Inklusion

Herausforderung an Schule, Gemeinschaft und Gesellschaft

Autor:in - Kerstin Ziemen
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Vortrag
Releaseinfo: Vortrag auf der Tagung "Integration und Tiroler Stolpersteine", 24.11.2004, Innsbruck auf Einladung der Plattform Integration
Copyright: © Kerstin Ziemen 2004

Einleitung

Herzlichen Dank für die Einladung, auf einer nun schon zum zweiten Mal stattfindenden Veranstaltung zur Rahmenthematik "Integration und Tiroler Stolpersteine" sprechen zu können.

Als ich vor nunmehr 2,5 Jahren von Deutschland nach Innsbruck an die Universität kam, hatte ich die Vorstellung, dass es hier doch wohl nur noch um den Ausbau der integrativen Idee gehen kann. Die Zahlen der integrativ beschulten Kinder, die sich in Deutschland auf ca. 5% der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf beziehen und in Österreich bei ca. 50 % (52,54 % in VS, HS, PTS, Quelle BMBWK für 2002/2003) liegen, sollten mir doch Recht geben oder?

Wo sollten die Stolpersteine liegen, in einem Land, in dem sowohl die Gesetzeslage und auch die Zahlen sich durchweg pro schulischer Integration zeigten, in einem Land, das auch international als eher integrationsfreundlich wahrgenommen wird und sich im zahlenmäßigen internationalen Ranking eher in der Mitte mit Tendenz zum oberen Drittel hin befindet (OECD 1995, Markowetz 2001, 199)?

Zum ersten Mal wurde mein Bild irritiert, als meine Frage nach den als schwerer behindert diagnostizierten Kindern, Jugendlichen unbeantwortet bleiben musste. Doch dazu später...

Zunächst möchte ich auf die mit derMetapher "Stolpersteine" einhergehenden Bedeutungen zu sprechen kommen, die sinnbildlich für diese Thematik stehen. Der Begriff "Stolperstein" steht für Dinge, Erscheinungen, Vorstellungen, die stören, behindern oder blockieren. Kann einerseits "Stolpern" bedeuten, auf etwas zu stoßen (vgl. Demnig, Kunstprojekt 1995), kann andererseits aus dem "Stolpern" auch ein Straucheln bzw. ein Fehltritt werden.

1. Stolpersteine oder auf etwas stoßen

Bei den Recherchearbeiten bezüglich "Stolpersteine" bin ich auf ein deutschlandweit erfolgreiches Kunstprojekt gestoßen, dass vom Kölner Bildhauer Gunter Demnig 1995 initiiert worden ist. Mit 10 mal 10 Zentimeter großen Messingschildern werden Stolpersteine in verschiedenen deutschen Städten (Köln, Berlin, Hamburg, Halle...) in das Straßenpflaster eingelassen, vor den Häusern der Menschen (Juden, politisch Verfolgte, Sinti und Roma, Kommunisten, Euthanasieopfer), die sie vor der Deportation bewohnten. Stolpersteine gegen das Vergessen der KZ-Opfer im deutschen Faschismus.

