Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Leben ist lebensgefährlich. Leben ist voller Bedrohung, und jeder lebt mit der Bedrohung durch Krankheit, Unfall und auch mit der Bedrohung durch Behinderung.

Gerade Behinderung wird oft als lästiges Minderheitenproblem, als Randgruppenphänomen erlebt. Man neigt dazu, sich zu distanzieren, manchmal aus reiner Gedankenlosigkeit, oft aus einem Gefühl der Hilflosigkeit heraus, - man hat schließlich nicht gelernt mit Behinderten umzugehen. Darüber hinaus ist es natürlich auch unangenehm, durch den Anblick eines Behinderten an die Tatsache erinnert zu werden, daß man morgen selbst schon ein Behinderter sein könnte. Verdrängen, Verleugnen, Aussondern ist eben einfacher, bequemer und macht weniger Angst als die Auseinandersetzung mit Behinderten, eine Auseinandersetzung, die letztlich auch zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst und eigenen Wertmaßstäben werden kann. Die Frage nach der eigenen Wertigkeit z.B. wird besonders bedrohlich, wenn das Selbstwertgefühl ausschließlich aus der Leistung bezogen wird. Gerade in einer "Welt der Tüchtigen, Erfolgreichen, Dynamischen" zählt eben leider meist nur die Leistung und nicht der Mensch. Sogar Gesundheit wird als persönliche Leistung und Besitz angesehen. Alte, Schwache, Kranke und Behinderte haben kaum noch Platz; sie werden isoliert, ausgesondert, abgeschoben. - Die Gesellschaft kauft sich los.

Gerade in der zwischenmenschlichen Begegnung liegt aber eine große Chance, eine Chance für persönliches Wachstum: Begegnung mit Behinderten kann betroffen machen, kann Anlaß sein, eindimensionales Leistungsdenken und Vorurteile zu korrigieren und kann anregen, sich eigene Schwächen eher zuzugestehen. Gelingt dies, kann auch der Behinderte in seiner Gesamtheit, also auch mit seinen Schwächen und Defiziten leichter akzeptiert werden. Dies wiederum kann dem Behinderten selbst helfen: Anerkennung von außen tut dem Selbstwertgefühl gut, kann motivieren, nicht aufzugeben, sondern an sich weiter zuarbeiten, um mit dem Schicksal besser fertigzuwerden.

Dieser Weg des Miteinander, der Verständnisbereitschaft, der Humanität heißt Integration. Integration kann also für beide - für Behinderte ebenso wie für Nichtbehinderte - wertvoll, eine Bereicherung sein. Integration ist eine Herausforderung für alle, Integration geht alle an.

Was will nun dieses Buch? Es will dazu beitragen, eine breite Basis des Verständnisses zu schaffen für die Vielfalt der Behindertenproblematik, will wieder sensibilisieren für Humanität und aufgeschlossen machen für den Integrationsgedanken. Hier für mehr Offenheit und Dialogbereitschaft zu werben, ist ein ganz besonderes Anliegen dieses Buches. Durch ein breites Spektrum an Sichtweisen wird versucht, dem Leser ein möglichst umfassendes Bild zu vermitteln und Eindimensionalität zu vermeiden.

Ähnliches gilt auch für die Sprache in den verschiedenen Beiträgen: Emotionalität aus Betroffenheit will betroffen machen, Nüchternheit und Sachlichkeit sollen informieren. Die Gewichtung der einzelnen Berichte bleibt dem Leser überlassen.

In allen Beiträgen geht es um Kinder. Sie sind Erwachsenen in ihrer Lebenseinstellung oft weit überlegen: sie reagieren noch spontan und ungezwungen, begegnen ihren Mitmenschen offen und ohne Vorurteil, sie akzeptieren und tolerieren rasch ein Anderssein des anderen. Auch für behinderte Kinder ist das eigene Anderssein meist noch nicht mit dem Gefühl sozialer Minderwertigkeit verbunden.

Wichtig ist daher, in Familie, Kindergarten und Schule Integration statt Aussonderung zu leben, um Kindern ihre natürliche Einstellung zu erhalten.

Das Buch gliedert sich in zwei Teile:

Im ersten Abschnitt geht es vorwiegend um Therapeutisches, im zweiten Teil um Fragen der schulischen Integration. Erfahrungsberichte Betroffener und sachbezogene Artikel wechseln einander ab. Dies ermöglicht einen unmittelbaren Vergleich von Theorie und Praxis. Besonders die Erfahrungsberichte von Eltern behinderter Kinder gehen unter die Haut, fesseln durch Unmittelbarkeit, machen es dem Leser leicht, sich einzufühlen. Sie sind geeignet, ihn aufgeschlossen zu machen, ihn zum Nachdenken anzuregen und zu einer Überprüfung des eigenen Standpunktes. Zum Thema Therapie berichten Fachleute, die ihre fachliche und persönliche Meinung darlegen und Integration vom therapeutischen Ansatz her beschreiben.

Integration im Kindergarten hat sich bereits bewährt. Die Diskussion findet inzwischen auf der Schulebene statt. Das ist auch der Grund, warum in diesem Buch die schulische Integration so breiten Raum einnimmt. Auch hier sollen Berichte aus Theorie und Praxis es dem Leser erleichtern, sich eine eigene, fundierte Meinung zu bilden.

Birgit Meister-Steiner: Lebenslage Abseits?

Einleitung

Ich schreibe, weil es mir ein Bedürfnis ist, und weil ich glaube, daß es mir gut tut. Im Rückblick auf die vergangenen fünf Jahre sehe ich meinen Werdegang als Mutter, die mehr und mehr akzeptieren lernt, ein behindertes Kind zu haben - ein schmerzlicher Weg, der aber noch lange nicht zu Ende ist. Blick zurück im Zorn, voll Leid, voll Liebe, voll Enttäuschung, Hoffnung und Schmerz. Hier sitze ich als betroffene Mutter, und erlebe mich oft in Diskrepanz zu meinem Beruf- bin ich doch Psychologin, sozusagen Fachfrau. In mir klaffen Wissen und Erleben, Betroffenheit und Souveränität auseinander. Meine Rollen als Mutter und Psychologin sind oft schwer vereinbar: als betroffene Mutter entrückt sich mir die Psychologie, als Psychologin fehlt mir bei solcher Betroffenheit jeglicher Überblick.

Mut zum Schreiben macht mir meine Betroffenheit als Mutter, als solche will ich mich hier auch verstehen. Das heißt, Subjektivität darf vor Objektivität, Gefühl vor Wissen, Praxis vor Theorie stehen.

Die Reise durch meinen Gefühlsdschungel von Hoffnung und Angst, Enttäuschung, Aggression, Wut, Resignation und wieder Hoffnung, will ich hier versuchen nachzuvollziehen.

Ich hoffe, mit der ganzen Problematik leichter fertig zu werden, indem ich mich mit ihr auch schreibend auseinandersetze. Vielleicht ist dies auch hilfreich für andere, die denselben oder einen ähnlichen Weg gehen müssen. Allein Solidarität kann stärken, und ich weiß, wie unendlich viel Stärke, Energie und Kraft notwendig sind, einen so schmerzlichen Weg zu gehen und dabei stark zu bleiben - stark, um weiterkämpfen zu können.

Wenn ich hier schreibe, tue ich es nicht, weil ich glaube, diesen meinen Kampf hinter mir zu haben. Vielmehr stecke ich noch mitten drin. Ich ziehe hier höchstens eine Zwischenbilanz. Es drängt mich zu schreiben, aber es ist auch harte Arbeit und Überwindung, mich mit all dem auseinanderzusetzen, was schmerzlich war und schmerzlich ist.

Oft schon hat mich mein Kummer sprachlos und kommunikationsunfähig gemacht. Hier will ich versuchen, auch darüber zu sprechen, das zu sagen, was ich in vielen Situationen nicht sagen konnte.

Das Wort "behindert", hat in meiner kurzen Leidensgeschichte viele Wandlungen erfahren. Es hat sich zunächst eingeschlichen, wurde entsetzt abgewehrt und ausgestoßen, hat sich wieder aufgedrängt, wurde sanft weggeschoben, kam wieder, wurde weniger heftig abgedrängt, ein bißchen vertrauter, dann doch akzeptiert und schließlich in meinen aktiven Wortschatz aufgenommen. Verbal, formal und funktional, akzeptiere ich inzwischen den Ausdruck "behindert" im Zusammenhang mit meiner Tochter, aber emotional bin ich, glaube ich, noch immer nicht so weit. Immer wieder stellt sich mir die Frage: Warum nur? Warum gerade Claudia? Was wäre gewesen, wenn . . .? Ich weiß, es ist müßig, mich mit diesen Fragen zu quälen, ich müßte lernen, die Gegebenheiten zu akzeptieren, aber tief in mir ist da immer noch ein Stachel, der es nicht ganz zuläßt, ein behindertes Kind zu haben.

