Träume einer Gesellschaft der Inklusion

Von der Exklusion zur Inklusion, ein Humanisierungsprozess

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 1/2012, Thema: Wohnen im eigenen Körper, S.33-43. Behinderte Menschen (1/2012)
Copyright: © Miguel López Melero 2012

Zusammenfassung

„Solange es SchülerInnen in Klassen gibt, die ihre Würde verloren haben, die nicht so respektiert werden, wie sie sind, die nicht mit den KameradInnen an der Konstruktion des Wissens teilnehmen, die nicht unter den gleichen Bedingungen leben wie ihre KameradInnen, können wir nicht sagen, dass wir die inklusive Bildung umgesetzt haben.“

Das stellt Prof. Dr. Miguel López Melero in seinem Beitrag unmissverständlich klar. Mit seinen pädagogischen Praktiken und seinen Forschungen leistet er einen ungemein wichtigen Beitrag zum Aufbau einer inklusiven Schule. Wie diese gestaltet sein muss, skizziert López Melero spannend und minutiös in seinem Referat.

Information

BEHINDERTE MENSCHEN, die Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten ist das Fachmagazin im deutschsprachigen Raum. Alle zwei Monate bringt es Fachwissen zu einem Schwerpunktthema. Dazu gibt es Reportagen, Meldungen, Buchbesprechungen, Fortbildungstipps und Kommentare. Produziert wird die Zeitschrift von der Reha-Druck, einer Druckerei in Graz, in der behinderte Menschen Ausbildung und Arbeit finden. Probeexemplare, Geschenkabos und Schnupperabos können auch online angefordert werden: www.behindertemenschen.at

Träume einer Gesellschaft der Inklusion

Schon von Beginn an fand ich den Titel der Konferenz sehr anregend: Den eigenen Körper bewohnen. Gemeinsame Lebensstrategien. Das erste, was mir einfiel, war das Schönheitskonzept und – damit zusammenhängend – das Konzept der Güte. Wir werden im Allgemeinen mit der Schönheit als etwas Perfektem konfrontiert und meine Frage lautete: Warum muss die Schönheit perfekt sein? Ich erinnere mich, als vor nicht allzulanger Zeit die Medizin oder einige Arten von Medizin vielen Familien rieten, Personen mit Down-Syndrom an ihrem Äußeren operieren zu lassen, da sie gesellschaftlich nicht als normal schöne Personen anerkannt wurden. Es gab eine Kultur der idealen Körperschönheit.

Traditionsgemäß hat sich eine seltsame Verbindung zwischen Schönheit und Güte entwickelt. Demzufolge wurde das Hässliche, das Unförmige, das Verschiedene als „monströs“ abgeschrieben. Es gibt viele Belege in der Geschichte. Im alten Sparta wurden unförmige Kreaturen entsorgt, weil ihre Geburt als schlechtes Omen gewertet wurde und gleichzeitig eine Bürde für die Gesellschaft bedeutete, die sie nicht anzunehmen bereit war. Noch heute werden zeitlich und räumlich getrennte Olympische Spiele, die Paralympics, abgehalten.

Dieser Gedanke wurde bis vor kurzer Zeit weiterverfolgt. Es geht sogar soweit, dass die Unförmigkeit – von Behinderten oder nicht – mit Armut und sozialer Misere assoziiert wird. Und das war logisch, weil das Schönheitsideal durch den perfekten Körper veranschaulicht wird. So kommt es, dass in einer Welt, in der der „perfekte“ Körper gewürdigt wird, ein Mensch im Rollstuhl als stark benachteiligt angesehen wird. Wenn dieser Mensch sich nicht dem physischen Raum anpasst, kann er nicht nur den Raum nicht humanisieren, sondern es wird auch noch seine Unfähigkeit, sich zu bewegen, unterstrichen und damit – seine Unangepassheit.

Was können wir tun, damit ein Mensch im Rollstuhl nicht mehr als Problem angesehen wird und, zur gleichen Zeit begriffen wird, dass das Problem nicht bei den Menschen, sondern bei den sozialen Hindernissen liegt? Welche Art von Bildung müssen die Bürger erhalten, damit sie im Anblick von Diversität mit Gerechtigkeit reagieren? Oder trifft es nicht zu, dass der soziale Raum den sogenannten „Normalen” und deren eventuellen Schwierigkeiten angepasst wird, aber nicht für die anders Begabten?

In der Tat ist dem so. Er ist nicht für Blinde, Taube oder Rollstuhlfarer gedacht. Diese Menschen wären vollständig in der Lage, ihre Arbeit zu verrichten, wenn die Gebäude, die Transportmittel, die Kommunikationsmittel technologisch für ihre Anderswertigkeit gedacht wären. Aber wenn dies nicht in die Gedankenwelt der sozialen Designer passt, ist Diskriminierung die Folge und diese Menschen werden unsichtbar. Unsichtbare Menschen sind solche, die für die Gesellschaft nicht notwendig sind.

Es trifft zu, dass die Art und Weise, wie wir mit den außergewöhnlichen Menschen kommunizieren die Art, über sie zu denken, beeinflusst. In diesem Sinn hat die traditionelle medizinische und psychologische Vision dazu beigetragen, ein sehr bestimmtes Bild zu formen und es hatte zur Folge, dass politische, kulturelle und pädagogische Schranken für anders Begabte errichtet wurden.

Die Menschen werden zu dem, was man von ihnen erwartet. Wenn man die Eigenschaften eines Menschen entdeckt, erwartet man etwas von ihm. Wenn nur die Defizite gesehen werden, können keine Möglichkeiten entdeckt werden und dementsprechend wird auch nichts von ihnen erwartet.

