Ethische Brennpunkte in der Behandlung Schwerst-Hirngeschädigter

Autor:in - Andreas Zieger
Themenbereiche: Medizin
Textsorte: Vortrag
Releaseinfo: Vortrag anläßlich der NeuroRehaTage `98 in Wetzlar am 09. Mai 1998
Copyright: © Andreas Zieger 1998

Einleitung

Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit für ein eher seltenes Thema gewinnen. Ich habe mich zu diesem Thema zu Wort gemeldet, weil es an der Zeit ist, daß auf einer Fachtagung wie dieser, über ethische Brennpunkte in der Behandlung Schwerst-Hirngeschädigter gesprochen, in die Abgründe menschenmöglicher Umgangsformen geschaut und über die ethischen Auswirkungen unseres eigenen Handelns gemeinsam nachgedacht wird. Ich werde auf einer relativ allgemeinen, distanzierten Ebene blieben. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich trotzdem jemandem zu nahe treten sollte. Bedenken Sie bitte, daß wir heute auf dieser Tagung einen Bogen gespannt haben von der Genetik und Zellularpathologie bis zur Ebene geistiger Reflexion.

Die ethischen Brennpunkte und Probleme beginnen mit Vernachlässigungen in der Behandlung (wir hatten es gestern schon gehört: Dekubitus, Kontrakturen, Luxationen) und mit der Sterbehilfe auf der Intensivstation, reichen über Zeitlimits und Kostenbegrenzung in der Frührehabilitation sowie unzureichende Langzeitversorgung und soziale Vereinsamung der Familien bis hin zur Biomedizin-Konvention. http://www.kirchen.de/akademie/rs/highligh/konvent.htm

Bevor ich mich einigen Brennpunkten und Abgründen zuwende, möchte ich einige Vorbemerkungen machen.

1. Was ist Ethik?

Ethik ist bewußte Reflexion auf Moral, eine Theorie der Sitten und Tugenden, die ein modernes menschliches Zusammenleben ausmachen. Schon Philosophen der Antike und der Neuzeit nannten ihre Schriften Ethik, wie z.B. Platon oder Spinoza.

Die ethischen Kriterien der Moderne stammen aus der Zeit der Aufklärung und des Rationalismus. Sie sind seit einigen Jahren starken Verwerfungen und Umbrüchen ausgesetzt, bedingt durch die gesellschaftspolitischen und ökonomischen Bedingungen in Europa.

Als eine völlig neue Tendenz rückt in diesem Jahrhundert die Frage nach dem Nutzen des Einzelnen für fremde Interessen durch Menschenversuche und Forschung an "Nichteinwilligungsfähigen" in den Vordergrund. Hier bestehen deutliche Parallelen zwischen Vorgängen im Dritten Reich und einzelnen Paragraphen der Biomedizin-Konvention.

Historisch gesehen geht es bei jeder Ethik um Wertfragen und Normen, z.B. um die Bewertung des Verhältnisses der Menschen untereinander, abgeleitet vom Verhältnis des Menschen zu Gott bzw. dem allgemeinen Menschsein, der Humanität, dem Humanismus. Entscheidendes Merkmal dieser Ethiken ist, daß sie den einzelnen Menschen als auf andere Menschen bzw. auf Gott rückgebunden sehen: die Re-ligio (= Religion).

Erst mit Aufklärung und Rationalismus, mit Kant und Mill, kristallisiert sich zunehmend ein Verständnis heraus, welches auf die Vernunft und Wissen des Individuum fokussiert und die Verantwortung des Einzelnen als moralische Instanz in den Mittelpunkt des Menschseins stellt, d.h. Individualethik statt Religion, und heute: Individualethik statt Sozialethik.

2. Zum Verhältnis von Medizin, Gewissen und Ökonomie

Viktor v. Weizsäcker schrieb in den frühen Nachkriegsjahren, daß Medizin die Art und Weise ist, wie Menschen miteinander umgehen, sich behandeln.

Und in Bezug auf die Vorgänge im Dritten Reich schrieb er zur Zeit der Nürnberger Prozesse 1947 in "Euthanasie und Menschenversuche" wie es dazu kam: Es ist

"der Geist, der den Menschen nur als Objekt nimmt" ... Weil die (in Nürnberg) an geklagten Taten aus einer überlebten Art von Medizin aus geschahen, die in sich selbst keine Hemmungen gehen unsittliches Handeln enthält, darum fanden sie auch in dieser Art Medizin keinen Schutz und keine Warnung gegen mögliche unsittliche Handlungen. Denn es kann wirklich kein Zweifel darüber bestehen, daß die moralische Anästhesie gegenüber den Leiden der ... zu Experimenten Ausgewählten begünstigt war durch die Denkweise einer Medizin, welche die Menschen betrachtet wie ein chemisches Molekül oder ein Versuchskaninchen." (S. 101f.).