Und so begann es . . .

Wenn ich so zurückdenke: Die Schwangerschaft - bewußt gewollt und ersehnt - viel Freude, Aufregung, Neugier und Zuversicht waren in mir. Natürlich wußte ich, was bei Schwangerschaft und Geburt alles passieren kann. Aber es war einfach undenkbar, daß bei mir etwas schief gehen könnte. Bei mir würde alles gut gehen, obwohl ich Spätgebärende war, ies war meine feste Überzeugung. Alle Befürchtungen wurden zugunsten meiner Zuversicht weggesteckt.

Erste reale Bedenken tauchten eigentlich erst im letzten Schwangerschaftsmonat auf, als ich an Gewicht verlor, anstatt kräftig zuzulegen. Dies beunruhigte mich zwar, fand aber ärztlicherseits keine Beachtung. Irgendwie befiel mich eine unbestimmt Ahnung, das Kind gehöre heraus. Nie hätte ich aber gewagt, dieses, mein unbestimmtes Gefühl meinem Gynäkologen mitzuteilen. Heute tut es mir leid, daß ich mich damals mit meinen Gefühlen nicht ernst genommen habe. Hätte ich doch zusätzliche Tests gefordert, oder einen zweiten Gynäkologen aufgesucht! Hätte ich doch mehr auf mich gehört und Skepsis gegenüber Kapazitäten gezeigt! Hätte ich mein Gefühl doch wichtiger genommen!

Tage vor der Geburt zeigte sich im Ultraschall kein Fruchtwasser. Ich erschrak sehr, wurde aber beruhigt. "Das bildet sich nach", hieß es.

Dem war allerdings nicht so, wie sich Tage später bei der Geburt zeigen sollte. Ich war tagelang ohne Fruchtwasser und ohne medizinische Intervention! Vielleicht hat sich mein und Claudias Lebensschicksal in diesen wenigen Tagen vor der Geburt entschieden. Vielleicht hätte ich heute ein gesundes Kind, wäre damals medizinisch verantwortungsvoller gehandelt worden. Vielleicht bewirkte ein ärztlicher Fehler damals lebenslängliche Folgen für uns beide.

Wenn ich daran denke, was gewesen wäre, wenn, ann werde ich sehr, sehr traurig. In meiner Phantasie gehe ich dann zum Gynäkologen und führe ihm mein ganzes Leid vor Augen, ein Leid, das er vielleicht hätte verhindern können. Ich möchte ihn wachrütteln und hautnah spüren lassen, wie sehr seine tägliche Arbeit lebenslängliche Folgen haben kann. Ich möchte ihm seine volle Verantwortung bewußt machen, indem ich ihn mit meinem Schicksal und dem meiner Tochter konfrontiere. Doch würde es mir gelingen, den Arzt betroffen zu machen?

In der Realität bin ich diesen Weg bisher nicht gegangen, denn ich fürchte, von der medizinischen Kapazität kurz mit Fachtermini abgefertigt und hinauskomplimentiert zu werden. Auch glaube ich nicht wirklich daran, daß ich etwas bewirken könnte, und ich bräuchte so unheimlich viel Kraft, diesen Weg zu gehen. Mein Kampf aber gilt meinem Kind, der Gegenwart und der Zukunft. Der Vorwurf, ich müßte für all die kämpfen, die nach mir kommen, ist durchaus berechtigt, und ich fühle mich schuldig. Aber ich habe einfach nicht die Kraft, mich in dieser Form der Vergangenheit zu widmen.

Als ich Claudia nach der Geburt erstmals sah, war ich verunsichert. Ich hatte erwartet, meinem Kind voll von Liebe zu begegnen. Tatsächlich betrachtete ich es eher nüchtern, distanziert und voller Sorge. Ich hatte das Gefühl, da stimmt etwas nicht. Es war wiederum nur so eine vage Ahnung, denn nie zuvor in meinem Leben hatte ich ein Neugeborenes gesehen. Auf mein Drängen hin, wurde mir versichert, es wäre alles in Ordnung, es gäbe keinen Grund zur Besorgnis. Mein unbestimmtes Gefühl blieb, aber bei jeder Begegnung wurde mir Claudia vertrauter. Bald sehnte ich mich nach ihr und betrachtete sie voll Liebe und Zuneigung.

Sie war ein zartes, braves Baby. Ich genoß es, Mutter zu sein, sie zu stillen, sie in den Armen zu halten. Damit begann eine kurze sorglose Zeit, in der ich es einfach genoß, Mutter zu sein, ein Baby zu haben. Die Welt rund um mich herum hatte vorübergehend kaum Bedeutung. In der Mutterberatung, wenn ich gleichaltrige Babies sah, fühlte ich aber immer wieder: Claudia ist anders. Aber was konnte damals schon eine so überzeugte Mutter beunruhigen, die ein so liebes Baby hatte! Der Schleier der Liebe hüllte uns schonungsvoll ein. Monate lang liebte ich, ohne zu sehen, - genoß ich, ohne zu wissen. Es war eine schöne Zeit. Nur für ganz, ganz kurze Momente blitzte Sorge auf, aber das konnte mein Glück nicht wirklich trüben. Mit den Monaten entpuppte sich Claudia mehr und mehr als Spätentwicklerin, was ich aber nicht bedenklich fand, waren doch von medizinischer Seite nie Auffälligkeiten registriert worden. Elf Monate lang waren zwar gewisse Sorgen, Ängste und Unsicherheiten da, aber im Grunde lebte ich in dem Glauben, ein gesundes Kind zu haben. Aus heutiger Sicht glaube ich, im ersten Lebensjahr durchaus Hinweise und Anzeichen für die spätere Behinderung zu erkennen. Claudia war extrem sensibel, lautempfindlich und reagierte oft schreckhaft. Sie wirkte passiv und wenig kraftvoll, andere Babies neben ihr machten einen geradezu energiegeladenen Eindruck. Claudia gab rasch auf und begnügte sich mit dem, was in ihrer Reichweite war; Expansions- und Experimentierbedürfnis waren gering. Damals interpretierte ich ihr Verhalten als ruhig und bequem. Ich erfuhr von dem Gerücht, ich hätte ein behindertes Kind und war darüber sehr erbost. Welch eine Verleumdung! Ich war aufgebracht. Zweifel kamen mir keine. Offensichtlich haben andere damals mehr gesehen und erkannt als ich. Aber warum klärte mich niemand auf? Warum sprachen die Ärzte nicht? War für sie wirklich alles so in Ordnung, wie es im Mutter-Kind-Paß steht?

Als ich Ende des ersten Lebensjahres bei einer ärztlichen Untersuchung meine Sorgen um Claudia vorbrachte, empfahl mir der Arzt zu meiner Beruhigung eine Untersuchung an der Klinik (CP-Ambulanz) und fügte noch hinzu, er glaube nicht, daß an Claudias Entwicklung etwas bedenklich wäre. Also ging ich mit meiner Tochter in die Klinik, um mir bestätigen zu lassen, daß es keinen Grund zur Besorgnis gäbe. Umso beunruhigter war ich, als die Ärzte in der Klinik sich tatsächlich um Claudia Sorgen machten, von "Reifungsdissoziation" sprachen und weitere Untersuchungen ankündigten. Auf mein Drängen hin arktikulierten sie ihren Verdacht : "Chromosomenaberration", -mit der Folge geistiger Retardiertheit. Eine Blutuntersuchung sollte Klarheit bringen - in vier Wochen!! Ich war wie erschlagen. Ich - ein geistig behindertes Kind! Welche Zukunftsperspektive! Meine arme kleine Claudia! Tränen kamen mir, Wellen von Traurigkeit, Betroffenheit, Gelähmtheit, Unfaßbarkeit schlugen über mir zusammen. Vier Wochen mit dieser Ungewißheit leben - unvorstellbar, wie ich das überstehen sollte! Diese Niedergeschlagenheit wich nur zögernd der altbewährten Zuversicht, aber ich wollte einfach daran glauben, Claudia sei nur eine Spätentwicklerin.