Hier drängt sich der Bezug zum Thema unmittelbar auf. Noch längst gilt die Geschichte nicht als aufgearbeitet. Nun müsste es darum gehen, "die Geschichte aus der Position der Verlierer des zweiten Weltkrieges" (Jantzen 2001) zu schreiben, ein Krieg der geführt wurde gegen die psychisch Kranken und Behinderten (vgl. auch Dörner 1980). Kranke und behinderte Menschen fielen der NS-Ideologie zum Opfer, im Sinne der Rassenlehre sollte alles Minderwertige des Volkes ausgelöscht werden. So galt bspw. als "Erbkrankheit" im Sinne des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (vom 14. Juli 1933): angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkuläres (manisch-depressives) Irresein, erbliche Fallsucht, erblicher Veitstanz, erbliche Blindheit, Taubheit, schwere körperliche Missbildung sowie schwerer Alkoholismus. In Österreich wurden nach Einführung des reichsdeutschen Sterilisierungsgesetzes (am 1.1.1940) insgesamt zwischen 5000-10000 Zwangssterilisierungen durchgeführt. Bei den als "erbkrank" Klassifizierten war eine Schwangerschaftsunterbrechung bis zum 6.Monat zulässig. Die NS-Medizin zielte auf die völlige Auslöschung der als minderwertig geltenden Personen. Als die wohl größte Tötungsanstalt in Österreich galt Schloss Hartheim bei Eferding. Ca. 20.000 Behinderte und 10.000 KZ-Häftlinge wurden ermordet. Kinder"euthanasie" betraf vor allem "missgebildete und idiotische Kinder", die ohne Einwilligung der Eltern in speziellen Kinderfachabteilungen (bspw. in Wien und Graz) ermordet worden sind.

Dieser Krieg gegen Behinderte und psychisch Kranke begann sich in Deutschland bereits im ausgehenden Kaiserreich (1870/71-1918) und der Weimarer Republik herauszubilden, wurde als Vernichtungskrieg während des Faschismus (1933-1945) geführt und ist als Bürgerkrieg nach wie vor präsent (vgl. Jantzen 2001).

"Unter rassistischer Orientierung wird die individuelle Verschiedenheit schließlich als "Andersartigkeit" wahrgenommen; eine zentrale Kategorie der Sonder- und Heilpädagogik..."ein anderes Sein" verweist den so etikettierten Menschen schließlich...als "nicht Mensch seiend", mithin auch als "nicht Person seiend", wie dies in den Kalkülen von Bio-Ethik und "neuer Euthanasie" eine große Rolle spielt" (Feuser 1995, 36/37). Auch der Aufbau des Sonderschulwesens ist tendenziell mit der Kategorie des "Andersartigen" verbunden. Wurden in Deutschland bis 1910 noch Versuche unternommen, die damals als "schwachbefähigt" gekennzeichneten Schüler in Volksschulen und Nachhilfeklassen zu unterrichten, geriet dies` alsbald "unter Beschuss einer biologistisch argumentierenden Hilfsschullehrerschaft, die ihre Schüler als `schwachsinnig` sieht" (Jantzen 1992, 56). "Schwachsinn bedeutet nicht nur Intelligenzschwäche...sondern zugleich moralischer Schwachsinn und "psychopathische Minderwertigkeit" (ebd. 56). Bis zum Beginn der Weimarer Republik bildete sich bereits ein differenziertes Sonderschulwesen heraus.

Andersartigkeit - Bildungs- und Lernunfähigkeit - Nichtverstehbarkeit sind im Zusammenhang zu betrachten. Am Bsp. der als "geistig behindert" gekennzeichneten Menschen wird dies` insbesondere deutlich. In Deutschland wurde es in den 1960ger Jahren überhaupt erstmals möglich, dass geistig behinderte Kinder und Jugendliche eine Schule besuchten. Bis dahin galten sie als "schulbildungsunfähig".

Ohne die Entwicklung hier chronologisch darstellen zu können, sollte bis dahin ein gewichtiger Stolperstein hervorgehoben werden, der mit unserer Geschichte unmittelbar verbunden ist.