Gewissen oder Ge-wissen leitet sich ab vom engl. consciousness = Bewußtsein bzw. lat. conscientia = ein Mit-Wissen vom guten Handeln, welches Bedeutung für andere hat. Dieses Mitwissen ist ein soziales, kulturelles Wissen vom guten Zusammenleben der Menschen untereinander.

In der christlichen Kultur wird darunter Nächstenliebe und Rückbindung (Religio) auf Geistiges (Spirituelles) oder Gott verstanden. Spirituelles meint das Geistige zwischen Mensch und Gott bzw. den Menschen untereinander, das Zwischenmenschliche, die zwischenmenschlichen Beziehungen und Verhältnisse = das Dialogische: "Der Mensch wird am Du zum Ich" (Martin Buber) bzw. "Wie kann ich dem Anderen ein gutes Du sein"? (damit der Andere die Wirkungen seiner selbst in der Welt spüren kann?).

Der Sinn des Lebens darin liegt, anderes Leben zu fördern, statt zu vernichten, eben weil es Grundlage für mein eigenes Leben ist. Das Humanum umfaßt alle Menschen. Es geht um die Einheit des Menschen in der Menschheit durch zwischenmenschliches, dialogisches Handeln in der Rückgebundenheit auf den Geist des Menschlichen, gewissermaßen als göttliche, himmlische Verhältnisse auf Erden. Der Einzelne, Kranke, Schwerstbehinderte oder Wachkoma-Patient ist nur das Besondere des Allgemeinen, des Menschenmöglichen, der Menschheit (Humanum). Dietrich Bonhoeffer sagte: der Sinn des Lebens ist erfüllt, wo Liebe ist.

Ökonomie ist die Art und Weise wie Menschen untereinander wirtschaftlich umgehen, sich auf dem Markt austauschen, um den Stoffwechsel der Produktion der Menschheit, der eigenen Gattung ständig zu ermöglichen.

Zwischen Medizin, Ethik und Ökonomie und bestehen immanente Zusammenhänge:

  • eine Medizin kann nur so effektiv sein wie sie über Mittel zum helfen und heilen verfügt. In der modernen, naturwissenschaftlichen Medizin haben dabei technische Hilfsmittel eine immer größer werdende Rolle gespielt. Kaum ein Mensch heute möchte ernsthaft auf high-tech-Medizin verzichten, wenn es um sein eigenes Leben geht;

  • eine Ethik, d.h. der Umgang unter den Mitgliedern einer Gesellschaft untereinander, kann nur so menschenwürdig sein wie sie bezahlbar ist.

  • eine Ökonomie braucht körperlich und mental leistungsfähige und kreative Menschen, um ihre Ideen in Produkten und materiellen Werten vergegenständlichen zu können;

D.h. Medizin und Ethik sind auf Ökonomie angewiesen, aber Ökonomie ist ohne Menschen und Werte nichts. Bekanntlich sieht sich die Verteilungsökonomie in vielen Staaten Europas heute vor große Probleme gestellt.

Wir leben in einer Zeit schneller ökonomischer und sozialpolitischer Umbrüche und Verwerfungen in unseren bisherigen kulturellen Wertesystemen: bundesweit, europaweit, wahrscheinlich sogar weltweit. Es ist zu beobachten, daß das ökonomische Wertesystem immer mehr Oberhand gewinnt gegenüber traditionellen medizinischen Inhalten oder ethischen Werten.

Historisch läßt sich nachweisen, daß das Lebensrecht von gesellschaftlichen Randgruppen immer dann zuerst zur Disposition gestellt wird, wenn es ökonomische Probleme gibt. Dies hat sich mit der "Euthanasie" und mit den Menschenversuchen im Dritten Reich, aber nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern Europas, wenn auch weniger drastisch, gezeigt. "Euthanasie" scheint ein allgemeines Symptom moderner Zivilisationen dieses Jahrhunderts zu sein. "Euthanasie" im Dritten Reich und anderswo hat sich als menschenverachtendes Unterfangen herausgestellt, welches gespeist wird von den Erlösungsphantasien von einer leidensfreien Gesellschaft (Dörner) und mit dem Gnadentod eng verbunden ist.

Die Erfahrung lehrt jedoch, daß Krankheit, Leiden und Tod keine Geißel der Menschheit sind, sondern immanent zum menschlichen Leben gehören. Die Erfahrung lehrt außerdem, daß politisch nur Bestand hat, was die Lage der Schwächsten verbessert.