Auf dieser Evidenz aufbauend fällt mir folgende Frage ein: Bis zu welchem Grad haben anders Begabte die Möglichkeit, Kontrolle über ihr Leben, inklusive ihres Körpers zu besitzen? Wenn ein Körper mit einer Besonderheit als behindert oder krank gesehen wird, bedeutet das die klare Niederlage der Gesellschaft, die es nicht schaffte, außergewöhnliche Menschen in die sozialen Strukturen als brauchbare Bürger einzugliedern.

Foto: Miguel López Melero auf der Bühne

Miguel López Melero aus Spanien macht sich beim Wissensforum stark für eine integrative Schule. Foto: Fischer

Wer entwirft die Grundprinzipien unserer Gesellschaft? Für wen sind diese gedacht? Welches sind die Schwierigkeiten der Gesellschaft mit anders begabten Menschen?

Während langer Jahre war die gängige Politik darauf gerichtet, außergewöhnliche Menschen als unperfekte Schönheit anzusehen. Die einzige Art, das zu korrigieren, war die Forschung, die den Fehler vom medizinischen und psychologischen Standpunkt aus beweisen könnte. Da aber die Forschung quantitativ war und sie die behinderten Personen und nicht den Kontext erforschte, war eine Veränderung praktisch unmöglich. Selbst als zu mehr interpretativen Forschungen übergegangen wird, wurde an diesem Konzept der unperfekten Schönheit und der Unsichtbarkeit festgehalten, weil diese Menschen nicht Darsteller ihres eigenen Lebens waren. Sie wurden nicht als Subjekte ihres eigenen Lebens, sondern als Objekte gesehen. Damit dieses Paradigma zugunsten einer sozialen Sicht der Außergewöhnlichkeit geändert werden konnte, bedurfte es einer Untersuchung, die auf die Emanzipierung und die Kritik hin konzipiert wurde und bei der die außergewöhnlichen Menschen als Darsteller der Untersuchungen agierten. Und, es bedurfte einer ethischen Einstellung der Forschung, die sich auf die diskriminierenden Kontexte und nicht auf die Personen konzentrierte.

Heute können wir behaupten, dass diese Vision des 19. Jahrhunderts einer veränderten Sensibilität Platz macht. Das Unperfekte wird als eine Art von Schönheit betrachtet, bei der der Körper der außergewöhnlichen Menschen als ein Ausdrucksmittel ersten Grades angesehen wird. Es ist, als ob ein neues ethisches Gewissen erwacht, ein Gewissen, bei dem die deutliche Sichtbarkeit der außergewöhnlichen Menschen an Bedeutung gewinnt. Wir brauchen uns nicht mehr der Körper und Gesichter der außergewöhnlichen Menschen zu schämen. Man könnte sagen, dass diese ihre verlorene Würde zurückgewinnen.

Vor diesem Hintergrund möchte ich mit Ihnen diese Konferenz teilen, der ich den Titel: Träume einer Gesellschaft der Inklusion. Von der Exklusion zur Inklusion – ein Humanisierungsprozess genannt habe.

Wenn man im Bildungswesen über Inklusion spricht, muss man zugleich auch über Gerechtigkeit sprechen. Um aber eine gerechte Gesellschaft aufbauen zu können, brauchen wir gerechte Bildungsmodelle, welche auf Gerechtigkeit setzen, um gegen die Schieflage in unserer Gesellschaft vorzugehen. Daher ist es auch absolut erforderlich, dass die Verantwortlichen für die Schulpolitik, die LehrerInnen und die ForscherInnen, sich moralisch dazu verpflichten, im Bereich der Bildung auf mehr Gerechtigkeit hinzuarbeiten (AINSCOW, M. 2010): Gerechtigkeit und Fairness mit dem Ziel, benachteiligte BürgerInnen zu unterstützen (Rawls, J. 2002).

Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzten die Bildungssysteme in den Ländern der neoliberalen Demokratien auf Chancengleichheit als Mechanismus, um Ungleichgewichte in der Gesellschaft zu korrigieren, aber leider bestehen sie weiterhin. Daher scheint es uns gerechter, demokratischer und menschlicher zu sein, von gleichwertigen Chancen zu sprechen, denn genau das muss ein Bildungssystem mit hohem Qualitätsanspruch ja auch gewährleisten, damit alle SchülerInnen ihre Möglichkeiten maximal ausschöpfen können. Während der Diskurs der Integration also die Chancengleichheit in den Mittelpunkt stellt, sprechen wir im Bereich der Inklusion von gleichwertigen Chancen. Eine demokratische Gesellschaft kann nicht dadurch gestärkt werden, dass man Kollektiven mit anderen Voraussetzungen gewisse ‚Programme’ vorsetzt, sondern nur dadurch, dass man Politiken einführt, welche die Exklusion ausmerzen. Daher brauchen wir eine Gesellschaft, in der die Unterschiede als Mechanismus der Konstruktion unserer Autonomie und unserer Freiheiten verstanden werden, und nicht etwa als Entschuldigung, um Ungleichgewichte in politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Bereichen noch schlimmer zu machen. (Barton, L. 1998).