Von Vermutungen und vagen Hypothesen wollte ich mich nicht beunruhigen lassen! Trotzdem wartete ich voll Ungeduld und Angst auf das Ergebnis der Blutuntersuchung: Es war ein Freitag. - Befund negativ. Alle Aufregung umsonst! Ich dachte, ich müßte mich freuen, aber ich freute mich nicht. Da war keine gefühlsmäßige Reaktion in mir, als wäre ich innerlich gelähmt, ja tot. Hatte ich zuerst die Angst so sehr verdrängt, daß ich mich jetzt nicht mehr freuen konnte? - Hatte ich eine emotionale Schutzmauer rund um mich aufgebaut, durch die nichts mehr hindurchdringen konnte?

Allmählich erst konnte ich das Ergebnis emotional verarbeiten, und mich erleichtert entspannen. Es blieb aber Skepsis zurück, was Claudias Entwicklung betraf. Die beinahe grenzenlose Zuversicht war doch erheblich erschüttert worden. Zwar wollte ich immer noch glauben, Claudias Entwicklung entspräche der Norm, aber es gelang mir nicht mehr so ganz. In meinen Gedanken begegneten sich Optimismus und Pessimismus, sie prallten aufeinander, wichen voneinander, schienen unvereinbar. In meinem Kopf gab es Turbulenzen, die ich nicht ordnen konnte. Es riß mich hin und her, ich hatte keine Richtung, keine Linie, keinen Anhaltspunkt. Ich wußte so gar nicht, was ich von meinem Kind denken sollte; ich war verwirrt, verunsichert, verängstigt. Ich war als Mutter viel zu sehr in der Problematik gefangen, als daß ich hier als Psychologin Fakten hätte sehen können. Viel Hoffnung war in mir, nur so konnte ich diese Sorgen halbwegs ertragen.

In dieser Zeit mußte ich auch noch mit anderen schweren psychischen Belastungen fertig werden: Völlig unerwartet starb mein Vater an plötzlichem Herzversagen. Für meine Ehe - noch keine zwei Jahre alt - sah ich kaum noch eine Chance: alle meine Versuche, die Ehe zu retten, waren gescheitert. So beschloß ich, mich von meinem Mann zu trennen. Auch diese Entscheidung fiel damals. An diese Zeit denke ich ungern zurück. Heute noch wundere ich mich, wie ich damals das alles überstanden habe.

Aus meinen Tagebüchern

In meinen Tagebüchern deponierte ich all das, was mich bewegte. Vieles konnte ich mir von der Seele schreiben und fühlte mich danach erleichtert. Oft konnte ich schreibend besser "denken", und mich so zur Konzentration und Kontinuität zwingen. Oft wollte ich auch meinen Gedanken einfach freien Lauf lassen.

Tagebuch schreiben ist für mich eine besondere Form der Psychohygiene. In einsamen Stunden oder in bedrückter Stimmung war und ist mir mein Tagebuch geduldiger Partner.

Im folgenden berichte ich an Hand meiner Tagebuchaufzeichnungen . . .

Claudias zweites Lebensjahr

Erste Fördermaßnahmen:

November

Claudia ist bewegungsfaul. Deswegen gehe ich auf ärztliches Anraten mit ihr zum Säuglingsturnen: ein bißchen neugierig, ein bißchen gespannt, ein bißchen zuversichtlich. Leider wird es ein Fiasko! Claudia wehrt sich gegen jede Übung, verkrampft sich, beginnt zu zittern und zu weinen, sträubt sich mit all ihren Kräften und verunmöglicht alles. Ich denke, die fremde Umgebung trage das ihre dazu bei und hoffe auf die häusliche Vertrautheit. Aber auch dort verweigert sie jede Übung. Vielleicht ist es nur eine Art von Schwellenangst, die es zu überwinden gilt, denke ich und versuche mit ihr trotz Widerstandes zu üben - aber die Situation eskaliert immer von neuem. Claudia reagiert wie in existentieller Bedrohung.

Ich stecke in einem Konflikt: was ist jetzt für das Kind richtig? Müßte ich es um jeden Preis zu Übungen zwingen, oder darf ich den Widerstand des Kindes respektieren? In mir sträubt sich alles gegen Zwang, und ich frage mich, ob ein physischer Effekt einen psychischen Schaden wert ist. Was ist das kleinere Übel? Was ist für Claudia jetzt wichtig? Wie förderungsbedürftig ist sie wirklich? Vielleicht plage ich sie heute und mache mir Jahre danach Vorwürfe, das Kind so unter Druck gesetzt zu haben. Muß ich mir wirklich ernsthaft Sorgen um Claudias Entwicklung machen? Natürlich weiß ich, daß ihr Erfahrungshorizont sehr eingeengt ist, solange sie sich nicht selbst fortbewegt. Aber wie schlimm ist das? Fehlen ihr jetzt schon Erfahrungen, die sie nie mehr aufholen kann? Oder wird sich das schon bald ausgleichen? Muß ich mich wirklich mit einer möglichen Retardiertheit Claudias auseinandersetzen? Das wäre wohl sehr schlimm für mich, aber ich denke meiner Liebe zu Claudia könnte es keinen Abbruch tun.

Zwecks Förderung gehe ich mit Claudia auch zum Säuglingsschwimmen. Anfangs ist sie ebenso schreckhaft wie beim Turnen, sie liebt aber Wasser sehr und kann sich deswegen erstaunlich rasch damit anfreunden. Ich genieße es, mit ihr im Wasser zu planschen, fühle mich aber dennoch irgendwie bedrückt in der Konfrontation mit anderen Kindern: Claudia ist anders als andere Kinder, das wird mir immer deutlicher. Sie wirkt sensibel, mimosenhaft, zaghaft neben all den robusten anderen Babies. Ich ahne, daß auch andere Mütter Claudia irgendwie als auffällig registrieren, und so beginne ich mich als nicht ganz dazugehörig zu fühlen, als Außenseiterin. Ich frage mich, ob ich gemieden werde oder selbst meide. Ich will mich nicht in eine selbst geschaffene Isolation begeben, bin ich doch Mutter wie alle anderen. Wieso auf einmal so merkwürdige Gedanken und Gefühle? Ich will mich mit Claudia nicht abkapseln und beschließe weiterhin zum Säuglingsschwimmen zu gehen und mein Unbehagen weiter nicht ernst zu nehmen. Vielleicht bilde ich mir alles nur ein.

Auf der CP-Ambulanz wird Claudia jetzt auch noch von einer Physikotherapeutin betreut: Claudia ist eine eher schwierige Patientin - sehr scheu und sehr abweisend bei Körperkontakt mit der Therapeutin. Es ist schwer, Claudia so zu motivieren, daß sie aus Interesse aktiv wird, Bewegungen probiert und Erfahrungen über ihre derzeitigen Grenzen hinaus macht.

In diesen Stunden wird mir deutlich, was Claudia alles noch nicht kann, aber schon können sollte. Das bedrückt und belastet mich. Ich spüre Leistungsdruck mir und meinem Kind gegenüber, wenn ich höre, was ich alles mit meinem Kind üben soll. Einerseits bin ich für all die Hinweise, Anregungen und Vorschläge dankbar, und erlebe die Therapiestunden als wertvoll, andererseits aber entsteht in mir das Gefühl, ich hätte bisher alles falsch gemacht. Ich beginne an mir zu zweifeln. Habe ich als Mutter wirklich versagt? - Ich, die Psychologin? Ich tue doch wirklich mein Möglichstes, aber es ist scheinbar nie genug. Diesen Leistungsdruck spüre ich neuerdings beinahe täglich.

Ich glaube, daß mir als Mutter auch die defizitorientierte Sicht in der Therapie Probleme macht. Da geht es immer nur um all das, was Claudia noch nicht kann. Wie sehr sehne ich mich danach, daß Claudia mehr in ihrer ganzen Person, in ihrer Gesamtheit und Komplexität gesehen wird, und nicht nur mit ihren Defiziten. Hat sie nicht auch viele Fähigkeiten und Stärken?

Jede neue Förderung bedeutet für mich auch eine neue Störung. Wie gerne würde ich Claudia und mir Ruhe gönnen! Wie gerne möchte ich Claudias Entwicklung sorglos genießen können! Sind all die Maßnahmen wirklich notwendig? Bedarf Claudia dieser Förderungen überhaupt? Wahrscheinlich könnte ich therapeutische Maßnahmen besser akzeptieren, wenn ich von einer Störung bei Claudia voll überzeugt wäre.

