn PädagogInnen in Kindergärten, Schulen, Wohneinrichtungen und anderen Diensten Menschen begleiten, die darauf angewiesen sind, bei der Befriedigung ihre körperlich bedingten Bedürfnisse und zum Erhalt ihrer Gesundheit umfassende Unterstützung von anderen Menschen zu erfahren. Im Allgemeinen wird dann gesagt, diese Personen seien "pflegebedürftig".

Neben alt und gebrechlich gewordenen Menschen sind damit vor allem solche mit hohem Hilfebedarf auf Grund erheblicher kognitiver und körperlicher Beeinträchtigungen gemeint. Was kennzeichnet diese Menschen? In einem Forschungsprojekt zur Bildungsrealität von Kindern und Jugendlichen mit schwerer und mehrfacher Behinderung (Klauß u.a. 2006) gaben die Eltern fast aller Kinder neben einer schweren geistigen Behinderung eine Beeinträchtigung von Stimme und Sprache an. Bei drei Viertel der Schüler (76%) wurden schwere körperliche Behinderungen genannt, häufig auch Sinnesbeeinträchtigungen. Etwa ein Fünftel (21%) braucht medizinische Behandlungen in der Schule und fast die Hälfte (44%) zu Hause. Jedes zehnte Kind benötigt Sonderernährung. (Vgl. Abb.1)

Abb. 1: Beeinträchtigungen von Schülern mit schwerer und mehrfacher Behinderung (Einschätzung der Eltern; N=165)

Die bei Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung häufig vorhandenen Beeinträchtigungen begründen die Notwendigkeit einer "guten Pflege" durch andere Menschen. Ihre Lebenssituation ist durch eine umfassende Abhängigkeit von anderen Menschen gekennzeichnet. Nach den Angaben der Eltern im o.g. Forschungsprojekt brauchen deren Töchter und Söhne fast alle durchgehend ("immer") Unterstützung und Anregung im Bereich der Alltagsbewältigung (Selbstversorgung). Sehr oft ist regelmäßige Hilfe bei der Bewegung notwendig, meist auch zur sozialen Anpassung und Kommunikation (damit soziale Anpassung und Kommunikation ermöglicht werden), in Bezug auf die Gesundheit sowie deshalb, weil diese Kinder und Jugendlichen (sonst) unter Langeweile leiden würden, weil sie zum Spielen Hilfe benötigen und auffallende Verhaltensweisen entwickelt haben.

Im schulischen Alltag übernehmen PädagogInnen einen großen Teil der Aufgaben, die sich mit dem körperlich-seelischen Wohlbefinden befassen, gleiches gilt aber auch für die TherapeutInnen und selbstverständlich für die Pflegekräfte. In unserer Studie (ebd.) gaben alle befragten Berufsgruppen an, dass sie pflegerische Tätigkeiten überwiegend (76%) als regulären Aufgabenbereich ansehen, nur 19% äußerten, dies sei lediglich im Ausnahmefall der Fall, und 5% erklärten sich hier für nicht zuständig. Wenn die PädagogInnen demnach ihre Beteiligung an der Pflege überwiegend als Aufgabenbereich anerkennen, so stellt sich die Frage, was es mit dieser Aufgabe auf sich hat: Ist es etwas Zusätzliches, was nicht zum pädagogischen "Kerngeschäft" gehört und nur unabhängig davon erledigt wird? Oder ist Pflege auch ein genuin pädagogisches Anliegen? Um dies klären zu können, ist zunächst zu fragen, was mit dem Begriff der "Pflege" gemeint ist.

Was ist und wer braucht Pflege?

Um zu verstehen, was "Pflege" meint, ist die Frage hilfreich, welche Pflegeberufe es in unserer Gesellschaft gibt. Es liegt nahe, hier Krankenschwestern, Alten- und Heilerziehungspfleger zu nennen. Doch bei genauem Hinsehen gibt es viel mehr Berufe, die nur existieren, weil Menschen sich "pflegen" lassen und bei der Sorge für ihr körperlich-seelisches Wohl ganz selbstverständlich professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.

Was ist also Pflege? Ihre Notwendigkeit ergibt sich daraus, dass wir alle einen Körper haben, genauer gesagt: Wir "sind" Körper, das ist die Grundlage unseres Menschseins. Unser Leben beginnt mit dem Entstehen des Organismus. Wenn er stirbt, endet unsere Existenz. Die in dieser Tatsache - in der Körperlichkeit des Menschen - begründeten Bedürfnisse begründen die Notwendigkeit der Pflege. Jeder Mensch braucht Flüssigkeit und Kalorien, Wärme und Schutz, Sicherheit und Sauerstoff, Schlaf, eine nicht krankmachende Umwelt und Vieles mehr. Wie für sein Wohlergehen gesorgt wird, ist aber nicht durch das festgelegt, was der Organismus braucht. Pflege bezeichnet vielmehr die der jeweiligen Kultur entsprechende Form der Befriedigung körperlicher Bedürfnisse mit dem Ziel der Beruhigung, Sicherheit und damit der Offenheit für Erfahrung, Lernen, Bildung, Beziehung und Aktivität (vgl. Klauß 2005). Da dies ausnahmslos gilt, sind alle Menschen gleichermaßen pflegebedürftig.

Es ist in unserer Gesellschaft üblich, einige Pflegeleistungen an andere Personen wie etwa Friseur, Kosmetikerin, Koch und Ober zu delegieren. Betten- und Kleidungsproduzenten sorgen für äußere Bedingungen körperlichen Wohlbefindens durch adäquate "Hilfsmittelversorgung". Es ist also normal, dass Menschen auf Pflege durch andere zurückgreifen. Die boomende Gesundheits-, Kosmetik- und Wellnessbranche lebt großenteils davon. Vermutlich wird dafür insgesamt viel mehr Geld ausgegeben als für die Pflege von als "pflegebedürftig" bezeichneten Menschen (vgl. Tab. 1).