Ob wir von einer inklusiven Bildung sprechen können oder nicht, hängt entscheidend davon ab, wie die LehrerInnen den Begriff ‚Unterschiede’ verstehen. Denn für welche pädagogischen Modelle sich eine LehrerIn entscheidet, hängt wesentlich davon ab, welches Bild sie von einer SchülerIn hat und wie Lernen überhaupt geschieht: Der Respekt der Unterschiede zwischen den SchülerInnen auf dem Weg zu Gerechtigkeit im Bildungsbereich ist ein besonderer Wert in unseren Schulen und darf nicht auf Chancengleichheit reduziert werden, sondern bedeutet Gleichheit der Entwicklung der kognitiven und kulturellen Kompetenzen – wir müssen also wie gesagt über gleichwertige Chancen sprechen. Unser Bild der Gerechtigkeit lässt sich besser als Gleichheit in der Vielfalt beschreiben, denn jedem Einzelnen muss gezielt das geboten werden, was er benötigt. Es kann also nicht jedem dasselbe übergestülpt werden (gemeinsamer Lehrplan in Gegenüberstellung zum identischen Lehrplan). In diesem Sinne verweisen Fraser und Honneth (2006) speziell darauf, dass Akzeptanz und der Respekt der Unterschiede im Grunde als soziale Gerechtigkeit zu verstehen sind. Daher brauchen wir in einigen Fällen entsprechende Politiken der Umverteilung (um sozioökonomische Ungerechtigkeiten zu überwinden) und in anderen Fällen Politiken der Anerkennung (um soziokulturelle Ungerechtigkeiten zu überwinden), so dass Rechte und soziale Gerechtigkeit nicht zu reinen Worthülsen in einer Gesellschaft verkommen, in der es anscheinend eben nicht Platz für alle gibt, auch wenn die UNESCO von der Schule für Alle spricht (UNESCO, Jotiem, 1990).

Das Konzept der Gerechtigkeit präzisiert also unser Konzept der Gleichheit, berücksichtigt es doch die Einzigartigkeit und die Vielfalt des Menschen mit all seinen Unterschieden. Diese Unterschiede sind mitnichten ein Hindernis, sondern eine Chance zu lernen (Ainscow, M. 2001). Aber Menschen mit Behinderung haben normalerweise leider nicht dieselben Möglichkeiten zu lernen wie die übrigen SchülerInnen (Nussbaum, M. 2006). Selbst wenn sie im selben Klassenzimmer sitzen, so kommt es doch nach Iris Marion Young (2000) zu einer „internen Exklusion“ und „Zonen der Diskriminierung“. Die SchülerInnen sitzen also im selben Zimmer, sind aber durch den Lehrplan getrennt.

Robert Barth (1990), Professor an der Harvard University, hat die Unterschiede sehr treffend als Wert beschrieben:

„Mir wäre es lieber, wenn meine Kinder in eine Schule gingen, in der die Unterschiede als etwas Wünschenswertes betrachtet werden, in der sie aufmerksam beachtet und als etwas Positives zelebriert werden. Viele Menschen stellen sich allerdings die Frage: ‚Bis wie weit kann man mit der Vielfalt gehen, ab wann wird ein bestimmtes Verhalten inakzeptabel? … Ich möchte diese Frage aber anders stellen, und zwar: Wie können wir Unterschiede in Bezug auf soziale Schicht, Geschlecht, Alter, Talent, Rasse und Interessen aktiv und bewusst als Ressourcen nutzen?’ … Unterschiede sind zugleich auch große Chancen, Neues zu lernen. Unterschiede sind eine üppig vorhandene und nachhaltige Ressource, die nichts kostet. Ich wünsche mir, dass unsere zwanghafte Neigung, Unterschiede zu eliminieren, einem gleichermaßen obsessiven Interesse Platz macht, sie zur Besserung unseres Unterrichtswesens zu nutzen. Das wichtige, das spannende an den Menschen – und an den Schulen – ist das, was sie unterscheidet, nicht das, was ihnen gleich ist“ (Barth, R.1990, S. 514-515. Cit. Stainback, S. und Stainback, W. 2001, S. 26).

Diese demokratische, von Professor Barth ersehnte Schule erinnert mich auch an die Wunschvorstellungen von Freire (1993), der die Pädagogik der Hoffnung als Gegenmittel für die Pädagogik der Exklusion betrachtet.

Wenn wir über Inklusion sprechen, müssen wir gewissermaßen auch über die Kehrseite der Medaille, nämlich die Exklusion, sprechen. Wenn wir möchten, dass meine Klasse oder meine Schule den inklusiven Ansatz verfolgt, müssen wir zwangsläufig analysieren, welche Gründe dies verhindern. Im breiteren Sinne wissen wir, dass soziale Exklusion ein struktureller und nicht etwa ein konjunktureller Prozess ist, welcher dazu führt, dass gewissen Bürgern in einem konkreten Kontext das Recht auf Partizipation an Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Schule vorenthalten wird. (Nussbaum, M. 2006). In diesem Sinne besteht eine enge Beziehung zwischen sozialer Exklusion und Exklusion im Schulwesen, wobei es sich bei ersterer um eine allgemeinere und bei zweiter um eine spezifischere Art der Exklusion handelt. Am schlimmsten ist aber nicht, dass die Apartheid im Bildungssystem weiterhin existiert, sondern dass sie still stillgeschwiegen oder gar als etwas Unvermeidbares dargestellt wird. Wenn wir eine inklusive Gesellschaft bauen möchten, müssen wir sie uns zuerst erträumen.