Wo immer ich hingehe, bekomme ich Ratschläge. Es deprimiert mich, wenn sich Mütter mit gesunden Kindern dazu gedrängt fühlen, mir Ratschläge zu geben. Es kränkt mich in doppelter Hinsicht: einmal mich als Mutter, und einmal mich als Psychologin; es scheint, als würden bei mir gleich beide Kompetenzbereiche angezweifelt, als ob man all das, was man einer gewöhnlichen Mutter zutraut, mir, einer Psychologin nicht zutrauen könnte. Was andere sich eigentlich anmaßen, nur weil ihre Kinder sich besser entwickeln! Neben Deprimiertheit spüre ich Wut und Aggression gegen all die "wohlmeinenden Ratschläger". Aber ich kann mich dagegen nicht wehren. Ich bin zu unsicher, ob nicht der eine oder andere Rat vielleicht doch etwas für Claudias Entwicklung bringen könnte. So lasse ich mich lieber "ratschlagen" und halte still. Sehnlichst wünsche ich mir die notwendige Souveränität, mich ganz auf mich allein zu verlassen und all die Irritationen abschütteln zu können.

Gehversuche

Mit dreizehn Monaten ist Claudia jetzt erstmals in der Gehschule aufgestanden, wackelig, mit zittrigen Beinen, - aber immerhin. Das gibt mir wieder Zuversicht. Vielleicht kann sie doch bald ihren Rückstand aufholen, wenn sie erst einmal damit begonnen hat. Vielleicht wird dann auch ihr Expansionsbedürfnis größer. Kann sie derzeit etwas im Sitzen nicht erreichen, läßt sie es sein. Sie kämpft nicht und gibt rasch auf: Ihr Erfahrungshorizont ist unvergleichlich kleiner als der Gleichaltriger, die robben, krabbeln oder gar schon gehen. Es fehlt ihr der Antrieb. Diese Begrenztheit ist schlecht. Ich sorge mich, daß sie bei soviel Passivität und so wenig Anstrengungsbereitschaft ihre Möglichkeiten einfach nicht ausschöpfen kann. Weil aber auch ich als bequemes Baby und Spätentwicklerin beschrieben wurde, hoffe ich immer noch, Claudias Reifungstempo könnte vererbt sein und sich auswachsen. Insgeheim befürchte ich aber mehr und mehr, daß hier doch nicht nur eine Verzögerung vorliegt, sondern wirklich eine Störung.

Trotz allem bin ich mit Claudia glücklich, könnte mir ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen, und die Leere ohne sie erschiene mir unerträglich. Ich bin reich durch Claudia. Nie zuvor habe ich so viel Emotionalität erlebt, nie zuvor so viel bedingungslose Liebe. Früher vermutete ich in Eltern-Kind-Beziehungen immer Einseitigkeit: nämlich das Kind braucht seine Eltern. Jetzt erlebe ich als Mutter Gegenseitigkeit das tut gut. Ich brauche sie, sie braucht mich. Ich bin emotional ebenso an sie gebunden, wie sie an mich. Da ist keiner dem anderen voraus oder überlegen.

Dezember

Inzwischen hat Claudia Spaß daran, gehen zu lernen. Ich muß sie aber immer führen. Ohne meine Hilfe kann sie weder selbst aufstehen, noch sich wieder niedersetzen.

Sie läßt sich einfach stocksteif und kreuzhohl nach hinten fallen. Die Verletzungsgefahr ist groß. Ich muß immer reaktionsbereit hinter ihr stehen; das ist für mich zwar anstrengend, aber nur so kann ich Claudia erste Gehversuche ermöglichen. Ihre eckigen, steifen, unkoordinierten Bewegungen bedrücken mich. Ich habe Babies vor Augen, die stehen, gehen und fallen und bei denen das alles eine so runde Sache ist. Der Unterschied zu Claudia ist offensichtlich und für mich schmerzlich. Weil dieser Unterschied auch anderen auffällt, bekomme ich wieder viele kluge Ratschläge zu hören. Immer wieder glaubt jemand, es besser zu wissen. Aber die Ratschläge helfen mir nicht weiter, Claudia ist eben anders als andere Kinder.

Behindert?

Zu gerne hätte ich geglaubt, Claudia wäre eine Spätentwicklerin! Ich kann es nicht mehr wirklich glauben, nur noch hoffen. Mehr und mehr muß ich mich damit auseinandersetzen, ein behindertes Kind zu haben. Wenn ich darüber nachdenke, erlebe ich mich unheimlich distanziert, fast emotionslos, so als ob es mich nicht beträfe, wo es mich doch so sehr betrifft! Ich kann es eben nur denken, aber noch nicht begreifen - kann es nur mit dem Hirn, nicht aber mit dem Herzen erfassen.

So sehr mich der Gedanke entsetzt, Claudia könnte behindert sein, so sehr spüre ich bei diesen Gedanken auch so etwas, wie Erleichterung. Wenn dem wirklich so wäre, dann bräuchte ich Claudia endlich nicht mehr an der Norm zu messen. Das befreite mich von einem unheimlichen Leistungsdruck. Für Störungen gelten ja schließlich andere Gesetze.

Erziehen ist oft schwer

Immer wieder erlebe ich mit Claudia Konfliktsituationen, wo ich mich unsicher fühle und nicht recht weiß, was für Claudia im Moment erzieherisch gut und richtig ist. Wo finde ich den Mittelweg zwischen Verwöhnen und Härte, zwischen Führung und Freiheit. Natürlich kenne ich die herkömmlichen Erziehungsprinzipien, die ich aber nur als groben Leitfaden verstanden wissen möchte und nicht als allgemein und immerzu gültiges Rezept, oder gar als Rechtfertigung für Repressionen. Ich will Erziehungsprinzipien nicht unbekümmert praktizieren, sondern in der konkreten Situation mein Kind, mich und die Gegebenheiten berücksichtigen und wichtig nehmen. Weil jede Situation sehr von meiner und Claudias Gefühlslage mitbestimmt wird, gibt es eigentlich immer nur neue Situationen, dementsprechend sind immer wieder neue Entscheidungen zu treffen. Wie schwierig das oft ist!

Claudia sitzt vor ihren Spielsachen und weint. Ich weiß, sie möchte meine Gesellschaft. Sie mag fast nie allein spielen. Wenn ich nachgebe und mit ihr spiele, verwöhne ich sie dann? Verhindere ich damit ihre Entwicklung zur Selbständigkeit? Was soll ich tun? Was ist richtig, was besser? Nachgeben oder hart bleiben? Beides scheint mir irgendwie unbefriedigend zu sein. Ich habe Angst, etwas falsch zu machen, durch mein Zutun Claudias Entwicklung zu verhindern, zu bremsen, oder nicht optimal zu fördern. Auch habe ich Angst, sie zu verwöhnen. Letztendlich entscheide ich mich heute für die friedliche Variante, gebe nach und spiele mit ihr, nehme mir aber vor, sie in ähnlichen Situationen durchaus auch einmal mit ihren Spielsachen allein zu lassen.

Claudia ist ein sehr sensibles Kind. Meine Angst, ihr mit zuviel Härte zu begegnen, ist ebenso groß, wie die Angst, sie zu verwöhnen. Dazu kommt Claudias Entwicklungsverzögerung als zusätzlicher Verunsicherungsfaktor. Was für normal entwickelte Kinder gelten mag, kann für sie bereits Überforderung bedeuten; was speziell für sie gut ist, mag in einem anderen Fall unter Umständen erzieherisch nicht empfehlenswert sein. Werde ich in der Erziehung Claudias den richtigen Weg finden?

Mai

Zur Zeit gibt es Schwierigkeiten beim Einschlafen: Claudia steht abends in ihrem Bettehen immer wieder auf und weint. Ich bleibe zunächst händchenhaltend bei ihr, um sie zu beruhigen. Kaum schleiche ich mich aber aus dem Zimmer, geht das Geschrei wieder los. Nach weiteren Beruhigungsversuchen entschließe ich mich, Claudia einfach weinen zu lassen, - so sehr es mir auch schwer fällt. Ich habe Angst, sie zu verwöhnen. Claudia soll erkennen, daß ihr Verhalten keinen Erfolg hat.

Als sie sich aber in einen Weinkrampf hineinsteigert, wird mir angst und bang. Schließlich kann ich nicht anders als nachgeben und nehme Claudia zu mir ins Bett - es ist ja nur zum Einschlafen, es ist ja nur eine Ausnahme.