Tab. 1: Ganz "normale" Pflegeberufe, nach Klauß 2003a

Ärztin

Bäcker

Bademeister

Diätassistentin

Bodybilder

Friseurin

Ernährungsberaterin

Fußpfleger

Kellner

Konditor

Kosmetikerin

Physiotherapeutin

Krankenpfleger

Masseurin

Modedesignerin

Modeverkäufer

Parfümberaterin

Raumausstatter

Köchin

Schneider

Schuhmacher

Schuhputzer

Visagistin

Betreiberin eines Fitnessstudios

Zahnärztin

Was folgt daraus? Menschen, die Pflege brauchen, bilden keine "Sondergruppe". Der Pflegebedarf ist vielmehr anthropologisch begründet und gilt für alle Menschen gleichermaßen. Und es ist nichts Besonderes (und Besondern-des), bei der Pflege personelle und materielle Hilfen in Anspruch zu nehmen. Deshalb ist es auch für Menschen mit hohem Hilfebedarf "normal", dass sie eine interessante und vielfältige Ernährung erhalten, bei Körperpflege, Kosmetik, ästhetischer Gestaltung und Wellness von professioneller Hilfe profitieren. Das sollte beispielsweise im persönlichen Budget vorgesehen sein und von den entsprechenden Diensten angeboten werden.

Menschen unterscheiden sich nur darin, in welchem Umfang sie ihre Pflege selbst übernehmen. Wenn jemand für seine Bedürfnisse nicht selbst sorgt - weil er es nicht kann oder sich vernachlässigt - empfinden wir ihn als ungepflegt. Wer unhygienisch, schlecht gekleidet und unangenehm riechend daherkommt, gefährdet durch die Vernachlässigung körperlicher Bedürfnisse Gesundheit und Wohlbefinden, aber auch Sozialkontakte und Entwicklungschancen. Dass alle Menschen lebenslang Pflege benötigen, hat auch die moderne Pflegewissenschaft erkannt: "In der Regel sorgen wir selbst für uns. [...] Problematisch wird es, wenn wir nicht mehr in der Lage sind, für uns selbst zu sorgen und diese sehr individuelle Selbst-Pflege an andere Menschen übertragen müssen" (Abt-Zegelin 2000, 17).

Pflege bei Menschen mit hohem Hilfebedarf

Damit ist die eigentliche Herausforderung in Bezug auf die Pflege von Menschen mit hohem Hilfebedarf angesprochen: Wer bestimmt darüber, wie, von wem, in welchem Umfang und in welcher Qualität für ihre Bedürfnisse gesorgt wird, die sich aus ihrem Menschsein als körperliches Wesen ergeben? Was brauchen sie deshalb: Wie viel Personal und Zeit, welche Hilfsmittel, welche Qualifikation, welche Art der Begegnung? Hierbei ist der Tendenz zu begegnen, betroffene Menschen auf einen angeblichen Mindestbedarf zu reduzieren und damit zu separieren.

Weil alle Menschen Pflege brauchen, gehört es auch zu den Menschenrechten derer, die wir schwer(st)behindert nennen, eine umfassende, ihrem Menschsein entsprechende Assistenz und Unterstützung beim Erhalt ihres körperlich/ seelischen Wohlbefindens zu erhalten. Sie sind dabei umfassend von anderen abhängig. Oft haben sie keinen Einfluss darauf, welche ihrer Bedürfnisse in welcher Art und Weise befriedigt werden, was die sie Pflegenden ihnen zugestehen und welche Pflegeleistungen finanziert werden. Zudem durchdringt die Sorge um diesen Bereich des Lebens in wesentlich größerem Umfang ihren gesamten Alltag und erfordert von allen Beteiligten viel mehr Zeit als bei anderen Menschen. Oft müssen pflegerische Anliegen bei anderen Tätigkeiten, Aktivitäten und Erlebensbereichen gleichzeitig beachtet werden. Vor allem aber absorbiert die Pflege einen großen Teil der Zeit und Kompetenz der "BegleiterInnen", wenn "Selbstpflege" kaum möglich ist.

Damit treten die für das Wohlbefinden erforderlichen Aktivitäten sehr viel stärker als bei anderen Menschen in Konkurrenz zu anderen Anliegen, die auch Zeit erfordern, vom betroffenen Menschen selbst und von denen, die ihn begleiten. Zeit (als Tageszeit, Wachzeit, Arbeitszeit, Freizeit, Lebenszeit) ist jedoch immer begrenzt. Man kann keine Stunde zweimal nutzen. Das ist der rationale Kern, wenn von "nur pflegebedürftigen" Menschen geredet wird: Man meint, dass die Zeit, die Menschen mit hohem Hilfebedarf jeden Tag haben, weitgehend für die Sorge um organismisch begründete Bedürfnisse gebraucht wird. So bleibt weniger Zeit für andere Aktivitäten: Für das Lernen, für die Freizeit, für die Kommunikation, für Ausflüge, für Kinobesuche, für Sexualität und Anderes mehr. Gleiches gilt auch für die Zeit derer, die einen Menschen mit hohem Hilfebedarf begleiten, für private wie professionelle Bezugspersonen. Sie müssen Prioritäten setzen, denn sie haben viel weniger als 24 Stunden täglich zur Verfügung.

Was ist "gute Pflege"?

Pflege braucht also Zeit - der Pflegenden und der zu Pflegenden. Deshalb muss über Prioritäten entschieden werden: Wofür wird diese Zeit genutzt? Im Kern geht es dabei um inhaltlich fachliche Prioritäten und qualifikatorische Voraussetzungen der Pflege: Was brauchen Menschen mit hohem Hilfebedarf von uns? Wie ist ihre Pflege zu gestalten?