Bis heute sind Diskriminierung, Behindertenfeindlichkeit, offene und strukturelle Gewalt präsent und eine zumeist negative Konnotation um Behinderung im Habitus des Menschen verankert. Neuere Erhebungen dazu, was Menschen in Österreich mit "Behinderung" verbinden (qualitative Studie "Bilder, Vorstellungen, Konstruktionen um Behinderung" - Österreich 2004), geben Zeugnis davon. Bei den von uns Befragten aller Altersgruppen erscheint Behinderung zumeist im Kontext von Andersartigkeit, von Lern- und Leistungsminderung, von Infantilisierung, von Unglück, Leid, Strafe und ist vor allem bei schweren Behinderungen verbunden mit Angst, Abscheu/Ekel (negativen Emotionen) oder wird durch den Mitleidsaspekt beherrscht. Eine klare Trennung nehmen die Menschen vor zwischen Körperbehinderten, für die eine Unterstützung (mobile Hilfen) vorstellbar ist und geistig bzw. mehrfach Behinderten, wo die Unsicherheit darüber überwiegt, was an Unterstützung möglich sein kann. Des Weiteren erscheint in den Vorstellungen um Behinderung die Kategorie "psychische Krankheit", die hoch angstbesetzt ist und nur von Ferne wahrgenommen werden will. Unsere Frage danach, woher die Vorstellungen um Behinderung kommen, führt uns zu der Erkenntnis, dass sowohl die Familie (vor allem die Eltern), das nähere Umfeld mit ihren Vorstellungen vom Menschen als auch in der Kindheit wahrgenommene Verhaltensweisen um Krankheit und Behinderung ("meine Mutter hat mich beeinflusst, für die waren alle gut") den Habitus massiv beeinflussen. Darüber hinaus kommt dem schulischen Feld ein großer Anteil zu, so wie es eine 15-jährige Befragte aus Vorarlberg äußerte, für die "Menschen mit Behinderung normal sind und zur Gesellschaft dazugehören", die von ihrem Erleben im integrativ schulischen Kontext berichtete und hoch motiviert des Weiteren (auch nach der Schule, in ihrer Freizeit) den Zugang zu Menschen mit Behinderung sucht bzw. weiterhin aufrechterhält.

Damit wird auch begründbar, wie sich perspektivisch Bilder und Vorstellungen um Behinderung aus der ausschließlich negativen Konnotation verändern lassen, indem das familiäre und schulische Feld stärker berücksichtigt wird. Außerdem benötigen "Menschen vermutlich Schlüsselerlebnisse", (so in einem Gespräch mit Univ-Dipl.-Behindertenpädagogin Heike Meyer-Egli -Schweiz) herausgearbeitet. Schlüsselerlebnisse, die zur Veränderung von Vorstellungen und Konstruktionen führen, könnten bspw. sein, mitzuerleben, wie ein bis dahin als "nichtsprechend" und "geistig behindert" diagnostizierter junger Mann nach dem gemeinsamen Auffinden eines ihm adäquaten Zeichensystems zu kommunizieren beginnt oder mitzuerleben, wie ein blindes und gehörloses Kind nach einem ihm adäquaten Angebot die Welt erkundet, mit der Umgebung in Kontakt tritt und daraufhin Lernfortschritte macht. Schlüsselerlebnisse könnten bewirken, Perspektiven zu verändern, in dem all das zuvor als anders, fremd, nicht-verstehbar wahrgenommene Verhalten und Handeln eines Menschen nun im Kontext von Sinnhaftigkeit, als allgemein-menschlich und erklärbar aus seiner Lebensgeschichte zu verstehen. Zumeist bietet die mit Behinderung (vor allem geistiger und schwerster Behinderung) im Verhältnis stehende Isolation (vgl. Jantzen 1992, 280 ff.) eine Ebene der Erklärung. Als Zwischenschritt dahin kann sich die Perspektive bereits ändern, wenn wir uns fragen, wie es uns in genau der Situation des anderen, mit seiner Lebenssituation und Lebensgeschichte wohl ergangen wäre.

2. Stolpersteine in den Weg legen - etwas oder jemanden behindern

"Nichts ist schädlicher für die Entwicklung des Selbst, als von reichhaltigen sozialen Beziehungen ausgegrenzt zu werden. Dies` ist der Grundgedanke einer Theorie und Praxis der Integration behinderter Kinder" (Jantzen 2002, 365). Obwohl die Integrationspädagogik ihren Ausgangspunkt in der Dichotomie von Behinderung und Nichtbehinderung nimmt, geht sie in entscheidender Weise den Weg, die reichhaltigen sozialen Beziehungen zwischen Kindern zu sichern.