Ich habe oft von Klassen geträumt, in denen Menschen mit anderen Voraussetzungen teilnehmen, miteinander leben und lernen können, in denen die LehrerInnen danach streben, an ihren didaktischen Strategien zu arbeiten, um einen Lehrplan zu entwickeln, der niemanden diskriminiert, daher dienen mir die Worte von Martin Luther King auch als Leitfaden für das ganze Leben. Mit großem Bedauern muss ich allerdings sagen, dass die Schule scheinbar nicht als Ort ersonnen wurde, an dem die menschliche Vielfalt respektiert wird. Daher müssen wir auch über eine neue Kultur sprechen. Eine Kultur, deren Grundpfeiler die Solidarität, Kooperation und der Respekt gegenüber der Vielfalt sind. Diese neue Kultur braucht aber auch einen neuen, anderen pädagogischen und politischen Ansatz (Aisconw, M. 2001), damit sich die pädagogische Praxis tatsächlich ändert. Ohne kooperative und solidarische Kultur ist es unmöglich, über inklusive Bildung zu sprechen. Hargreaves (1995) sagt, dass die Kulturen die Realität definieren. Das heißt also, dass die Menschen einer Institution deren Überzeugungen, Handlungen und den gesamten, sie umgebenden Kontext formen. Daher ist es auch so schwierig, die Regeln einer Schule durch den von ihr angebotenen Lehrplan zu ändern – eine Änderung dieser Regeln ist bei der Arbeit mit außergewöhnlichen Menschen aber erforderlich, damit die allgemeine Auffassung widerlegt werden kann, dass diese außergewöhnlichen Menschen einen anderen Lehrplan brauchen. Verlangt man von den LehrerInnen aber, dass sie ihre Lehrmethode ändern und dass sie kooperativer arbeiten, stößt man immer wieder auf Widerstand. Daher ist es ratsam, die pädagogischen Praktiken zu überarbeiten und im schulischen Kontext Prozesse der Dekonstruktion und Konstruktion einzuleiten; d.h. es geht um den Aufbau einer neuen Schulkultur oder doch zumindest um eine Umdeutung der aktuellen Schulkultur. Es geht um eine inklusive Schulkultur.

Die inklusive Schule, eine neue Kultur

„Die Herausforderung besteht jetzt darin, die Anforderungen einer Schule für Alle zu formulieren. Alle Kinder und Jugendlichen der Welt haben unabhängig von ihren Stärken und Schwächen, ihren Wünschen und Erwartungen ein Recht auf Bildung. Es kann nicht sein, dass die Bildungssysteme sich gewisse SchülerInnen aussuchen können. Im Gegenteil, das Schulsystem eines Landes muss so angepasst werden, dass es auf die Bedürfnisse aller Kinder Rücksicht nimmt“ (Linqvist, Bengt. Sonderberichterstatter der UNESCO , 1994).

Obwohl wir eigentlich klar ausdrücken, was unter inklusiver Bildung zu verstehen ist, löst der Begriff doch eine gedankliche Zweigleisigkeit aus. Einerseits stellen wir uns Inklusion als etwas vor, das an den Lernenden festmacht – in erster Linie an den behinderten Menschen – andererseits stellen wir uns Inklusion als etwas vor, das an den Bildungssystemen festmacht. Woran wir Inklusion festmachen, bestimmt aber auch, ob wir über Integration oder Inklusion sprechen können. Wie gesagt, im Kern des Diskurses über die Integration steht die Chancengleichheit; wenn wir aber über Inklusion sprechen, sprechen wir über gleichwertige Chancen. Worüber sprechen wir also, wenn wir über inklusive Bildung sprechen? Wenn wir über inklusive Bildung sprechen, müssen wir auch über die Barrieren sprechen, welche verhindern, dass gewisse Kinder in der Klasse nicht lernen. Aber Achtung. Wenn wir darüber sprechen müssen, dass es Kinder gibt, die nicht lernen können, befinden wir uns schon wieder im Diskurs der Integration. Gelingt es uns nicht, die gerade beschriebene Doppelgleisigkeit zu durchbrechen, wird es uns kaum gelingen, inklusive Praktiken zu leben. Sprechen wir doch nicht über Behinderte oder Kinder mit Defizit! Sprechen wir über die Barrieren, welche dem Lehren und Lernen im Weg stehen! Dies möchte ich im folgenden Kapitel tun. Was ich hier zu sagen versuche ist, dass wir Lernschwierigkeiten nicht an den Lernenden sondern nur am Lehrplan festmachen dürfen. Das Gesamte darf natürlich nicht so interpretiert werden, dass wir beim Lehren die Besonderheiten jedes Menschen nicht berücksichtigen dürfen, natürlich MÜSSEN wir das sogar tun!

Was ich sagen möchte ist, dass wir Methoden entwickeln müssen, die es uns erlauben, auf diese Besonderheiten einzugehen. Und in diesem Sinn gibt uns der Sozio-Konstruktivismus viele Möglichkeiten (López Melero, M. 2010).