Fachliche und subjektive Maßstäbe für die Qualität der Pflege

Gute Pflege orientiert sich an dem, was ein Mensch braucht, um sich körperlich und seelisch wohl zu fühlen, zu entwickeln und am Leben teilzuhaben, was für seine körperlich - seelisch - soziale Gesundheit erforderlich ist und was Erkrankungen vermeiden (Prophylaxe) und lindern bzw. heilen hilft (Behandlungspflege). Qualifiziert Pflege orientiert sich dabei zweifach am Menschen, der Unterstützung braucht, und zwar:

  1. An einem fachlichen Maßstab: Wie viel Flüssigkeit ist beispielsweise notwendig? Wie viel Fett braucht die Haut? Wie werden genügend Sauerstoff, Bewegung, Schmerzfreiheit etc. gewährleistet? Welche Hilfsmittel oder Behandlungen ermöglichen Wohlbefinden und die Teilhabe an Gemeinschaft?

  2. Am subjektiven Maßstab dessen, der die Pflege kaum oder nicht selbst übernehmen kann: Sehen und spüren die Pflegenden, was ihm gut tut? Vermitteln sie die Erfahrung, dass diesbezügliche Signale wahrgenommen werden und lassen sie sich in ihrem Handeln davon leiten? Kommunizieren sie in diesem Sinne auch mit dem zu Pflegenden über seine Bedürfnisse, Wünsche, Vorlieben etc.? Zur Orientierung am Individuum gehört auch, den in manchen auffälligen Verhaltensweisen ausgedrückten Pflegebedarf zu erkennen: Ein junger Mann schlug sich, wenn seine orthopädischen Schuhe drückten. Einem anderen fehlten Möglichkeiten, sich zu entspannen, körperlich zur Ruhe zu kommen, er zeigte Unruhe und Aggressivität. Gute Pflege versteht dies und kümmert sich um den darin erkennbaren Bedarf.

Was brauchen Menschen - in der Pflege und darüber hinaus?

Es ist unbestreitbar, dass es nicht einfach ist, den hohen Anspruch fachlich guter und die Selbstbestimmung achtender Pflege einzulösen. Bisher wurde allerdings nur über "gute Pflege" geredet, noch nicht über Pädagogik. Menschen sind aber, weil sie Menschen sind, auch auf das angewiesen, was Aufgabe der Pädagogik ist. Übersehen wir das, so reduzieren wir sie erheblich und tun so, als gebe es neben organismisch begründeten Bedürfnissen keine anderen, gleichwertigen, mit denen sich beispielsweise Disziplinen wie Medizin, Theologie, Psychologie, Jura - und eben auch die Pädagogik befassen.

Weshalb bedarf das, was qualitativ gute Pflege leisten kann, der Ergänzung? In Berlin hat der "Runde Tisch Pflege" im September 2005 eine "Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen" im Entwurf veröffentlicht (DZA 2005). Er thematisiert darin ein dringliches Anliegen. Wir brauchen eine gesellschaftliche Verständigung darüber, was Menschen brauchen und was sie deshalb von uns (als Eltern, Kostenträger, Gesellschaft, BegleiterInnen etc.) erwarten können (vgl. Klauß 2006). In Bezug auf die pädagogische Bedeutung der Pflege belegt dieses Dokument allerdings Mehreres:

  1. Das moderne Pflegeverständnis ist längst keines von "satt und sauber" mehr (vgl. Juchli 1992). Es impliziert Selbstbestimmung und die Hilfe zur Selbsthilfe, die Anliegen von Freiheit, Sicherheit und Privatheit, Betreuung, Aufklärung und Behandlung, Kommunikation und Teilhabe, Berücksichtigung der Kultur und Weltanschauung sowie würdevolles Sterben. Das ist anspruchsvoll und die Pädagogik sollte sich hüten, ein überkommenes Verständnis von Pflege zu kultivieren, von dem sie sich dann positiv abheben kann. Untersuchungen (vgl. Seifert u.a. 2001) zeigen zudem, dass die Praxis in pädagogischen Einrichtungen durchaus nicht "besser" sein muss als in so genannten "Pflege"-Einrichtungen.

  2. Eine solche Positiv-Definition macht zugleich, indem sie den Blick dafür schärft, auf das mögliche Auseinanderklaffen von Ideal und Praxis aufmerksam. Insofern wirft beispielsweise Wollasch (2005) in einem Heft der Caritas der Charta zu Recht "Augenwischerei" vor, weil nur Standards formuliert, aber nicht die dafür notwendigen Rahmenbedingungen benannt werden. Dies ändert jedoch nichts daran, dass ein modernes und ganzheitliches Pflege-Verständnis formuliert wird, dem man nur wünschen kann, dass es in der Praxis auch wirksam wird.

  3. Der Text zeigt aber auch, dass Pflege nicht alles ist, was zum Menschsein gehört. Ein noch so weites Verständnis von Pflege lässt relevante Bedingungen "guten menschlichen Lebens" außer Acht, weil ihr Fokus bei der Sorge um das Wohlbefinden, um körperlich/ seelische Gesundheit liegt und sie in der menschlichen Körperlichkeit begründet ist. Hier liegen die Kompetenz und die Stärken der Pflege. Fragen wir jedoch umfassender, was Menschen "zum Leben brauchen", so wird deutlich, was dabei unberücksichtigt bleibt. Wollasch (ebd.) erwähnt das Fehlen von Arbeit, Erziehung, schulischer und beruflicher Bildung und dass Menschen mit Behinderungen nicht einbezogen sind. Doch kann der Pflege-Charta vorgeworfen werden, dass sie Lebensbereiche nicht anspricht, die Gegenstand der Pädagogik sind? Da kein Mensch "nur pflegebedürftig" ist, bestätigt dies nur die Erkenntnis, dass Menschen zu kurz kommen, wenn sie nicht auch Angebote und Hilfen erhalten, die beispielsweise durch die Pädagogik (bei Erwachsenen der Andragogik) repräsentiert und begründet werden. Wenn die Charta allerdings als Beschreibung für all das gemeint ist, was Menschen mit hohem Hilfe- und Pflegebedarf brauchen, dann fehlt wirklich etwas! Dann würden Menschen "verkürzt" und reduziert, auch solche mit Behinderungen und hohem Hilfebedarf.