Sie schläft dann auch bald recht erschöpft ein, aber lange noch schluchzt sie im Schlaf auf. Später trage ich Claudia ins eigene Bett zurück, aber ich fühle mich danach irgendwie elend, ohne genau zu verstehen warum.

Als Claudia dann auch noch mitten in der Nacht zu weinen beginnt, eskaliert das Problem: Ich habe Angst, mein Kind die ganze Nacht zu mir ins Bett zu nehmen, es könnte sich daran gewöhnen. Zu viele Beispiele kenne ich, wo das Kind sich das Elternschlafzimmer erobert hat und sich daraus nicht mehr verdrängen ließ. Diesen Fehler möchte ich nicht auch machen! Was tue ich? Ich beschließe, diesmal wirklich hart zu bleiben. Während Claudia sehr sehr lange weint, leide und kämpfe ich mit mir. Als Claudia letztendlich doch einschläft, glaube ich, diesen Kampf überstanden zu haben. Doch welche Enttäuschung! Der Kampf in mir geht weiter. Ich fühle mich innerlich aufgewühlt, an Schlaf gar nicht zu denken. Was ist los mit mir? Ich komme mir wie eine schlechte Siegerin vor - fast so als würde ich mich schämen. Plötzlich ist da ein tiefer Schmerz in mir, und mit einem Schlag wird mir bewußt, wie sehr ich Claudia in ihrer nächtlichen Not allein gelassen habe. Aber warum? Warum konnte ich sie in ihrem Bedürfnis nach Nähe nicht wichtig nehmen? Hat mich meine Angst, Claudia zu verwöhnen unfähig gemacht zu spüren, was mein Kind gerade braucht? Arme Claudia! Hoffentlich habe ich uns nicht zu sehr geschadet! Ich will daraus lernen: Ich will versuchen, meine eigene Angst in Zukunft als solche zu erkennen, um sie nicht mehr an Claudia auszuagieren. Als in der darauffolgenden Nacht Claudia wieder zu weinen beginnt, kann ich ihr Weinen als Hilfeschrei hören, als Ausdruck von Angst und als Bedürfnis nach Nähe. Ich kann ihr emotional begegnen. Liebevoll nehme ich sie zu mir ins Bett, sie kuschelt sich schutzsuchend an mich und schläft bald darauf seelenruhig und friedlich ein. Ich genieße dieses Gefühl von Nähe, und spüre, wie gut es uns tut. Später trage ich Claudia tief schlafend wieder zurück in ihr Bettchen. Es ist ein gutes Gefühl, ihr ohne inneren Kampf die Wärme und Geborgenheit geben zu können, die sie braucht.

Ratschläge

Juni

Claudia geht jetzt allein ein paar Schritte. Sie ist dabei aber sehr gefährdet. Sobald sie das Gleichgewicht verliert, fällt sie immer noch stocksteif nach hinten und landet direkt am Hinterkopf. Um dies zu verhindern, stehe ich wie ein guter Engel hinter ihr. Ohne meinen Schutz würden die schmerzlichen Erfahrungen sie wahrscheinlich rasch entmutigen. Schon wieder bekomme ich gutgemeinte Ratschläge: "Laß sie doch allein, sie wird es schon merken, wenn sie hinfällt! Sie muß doch auch das Fallen lernen!" Ich aber spüre genau, daß Claudia nicht fallen kann, da sie nicht entsprechend reaktionsschnell zu reagieren vermag, und sie ihre Motorik zu wenig beherrscht. Wieder diese Ratschläge, die eigentlich Vorwürfe sind, die mich als Mutter beschuldigen und mich in die Verteidigung drängen!

Ich bin wütend: alle glauben, sie wüßten besser, was gut ist für Claudia. Warum traut mir niemand zu, daß ich mein Kind selbst am besten kenne? Oder haben die anderen recht, müßte ich einfach nur unbekümmerter sein? Habe ich ein so ängstliches Kind, weil ich als Mutter zu ängstlich bin?

Solche Gedanken kommen unweigerlich, bringen mich aber auch nicht weiter. Wie leicht bin ich als Mutter doch von jedermann und jederfrau zu verunsichern. Wenn ein Kind von der Norm abweicht, wird anscheinend zunächst die Mutter dafür verantwortlich gemacht. Da fühlt sich auch jeder für Ratschläge kompetent. Wieviel Stärke doch eine Mutter braucht, ihrem eigenen Gefühl recht zu geben und sich nicht dauernd nur zu rechtfertigen und zu verteidigen!

Entwickelt sich das Kind normal, kommt niemand auf die Idee, seiner Mutter permanent Ratschläge, Anregungen und Anleitungen zu geben. Hat ein Kind aber einen Entwicklungsrückstand, wird die Mutter korrigiert, so, als ob sie die Störung hätte.

Betroffenheit

Wir haben am Kinderspielplatz ein fünfzehn Monate altes Mädchen getroffen. Claudia ist jetzt zwanzig Monate alt. Danach bin ich wieder einmal sehr deprimiert. Die Diskrepanz ist so offensichtlich, daß es schmerzt. Ich muß sehen, wo Claudia im Vergleich zu anderen Kindern steht, das macht mich traurig. Diese Konfrontation ist Gift für mein Seelenheil. Ich bin danach grantig und gereizt und sehe Claudia sehr distanziert, nüchtern und mit kritischen Augen. Ich bin zutiefst unglücklich über dieses, mein Schicksal und auch Claudia gegenüber viel unduldsamer. Ich will einfach nicht wahrhaben, daß es tatsächlich so ist, daß sie so sehr zurück ist. Auf die Frustration in der Begegnung reagiere ich mit Aggression und schäme mich dafür vor meinem Kind wie niederträchtig von mir! Aber wie kann ich mit diesen meinen Gefühlen fertig werden, ohne es Claudia spüren zu lassen? Wohin mit der Verbitterung: Warum gerade ich, warum gerade mein Kind?

Hätte ich keine Vergleichsmöglichkeit mit gleichaltrigen und jüngeren Kindern, ich wäre sorglos und glücklich. Nur im Vergleich sehe ich schmerzlich Claudias Abweichungen. Ich denke an die Zukunft: Wie wird sich meine Tochter weiterentwickeln? Wird sie später einmal überhaupt für sich allein sorgen können? Wird sie ihren Rückstand vielleicht doch noch aufholen, und mache ich mir jetzt all die Sorgen umsonst? Viele offene Fragen - ich muß mit dieser Ungewißheit leben. Meine Gefühle bewegen sich immer wieder zwischen hoffnungsvoller Zuversicht und quälender Deprimiertheit. Wie kann ich mit Bedrückung, Verzweiflung, Angst, Verbitterung und Groll fertig werden? Wie kann ich lernen, mit Claudia zu leben, ohne daß ihre Retardiertheit mich in Verbitterung erstarren läßt? Ich weiß, ich bin für mein Kind sehr wichtig, und nur wenn es mir gut geht, kann ich das auch meinem Kind vermitteln. Ich muß mit diesem Problem irgendwie fertig werden, auch wenn ich im Moment nicht weiß wie. Ich stecke in einem Gefühlsknäuel, oft schlagen die Wellen einfach über mir zusammen, ich fühle mich ausgeliefert, hilflos, traurig, aggressiv und resigniert zugleich. Muß ich mich an den Gedanken gewöhnen, ein behindertes Kind zu haben? Irgendwie weiß ich es, aber irgendwie will ich es nicht wissen. Ich hänge mich an Berichte über plötzliche Entwicklungsschübe bei Kindern, denen letztlich doch noch "ein Licht aufgegangen" ist. Ich weiß, diese Chance ist für Claudia minimal, aber ich möchte einfach hoffen dürfen.

Wenn ich sehr bedrückt, und deprimiert bin, was Claudias Entwicklung betrifft, dann gibt es einen recht heilsamen Gedanken, der mir all meine Sorgen relativ erscheinen läßt. Ich stelle mir vor, Claudia könnte etwas zustoßen, Claudia könnte sterben. Dieser Gedanke ist mir unerträglich. Wie froh bin ich, Claudia zu haben, wie glücklich, daß sie lebt! Der Gedanke an ihren Tod läßt mir ihre Behinderung fast unwichtig erscheinen. Im Anblick des Todes bekommt offenbar das Leben einen anderen Stellenwert.