Eine inklusive Bildung kann sich nicht einfach darauf beschränken, SchülerInnen mit Behinderung mit SchülerInnen ohne Behinderungen in eine Klasse zusammenzusetzen, sie kann nicht funktionieren, wenn wir das System unverändert belassen, sie besteht nicht darin, dass besonders ausgebildete Lehrer in einer normalen Schule SchülerInnen mit Behinderungen zur Seite nehmen und separat auf ihre Bedürfnisse eingehen. Die inklusive Bildung ist ein Prozess des Lernens – des Lernens, mit den Unterschieden zwischen den Menschen zu leben und umzugehen. Die inklusive Bildung ist ein Prozess der Humanisierung und verlangt daher Respekt, Partizipation und Zusammenleben. Im Gegensatz dazu steht die Integration: Sie verlangt stillschweigend, dass sich Menschen mit anderen Voraussetzungen und Minderheitskollektive an eine hegemonische Kultur anpassen. Wenn wir über inklusive Bildung sprechen, müssen wir unter dem Gesichtspunkt der Schulkultur dazu bereit sein, unsere pädagogischen Praktiken zu ändern, so dass diese nicht etwa einen Prozess der Segregation, sondern der Humanisierung fördern. Wenn wir die pädagogischen Praktiken ändern wollen, so bedeutet dies, dass sich auch die Einstellung der Lehrer in Bezug auf kognitive und kulturelle Kompetenzen von Menschen mit anderen Voraussetzungen ändern muss. Es bedeutet, dass wir andere Prozesse des Lehrens und Lernens brauchen. Es bedeutet, dass wir einen anderen Lehrplan, eine andere Schulorganisation und andere Beurteilungssysteme brauchen. Das heißt, dass wir uns darüber bewusst sein müssen, welches die Barrieren sind, die verhindern, dass gewisse SchülerInnen lernen wollen. Das Verstehen dieser Barrieren seitens der LehrerInnen und die Einleitung eines Prozesses zur Beseitigung dieser Barrieren stehen also am Anfang eines Prozesses, der zum Aufbau von Gemeinschaften des Zusammenlebens und Lernens führt.

Zu wissen, welche Barrieren dem Respekt, der Partizipation, dem Zusammenleben und dem Lernen bestimmter Kinder im Wege stehen, beschreibt genau die ethische Verpflichtung des Diskurses der neuen Kultur der Inklusion und der inklusiven Bildung. Mehr noch, es ist unsere ethische Verpflichtung, gegen die Ungerechtigkeiten bei der Umverteilung und der Anerkennung anzukämpfen (Fraser und Honneth, 2006), auch wenn es unsere eigenen Möglichkeiten übersteigen sollte. Als Ausgangspunkt haben uns die ethischen Prinzipien zu dienen, an die wir glauben, auch wenn es keinen „einsichtigen“ Anhaltspunkt dafür gibt, dass unsere Anstrengungen letztendlich erfolgreich sein werden – selbst wenn der beständige Kampf gegen die Diskriminierung nur ein symbolischer Wert ist. Was sind also die Barrieren, welche die Partizipation, das Zusammenleben und das Lernen aller Schüler in der öffentlichen Schule verhindern?

Barrieren, die eine inklusive Schule verhindern

Wenn wir inklusive Praktiken erarbeiten wollen, müssen die LehrerInnen sich zunächst über die Barrieren bewusst sein, damit diese auch beseitigt werden können. Ohne diese Kenntnis und dieses Verständnis der Barrieren werden sie auch nicht verschwinden. Der Ausgangspunkt für jeden Wandel ist die Analyse des Istzustands im gegebenen Kontext. Der Index for Inclusion (Booth und Ainscow, 2002) kann diesbezüglich als Beispiel dienen, wie sich die Barrieren vermeiden lassen. Dabei wird der Gesichtspunkt sämtlicher Akteure mit einbezogen, nämlich LehrerInnen, SchulerInnen und Familien. Genau das tun wir auch im Projekt Rom (López Melero, M. 2003 und 2004)

Nach unserer Ansicht gibt es ganz verschiedene Barrieren, welche die Partizipation, das Zusammenleben und das Lernen in der Schule verhindern, und zwar:

a) politische Barrieren (widersprüchliche Bestimmungen)

b) kulturelle Barrieren (Konzepte und Einstellungen)

c) didaktische Barrieren (Lehre-Lernen)

Nachdem wir uns nun mit den vorherigen Barrieren auseinandergesetzt haben, und sofern es uns gelingt, die Dichotomisierung zwischen Menschen, die lernen und nicht lernen, zu überwinden, können wir uns nun auf die didaktischen Barrieren konzentrieren, die eine Schule ohne Exklusion erschweren. Ich werde diese eine nach der anderen abhandeln und erklären, wie wir diese Barrieren vermeiden können.

Erste Barriere: Wettbewerbsorientiertheit im Klassenzimmer anstelle kooperativer und solidarischer Arbeit. Was passiert, wenn das Klassenzimmer nicht als Gemeinschaft des Zusammenlebens und Lernens betrachtet wird?

Zweite Barriere: Fach- und schulbuchorientierter Lehrplan anstelle des Lernens durch Lösen von Problemsituationen. Abschaffung von Lehrplananpassungen.

Dritte Barriere: Räumlich-zeitliche Gestaltung. Eine Schule ohne Exklusion muss entsprechend der durchzuführenden Aufgabe organisiert sein. Es ist eine spontane Organisation erforderlich.

Vierte Barriere: Re-Professionalisierung der LehrerInnen, um Verständnis für Vielfalt zu schaffen. Die LehrerIn ist also nicht mehr eine technisch-rationale Fachkraft, sondern wird zur ForscherIn.

Fünfte Barriere: Die öffentliche Schule und das Lernen finden in gemeinsamer Interaktion zwischen Familien und LehrerInnen statt. Von der antidemokratischen Schule zur demokratischen Schule.

Die wertebasierte Bildung in der öffentlichen Schule, die verantwortliche Bürger hervorbringen möchte, kann nicht die ausschließliche Aufgabe der LehrerInnen sein, sondern bedarf der Zusammenarbeit von Familie, LehrerIn und anderen Akteuren (Magistrate, NGO s, Medien, usw. ). Diese gemeinsame, pädagogische Verantwortung ist nicht nur ein hervorragendes Beispiel des Zusammenlebens für unsere Kinder, sondern auch eine Begegnung zwischen Familien und LehrerInnen, wo die Einen von den Anderen lernen und alle zusammen gemeinsam lernen.