3. Zum Verhältnis von Biomedizin und Bioethik vs. Beziehungsmedizin und Beziehungsethik

Der Primat der Ökonomie hat einen neuen Typ von Ethik und einen neuen Typ von Medizin hervorgebracht, der sich in ihrer Denkweise auf genau diejenigen Denkfiguren beziehen, die im Zitat Viktor v. Weizsäckers gegeißelt wurden: die Verabsolutierung von Rationalismus, Biologismus, Defektdenken. Humanmedizin hat sich weitgehend auf Biomedizin reduziert; auf die Vermehrung von Wissen bis weit in die molekularen und genetischen Strukturen unserer Existenz hinein. Indem sie sich auf körperliche Vorgänge und Meßbares beschränkt, vernachlässigt sie Seele und Geist. Sicherlich: die Medizin der Moderne und Postmoderne ist zu einer erfolgreichen Humantechnologie und zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor geworden. Aber: psychosomatische Zusammenhänge und sozialmedizinische Beziehungen sind für sie Nebensache.

Biomedizin hat auf nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens übergegriffen. Sie beginnt, zusammen mit ihrer Legitimationsgefährtin, der Bioethik, das zu tun, was früher Aufgabe der Religion und den Kulturwissenschaften gewesen ist, nämlich menschliches Leben zu definieren und zu bewerten.

Biomedizin hat die Nützlichkeit des menschlichen Lebens selbst als wichtige Ressource für Organe, Gewebe und Experimente erkannt und ist auf dem Wege, sich das menschliche Leben selbst verfügbar zu machen, nach dem einfachen Motto, daß gut sei, was machbar ist.

Die Gegenüberstellung von Biomedizin und Beziehungsmedizin zeigt die beiden wesentlichen Pole menschenmöglicher Medizinformen auf (Tab. 1):

  • Die Biomedizin sieht nur das Biologische, den Körper, während in der Beziehungsmedizin neben dem biologischen Körper auch Psychisches und Soziales einbezogen wird.

  • In der Biomedizin wird der einzelnen Menschen isoliert gesehen; Beziehungsmedizin sieht den individuellen kranken Menschen in seinen familiären Bezugssystemen und "sozialen Netzwerken".

  • Während Biomedizin den Menschen ohne Biographie und subjektives Erleben sieht, betont Beziehungsmedizin die individuelle und soziale Biographie und das subjektive Erleben.

  • Biomedizin handelt defektorientiert und körperbezogen, Therapie wird als Reparatur schadhafter Organe zum Ausgleich von Störungen verstanden. Beziehungsmedizin Handelt patientenorientiert ("ganzheitlich") und entwicklungsbezogen i.S.e. Förderung von Autonomie-Entwicklung und sozialer Perspektiven.

  • Bioethik ist eine Ethik der Interessen, Beziehungsethik eine Ethik der Menschenwürde.

Biomedizin

Beziehungsmedizin

Zwei Pole menschenmöglicher Medizinformen

 

Sieht nur das Biologische, den Körper

Bezieht neben dem biologischen Körper auch Psychisches und Soziales ein

Sieht den einzelnen Menschen isoliert

Sieht den Menschen in seinen kleinen und großen "sozialen Netzwerken" und Bezugssysteme

Sieht den Menschen ohne Biographie und

subjektives Erleben

Betont die individuelle und soziale Biographie und das subjektive Erleben

Handelt defektorientiert und organbezogen

Therapie

= Reparatur oder Ausgleich von Störungen

Handelt patientenorientiert ("ganzheitlich") und entwicklungsbezogen

= Förderung von Autonomie-Entwicklung und sozialer Perspektiven

Bioethik

= Ethik der Interessen, des Paternalismus

Beziehungsethik

= Ethik der Würde, Autonomie-Entwicklung

4. Unsere eigenen Anteile am ethischen Dilemma

Völlig zu kurz kommt bei dem ganzen Thema wie wir mit uns selbst umgehen, d.h. der Umgang mit den eigenen Gefühlen von uns Ärzten, Pflegenden und Therapeuten selber als verletzliche Menschen, d.h. unsere Selbstachtung,

Als Professionelle in sozialen Hilfesystemen der Moderne sollten wir es eigentlich gelernt haben, uns unserer eigenen Gefühle, Verletzlichkeit und Ängste bewußt geworden zu sein, bevor wir auf die Menschheit "losgelassen" werden. Es ist nicht allein unser medizinisches Wissen, was den Umgang zu unseren Patienten entscheidend bestimmt, sondern es sind unsere Gefühle in Verbindung mit unserem Verstand.