Anthropologisch begründet bedeutet das: Menschen sind nicht nur Körper, sie haben nicht nur ein Lebensrecht, sondern auch ein Recht auf Bildung (Antor/Bleidick 1995). Beides hängt untrennbar zusammen. Wer einem Menschen Letzteres abspricht, stellt implizit auch sein Recht auf Leben, auf körperliche Existenz in Frage. Kant bringt dies durch die These zum Ausdruck, der Mensch werde erst durch Erziehung zum Menschen (vgl. Gudjons 1995). Der Zusammenhang von Lebens- und Bildungsrecht ganz besonders für die Menschen, die einen großen Teil ihrer Zeit (und der sie begleitenden Menschen) nutzen müssen, damit es ihnen körperlich und seelisch gut geht, denn offenbar kommt man bei ihnen in Theorie und Praxis leicht auf die Idee, das Körperliche, das Überleben, sei doch das Wichtigste.

Was ginge verloren, sähen wir Menschen nur aus dem Blickwinkel der Pflege? Zur Erläuterung vergleiche ich die o.g. Pflegecharta mit dem Modell der "Capabilities" der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum (2002). Sie hat eine durch interkulturellen Vergleich begründete Liste "menschlicher Fähigkeit(s möglichkeit)en" erarbeitet, die umfassen soll, was Menschen zu einem "guten Leben" brauchen und was die Gemeinschaft ihnen deshalb ermöglichen sollte. Dabei finden sich viele Parallelen. Nussbaum benennt etliche Aspekte des Menschseins ähnlich wie die Pflegecharta:

  • Kontrolle über die eigene Umgebung und "das eigene Leben leben" (Charta: Selbstbestimmung, Hilfe zu Selbsthilfe)

  • Körperlich- seelische Unversehrtheit, lustvolle Erfahrungen, Sicherheit und körperliche Gesundheit, auch Sexualität (Charta: Unversehrtheit, Sicherheit, Pflege, Behandlung, Therapie; Lust und Sexualität fehlen hier allerdings)

  • Das eigene Leben im eigenen Kontext leben (Charta: Privatheit)

  • Zugehörigkeit, Würde, mit anderen leben und interagieren (Charta: Kommunikation, Wertschätzung, Teilhabe)

  • Ein würdevolles Leben von normaler Dauer (Charta: Palliative Begleitung, Sterben)

Wo aber liegen die Unterschiede? Während die Charta noch die Teilhabe an Religion und Kultur erwähnt, gehören zu den "Capabilities" außerdem:

  • Nutzung der Sinne, von Vorstellungskraft und Denken, inkl. Kultur genießen u. produzieren

  • Emotionen in Bezug auf Dinge und Menschen, Bindungen, Beziehungen,

  • Praktische Vernunft

  • Verbindung mit anderen Lebewesen und der Natur

  • Die Fähigkeit zu lachen, zu spielen und erholsame Tätigkeiten zu genießen

Die nur bei Nussbaum genannten Aspekte des Lebens, deren Wichtigkeit unmittelbar einsichtig erscheinen, haben etwas gemeinsam: Sie sind Gegenstand der Bildung und damit Themen der Pädagogik. Zudem haben sie unmittelbare Bedeutung für die Menschen, die wir schwer(st)behindert nennen: Wahrnehmung, Bildung von Beziehungen, Erkennen von Zusammenhängen, Kontakt und Begegnung mit der Umwelt, der Genuss von unterhaltsamen Aktivitäten, Erfahrungen und Kulturaneignung. Martha Nussbaum betont, dass diese

Tab. 2: Vergleich der Pflege-Charta mit Nussbaums Liste der Capabilities (nach DZA 2005; Nussbaum 2002)

Pflege-Charta

Menschliche "Capabilities" (nach Nussbaum 2002)

1. Selbstbestimmung und Hilfe zur Selbsthilfe

10. (a) Kontrolle über die eigene Umgebung sowie In der Lage zu sein, das eigene Leben und nicht das von irgendjemand anderen zu leben ...

2. Körperliche und seelische Unversehrtheit, Freiheit und Sicherheit

3. Körperliche Unversehrtheit (inkl. Sicherheit vor Gewalt sowie lustvoller Erfahrungen): In der Lage zu sein, unnötigen und unnützen Schmerz zu vermeiden und lustvolle Erlebnisse zu haben.

3. Privatheit

10 (b) ... sowie das eigene Leben in seiner eigenen Umwelt und in seinem eigenen Kontext zu leben.

4. Pflege, Betreuung und Behandlung

2. Körperliche Gesundheit (inkl. Ernährung und Wohnung, Sexualität und Bewegung): In der Lage zu sein, eine gute Gesundheit zu haben; angemessen ernährt zu werden; angemessene Unterkunft zu haben; Gelegenheit zur sexuellen Befriedigung zu haben; in der Lage zu sein zur Ortsveränderung.