Es ist Jahre her, als ein kleines behindertes Mädchen aus meinem Bekanntenkreis bei einer Herzoperation gestorben ist. Die Eltern, die fünf weitere, gesunde Kinder hatten, waren so voll Trauer, daß ich sie angesichts des Todes dieses einen "ohnehin" behinderten Kindes nur schwer verstehen konnte. Insgeheim dachte ich, daß es vielleicht eine gütige Fügung des Schicksals war, daß dieses behinderte Mädchen sterben durfte.

Heute schäme ich mich für diese Gedanken von damals und ahne, daß andere über mich und Claudia jetzt vielleicht ähnlich denken: "Der Tod Claudias wäre für beide, Mutter und Kind vielleicht die bessere Lösung!" Über solche Gedanken bin ich zutiefst erschüttert. Tränen steigen mir in die Augen. Ich liebe mein Kind. Claudias Tod wäre für mich der schrecklichste nur denkbare Schicksalsschlag. Umso lauter möchte ich es alle wissen lassen; Mein Kind ist für mich das WertvolIste auf der Welt, ob mit oder ohne Behinderung!

Wie gut kann ich heute die traurigen Eltern des kleinen, behinderten Mädchens von damals verstehen! Mußte ich wirklich dieses Schicksal erleiden, um zu verstehen? So gesehen hat mich Claudias Behinderung reicher gemacht. Ich kann mehr sehen, mehr verstehen, mehr spüren; das eigene Erleben sensibilisiert. Mit Claudia stehe ich außerhalb der Norm, das kostet viel Kraft, bringt aber vielleicht auch Positives mit sich. Ich ahne eine Kehrseite von Sorgen, Leid und Schicksalsschlag. Ich kann es noch nicht genau ausnehmen, aber ich spüre ganz vage eine Kraft in mir. Den Alltag in seiner Routine erlebe ich oft als sehr "human" und gewöhnlich. Da sehe ich Claudias kleine Fortschritte und Veränderungen, genieße ihre liebenswerte Art oder ärgere mich über Kleinigkeiten - aber alles ist so alltäglich, daß die eigentliche Problematik ganz in den Hintergrund tritt und ich sie oft kaum wahrnehme. So kann ich den Alltag oft genießen.

Und dann passiert es plötzlich, daß völlig unerwartet aus irgendeinem Anlaß oder auch ohne, diese Alltagsroutine durchbrochen wird und mir Claudias Behinderung plötzlich brutal und in aller Deutlichkeit vor Augen steht - mit all den lebenslangen Konsequenzen. Ein tiefer stechender Schmerz stellt sich ein, die Irritation erfaßt mich in meiner ganzen Substanz, das Leiden wird wieder hautnah. Ich kann dann nur noch heulen. Bin ich lange genug in Schmerz und tiefer Trauer verweilt, gelingt es mir wieder aus dem Loch herauszusteigen, das Leben geht weiter, die Alltagsroutine stellt sich wieder ein. Ich weiß nicht, wo und wann mir wieder neue, tiefe Betroffenheit begegnen wird, weiß nur, Tiefs kommen, schmerzen und vergehen wieder. Jede dieser Phasen muß ich neu überstehen, muß jedesmal aufs Neue durch diesen Schmerz hindurch. Ich fürchte, es steht mir noch ein langer, sehr schmerzlicher Weg bevor.

Du bist wertvoll, Claudia!

Claudias Zärtlichkeitsbedürfnis ist groß. Oft legt sie spontan ihre kleinen Ärmchen um meinen Hals und drückt mich. Wie sehr fühle ich mich in solchen Momenten als glückliche Mutter! Wie schön ist es, Zuneigung zu spüren und zu fühlen, wie Claudia Nähe genießt, wie sie ihre Gefühle auszudrücken versteht und Liebe vermitteln kann. Wie schön das für mich ist! Wie sehr ich doch Claudia liebe! Wie reich sie mich macht! Wird es mir gelingen, ihr dabei zu helfen, ein glücklicher Mensch zu werden? Ich möchte meiner Tochter Liebe vermitteln, ohne Wenn und Aber, ohne Besitzanspruch und Gluckhennenverhalten, ohne Leistungsdruck und Überforderung. Ich möchte ihr vermitteln: "Du bist wertvoll als Mensch, so wie du bist, unabhängig von deiner Leistung." Wird mir das wirklich gelingen? Um das zu erreichen, muß auch ich meine eigene Einstellung zur Leistung überprüfen, denn erst wenn ich selbst ganz davon überzeugt bin, kann ich das meinem Kind vermitteln. Dies trifft mich in einem sehr wunden Punkt, es wird schwer sein für mich, mein Leistungsdenken zu korrigieren. Durch Claudia fühle ich mich aber dazu herausgefordert.

Ich will daran glauben, daß Claudia trotz ihrer Begrenztheit die Chance hat, ein glücklicher, zufriedener Mensch zu werden. Zu gut weiß ich, daß Leistung nicht glücklich macht.

Trotzdem ertappe ich mich immer wieder bei dem Gedanken, daß Leute, die Karriere machen und tüchtig sind, einfach glücklich und zufrieden sein müssen, obwohl ich aus Erfahrung weiß, daß das nicht stimmt. Gerade weil ich Zufriedenheit, Glück, Wertschätzung und dergleichen als Werte, unabhängig von Leistung, anerkennen, liegt mir viel daran, dies meiner Tochter zu vermitteln. Ob ich das schaffe?

Launen

Juni

Heute ist ein rabenschwarzer Tag, und scheinbar ganz ohne Grund. Ich bin gereizt und Claudia ist grantig. Den ganzen Tag raunzt sie schon, nichts kann ich ihr recht machen. Auch ich selbst fühle mich heute nicht gut und bin durch Claudias Verhalten überfordert.

Ich möchte allein sein, bräuchte Luft und einen Tapetenwechsel, müßte zuerst das eigene innere Gleichgewicht finden, um dann wieder ganz für Claudia da zu sein. Schön wäre, ich könnte Claudia bei Oma oder Tante abgeben, mir einfach für ein paar Stunden frei nehmen. Danach wäre meine Gereiztheit gewiß verflogen. So aber muß ich in der Situation ausharren und irgendwie den Tag überstehen. Wenn die Situation nur nicht eskaliert! Es kostet mich viel Kraft und Beherrschung, nicht die Nerven zu verlieren. Je mehr Claudia meine Gereiztheit spürt, umso mehr klammert sie sich an mich, das macht es mir noch schwerer. Obwohl ich mich zu beherrschen versuche, spürt sie meine schlechte Laune, ich kann sie nicht ganz verbergen. Ich bin eben auch nur ein Mensch und nicht jeden Tag gleich gut aufgelegt. Früher dachte ich, eine Mutter müßte ihr Kind immerzu lieben, heute weiß ich, daß auch andere, auch negative Gefühle Platz haben müssen, da diese sich sonst nur aufstauen und irgendwann doch herausbrechen, dann aber, dem Anlaß bei weitem nicht entsprechend, mit geballter Kraft. Auch könnte ich Claudia nicht wirklich liebevoll begegnen, wenn ich alle negativen Gefühle unterdrücken müßte. Gerade weil ich sie liebe, will ich mich nicht verleugnen. Ich will ganz ich selbst bleiben und mir auch Wut, Ärger und Resignation eingestehen. Auch glaube ich, daß Claudia ein Recht darauf hat, mich zu erfahren wie ich wirklich bin. Ich wünsche mir eine möglichst ehrliche Beziehung zu meiner Tochter, was aber nicht heißen soll, daß ich meine Gefühle unreflektiert und unbekümmert ausagieren möchte.

Therapeutische Erfahrungen

August

Seit fast einem Jahr gehe ich regelmäßig mit Claudia zur Physikotherapeutin in die Klinik. Claudia ist dort immer noch ein eher schwieriges Kind. Nur mit Geduld und spielerisch kann sie zu bestimmten Bewegungsabläufen animiert werden. Die Therapeutin hat viel Erfahrung, und ich halte sie für kompetent. Mir selbst werden dabei aber Claudias Defizite jedesmal schmerzlich bewußt. Wie sehr wünsche ich mir, die Therapeutin möge doch auch anerkennen, was Claudia schon alles gelernt hat, einfach um mich zu stützen, zu stärken, mir Kraft und Zuversicht vermitteln; ich würde es so dringend brauchen! Sie sollte mich mitbetreuen, damit ich emotional nicht leer ausgehe. Nach jeder Stunde macht mir meine Deprimiertheit zu schaffen. Ich bräuchte Zuspruch. Ich glaube, in jeder Therapie sollte die Mutter genauso wichtig sein wie das Kind. Das müßte mehr beachtet werden.