Mit der Dichotomie Behinderung und Nichtbehinderung geht eine weitere Differenzierung hervor und wird nun durch die Klassifikation Kinder mit "sonderpädagogischem Förderbedarf" und Kinder ohne diesen(vgl. auch Deppe-Wolfinger 2004, 256) aufgehoben. Das führt zwangsläufig dazu, in den alten überholten Kategorien weiterzudenken, so bspw. der Kategorie des Anders-Seins, die damit den Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf attestiert wird. Darüber hinaus führt das Unterrichten nach entsprechend den Sonderschularten ausgerichteten Lehrplänen, die zumeist verschlankt sind, dazu, dass längst nicht alle Kinder (z.Z. auch in der Integration nicht) alles gelehrt wird (so wie es bereits Comenius 1657 in seiner "Großen Didaktik" forderte). "Egal wie ein Kind beschaffen ist, es hat das Recht, alles Wichtige über diese Welt zu erfahren, weil es in dieser Welt lebt" (Feuser 1999, 1).

Dem Recht des Kindes kann jedoch nur entsprochen werden, wenn überdies` der didaktischen Frage des Weiteren nachgegangen wird. In der Zukunft muss es um die Ausarbeitung einer allgemeinen Pädagogik und Didaktik gehen, die kein Kind, keinen Jugendlichen ausschließt. Wichtige Arbeiten dazu liegen bereits vor, so vor allem Feuser`s entwicklungslogische Didaktik, verschiedene reformpädagogische Ansätze und eine Didaktik, die sich in Anlehnung an die kulturhistorische Schule (Wygotski`s, Leontjew`s und Luria`s) versteht, so die Ansätze Galperin`s, Talyzina`s und Mitarbeitern, an denen sich auch Iris Mann orientierte.

Eine allgemeine und humane Pädagogik/Didaktik setzt jedoch zuallererst die An- und Zuerkennung symbolischen Kapitals der Schülerinnen und Schüler voraus, so dass ein subjektorientiertes, dialogisches und lernzielorientiertes Lernen ermöglicht wird, indem jedem die Chance eingeräumt wird, an den relevanten Lehr- und Lerngegenständen zu partizipieren. Dabei ist das Verhältnis der "Zone der aktuellen und der nächsten Entwicklung" (Wygotski) zu berücksichtigen, insofern als dass durch eine pädagogische Diagnostik die "Zone der aktuellen Entwicklung" umrissen werden kann, daraus dann eine pädagogische Idee entsteht, die in der "Zone der nächsten Entwicklung" eines Kindes relevant sein könnte. Diesen nächsten Entwicklungsschritt kann das Kind zunächst in Kooperation mit anderen beschreiten, ehe es diesen selbst gehen kann. Vor allem spielt dabei jedoch die Motivation und das Erleben des Kindes eine zentrale Rolle. Wie die "Zone der aktuellen Entwicklung" eingeschätzt werden kann und welche pädagogischen Ideen abgeleitet werden können, dies` ist zumeist verstehbar durch die Analyse der vergangenen Entwicklung des Kindes, durch die Möglichkeiten, die ein Kind gehabt hat und durch die Rekonstruktion dessen, wer und was das Kind bislang an seiner Entwicklung gehindert bzw. wer oder was das Kind bislang unterstützt hat. Das fordert den Lehrer bzw. das ganze Team ebenso, wie die Analyse der Unterrichtsgegenstände und die Kennzeichnung der Komplexität dieser. Zwar kann ich hier nicht auf das gesamte didaktische Konstrukt eingehen, dennoch sollte deutlich geworden sein, dass ein bedeutsamer Stolperstein auch und vor allem in der Didaktik liegen kann. Etwas "gut zu meinen" und eine vage Vorstellung von gemeinsamen Lehr- und Lernprozessen zu haben reicht eben nicht aus.