Strategien für den Bau einer inklusiven Schule

Alle SchülerInnen ohne Unterschied zu bilden, ist die wichtigste Aufgabe der öffentlichen Schule. Es gibt aber noch immer Schulen, in denen es der großen Mehrheit der Kinder verwehrt wird, an der Kultur teilzuhaben. Das Recht zu lernen, wurde ihnen geraubt (Darling- Hammon, L. 2001). Daher besteht die erste Strategie darin, allen Kindern das Recht zu lernen zurückzugeben.

Dies bedarf jedoch auch eines Umdenkens der Lehrer in Bezug auf die kognitiven und kulturellen Kompetenzen aller SchülerInnen. Hierfür müssen die LehrerInnen aber auch davon überzeugt sein, dass sie die größten Nutznießer sind, wenn sie Lehrstrategien ausarbeiten, die das Lernen aller SchülerInnen ermöglichen. Daher lautet die zweite Strategie auf dem gemeinsamen Weg: beim Lehren selbst lernen. In einer demokratischen Schule kann sich die Rolle des Lehrenden nicht darauf beschränken, vergangenes Wissen weiterzugeben, welches die SchülerInnen dann auswendig lernen, sondern die LehrerInnen müssen den SchülerInnen beibringen, wie man noch gar nicht existierendes Wissen selbst aufbaut. Folglich ist der Corpus des Wissens nicht vorgegeben, da es ja von den LehrerInnen und den SchülerInnen erst gemeinsam aufgebaut werden muss. In diesem Sinne unterscheiden sich die Funktionen des Lehrenden, des Lernenden und des Lehrplans von einer inklusiven Schule zur anderen, und zwar:

1. Die LehrerIn hatte im traditionellen Schulsystem drei Aufgaben: Lerninhalte (als Katalysator) zu übermitteln, den Fortschritt und den Erfolg der SchülerInnen zu beurteilen sowie das Ideal eines gebildeten Menschen und einer vollständigen Bildung vorzuleben. (Kozulin, A. 2000). Im modernen System wandelt sich diese Rolle grundlegend: Die LehrerIn muss zunächst das Arbeiten in ausgesprochen heterogenen (Ethnie, Geschlecht, Behinderung, Religion, Herkunft, Mehrsprachigkeit, …) Klassen beherrschen. Im Zentrum darf daher nicht mehr ein „Durchschnittsmensch“ stehen, sondern die Heterogenität der Kinder. Ferner muss die LehrerIn andere Lehrsysteme erlernen, um auf die Komplexität des Kontexts der Klasse eingehen zu können. Verbale Erklärungen allein genügen also nicht mehr, sondern es sind andere, partizipativere Arbeitsweisen gefragt, zum Beispiel die Projektmethode, Seminare, Workshops, Arbeitsgruppen usw. , durch die Wissen kooperativ aufgebaut werden kann. Dies bedeutet natürlich auch, dass die Aufgabe der LehrerIn kreativer und origineller, zugleich aber auch herausfordernder ist.

2. Im traditionellen System ist (oder war) die SchülerIn vor allem eine EmpfängerIn der von der LehrerIn vermittelten Lerninhalte – die SchülerIn saugte also wie ein Schwamm passiv Lehrstoff auf und hatte diesen auf Knopfdruck abrufbereit zu haben. Hierfür mussten sich die SchülerInnen an Regeln halten. Aufmerksamkeit und Denkarbeit waren unwichtig. Wenn eine gewisse SchülerIn die beschriebenen Kompetenzen nicht aufwies, ging man davon aus, dass sie für eine normale Bildung ungeeignet sei – sie wurde in die Kategorie „Sonderschule“ gesteckt. Da sie als unreif betrachtet wurde, so behauptete man, müsse man erst warten, bis sich dieser Reifeprozess einstellen würde. Im modernen System ist die Stellung der SchülerIn bezüglich des schulischen Lernens eine andere. Es wird anerkannt, dass das Lernen in der Schule nicht nur Bildung, sondern auch Entwicklung erzeugt. Ein Warten auf das Reifen ist nicht erforderlich, sondern die Reife, d.h. die Entwicklung, ist das Ergebnis des Lernens (Vygotsky, L. 1995).

Im traditionellen System ging man davon aus, dass die Entwicklung des Menschen ein natürlicher Reifeprozess ist, welcher eine Voraussetzung für Bildung ist; im modernen System unterstreichen wir aber, dass die Entwicklung von den soziokulturellen Einflüssen abhängt, die im familiären, schulischen und gesellschaftlichen Kontext verankert sind; daher muss der Erfolg der SchülerInnen auch daran gemessen werden, ob sie dazu in der Lage sind, allgemeine und spezifische Strategien aufzubauen, die ihnen das Problemlösen sowohl jetzt als auch in der Zukunft ermöglichen, und nicht etwa daran, ob sie die Lerninhalte auswendig gelernt haben.