Welche Gefühle sollten wir uns im Umgang mit Schwerst-Hirngeschädigten bewußt machen? (Bewußtwerden eigener Gefühle und Ängste)

  • Ekel vor Signalen der Vergänglichkeit: Gerüche, Erbrochenes, Kot, offene Geschwüre, Eiter

  • Befremden und Abscheu vor Verstümmelung, Verkrüppelung und Behinderung (Anderssein) anderer (wird als Bedrohung des eigenen Lebens erlebt)

  • Ängste vor Schmerzen und Verletzung (Blutung, offene Wunden) anderer

  • (wird als Bedrohung der eigenen Integrität erlebt)

  • Ängste vor eigener Verletzung, Verstümmelung und Unselbständigkeit/Abhängigkeit

  • Ängste vor dem eigenen Sterben und Tod! (Sehnsucht nach Unsterblichkeit)

Ein aktuelles Beispiel dazu: während eines Expertengesprächs an der Humboldt-Universität Berlin im November 1997 äußerte sich ein Neurologischer Ordinarius darüber, daß Forschung über "Apalliker" dringend notwendig sei, weil sie einen "grauenvollen" Zustand darstellten, der nicht zu ertragen sei. Eine solche Äußerung verweist auf ein wichtiges ethisches Problem beim Umgang mit Gefühlen. Ohne weitere Reflexion dieser Aussage könnte man nämlich annehmen, "grauenvoll" sei eine objektive Eigenschaft von "Apallikern" sein könnte. Dies könnte dann zu unkontrollierten Abwehrhandlung und Vernichtungsphantasien Anlaß geben, nämlich das "Grauenvolle" und "Unerträgliche" besser gleich aus der Welt zu schaffen.

Die amerikanischen Neuropsychiater Lifton und Markusen (1992) haben analysiert, daß Mediziner im Dritten Reich häufig eine Selbst-Spaltung zwischen ihren (für andere oft tödlichen) beruflichen Pflichtgefühlen und ihrer privaten, familiären Fürsorge gezeigt haben. D.h. unter den unmenschlichen Lebensbedingungen als Mediziner im Dritten Reich sie konnten ihre Gefühle nicht in ein moralisches Ich integrieren. Um dieser psychischen Dissoziation zu entgehen ist eine Durcharbeitung der medizinischen Einstellung hin zu einer integrierten, ärztlichen Haltung notwendig. Bei der bewußten Auseinandersetzung kommt es dann zu einer moralischen Rückbindung an die Schwächsten, statt zu einem unreflektierten vorauseilenden Gehorsam gegenüber der jeweiligen Obrigkeit.

Wie können wir mit unseren Gefühlen adäquat umgehen? (Abwehr- und Bewältigungsformen)

  • Pathologische Abwehr (Selbst-Spaltung, Selbstzerstörung): Verleugnung, Rationalisierung, Abspaltung, Projektion, z. B. "Omnipotenzverhalten", "wilder Aktionismus" (--> Entlastung von unerträglichen Gefühlen, unreife Ich-Sicherung durch Spaltung und Dopplung)

  • Gesunde Abwehr: Ohnmacht und Schwäche, Gewahrwerden der eigenen angstbesetzten und ungeliebten Anteile (--> reife Identitätssicherung)

  • Gesunde Verarbeitung: Auseinandersetzung/Bewältigung/Integration durch Trauerarbeit (--> neue Identitätsbildung: Rückbindung an den Schwächsten)

  • Ästhetische Haltung: Empathie und kritische Reflexion (Oszillation zwischen Nähe und Distanz): der empathische, subjektorientierte Standpunkt beruht auf fürsorglicher Beobachtung, dem "liebevollen" Blick und dem Vertrauen auf intuitive Erfahrung und zwischenmenschliches Wachstum. Demgegenüber beruht der "prüfende", distanzierte und verobjektivierende Blick auf Bewertung und Vergleich an abstrakten Leistungnormen bzw. auf meßtechnische Erkenntnisse und Prognosen.

Indem wir unsere Gefühle als wichtigstes zwischenmenschliches Bindeglied mit unserem Verstand verbinden, können wir anderen Menschen liebevoll begegnen, die nicht der Norm entsprechen und völlig andersartig sind. Indem ich mein Gefühl "grauenvoll" als ein Diagnostikum der erschwerten, unmenschlichen Lebensbedingungen meines Gegenüber erkenne, kann ich differenzierte Handlungsentscheidungen treffen: ich kann entscheiden, den anderen aus der Welt zu schaffen, d.h. ihn zu töten; ich kann entscheiden, ihn aus meinem Blickfeld zu schaffen und ihn in einem Pflegeheim verwahren zu lassen; ich kann entscheiden mich ihm (als einen anderen Menschen, dessen Leben als Mensch prinzipiell wertvoll ist,) zuzuwenden und mithelfen, seine Lebenslage (als Teil der meinigen) so zu verändern versuchen, daß ich kein "grauenvolles" Gefühl mehr bekomme. Entscheidend ist die bewußte Rückbindung auf den Schwächsten.