3. Keinen Stein auf dem anderen lassen - etwas zerstören

Wenn etwas zerstört werden muss, dann das (noch beobachtete) einseitige Lehrer- und Schülerverhältnis, so wie es Paolo Freire (1973) als Bankiers-Konzept kennzeichnet hat, bei dem die Kinder zu Behältern, Containern werden, wo der Lehrer seine Einlagerungen macht. So lange der Lehrer danach bemessen wird, wie effektiv er diese Behälter füllen kann und die Leistungen des Schülers danach bemessen werden, wie willig sie sich abfüllen lassen, sind wir noch weit von einer integrativen/inklusiven Pädagogik entfernt.

Konzept der Bankierserziehung

  1. "der Lehrer lehrt und die Schüler werden belehrt

  2. der Lehrer weiß alles und die Schüler wissen nichts

  3. der Lehrer denkt und über den Schüler wird gedacht

  4. der Lehrer redet und die Schüler hören brav zu

  5. der Lehrer züchtigt und die Schüler werden gezüchtigt

  6. der Lehrer wählt aus und setzt seine Wahl durch und die Schüler stimmen ihm zu

  7. der Lehrer handelt und die Schüler haben die Illusion zu handeln durch das Handeln des Lehrers

  8. der Lehrer wählt den Lehrplan aus und die Schüler passen sich dem an

  9. der Lehrer vermischt die Autorität des Wissens mit seiner eigenen professionellen Autorität, die er in Widerspruch setzt zur Freiheit der Schüler

  10. der Lehrer ist das Subjekt des Lernprozesses, während die Schüler bloße Objekte sind" (Freire 1973, 58)

Hier wird die Spaltung zwischen Mensch und Welt vollzogen: "der Mensch ist nur in der Welt, aber nicht mit der Welt oder mit anderen. Der Mensch ist Zuschauer, nicht Neuschöpfer" (Freire 1973, 60f.). Nun werden Einige zurecht darauf verweisen wollen, dass das Bankierskonzept prinzipiell überwunden ist. Lassen Sie mich den anderen Pol, der dem entgegengesetzt liegen sollte, skizzieren (und auch das ist Realität). In reformpädagogischer Absicht werden Schulkonzepte entworfen, die sich auf Selbstbestimmung, Autonomie, die Selbstgestaltungskräfte der Kinder beziehen (wogegen zunächst nichts einzuwenden wäre), jedoch in falsch verstandener Absicht, auch wieder "gut gemeint" der Tag strukturiert wird, Räume und Materialien vorbereitet und die Kinder orientiert werden. Die Kinder bleiben mit Räumen und Material sich selbst überlassen, in der Absicht, der Entwicklung Zeit und Raum zu geben, ohne davon auszugehen, dass Material und Raum allein Entwicklung eines Kindes nicht unterstützen kann. In diesem Konzept hält sich der Lehrer zurück, beobachtet und greift nur in Gefahrensituationen ein. So kommt es dazu, dass Kinder für kleine Entwicklungsschritte Jahre benötigen und damit sensible Entwicklungsphasen verpasst werden. Dem Konzept an dem einen und dem anderen Pol ist eines gemeinsam, der fehlende Dialog und die Kommunikation. "Solidarität verlangt echte Kommunikation...das menschliche Leben (kann, d. V.) nur durch Kommunikation seinen Sinn erhalten...Echtes Denken findet nicht im Elfenbeinturm der Isolierung statt, sondern nur im Vorgang der Kommunikation... (Freire 1973, 62). Beide Konzepte vernachlässigen diese.