Unter diesem Blickwinkel ist die Rolle des Lernenden also weit mehr als die eines passiven Informationsempfängers. Das Lernen wird nämlich zu einem Prozess des aktiven Forschens, Auswählens und Umformens der Lerninhalte. In dieser modernen Vision findet also einerseits das Denken des piagetianischen Konstruktivismus Platz, nach dem der Lernende für das Lösen von Problemen und die Entwicklung sowie Anwendung seiner Denkmuster ein stimulierendes Umfeld benötigt, und andererseits das vygotskyanische Denken, welches unterstreicht, dass die Fähigkeit des Menschen, eigenständig zu lernen, nicht so sehr ein Ausgangspunkt für den Bildungsvorgang, sondern eher sein Ergebnis ist. Ohne also die Konzepte auszuschließen, dass Kinder spontan lernen können, kann doch betont werden, dass das Wissen dadurch entsteht, dass man KollegInnen hilft (Zone der nächsten Entwicklung). In diesem gemeinsamen Wissensaufbau liegt unserer Ansicht nach die Wurzel des kooperativen Lernens. In diesem Sinne erinnere ich auch an den soziokulturellen Charakter der menschlichen Kognition (Vygotsky, L. 1995) und das Denken nach Ainscow (2010), wenn er über „Every Child Matters“ („Jede SchülerIn ist wichtig“) spricht, wo er als Ziel die Erweiterung des Lernschwerpunktes über die akademischen Ergebnisse hinaus nennt.

3. Auch der Lehrplan bzw. die Lehrmaterialien sind andere. Im traditionellen System bestand der Lehrplan aus Informationen sowie Regeln, die zum Erlernen der Informationen eingehalten werden sollen. So gab die Gesellschaft beispielsweise die Zusammensetzung der Lerninhalte in jedem Fach vor (im Schulbuch dargestelltes Programm), und genau das mussten die Lernenden lernen, um als „gebildete“ Menschen zu gelten. Das Weltbild und die kulturellen Traditionen waren bereits vorgegeben, die Schule hatte die Aufgabe, sie zu übertragen, und von den Kindern wurde verlangt, sie – unter Anwendung der damit verbundenen intellektuellen Instrumente – ganz einfach „aufzusaugen“.

Im modernen System hat sich die Funktion der Lehrmaterialien geändert. Es kann sich nicht mehr um eine mit Gegenstandsinhalten verbundene Narration oder Problemsammlungen, Übungen oder typische Probleme der Mathematik oder anderer Gegenstände handeln, sondern die Lernaufgaben müssen sich auf neue Materialien stützen, die auch eine andere Funktion haben. Das heißt, dass die Lehrmaterialien nicht mehr Informationsträger sind, sondern sie stimulieren Reflexion und Handlung. Jetzt sind also die Lehrmaterialien darauf ausgerichtet, eine höhere kognitive Entwicklung anzustoßen, die es dem Lernenden ermöglicht, richtig zu denken, während es früher um das Eintrichtern einer großen Menge an Informationen ging. Das Denken muss also gelehrt werden, um richtiges Handeln zu ermöglichen, und zwar durch Kommunikationssysteme, Normen und Werte. Die Lehre kann nicht mehr das Transferieren von Informationen an die Lernenden sein, sondern sie muss im Lernenden das Potenzial des Lernens entwickeln. Jede/r SchülerIn nimmt am Aufbau des Wissens teil. Dabei werden die Klassenzimmer zu echten Gemeinschaften des Zusammenlebens und Lernens.

Wenn wir darüber sprechen, dass wir die Klassenzimmer zu Gemeinschaften des Zusammenlebens und Lernens machen, meinen wir damit, dass wir unseren Unterricht so umgestalten müssen, dass alle Kinder gleichermaßen die Möglichkeit der Teilnahme am Aufbau des Wissens auf dem Wege des dialogischen Lernens haben. Im dialogischen Lernen hängt die Welt der Bedeutungen von der Qualität der Interaktionen ab, die im Klassenzimmer entstehen.

Bei dieser Unterrichtsweise wird das Lernen also aufgebaut. Als Ausgangspunkt werden reale, von den SchülerInnen erlebte und ihnen bekannte Situationen analysiert. Die zu erlernenden Grundkonzepte und Ideen dienen dazu, Strategien zu entwickeln, welche das Lösen dieser Problemsituationen erlauben. Das Wichtigste bei dieser Art des Lernens ist, dass die SchülerInnen Verantwortung über ihre Art des Lernens übernehmen und dazu in der Lage sind, dieses selbst zu steuern („Das Lernen erlernen“ und „Lernen, wie man lernt“. Metakognition). Dabei sind das Miteinander- Sprechen und das Austauschen von Gesichtspunkten sowie die gemeinsame Aktivität die Pfeiler des Lehrens und Lernens. Dieses dialogische Lernen wird also zur dritten Strategie, um die inklusive Bildung in die Tat umzusetzen.

Bringen die LehrerInnen den Kindern korrektes und autonomes Denken, gemeinschaftliches Arbeiten und gegenseitiges Helfen und das Anwenden des Erlernten zur Lösung von Problemsituationen im täglichen Leben bei, so haben die Kinder vor allem gelernt, zu sprechen und zuzuhören, konstruktiv zusammenzuleben und sich zu respektieren. Das kooperative Lernen ist daher die vierte Strategie zur Inklusion. Der Lehrplan betrachtet und entwickelt also sämtliche Dimensionen des Menschseins: die Kognition und die Metakognition, die Sprache und die Welt der Bedeutungen der Kommunikation, die Werte und Regeln, die Entwicklung der persönlichen, sozialen und moralischen Autonomie. Oder, wie GARDNER (1995) es ausdrückt, einen wesentlichen Teil der acht Intelligenzen. Kooperatives Lernen ist für uns eine Art und Weise, das Wissen aufzubauen (Kultur des Klassenzimmers), wobei wir gemeinsam in heterogenen Gruppen arbeiten, deren Bestandteile interdependent sind und denen einiges gemeinsam ist, zum Beispiel: ein gemeinsamer Raum und gemeinsame Ziele, Lehrmaterialien sowie Funktionen, mit denen ein gewisser Grad an Verantwortung einhergeht (Johnson, D.W, Johnson, R. und Holubec, E.J.1999; Slavin, R. E. 1999).