5. Information, Beratung und Aufklärung

7. Zugehörigkeit (inkl. Zuwendung und Würde sowie Schutz vor Diskriminierung): In der Lage zu sein, für und mit anderen leben zu können, Interesse für andere Menschen zu zeigen, sich auf verschiedene Formen familialer und gesellschaftlicher Interaktion einzulassen.

6. Kommunikation, Wertschätzung und Teilhabe an der Gemeinschaft

5. Emotionen (Zuneigung zu Dingen und Menschen): In der Lage zu sein, Bindungen zu Personen außerhalb unserer selbst zu unterhalten; diejenigen zu lieben, die uns lieben und sich um uns kümmern; über ihre Abwesenheit zu trauern; in einem allgemeinen Sinne lieben und trauern sowie Sehnsucht und Dankbarkeit empfinden zu können.

7. Religion, Kultur und Weltanschauung

4. Sinne, Vorstellungskraft und Denken (inkl. Kultur genießen und produzieren): In der Lage zu sein, die fünf Sinne zu benutzen, zu phantasieren, zu denken und zu schlussfolgern.

8. Palliative Begleitung, Sterben und Tod

1. Ein Lebens von normaler Dauer: In der Lage zu sein, bis zum Ende eines vollständigen Lebens leben zu können, soweit, wie es möglich ist; nicht frühzeitig zu sterben.

 

6. Praktische Vernunft (samt einer Vorstellung vom Guten): In der Lage zu sein, sich eine Auffassung des Guten zu bilden und sich auf kritische Überlegungen zur Planung des eigenen Lebens einzulassen.

 

8. Verbindung mit anderen Lebewesen und der Natur: In der Lage zu sein, in Anteilnahme für und in Beziehung zu Tieren, Pflanzen und zur Welt der Natur zu leben.

 

9. Spiel (auch Lachen und Erholung): In der Lage zu sein, zu lachen, zu spielen und erholsame Tätigkeiten zu genießen.

Capabilities keine Rangreihe beinhalten. Alles ist gleich bedeutsam, nichts kann durch etwas anderes "ersetzt" werden.

Die Beziehung zwischen Pflege und Pädagogik

Was folgt daraus für das Verhältnis von Pflege und Pädagogik zueinander? Bienstein & Fröhlich (1991) weisen auf gemeinsame Ziele und "kulturelle und anthropologische Wurzeln" pädagogischer und pflegerischer Anliegen hin (9). "Pflege und Förderung bemühen sich gemeinsam, die körperlichen, emotionalen und geistigen Grundbedürfnisse so zu befriedigen, dass das Individuum im Austausch mit seiner dinglichen und menschlichen Umwelt mit größtmöglicher Autonomie seine Entwicklung in Gang halten kann" (12). Eine Übereinstimmung in den Grundgedanken zwischen Pflege und Pädagogik sieht auch Pfeffer (1988): "Die Pflege ist wie die Erziehung darauf gerichtet, menschliches Leben zu erhalten und dahingehend zu fördern, dass eine Teilhabe an der menschlichen und dinglichen Welt möglich wird" (205). Pflege erschließt dem Menschen jedoch nicht die ganze Welt, kann aber, wenn sie als Teil der Erziehung verstanden wird, die gesamte Entwicklung und Entfaltung des Menschen fördern (203). Pfeffer (ebd.) sieht es als selbstverständlich an, dass die Pflege ein Bestandteil der Erziehung von Menschen mit schwerer geistiger Behinderung ist (205). Breitinger & Fischer (1981) verweisen darauf, dass Pflege etymologisch nicht auf Vorgänge der Körperpflege zu begrenzen sei: "Plegan heißt sorgen für etwas, sich annehmen. Im Mittelhochdeutschen meinte man mit dem Wort "phlegen" sich in freundlicher Sorge um etwas annehmen. Die Aufteilung in Körperliches und Seelisches läßt sich dabei noch nicht entdecken" (108).

Die Ziele und Aufgaben von Pflege und Pädagogik lassen sich nicht streng voneinander trennen, es gibt große Überlappungsbereiche, vor allem weil die Pflege bereits viele pädagogische Anliegen und Handlungskonzepte integriert hat. Das Konzept, das den Zusammenhang zwischen Pflege und Pädagogik am deutlichsten hervorhebt, ist das der Basalen Stimulation. Fröhlich (1991) geht es um die Aufnahme von Reizen aus der Umwelt und ihre "sinnstiftende Verarbeitung" (39) in einem ganzheitlichen Zusammenhang verschiedener Aspekte der Förderung (49). Er versteht eine allgemeine Förderpflege als Grundversorgung, sie "meint all die Aktivitäten im täglichen Leben, die geeignet sind, schwerstbehinderte oft bettlägerige Menschen im weitesten Sinne zu aktivieren. Auf der Basis von einfachen, in die Pflege integrierten Anregungen, soll der Erlebnishorizont des Kindes oder Jugendlichen systematisch erweitert werden" (59). Bei der allgemeinen Förderpflege "handelt es sich zunächst um notwendige Alltagsaktivitäten der Pflege, die gleichzeitig zu einer Förderung werden, wenn sie entsprechend geplant und durchgeführt werden" (59). Aus dieser Definition wird ersichtlich, dass Fröhlich die Pflege so gestalten will, dass sie gleichzeitig zur Förderung wird. Fröhlich beschreibt ausführlich

Tab. 3: Aspekte des Verhältnisses von Pflege und Pädagogik (nach Klauß 2003a)

Pflege ist eine Voraussetzung von Bildung

 

Pflege ist ein Rahmen und Anlass für Bildung

 

Pflege ist Bildung:

Pflege ist Vermittlung des kulturellen Reichtums

Pflege ermöglicht Autonomie

Pflege ist Ermöglichung und Voraussetzung von Beziehung und Kommunikation

Pflege bedarf der Ergänzung durch Bildungsangebote:

Pflege beinhaltet Bildung in allen Lebensformen - aber alle Menschen benötigen neben Pflege weitere Bildungsmöglichkeiten

Toilettentraining, Waschen und Baden, An- und Ausziehen und Lagewechseln und Bewegung, um zu zeigen, wie eine förderliche Pflege aussehen kann. Pflegesituationen sollen u.a. zur Kommunikationsförderung genutzt werden. Fröhlich orientiert sich an Papousek und integriert die Form des Babytalks in sein Konzept (vgl. Fröhlich 1991, 175). Die Basale Stimulation hat große Resonanz in der Pflege gefunden (vgl. Bienstein & Fröhlich 1991). Es ist nun vor allem an der Pädagogik, zu klären, was sie zur Gestaltung der Pflege von Menschen mit hohem Hilfebedarf beizutragen hat. Pflege und Pädagogik stehen in einer komplexen Beziehung zueinander.

Je nach Perspektive erweist sich Pflege als Voraussetzung von Pädagogik, als möglicher Rahmen, in den pädagogische Angebote eingebettet werden (Pflege als Anlass für Pädagogik), als Aspekt und Bestandteil der Pädagogik oder als spezifischer Bildungsprozess. Pflege bedarf aber auch der Ergänzung durch eigenständige Bildungsangebote.

Pflege ist eine Voraussetzung für Bildung

Pflege ist eine Voraussetzung von Pädagogik, weil diese nur auf der Grundlage einer guten Pflege möglich ist. Aus ungünstiger Pflege, aus Hunger oder Durst resultierende unbefriedigte körperliche Bedürfnisse oder organische Störungen belasten und beunruhigen den Menschen. Dieser ist dann pädagogischen Angeboten kaum zugänglich. Er ist in der körperlichen Not befangen. Die Sorge um eine adäquate Pflege bildet deshalb die Basis für Bildung, Erziehung und Förderung. Die Pädagogik muss deshalb der qualifizierten Pflege genügend (Be)Achtung schenken.

Pflege ist ein Rahmen und Anlass für Bildung

Pflegehandlungen können als Rahmen und Anlass für pädagogische Angebote genutzt werden. Das ist besonders wichtig, wenn sie viel Zeit benötigen. Pflege kann durch Angebote der Kommunikation, der Wahrnehmung, Bewegung und Selbstständigkeitsförderung ergänzt und angereichert werden. Bei der Nahrungsaufnahme etwa wird darauf geachtet, dass man Unterschiede von kalt und warm und von hart und weich spürt (Wahrnehmungsförderung), dass man den Transport der Nahrung verfolgt (Ausbildung des Körperschemas) und dass bei der Mahlzeit kommuniziert wird. Nach Fröhlich (1998) werden zur Pflege notwendige Alltagsaktivitäten gleichzeitig zur Förderung, "wenn sie entsprechend geplant und durchgeführt werden können" (75).

Im o.g. Forschungsprojekt BiSB haben wir u.a. feststellen können, dass dies - zumindest nach Angaben der schulischen Teams - in erheblichem Maße auch realisiert wird (Klauß u.a. 2006). Die Notwendigkeit, pflegerische Situationen auch pädagogisch zu nutzen, sehen mehrheitlich alle Teammitglieder, die Fachlehrerinnen stimmen der entsprechenden Frage zu 77% uneingeschränkt zu und die Pflegekräfte zu 55%. Bei der Nahrungsaufnahme wird am häufigsten (66%) angegeben, dass sie zu Beziehungsaufbau und Kommunikationsförderung genutzt wird. Die Förderung der Selbständigkeit wird von 52% der Befragten als Handlungsziel in diesen Situationen angegeben, die Wahrnehmungsförderung von 50% und auch der Bewegungsförderung kann das Essen und Trinken dienen, das meinen zumindest 32% der Befragten (Klauß u.a. 2006).

Pflege ist (auch) Bildung - indem sie kulturellen Reichtum vermittelt

Doch Pflege ist nicht nur ein möglicher Rahmen für die Förderung von Kompetenzen, sie ist auch eine pädagogische Aufgabe, da dabei Bildungsprozesse stattfinden. Nach einem umfassenden Verständnis von Bildung beginnt diese mit der Ausbildung von Bedürfnissen - im Bereich der Pflege (vgl. Klauß/Lamers 2003).

Dies gilt beispielsweise für den Pflegebereich "Ernährung": Jeder Mensch braucht Flüssigkeit und Kalorien. Das Bedürfnis nach konkreten Speisen und Getränken wird aber erst ausgebildet, wenn einem der Zugang zur möglichen Form der Bedürfnisbefriedigung eröffnet wird. Im Bereich der Ernährung kommt ein Mensch normalerweise mit verschiedenen Formen kulturspezifisch zubereiteter Speisen und Getränke in Kontakt. Wer nur sondiert wird, kann nicht Kauen und Schlucken lernen. Vor allem aber kann er kein Ess- und Trinkbedürfnis entwickeln, keine Vorlieben für bestimmte Speisen entdecken und keinen Geschmack ausbilden. Es geht also nicht nur um "Wahrnehmungsförderung", sondern um elementare Bildung, wenn Menschen mit Sonden erfahren können, was wie schmeckt, riecht und aussieht. Dies lässt sich auf alle Bedürfnisse übertragen. Die Ausbildung von Vorlieben und Geschmack ist eine Voraussetzung für Individualität, persönlichen Lebensstil und ist die Grundlage jeder Autonomie und der Ausbildung einer Identität als unverwechselbare Persönlichkeit. Dies setzt allerdings voraus, dass die Kinder die Chance dazu erhalten. Sie müssen kulturübliche Nahrungsmittel, Kleidung, Formen der Körperpflege etc. kennen lernen. Diese müssen in gleicher Form immer wieder verfügbar und wieder erkennbar sein. Sie brauchen Zeit und Anregungen, Hinweise, dies kennen zu lernen und sich wirklich anzueignen, und damit zum Teil ihrer Identität zu machen.