4. Stolpersteine übergehen oder umgehen - Probleme überwinden

Die Debatte um Integration und die Forschungen bzw. Projekte zur schulischen Integration zeigen auf, dass Stolpersteine, die im Weg lagen, überwunden, um- oder übergangen werden konnten, so:

  • die Lebens- und Lernfreude der Kinder an der sozialen Gemeinschaft durch schulische Integration gestärkt werden konnte;

  • nicht behinderte Kinder in Integrationsklassen genauso viel leisten wie ihre Altersgenossen in Grundschulklassen;

  • behinderte Kinder in Integrationsklassen Lernfortschritte machen, die niemand erwarten konnte (auch die geistig behinderten Kinder);

  • Kinder in den Integrationsklassen einen alltäglichen sozialen Umgang miteinander haben;

  • die Integrationsklassen zu einem wichtigen Impuls für die Schulen geworden sind: Lehrer, Erzieher, Klassenzimmer, Unterricht und Lehrerkollegien änderten sich;

  • im Vergleich der Modelle 11 + 4 und 18 + 2, eher die größere Gruppe mit weniger behinderten Kindern zu bevorzugen ist;

  • bei der Hochrechnung einer flächendeckenden regionalen Versorgung an schulischer Integration, das 19 + 1 Modell der Regelfall (für Deutschland) wäre ( vgl. Jantzen 2002 mit Verweis auf Untersuchungen von Feuser / Meyer 1987; Wocken / Antor 1987, 365);

  • das immer wieder bemühte Kostenargument: Integration sei teurer als Sonderbeschulung, revidiert werden muss, Preuss-Lausitz weist nach, dass Integration kostengünstiger ist, "sofern man die Gesamtkosten pro Schüler (Uni-Costs) einschließlich des Vorhaltens spezieller Sonderschulplätze bilanziert" (vgl. Jantzen ebd. 366);

  • verändern Schulen mit Integrationsklassen über kurz oder lang das gesamte Schulprofil und wirken z.T. in den Stadtbezirken auf andere Schulen (vgl. Heimlich).

Die sich herausstellenden Probleme schulischer Integration beziehen sich keineswegs auf die behinderten Kinder, sondern die so genannten nichtbehinderten Kinder (vor allem die verhaltensauffälligen) und als problematisch werden Teamarbeit und Kooperation der Pädagogen erlebt (vgl. Wocken/ Antor 1987, 84f.). Des Weiteren verweisen Forschungsergebnisse von Reiser darauf (Jantzen 2002, 368 mit Bezug auf Reiser 1995), dass im gemeinsamen Unterricht nicht die Leistungsabweichungen zu geringeren sozialen Kontakten führen, sondern die nicht entwickelten sozialen Fähigkeiten der Kinder.

Eine aktuelle Studie (Jantzen/Kondering/Hütter 2004) zeigt, wie gemeinsames Lernen auch im Sekundarstufenbereich (7.-10. Schuljahr) gelingen kann, hier mit der zentralen Frage nach der emotionalen und sozialen Entwicklung der Jugendlichen in der Lebensphase der Pubertät. Die schulische Integration gelingt bei entwicklungspsychologischem Verständnis um die Lebensaltersphase und unter Berücksichtigung der Widersprüche und Konflikte (ebd.) auf dem Weg in die Erwachsenenwelt. Es braucht "verlässliche Erwachsene, die ihnen (den Jugendlichen, d.V.) Kredit geben" (ebd.), so bspw.: "Auch wenn du das jetzt noch nicht kannst, dich jetzt noch verweigerst, du wirst es irgendwann können, ich trau dir das zu" (ebd.). Sozialen Kredit geben heißt einen Vorschuss an sozialer Anerkennung geben. Das symbolisiert für Kind und Jugendlichen das Vertrauen des Erwachsenen in seine Entwicklung.