Genau so gehen wir vor, da wir davon überzeugt sind, dass eine qualitätsstarke Bildung nicht nur dafür zu sorgen hat, dass das Recht auf Bildung gewahrt ist, sondern auch ein System sein muss, in dem jeder Platz hat. Daher ist unsere Aufgabe als LehrerInnen eine zutiefst ethische, und unser Handeln hat Konsequenzen. So müssen wir uns darüber bewusst sein, dass eine negative Diagnose, ein Herausnehmen von Kindern aus dem Klassenzimmer oder das Verbannen in einen Raum, in dem es nicht mit seinen KameradInnen partizipieren kann, für das betroffene Kind einen Weg vorgibt, aus dem ein Ausbrechen nur schwer möglich ist. Das sind also Konsequenzen, wenn es uns nicht gelingt, einen partizipativen und demokratischen Unterricht umzusetzen. Diese Sorge über die Konsequenzen unseres Handelns führt uns zu unserm ethischen Engagement. Wir können nicht zulassen, dass wir etwas tun, das sich negativ auf Andere auswirkt. Dies führt uns zur fünften Strategie, nämlich das Sich-bewusst-Werden, dass die inklusive Bildung eine Verpflichtung zum Handeln ist und nicht etwa ein theoretischer Diskurs.

Schlussworte

Zu Ende dieses Referats können wir feststellen, dass eine Schule ohne Exklusion folgende Voraussetzungen zu erfüllen hat: eine inklusive Kultur, eine inklusive Politik und inklusive pädagogische Praktiken (Ainscow, 2004). Mit einfachen pädagogischen Praktiken lässt sich eine Schule ohne Exklusion nicht darstellen. Für die Inklusion brauchen wir eine komplexere Pädagogik, in der Menschen mit anderen Voraussetzungen und andere Kulturen „lernen, wie man lernt“. Wie zuvor bereits gesagt, setzen wir das im Projekt Rom über die von uns so genannten Forschungsprojekte um. Dabei handelt es sich um ein gemeinschaftliches Lernen, wie man lernt (López Melero, M. 2003 und 2004).

Genau das machen wir im Rahmen des Projekts Rom. Vielleicht denkt jemand aufgrund des Gesagten, dass wir naiv, idealistisch und utopisch sind? Das stimmt durchaus. Aber mit unseren pädagogischen Praktiken und unseren Forschungen leisten wir einen Beitrag zum Aufbau einer inklusiven Schule. Im Projekt Rom sind wir Verfechter der öffentlichen Schule als kultureller Raum, der die Verantwortung für ein Bildungsmodell übernimmt, welches sich dem demokratischen Zusammenleben verschrieben hat. Wir begreifen es als unsere Aufgabe, eine qualitätsstarke Bildung zu bieten, welche die Besonderheiten jedes Kindes berücksichtigt. Darüber hinaus ist festzustellen, dass eine öffentliche Schule, welche sich die Kultur der inklusiven Bildung zu Herzen nimmt, eigentlich nicht mehr tut, als die Menschenrechte in die Praxis umzusetzen und lehrplanbedingte Ungerechtigkeiten zu vermeiden, indem sie nämlich zwei verschiedene Lehrpläne im Klassenzimmer ablehnt. Die Schule, die aus den Grundsätzen der inklusiven Bildung hervorgeht, ist also eine Schule, die bildet, um am Aufbau einer neuen Zivilisation teilzuhaben. Sie braucht LehrerInnen, die ihr Vertrauen in diese Prinzipien setzen und überzeugt sind, dass das Wichtigste an der Schule nicht das Weitergeben von vorkonfektioniertem Wissen ist (Instruktion), sondern das Schaffen demokratischer Räume für die Sozialisierung und die wertebasierte Bildung, weil man in der Schule schließlich nicht nur kulturelle Inhalte lernt, sondern auch eine Art zu leben bzw. besser ausgedrückt: eine Art des Zusammenlebens. Es geht nicht darum, die Kultur der Vielfalt als Wert zu lehren, sondern es geht um das demokratische Leben im Klassenzimmer auf Grundlage von Respekt, Partizipation und Zusammenleben. Genau das definiert die inklusive Bildung.

Solange es SchülerInnen in Klassen gibt, die ihre Würde verloren haben, die nicht so respektiert werden, wie sie sind, die nicht mit den KameradInnen an der Konstruktion des Wissens teilnehmen, die nicht unter den gleichen Bedingungen leben wie ihre KameradInnen, können wir nicht sagen, dass wir die inklusive Bildung umgesetzt haben. Das muss die Denkweise in der Bildungspraxis der öffentlichen Schule sein. Was ich sage, ist keine unerreichbare Utopie, sondern ein moralisches Projekt, dem wir uns im Bereich der Bildung widmen müssen.

Literatur

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Der Autor

Portrait: Miguel López Melero

Prof. Dr. Miguel López Melero

Catedrático de Didáctica y Organización Escolar

Universidad de Málaga

E-mail: melero@uma.es

Teléfono: 952-131096

Fax: 952-131460

Quelle

Miguel López Melero: Träume einer Gesellschaft der Inklusion. Von der Exklusion zur Inklusion, ein Humanisierungsprozess.

Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 1/2012, Thema: Wohnen im eigenen Körper, S.33-43.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 6.11.2017

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