Pflege ist (auch) Bildung - indem sie Autonomie ermöglicht

Qualifizierte Pflege verfolgt das Ziel der Autonomie, das ist eine zentrale pädagogische Leitidee (vgl. Klafki 1995; Klauß 2003c). Gute Pflege zielt zunächst auf Selbständigkeit bei der Befriedigung von Bedürfnissen. Sie entmündigt nicht und macht Personen nicht unselbständig. Auch dabei geschieht Kultur-Aneignung: Wer mit dem Löffel essen lernt, eignet sich nicht nur eine Fertigkeit, sondern das "Kulturgut" dieses Bestecks, dessen materialisierte Geschichte an (vgl. Leontjew 1977). Es ist nicht selbstverständlich, dass Pflegesituationen zur Förderung von Selbständigkeit genutzt werden. Es geht meist schneller und spart Zeit, wenn nur gefüttert, angekleidet und gewaschen und nicht die Wahrnehmung und die Eigentätigkeit angeregt werden. Aus der Perspektive purer Lebenserhaltung ist das kein Problem - nur aus dem Bildungsziel der Autonomie begründet sich der damit verbundene Mehrbedarf, von dem man allerdings in manchen Fällen hoffen kann, dass er vorübergehend ist, weil selbständigere Menschen mit weniger Unterstützung auskommen können.

Pflege zielt aber auch auf Selbstbestimmung. Dieses demokratische Grundrecht meint mehr als Selbständigkeit und setzt diese nicht unbedingt voraus (Klauß 2003c). Dem Ziel der Pflege, Wohlbefinden zu ermöglichen und zu sichern, entspricht es, dass eigene Bedürfnisse wahrgenommen, geäußert und verstanden werden (vgl. Hahn 1994). Hier trifft sich die Bildung der Selbstbestimmung mit der Kommunikation bei der Pflege.

Pflege ist (auch) Bildung - indem sie Beziehungen und Kommunikation ermöglicht

Ein Bildungsprozess mit weit reichenden Folgen im Bereich der Pflege besteht darin, dass sich hier wesentlich entscheidet, welches "Bild vom Menschen", welche Sichtweise und Einstellung anderen Menschen gegenüber ausgebildet wird. Wenn ein kleines Kind beispielsweise

  • bei der Befriedigung körperlicher Bedürfnisse dauernd mit wechselnden Personen konfrontiert wird und deshalb keine Sicherheit und Verlässlichkeit erfährt, wenn es

  • erlebt, dass Signale von Schmerzen, Hunger und elementaren Wünschen ignoriert oder falsch verstanden werden, weil Pflegepersonen darauf nicht zu achten gelernt haben, neben der Routine keine Zeit haben oder den Einzelnen zu wenig kennen lernen können,

dann wird es kaum positive Erwartungen in Bezug auf andere Menschen, wird es kaum eine tragfähige Beziehung und Vertrauen zu ihnen ausbilden. Ohne Beziehung sind Erziehung (vgl. Fornefeld 1989) und Bildung nur bruchstückhaft möglich, das zeigen uns Menschen mit Autismus eindrücklich (Klauß 2000). Damit Pflege in diesem Sinne zur Bildung werden kann, sind jedoch einige Voraussetzungen notwendig, vor allem die Konstanz von Bezugspersonen und ihre Qualifikation für diese elementaren Interaktionsprozesse. Eine Voraussetzung für die Sorge um das Wohlbefinden ist ein funktionierender Informationsaustausch zwischen der Pflegeperson und dem Menschen, der gepflegt wird. Für die Pädagogik ergibt sich daraus die Aufgabe, den Austausch von Mitteilungen über körperliches Wohlbefinden zu unterstützen und Wege zu finden, wie diese Kommunikation gefördert werden kann, unter anderem auch durch Qualifikation der Mitarbeiter im Bereich der Unterstützten Kommunikation (vgl. Kristen 1994).

Pflege bedarf der Ergänzung durch Bildungsangebote

Pflege kann also Bildungsprozesse in allen Lebensformen, im Bereich der Wahrnehmung, der Autonomieentwicklung, der Selbstbestimmung, Kommunikation, des Spiels etc. anstoßen und ermöglichen. Doch auch wenn Pflegesituationen in diesem Sinne optimal gestaltet und genutzt werden, wäre es doch eine Verkürzung, das Leben auf Pflege zu reduzieren. Die Pädagogik hat auch bei Menschen mit hohem Hilfebedarf einen weitergehenden Auftrag. Menschen brauchen auch außerhalb von Pflegesituationen Bildungsangebote. Niemand käme auf die Idee, nicht mehr ins Konzert zu gehen, weil er zuhause beim Mittagessen aus dem Radio Musik hören kann. Der Kunstdruck im "alltäglichen" Wohnzimmer ersetzt nicht die Betrachtung des Originalgemäldes in der "Sonderinstitution" Kunsthalle. Pflegesituationen können zur Förderung der Kommunikation und auch der Kreativität genutzt werden: Mit verschiedenen Geschmacksrichtungen kann man experimentieren und etwas Neues gestalten, man kann verschiedene Düfte bei der Körperpflege erproben und das eigene Aussehen gestalten - und all das regt zum Austausch von Meinungen, zur Kommunikation an. Doch beides, Kreativität und Kommunikation, bedürfen unabhängig davon eigener Bildungsangebote mit eigenem "Material", beispielsweise das Experimentieren mit Papier und Farben, mit plastischen Materialien, mit Tönen u.a.m. Zur Bildung kommunikativer Fähigkeiten gehört in unserer Gesellschaft auch die Aneignung von Kommunikationssystemen, z.B. des Lesens und Schreibens oder, wenn notwendig, alternativer Kommunikationsformen. Neben der Nutzung von Pflegesituationen sind auch für solche Angebote Zeit und entsprechend qualifiziertes Personal erforderlich. Zur Vermittlung ist schließlich auch ein entsprechend gestalteter Unterricht notwendig, in dem Prinzipien wie das der Elementarisierung angewandt werden (vgl. Lamers 2000, Lamers & Heinen 2006).