Sonderschulen/ Förderschulen scheinen einen "Stein im Brett zu haben" und sind in deutschsprachigen Bildungssystemen offensichtlich beliebter als integrative bzw. allgemeine Schulen, die alle Kinder einer Region im Blick haben. Dabei ist das Nebeneinander von schulischen Förderformen nicht nur höchst kostenintensiv, sondern hält auch nicht, was es verspricht (vgl. Jantzen 2002, 367). Wocken konnte in einer Untersuchung der Hamburger Förderschulen zeigen, dass der Anspruch besserer Förderung durch die Sonderschule nicht aufrechterhalten werden kann. So weist der Vergleich mit Hauptschüler/Innen aus, dass die Sonderschüler/Innen bspw. signifikant niedrigere Rechtschreibleistungen aufweisen. Zur Erklärung wären einige soziale und kulturelle Variablen anzuführen (vgl. Jantzen 2002, 367f.).

Für Deutschland verweist auch Deppe (2004, 247) darauf, dass sich nach Analyse der PISA-Ergebnisse, die schlechtesten Schüler in Haupt- und Sonderschulen befinden. "Die Homogenisierung der Schülergruppen geht einher mit Ausleseprozessen innerhalb und zwischen den Schulformen: Verspätete Einschulungen, häufige Klassenwiederholungen, Überweisungen von einer Schulform zur nächsten führen zu erheblichen Verzögerungen in der Schullaufbahn, ohne dass die betroffenen Schüler(innen) bessere Leistungen erbringen" (ebd.)

5. Einen Tropfen auf dem heißen Stein - zu wenig von etwas

Auf ein Problem möchte ich insbesondere verweisen, auf die Situation von Kindern mit diagnostizierter schwerer/schwerster oder Mehrfachbehinderung, die sich zumeist nicht lautsprachlich verständigen können und von allen relevanten Lebensbereichen isoliert sind. Aufgrund der oben angeführten negativ konnotierten Vorstellungen und Konstruktionen werden diese immer noch am häufigsten von integrativen schulischen Kontexten ausgeschlossen. Je schwerer die Behinderung wahrgenommen wird, umso weniger sind z.Z. die Grund- und Bürgerrechte der betreffenden Kinder und Jugendlichen gesichert (Jantzen 2002, 379).

6. Den Stein ins Rollen bringen - etwas bewegen

Ausgehend von einer Diskussion um Integration und seit neuerem Inklusion kann es durch die Bündelung von Ressourcen (Arbeitsbündnisse) gelingen, eine Schule für alle Kinder zu schaffen. Diese müsste sich als demokratisch, human und solidarisch verstehen und damit sichern, dass alle Kinder alles lernen können, dass jede/r auf seine Art und Weise lernen kann und dafür die notwendige Unterstützung bekommt.

Dazu braucht es der Anerkennung im Sinne symbolischen Kapitals anderer,

  • zu allererst der Kinder und Jugendlichen, um ihnen auf dieser Basis ein Angebot der Unterstützung zu unterbreiten;

  • der Anerkennung der Eltern und Bezugspersonen und die Unterstützung bzw. Beratung dieser;

  • der Anerkennung der Lehrer/Innen und Schulen und damit das Verfügbarmachen von Angeboten der Unterstützung (politische, fachliche).

Es braucht einen klaren politischen Willen und eine besondere Anerkennung der Schulen, die Integration in einer Region durchführen.

Schwerpunktmäßig muss es um die Entwicklung einer pädagogisch und menschenrechtlich adäquaten Infrastruktur für die Entwicklungsbedürfnisse schwerstbehinderter Kinder und Jugendlichergehen, da hier Transferwissen erarbeitet werden kann, dass auch in anderen Bereichen von Nutzen ist (vgl. Jantzen 2002, 379).

Es muss darüber hinaus um das Wahrnehmen unterschiedlicher prekärer Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen gehen, der sich eine Gesellschaft zu stellen hat und die innerhalb schulischer Integration zu berücksichtigen sind.

Das erfordert langfristig Veränderungen im Schulsystem durchzusetzen, wie sie in Dänemark und Italien vorgenommen wurden (Jantzen 2002, 366), so die Erstellung von "Rahmenplänen, Abschaffung der Ziffernzensuren, eine nicht selektive Pflichtschulzeit von 8-10 Jahren, geringe Klassenfrequenzen, geregelte Ganztagsbetreuung und einheitliche Lehrerbildung" (Schöler 1999, 119).