Meine Kritik wendet sich nicht gegen die qualifizierte Arbeit der Therapeutin, die ich sehr schätze, sondern gegen die Konzeption, die dahinter steht: Eine medizinisch-therapeutische Betreuung von behinderten Kindern sollte nicht ausschließlich die Kinder im Auge haben, sondern die Mutter-Kindbeziehung als wichtiges Fundament in der Therapie stärker mitberücksichtigen. Selbst wenn eine therapeutische Betreuung nur darin bestünde, die Mutter psychisch zu stützen, anstatt sie womöglich unter Leistungsdruck zu setzen, ihr die Kraft zu geben, die sie braucht, um mit der Behinderung des Kindes leben zu lernen, wäre sehr viel getan. Es wird oft übersehen, daß nur dort Lernfortschritte passieren können, wo der entsprechende emotionale Boden vorhanden ist. Zuerst muß das Emotionale stimmen, darauf erst kann Förderung aufbauen. Und beim Emotionalen muß die Mutter mitberücksichtigt werden. Bin ich gemeinsam mit Claudia in einer Therapie, wird mir immer wieder deutlich: Ich als Mutter kann nur dann eine positive Einstellung entwickeln, wenn ich spüre, daß mein Kind in seiner Ganzheit gesehen wird und nicht nur mit seinen Defiziten.

September

Weil Claudia mit 23 Monaten noch nichts spricht, wird eine Logopädin hinzugezogen. Sie beobachtet Claudia beim Essen und stellt fest: Claudia kann nicht sprechen, weil sie als Vorstufe davon noch nicht richtig beißen und kauen kann. Die logopädische Empfehlung lautet daher: "Dem Kind darf nur mehr feste Nahrung gegeben werden, verweigert es diese, muß es hungern, dann wird es schon zu beißen beginnen." Ich als Mutter müsse hart sein, meine Tochter sei nur zu bequem zum Beißen und ich unterstütze die Faulheit meiner Tochter, wenn ich sie nicht zu fester Nahrung zwinge. Nach dieser Therapiestunde gehe ich belämmert heim. Ich spüre Vorwürfe und Vorhaltungen von seiten der Logopädin. Immer wieder wird von mir verlangt, daß Claudia etwas können soll. Verwöhne ich mein Kind wirklich so, daß ich wesentliche Entwicklungen, wie das Kauen und Sprechen, verzögere? Bin ich im Vergleich zu anderen Müttern wirklich um so viel schlechter? Ich spüre, wie sehr der Druck, unter den ich gesetzt werde, meine Beziehung zu Claudia stört. Auch bin ich ärgerlich auf Claudia. Sie ist ja schließlich schuld an den Schwierigkeiten, die ich jetzt habe.

Ich bin völlig aus dem Gleichgewicht. Meine Beziehung zu Claudia ist irritiert. Ich bin voller Zweifel, unsicher, wütend und schäme mich dafür vor Claudia.

Ich probier's, verweigere Claudia die gewohnte Nahrung, sie bekommt nur feste Nahrung, die sie ihrerseits prompt verweigert. Ich bleibe hart bei der ersten Mahlzeit, ich versuche Claudia - dem Rat entsprechend - hungern zu lassen, damit sie gezwungen wird, feste Nahrung aufzunehmen, und ich nicht als verwöhnende Mutter abqualifiziert werden kann. Dabei fühle ich mich elend. Sie tut mir zwar unheimlich leid, aber wenn es wirklich gut und wichtig für sie ist, will ich ihr nicht durch Nachgiebigkeit schaden. Ich ringe mit ihr und mit mir: "Ist das jetzt wirklich richtig, was ich tue? Kann ich mich auf die Meinung einer Fachkraft verlassen?" Ich empfinde die Maßnahme als brutal und bin verzweifelt. Was soll Hungern daran ändern, daß Claudias Kaumuskulatur nicht kräftig genug ist?

Ganz allmählich steigt in mir ein unheimlicher Groll hoch, meine ganze Wut richtet sich gegen die Logopädin, und ich beschließe, das zu tun, was ich für richtig halte. Claudia bekommt wieder ihre gewohnte Nahrung, ich akzeptiere, daß sie noch nicht kaut, weil sie eben noch nicht kauen kann. Sie wird es aber auch nicht durch drei Tage Hungern lernen. Ich erkläre die vorgeschlagene Zwangsmaßnahme der Logopädin als unangemessen für mein Kind, erkenne aber, daß es wichtig ist, Claudia öfter als bisher feste Nahrung anzubieten.

Jetzt erst, nach dieser Entscheidung, finde ich allmählich meinen Seelenfrieden wieder.

Diese Fachberatung war für mich kaum eine Hilfe, aber ein Trauma und ein Drama zugleich. Wie stark muß man doch als Mutter eines behinderten Kindes sein, wenn man sich sogar gegen Fachleute zur Wehr setzen muß!

In meiner Phantasie reagiere ich meine Aggressionen gegen die Logopädin ab. Ich stelle mir vor, wie ich sie am Seil tanzen lasse und ihr erst zu essen gebe, wenn sie seiltanzen kann.

Aus meiner Erfahrung mit der Logopädin erkenne ich wieder einmal, wie wichtig es ist, daß ich auf meine Gefühle vertraue und nur das tue, was auch ich als zumutbar empfinde. Hoffentlich werde ich in Zukunft gegenüber therapeutischen Empfehlungen und Maßnahmen kritischer sein.

In diesem Zusammenhang taucht wieder einmal die schmerzliche Frage auf, ob ich schon viel früher viel kritischer hätte sein sollen, ob ich damit schon vor der Geburt vielleicht das Schicksal von Claudia hätte abwenden können. Es ist da ein diffuses Gefühl von Schuld in mir, ohne daß es objektive Gründe dafür gäbe. Darüber zu grübeln, ist zermürbend. Ich wilI es nicht, aber es überkommt mich immer wieder einmal. Ich muß mehr und mehr lernen, mein Schicksal, das so eng mit Claudias Schicksal verbunden ist, zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen. Wie schön wäre es, ich würde daran wachsen, anstatt verbittert zurückbleiben.

Mit viel Anteilnahme habe ich das Buch von Annemarie Tausch "Gespräche gegen die Angst", gelesen. Da gibt es krebskranke Patienten, die nur noch kurze Zeit zu leben haben, denen es aber dennoch gelingt, in ihrem nur noch kurzen Leben Erfüllung zu finden. Es ist erschütternd zu lesen, wie Menschen erst im Anblick des Todes den Mut haben, zu leben und sich selbst wichtig zu nehmen. Wenn todkranke Leute an ihrem Schicksal nicht zerbrechen, sondern ihr Leben sogar noch bereichern können, müßte es doch auch für mich möglich sein, mit der Behinderung Claudias leben zu lernen. Die Berichte über Krebskranke haben mich wachgerüttelt, mitgerissen. Sie zu lesen hat mir gut getan. Es wird mich einige Zeit vor übertriebenem Selbstmitleid schützen.

Immerhin erlebe ich es als Fortschritt, daß mir der Ausdruck "behindert" im Zusammenhang mit Claudia vertrauter wird. Die Erleichterung dabei ist, daß ich Claudia nicht mehr an den Maßstäben der Norm zu messen brauche. Dies reduziert meinen immensen Leistungsdruck. Ich muß meine Tochter nicht mehr irgendwohin drängen.

Seit Claudias Störung auch für andere klar ist, sind die meisten Stimmen, die mich mit Vorschlägen, Ratschlägen und Hinweisen bedrängt haben, verstummt. Darüber bin ich froh.

Claudias drittes Lebensjahr

Oktober

Claudia ist jetzt zwei Jahre alt. Sie kann gehen, so der Boden ohne Unebenheiten ist. Auf unebenen Wegen kommt sie schnell aus dem Gleichgewicht. Geht es abwärts, wird sie immer schneller, ihre "Notbremse" funktioniert nicht, fällt sie hin, ist sie außer sich und weint heftig. Sie fällt steif und ungeschickt, die Gefahr, daß sie sich dabei verletzt, ist immer noch groß. Ihr Wortschatz beschränkt sich auf "ja", "nein" und "Mama", einfache Alltagssprache aber kann sie verstehen und ihre Wünsche non-verbal recht gut ausdrücken. Sie ist leicht aus dem psychischen Gleichgewicht zu bringen. Oft können sie Kleinigkeiten sehr irritieren und sie gerät leicht in Panik.