Ethische Brennpunkte

Ich möchte nun auf einigeBrennpunkte menschenmöglicher Umgangsformen mit Schwerst-Hirngeschädigten zu sprechen kommen.

1. Ausgrenzen, Liegenlassen, Verwahren

  • "Stille", Indirekte oder passive Sterbehilfe ("Euthanasie"); weit verbreitet, auf Krankenhausstationen, in Heimen, zu Hause.

  • Die Patienten sind vorher oft als "therapieresistent" oder "rehaunfähig" oder "lebensunwert" eingestuft (--> Rationalisierung).

  • Nicht selten werden eigene Ohnmachts- oder Ekelgefühle auf den Kranken projiziert ("grauenvoller Zustand"), als sei er eine objektive Eigenschaft dieser Krankheit oder Menschen. "Falsches" Mitleid kann für die Betroffenen tödlich sein.

  • Im bioethischen Diskurs gelten sie als "Unpersonen" oder "sinnlose Existenzen", weil sie über kein rationales Selbstbewußtsein verfügen und ihre Interessen nicht mehr vertreten können.

Im Nürnberger Ärztekodex 1997 der "Ärzte in sozialer Verantwortung" (Kongreß: "Medizin und Gewissen", 1996) heißt es hierzu:

  • Sterben ist ein Teil des Lebens. Es bedarf der liebevollen Kommunikation, Begleitung und leidensmindernden Hilfe beim Sterben, aber nicht zum Sterben.

  • Der mutmaßliche Wille kann nur aufgrund eines vorherigen ernsthaften Dialog festgestellt werden.

  • In Zweifelsfällen ist für den Lebenserhalt zu entscheiden.

2. Behandlungsabbruch u. Nahrungsentzug

  • Diese Form der aktiven "Euthanasie" ist in Deutschland verboten, wird aber in der Schweiz, in Holland sowie in Teilen von Australien und den USA bereits praktiziert.

  • Vermeidung "sinnlosen" Lebens und "falsches" Mitleid dienen als Motiv für Gnadentod durch Verhungernlassen

  • Beendigung "nutzlosen" Lebens aus rationalen und wirtschaftlichen Erwägungen (computerberechnete Prognosen bzw. Kosten).

  • Lebensrecht und Menschenwürde wird für bestimmte Menschen verneint.

Bsp.: Kostenbegrenzung und Zeitlimits

Früher wurden Schwerkranke gepflegt und behandelt, solange sie dieser Förderung und Pflege bedurften. Natürlich geschah dies nicht grenzenlos. Heute werden die Mittel dagegen früh begrenzt. Eine Kostenbegrenzung kann für Schwerst-Hirngeschädigte gleichbedeutend einer zeitlichen Lebensbegrenzung sein. In Niedersachsen bekommt ein schweres Schädel-Hirntrauma in der Frührehabilitation durchschnittlich 60 Tage Zeit zur Erholung. Schafft er es nicht, muß er nach Hause oder ins Pflegeheim.

Zeitlimits und Kostenbegrenzungen beruhen nicht auf rationalen Entscheidungen, die von der Krankheit oder dem Therapiebedarf her abgeleitet sind, sondern auf sozialpolitischen Entscheidungen. Was von Politikern, Kaufleuten und Kostenträgern abstrakt am grünen Tisch entschieden wird, hat mit der Krankheit und dem Kranksein anderer Menschen direkt nichts zu tun. Da diese Entscheidungen aber in das zwischenmenschliche Beziehungsgefüge eingreifen, sind sie nach moralischen und ethischen Maßstäben zu bewerten.

Diesen Entwicklungen kommen Verhaltensweisen und Konkorrenzstrukturen im Medizinwesen selbst entgegen, die ich an dieser Stelle nur mit den Stichworten "Kooperationsverträge" und "Kopfgelder" benennen möchte.

Was den ungünstigen Verhältnissen leider auch entgegenkommt, ist ein Verhalten von vorauseilendem Gehorsam, nach dem Motto, wir bieten Frühreha für drei Wochen an, obwohl in der Arbeitsgemeinschaft eben noch von einer Mindestbehandlungsdauer für Menschen im Wachkoma von 6 Monaten gesprochen wurde. Wer freiwillig aus vordergründigen Motiven ein dreiwöchiges Billigangebot für diese Patientengruppe macht, unterläuft das medizinische Konzept, denn jeder vom Fach weiß, daß eine effektive Behandlung länger dauert.