Mit dem in deutscher Übersetzung vorliegenden "Index for inclusion" (Hinz/Boban) können sich schon heute Schulen auf dem Weg machen, das eigene System so zu verändern, dass eine Schule für alle Kinder und Jugendlichen einer Region möglich werden kann. Dabei sind die Lehrkräfte und Teams nicht allein zu lassen, es gilt, sie durch Fachberatung, Fortbildung und Supervision zu unterstützen.

Bezieht sich die Inklusion gegenwärtig hauptsächlich auf Schule muss diese mehr und mehr im Kontext einer inklusiven Gesellschaft gedacht werden, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens einbezieht.

Meine Vision ist es, Stolpersteine auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft, die eine inklusive Schule braucht, überwinden zu können oder aus ihnen Meilensteine der Entwicklung werden zu lassen. Doch dieses wird sich nur gemeinschaftlich realisieren lassen...

Literatur

Bourdieu, P./Waquant, L.J.D.: Reflexive Anthropologie. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1996.

Comenius, J.A.: Große Didaktik. Klett, Stuttgart 1659, 1954,2000.

Deppe-Wolfinger, H.: Zur gesellschaftlichen Dimension der Integrationspädagogik. In: Forster a.a.O., 244-263.

Feuser, G.: Integration - eine Frage der Didaktik einer Allgemeinen Pädagogik. In: bidok: http://bidok.uibk.ac.at/library/beh1-99-frage.html

Forster, R.: Soziologie im Kontext von Behinderung. Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2004. Freire, P.: Pädagogik der Unterdrückten. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1973.

Heimlich, U.: Integrationspädagogik als demokratische Pädagogik. http://www.klinkhardt.de/heimlich.htm

Integration Österreich: Weissbuch: Ungehindert behindert. Wien 2004.

Jantzen, W.: Allgemeine Behindertenpädagogik. Band 1. Beltz, Weinheim/Basel 1992.

Jantzen, W.: Identitätsentwicklung und pädagogische Situation behinderter Kinder und Jugendlicher. In: Sachverständigenkommission 11. Kinder- und Jugendbericht: Band 4: Gesundheit und Behinderung im Leben von Kindern und Jugendlichen. Deutsches Jugendinstitut, München 2002, 317-394.

Jantzen, W./Kondering, A./Hütter, E.: Schulische Integration in der Sekundarstufe 1: Sozialer Kredit als Grundlage entwickelnden Unterrichts. 2004 (unveröff. Manusk.).

Markowetz, R.: Soziale Integration von Menschen mit Behinderungen. In: Cloerkes, G.: Soziologie der Behinderten. Universitätsverlag, Heidelberg 2001, 171-232.

Preuss-Lausitz, U.: Kosten bei integrierter und separater sonderpädagogischer Unterrichtung. Frankfurt/M. 2000.

Schöler, J.: Stand und Perspektiven der gemeinsamen Erziehung behinderter und nichtbehinderter Schülerinnen und Schüler in Europa. In: Hildeschmidt, A./Schnell, I.: Integrationspädagogik. München, 1999, 109-126.

Wocken, H./ Antor, G.: Integrationsklassen in Hamburg. Solms Oberbiel 1987.

Ziemen, K.: Das bislang ungeklärte Phänomen der Kompetenz - Kompetenzen von Eltern behinderter Kinder. AFRA, Butzbach-Griedel 2001.

Ziemen, K.: Das integrative Feld im Spiegel der Soziologie Pierre Bourdieus. In: Forster a.a.O., 264-277.

Quelle:

Kerstin Ziemen: Inklusion - Herausforderung an Schule, Gemeinschaft und Gesellschaft.

Vortrag auf der Tagung "Integration und Tiroler Stolpersteine", 24.11.2004, Innsbruck auf Einladung der Plattform Integration.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 12.01.2005

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