Fazit

Fassen wir noch einmal zusammen, wann die Pflege, die Menschen mit hohem Hilfebedarf erhalten, aus pädagogischer Sicht gute Pflege ist. Sie hat eine gute Qualität,

  • wenn sie "fachlich gut" ist. Dadurch wird erst ermöglicht, dass die "gepflegten" Menschen von pädagogischen Angeboten profitieren können;

  • wenn sie so gestaltet wird, dass im Vollzug der Pflege auch Bildung stattfinden kann: von Bedürfnissen und Geschmack durch die Begegnung mit der Welt, von Selbstständigkeit und Selbstbestimmung, von Kommunikation und Beziehung. Die Pädagogik sollte ihre Verantwortung für die Pflege ernst nehmen, aber auch den Pflege- Rahmen überschreitende Angebote machen;

  • wenn sie einem nicht reduzierenden Menschenbild entspricht. Kein Mensch ist "nur pflegebedürftig". Ein reiches und menschenwürdiges Leben erfordert mehr, z.B. die Aneignung von Kultur und die dabei mögliche Ausbildung der eigenen Identität und deren Entwicklung.

Anliegen der Pädagogik und der Pflege können durchaus in Konkurrenz zueinander geraten. Das Ziel der Selbstbestimmung kann beispielsweise mit dem der ausreichenden Nahrungsaufnahme kollidieren. Solche Konflikte müssen ausgehalten und ausgetragen werden. Dies ist ein Grund dafür, dass die Begleitung und Unterstützung von Menschen mit hohem Hilfebedarf nicht nur einer Berufsgruppe überlassen werden sollte: Sie brauchen Pflegefachkräfte und PädagogInnen und deren Kooperation miteinander (vgl. Janz 2006).

Die Gefahr einer Reduzierung von Menschen auf ihren Pflegebedarf besteht nicht nur in so genannten Pflegeeinrichtungen, sondern auch in solchen, die pädagogisch geleitet werden. Am Geld alleine liegt dies nicht. Überall gibt es die Meinung, man könne Menschsein aufteilen in einen organismisch bedingten und unabdingbaren Teil und einen, der nötigenfalls (wenn im Alltag wenig Zeit ist oder wenn die Gelder knapp werden) verzichtbar ist. Menschen sind biologisch-organische, aber auch soziale und psychische Wesen und Subjekte, unverwechselbare Individuen. Dies müssen wir ernst nehmen, indem wir die individuelle Identität ermöglichen (durch Bildung) und auch vermitteln (durch soziale und kommunikative Prozesse). Kurz gefasst folgt daraus:

  • Jeder Mensch braucht Pflege.

  • Jeder Mensch ist dabei auch von anderen Menschen abhängig.

  • Für Menschen mit hohem Hilfebedarf gilt dies ganz besonders

  • Kein Mensch braucht nur Pflege. Jeder hat ein Recht auf Bildung.

Diese Erkenntnisse sollten helfen, das von Einrichtungen, Politik und vom einzelnen Helfer einzufordern und im eigenen Handeln zu realisieren, was Menschen mit hohem Hilfebedarf von uns brauchen.

Zusammenfassung

Der Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, weshalb und inwiefern die Pflege von Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung ein pädagogisches Thema ist bzw. sein sollte. Gute Pflege muss von der Pädagogik ernst genommen werden, weil sie eine Voraussetzung für die Annahme von Bildungsangeboten darstellt. Vor allem aber sollte die Pädagogik die Bildungschancen wahrnehmen und nutzen, die sich im Zusammenhang mit der Pflege eröffnen. Pflegesituationen können (additiv) durch pädagogische Zielsetzungen "angereichert" werden (etwa im Sinne der Basalen Stimulation), beinhalten aber auch selbst Bildungsprozesse, die gestaltet und genutzt werden können. Notwendig ist dafür eine gute interprofessionelle Zusammenarbeit, wobei auch die Eltern als eine eigene Profession einzubeziehen sind.

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Der Autor

Dr. phil. Theo Klauß

Professor für Geistigbehindertenpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.

Forschungsschwerpunkte sind und waren in den vergangenen Jahren: Teilhabe von Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung an schulischer Bildung; Menschen mit auffallendem, vor allem mit selbstverletzendem Verhalten; Autismus; Fascilitated Communication; die Situation von Familien und ihre Kooperation mit PädagogInnen; Qualitätsentwicklung von Diensten (Offene Hilfen, Wohnen etc.); Kommunikation.

Mitglied im Bundesvorstand der Bundesvereinigung Lebenshilfe und stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Seelische Gesundheit von Menschen mit geistiger Behinderung (DGSGB).

Päd. Hochschule Heidelberg

Fakultät I für Erziehungswissenschaften

Institut für Sonderpädagogik

Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung

Tel. +49 (0) 6221/ 477 183

theo.klauss@urz.uni-heidelberg.de

Quelle:

Theo Klauß: Pflege für Menschen mit hohem Hilfebedarf. Eine pädagogische Aufgabe?

Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 5/2007, Thema: Basale Begegnungen, S.22-36.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 06.02.2013

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