Es liegt offenbar im Wesen der biologisch und naturwissenschaftlich orientierten Medizin selbst, daß Zeitlimits gesetzt werden, die sie dann ökonomisch hinterrücks wieder einholen: wie soll ein Arzt ernsthaft eine Weiterbehandlung für Wachkoma-Patienten medizinisch begründen, wenn seine medizinische Wissenschaft oder Fachgesellschaft schon vorher ein Koma von mehr als vier Wochen Dauer für "dauerhaft" und "irreversibel" definiert hat? Wenn dann noch, wie in den Schweizer Richtlinien zur Sterbehilfe, die Bezeichnung "irreversibel komatös" mit der Freigabe zum "Behandlungsabbruch" verbunden wird, hat "Euthanasie" für diese Menschen bereits Einzug gehalten, gedanklich und in Taten.

Zeitlimits und Kostenbegrenzungen können mit tödlichen Kränkungen verbunden, wenn nämlich ein Wachkoma-Patient aus ökonomischen Gründen gegen den erklärten Willen des Betreuers über Nacht in ein Pflegeheim verfrachtet wird, weil es dort billiger für ihn ist. Ich meine, daß ein solches Verhalten nicht nur medizinisch unverantwortlich ist, sondern darüber hinaus auch als unmoralisch und unethisch einzustufen ist, weil die Gefahr für Leib und Leben eines anderen Menschen wissentlich in Kauf genommen wird und der Beziehungsabbruch und Sinnverlust für den Betroffenen nicht selten den Tod innerhalb von Tagen nach sich zieht.

Die Alternative ist, Verlegungen rechtzeitig mit den Angehörigen und der weiterversorgenden Einrichtung zu planen und vorzubereiten und sich mittels Verlängerungsantrag die dafür notwendige Zeit zu holen! Und wenn eine Wachkoma-Patient einen Sterbemodus anzeigt, können wir die Erfahrungen der Palliativmedizin und Sterbebegleitung nutzen.

3. Freigabe "Nichteinwilligungsfähiger" zu Forschungszwecken

Der letzte Brennpunkt gilt der Bioethik-Konvention. Unter dem Primat von Ökonomie und Biotechnologie werden von Biomedizin und Bioethik wichtige Argumente für die derzeitige europaweite Biopolitik geliefert. Ausdruck dieser Entwicklung ist die bereits im September 1996 vom Europarat verabschiedete sog. Bioethik-Konvention(http://www.kirchen.de)

bzw. die Biomedizin-Konvention bzw. das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin, das bisher von 22 der 40 Mitgliedsstaaten unterzeichnet wurde, nicht jedoch von Deutschland. Die Bioethik-Konvention wurde im September 1996 vom Europarat verabschiedet und soll demnächst vom Deutschen Bundestag unterzeichnet werden.

Was soll nach dem Willen dieser Konvention erlaubt sein?

  • Fremdnützige Forschung an "Nichteinwilligungsfähigen" wie Schwerst-Hirngeschädigte, Bewußtlose und Demenzkranke.

  • Menschenversuche und Experimente wie z.B. pharmakologische Studien oder Gewebsentnahmen soll ohne persönliches Einverständnis möglich und auch dann erlaubt sein, wenn die Betroffenen keinen eigenen Nutzen davon haben.

Kennzeichen dieser Bioethik sind (Tab. 2):

  1. Trennung von Personsein gegenüber dem Menschsein: nur der rationalfähigen Person steht der volle Lebensschutz zu

  2. Vorrang von Fremdinteressen vor Einzelinteressen: Menschen werden nach ihrem Nutzen für die Interessen anderer Menschen beurteilt.

  3. Vorrang von Nützlichkeitsethik vor Beziehungsethik: der Einzelne wird nach seinem Nutzen für andere, nicht nach seiner wesensmäßigen Bedeutung für andere beurteilt. An "Nichteinwilligungsfähigen" darf geforscht werden, auch wenn diese selbst keinen unmittelbaren Nutzen davon haben. Das Bezugssystem "Menschsein" wird zunehmend nach Partialinteressen aufgespalten und zur "natürlichen" Ressource erklärt.

  • Trennung von Mensch und Person

  • Aufspaltung des Bezugssystems "Menschsein" nach Partialinteressen

  • Vorrang von Fremdinteressen vor Einzelinteressen

  • Vorrang von Nützlichkeitsethik vor Beziehungsethik (Autonomie und Menschenwürde)

  • Erklärung menschlichen Lebens zur "natürlichen" Ressource

  • Ausgrenzung/Abschaffung beschädigter Menschen

Aus England ist zu hören, daß sich der High Court ernsthaft Gedanken macht, ob die Freigabe zu Forschungszwecken im Falle von "persistent vegetative state"-Patienten nicht dahingehend zu erweitern sei, daß sie mittels Injektion getötet werden dürften, um ihnen lebendfrische Organe zu entnehmen. Gesetzlich könne man dies leicht regeln, indem bereits der Teilhirntod zum Individualtod umdefiniert wird.

Was sagt der Nürnberger Ärztekodex von 1997 dazu?

  • Die Achtung der Menschenwürde ist oberstes Gebot jeder medizinischen Forschung.

  • Der "informend consent" ist eine Grundlage des gesamten Gesundheitswesens.

  • Die freiwillige Einwilligung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich." Diese persönliche Einwilligung ist nicht übertragbar.

Welche ethischen Anforderungen an Forschung leiten sich daraus ab?

Leitsätze zur Forschungsethik (Zieger, 1998)

  • Forschung ist ein unter Menschen verteilter sozialer Gegenstand.

  • Patienten dürfen durch Forschung nicht zum abhängigen Objekt gemacht werden. Forschung mit dem Patienten ist Gestaltung einer gemeinsame Analyse der Problemlage und das gemeinsame Herausfinden einer persönlichen und sozial verträglichen Entwickungsperspektive durch Untersucher und Patienten (bzw. Angehörige/Betreuer).

  • Forschungsergebnisse müssen beiden Seiten zur Kenntnis gegeben und zur Verfügung gestellt werden.

  • Persönlich zu einer Einwilligung nicht fähiger Menschen bedürfen des besonderen Schutzes ihrer Autonomie gegenüber Forschungsinteressen

  • Das schwächere Individuum ist vor der stärkeren Gemeinschaft zu schützen.

Leitlinien zur Forschungsmethodik bei Schwerst-Hirngeschädigten im Koma und apallischen Syndrom (Zieger, 1998)

  • Integrierte Befunderhebung und Beurteilung unter Berücksichtigung aller Lebens-umstände.

  • Keine Prognose oder Evaluation Grund einzelner Meßwerte oder Befunde.

  • Einbezug von Biographie und Entwicklungsfähigkeit in die Prognosestellung.

  • Keine Prognose ohne Behandlungs- oder Rehaversuch.

  • Keine Prognose- und/oder Evaluation ohne Erfassung der Kompetenzen in Ruhe und unter Interventionsbedingungen (Einbezug der Angehörigen und Bezugspersonen).

  • Berücksichtigung der heute verfügbaren fachwissenschaftlichen und forschungs-methodischen Kenntnisse unter Einbezug der Erfahrungen aus der Frührehabilitation.

4. Aktive Förderung und Unterstützung durch Frührehabilitation, soziale Reintegration und Lebenshilfe

  • 10jährige Erfahrungen mit einem integrierten Versorgungssystem: Frührehabilitation, aktivierende Behandlungspflege, häuslich-familiäre Reinteintegration.

  • Motto 1: Es gibt nichts gutes, außer man tut es (E. Kästner)

  • Motto 2: Rehabilitation statt Resignation, vom Koma zurück in die Gemeinde.

  • Im Vergleich zu europäischen Nachbarn ist das deutsche Konzept vorbildlich.

  • Aber: 50% aller Schwerst-Hirngeschädigten werden falsch diagnostiziert und bekommen keine Chance zur Frührehabilitation.

  • Mit 9 von 10 Patienten kann ein einfacher Verständigungscode trotz Schwerstbehinderung aufgebaut werden, wenn früh, umfassend und intensiv geholfen wird (Teamarbeit, Einbezug von Angehörigen).

Cave: Omnipotenzverhalten, manischer Aktionismus!

Ausblick

Ich habe Ihnen dabei aufzuzeigen versucht, daß es sich bei Schwerst-Hirngeschädigten um Menschen wie Du und Ich handelt, allerdings mit dem Unterschied, daß sie aufgrund von körperlichen und/oder geistigen Beeinträchtigungen häufig zu sozial Ausgeschlossenen werden und daß sie für ein menschenwürdiges Lebens auf die rückhaltslose Annahme und Unterstützung durch andere Menschen angewiesen sind.

Das Diskriminierungsverbot unseres Grundgesetzes erlaubt es nicht, eine bestimmte Gruppe von Menschen wegen besonderer Eigenschaften, Defizite oder Behinderungen zu benachteiligen oder auszugrenzen. Entgegen weit verbreiteter Praxis: "apallisch", "nicht rehafähig", "nichteinwilligungsfähig" sind die begrifflichen Korrelate für die alltäglichen, ungeahndeten Verstöße gegen dieses Verfassungebot.

Nach unserer jetzigen Verfassung dürfen Menschen allenfalls nach ihrem Hilfebedarf für ein möglichst selbständiges alltägliches Lebens bewertet werden, nicht jedoch danach, ob sie aufgrund ihre körperlichen und/oder geistigen Vermögens in der Lage sind oder zukünftig sein werden, für die Gemeinschaft leistungsfähig und produktiv zu sein, oder ob sie der Solidargemeinschaft lebenslang "auf der Tasche" liegen.

Es ist überfällig, daß die Lage Schwerst-Hirngeschädigter überhaupt erst an die Lage der Schwerstbehinderten angepaßt wird. Für Schwerst-Hirnverletzte muß gelten, was für Schwerstbehinderte bzw. Schwersthospitalisierte mühsam erkämpft wurde: Enthospitalisierung und soziale Integration. Es ist fachmedizinisch, sozialpolitisch und ethisch höchst fragwürdig, wenn in Lilienthal eine Großeinrichtung für Schwersthospitalisierte aufgelöst wird und gleichzeitig in Osterholz-Scharmbeck wenige Kilometer weiter ein Pflegeheim für 80 sog. Apalliker eingerichtet wird.

Noch beruht unsere Gesetzgebung auf dem Prinzip Solidargemeinschaft (auch wenn sie zunehmend ausgehöhlt wird) und den Gesetzen der sozialen Marktwirtschaft (auch wenn dieses oft nicht mehr zu erkennen ist).

Die sozialpolitische Gesetzgebung der 70er und 80er Jahren hat wertvolle sozialmedizinische Grundsätze formuliert, die durch die Seehofersche Gesetzgebung zwar angegriffen, aber nicht außer Kraft gesetzt sind:

  • Rehabilitation vor Invalidität

  • Rehabilitation vor Rente

  • Rehabilitation vor Pflege (§ 5 SGB XI)

Was aber bedeutet es aber, wenn bei der Novellierung des §93 Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) die Wiedereingliederungshilfe davon abhängig gemacht wird, ob ein Hilfebedürftiger (von anderen Menschen) für "wiedereingliederungsfähig" erklärt wird oder nicht und er damit "gesetzlich" ausgegrenzt werden kann? Ist diese neue "Euthanasie" der Einstieg in die Zukunft des postmodernen Sozialstaates? Das sozialmedizinische Gebot heißt dagegen eindeutig, alles zu unternehmen, um vom Koma zurück in die Gemeinde zu kommen, statt zum "Sozialfall" zu werden. Ärzte können für ihre Patienten tatkräftige Anwälte und Partner sein auf der Grundlage positiver Gegenbesetzungen und wechselseitiger Anerkenntnisse, für die Menschlichkeit!

Literaturhinweise:

Kolb, S., Seithe, H. (Hrsg.): Medizin und Gewissen. 50 Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozeß (Kongreßdokumentation). Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag 1998

Lifton, M., Markusen, E.: Die Psychologie des Völkermordes. Stuttgart: Klett-Cotta 1992

v. Weizsäcker, V.: Euthanasie und Menschenversuche. Psyche 1 (1947) 101f.

Zieger, A.: Keine Euthanasie bei Wachkomapatienten. Behindertenpädagogik 34 (1995) 414-425

Zieger, A.: Stellungnahme zum Nahrungsentzug bei Wachkoma-Patienten. In: Berichtsband zur 2. Europäischen Konferenz BIOEMD I der EU zu Ethischen Fragen in der Behandlung des Persistent Vegetative State (Wachkomas). Institut für Wissenschaft und Ethik(Bonn), am 8./9. Dez. 1996

Zieger, A.: Stellungnahme zur "Euthanasie" und zum Lebensrecht von Menschen im Koma und apallischen Syndrom (Wachkoma). Mitteilungen der Luria-Gesellschaft e.V. Heft I und II/1996, S. 21-32

Zieger, A.: Zur medizinischen, sozialen und ethischen Lage von Menschen im Wachkoma. In: Nordelbische Kirche (Hrsg.): Tötung auf Verlangen? Das Beispiel der Wachkoma-Patienten. Hamburg: Eigenverlag (Reader) 1996

Zieger, A. Neue Forschungsergebnisse und Überlegungen im Umgang mit Wachkoma-Patienten. Hamburger Ärzteblatt 51 (1997) 6, 259-262 (forschungsergebnisse.html)

Zieger, A.: Statement zu einem Interdisziplinären Expertengespräch "Patienten im Wachkoma. Recht auf Leben und Rehabilitation" an der Humboldt-Universität Berlin, am 20.11.1997 (Kongreßbericht in Vorb., 1998)

Quelle:

Andreas Zieger: Ethische Brennpunkte in der Behandlung Schwerst-Hirngeschädigter

Vortrag anläßlich der NeuroRehaTage `98 in Wetzlar am 09. Mai 1998

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 08.06.2005

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