Gretls Besuch

November

Mit Dr. Gretl H., einer Jugend-Psychiaterin aus Graz verbindet mich berufliche Zusammenarbeit von früher. Sie nimmt an meinem Schicksal, was Claudia betrifft, sehr Anteil und hat mir öfter schon wertvolle Hinweise gegeben. Ihr Besuch tut mir gut. Sie beobachtet Claudia und mich eingehend und ich genieße es, daß uns hier eine Fachfrau und Expertin als mitfühlender, wohlwollender Mensch gegenüber sitzt, der es ehrlich und gut mit uns meint.

Ihre Meinung ist dann Balsam in meinen Ohren. Sie meint, Claudia brauche in erster Linie emotionale Harmonie und Stabilität, besonders wichtig wäre die Vermeidung jeder Verunsicherung - nur keine Schreiexzesse aus irgendwelchen erzieherischen Gründen provozieren! Sie empfiehlt eher Nachgiebigkeit und Verwöhnung. Wie sehr sie mir aus der Seele spricht! Aus dem Munde einer Expertin höre ich endlich das, was ich mir für uns beide wünsche. Jetzt darf ich es mir erlauben, ohne schlechtes Gewissen, vielmehr auf Empfehlung einer Expertin! Brauche ich wirklich immer wieder die Bestätigung von außen, damit ich mich mit meinen Gefühlen meinem Kind gegenüber ernst zu nehmen getraue?

Tiefe Geborgenheit erfüllt mich nach Gretls Besuch. Zu hören, daß vor allem Harmonie und emotionale Stabilität wichtig sind für Claudia, das kommt mir fast wie ein Freibrief vor. Ich fühle mich gestärkt und in meinem eigenen Gefühl bestätigt und außerdem: endlich einmal keine Kritik!! Wieviel mußte ich mir schon anhören, nur weil Claudia sich nicht alters entsprechend entwickelt, fast so, als ob das Kind eine "behinderte Mutter" hätte, als ob die Erziehung Ursache für die Behinderung wäre.

Schmerzlicher Alltag

Ich sitze mit Claudia im Warteraum bei der Kinderärztin. Die Wartezeit ist lange. Kinder hüpfen, spielen, sitzen, schauen, jammern. Claudia sitzt auf meinem Schoß. Etwas verschreckt und eingeschüchtert schaut sie zunächst zu, später versucht auch sie in die Spielkiste zu steigen. Ich spüre die Blicke anderer Mütter. Sie treffen zuerst Claudia, dann mich, dann wieder Claudia. Sie sehen offenbar, daß mit Claudia "etwas nicht stimmt". Aber jeder tut so, als wäre nichts - ich auch. Ich mag nicht darüber reden, ich mag mich nicht rechtfertigen, nicht erklären, daß Claudia ein cerebral geschädigtes Kind ist. So sitze ich sprachlos da und warte. Ich beobachte die anderen Kinder und werde wieder einmal traurig, die Konfrontation schmerzt.

Claudias Behinderung ist zu offensichtlich. Ich kämpfe darum, nicht meine Fassung zu verlieren, unterdrücke die Tränen, versuche mich mit Nebensächlichkeiten abzulenken und hoffe insgeheim, daß die Situation bald ein Ende nimmt.

Der Schmerz kommt, der Schmerz schmerzt, er läßt nach, vergeht, er kommt wieder - immer wieder, irgendwie, irgendwann, irgendwo. Claudia ist immer noch gewohnt, mich fast ausschließlich für sich zu beanspruchen. Telefoniere ich, beginnt sie meist zu jammern, oder zu weinen. Ebenso reagiert sie, wenn Besuch da ist. Das macht mich oft recht grantig. Ich will nicht immer nur ihr allein zur Verfügung stehen. Ich will auch für mich Zeit und Ablenkung, und das muß Claudia allmählich lernen zu akzeptieren, und sie kann es nur lernen, wenn ich sie immer wieder damit konfrontiere.

Wie sehr spüre ich gerade in letzter Zeit, daß es mir zu wenig ist, ausschließlich liebende, aufopfernde Mutter zu sein. Da sind in mir noch andere Bedürfnisse, denen ich nachkommen möchte. Ich darf mich von Claudias Bedürfnissen nicht ganz auffressen lassen, will mich nicht in der Beziehung zu Claudia völlig verausgaben und erschöpfen. Gerade weil meine psychische Stabilität für sie ebenso wichtig ist wie für mich, muß ich wieder mehr lernen, auch meinen Bedürfnissen gerecht zu werden.

In der Klinik

Februar

Claudia hat Grippe und sehr hohes Fieber. Ich bin froh und erleichtert, als sie abends endlich einschläft. Ein anstrengender Tag geht zu Ende. Ich sitze neben Claudia am Bett und lese. Plötzlich beginnt sie zu jammern und zu zittern, sie wird am ganzen Körper steif, krampft, ist nicht ansprechbar, - bewußtlos. In Panik renne ich zu meinen Nachbarn, die bringen mich sofort mit Claudia in die Klinik. Dort bekommt sie Injektionen, der Krampf löst sich. Sie wird im Rückenmark punktiert, da der Verdacht auf Meningitis besteht. Claudia muß stationär aufgenommen werden. Unvorstellbar, sie jetzt allein zu lassen. Es wäre ein psychischer Schock für sie, wo sie doch ohnehin so leicht irritierbar ist. Ohne lange zu überlegen, ersuche ich, mich als Begleitperson aufzunehmen, was allerdings voraussetzt, daß Claudia als Privatpatientin geführt wird. Mir ist alles egal, wenn ich nur mein Kind jetzt nicht im Stich lassen muß. Ich will bei Claudia bleiben, um welchen Preis auch immer. Am gleichen Abend noch erfahre ich, Meningitis als Diagnose könne ausgeschlossen werden. Ein EEG wird eine genauere Diagnose ermöglichen.

Nach all der Aufregung und Panik liege ich dann total erschöpft, trotzdem hellwach im Klinikbett neben Claudia. Ich bin zutiefst bedrückt, geschockt, verzweifelt. Was wird noch alles auf uns zukommen! Es besteht der Verdacht auf Epilepsie; ich weiß, was das bedeutet! Wie soll ich auch das noch verkraften? Das geht über meine Kräfte! Im Moment wäre ich glücklich und zufrieden, Claudia wäre nur retardiert. In diesem Zustand größter Anspannung und psychischer Belastung bin ich allein mit meinen Sorgen, eine ganze lange Nacht. Niemand ist da, der mit mir spricht, der mir zuhört, mich versteht, mich entlastet. Das Klima "Klinik" erlebe ich als steril, kompetent, perfekt. Hier finde ich für meine Gefühle keinen Platz - mit all meinen Sorgen komme ich mir hier deplaziert vor. Es kostet mich viel Kraft, das durchzustehen. Nach drei Tagen Ungewißheit werde ich in Ungewißheit entlassen: kein konkreter Hinweis auf Epilepsie, aber auch nicht ganz auszuschließen. Möglicherweise und günstigstenfalls doch nur ein "Fieberkrampf".

Wieder zu Hause, breche ich nach all den Spannungen und Ängsten fast zusammen. Ich fühle mich erleichtert und erschöpft zugleich, - bin voller Sorge, was die Zukunft betrifft. Wie wird das weitergehen? Wann wartet der nächste Tiefschlag auf uns? Wie kann ich lernen, mit all diesen Ängsten zu leben? Ich weiß es nicht. Allein der Gedanke an einen erneuten Klinikaufenthalt schreckt mich.

Wie sehr wünschte ich mir ein bißchen mehr Wärme und Menschlichkeit am Krankenbett. Warum wird nur der medizinischen Leistung, nicht aber auch dem emotionalen Klima gehuldigt? Ist das noch eine humane Medizin, die nur das Funktionieren der Organe sieht, aber den Menschen in seiner Ganzheit dabei vergißt?

Offensichtlich muß mit Sorgen und Problemen jeder Patient irgendwie allein fertig werden.

Wie arm unsere Medizin doch geworden ist!

Wie dringend bräuchten wir Ärzte, die menschlich sein dürfen, mitfühlen können, die nicht selbst unter immensem Leistungsdruck stehen und die für die Sorgen und Probleme der Patienten offen sein können. Ich kenne junge Ärzte, die unter diesem Klima ebenso leiden wie die Patienten selbst. Woran mag es liegen, daß in anderen Ländern die Atmosphäre in den Krankenhäusern ruhig, harmonisch und freundlich ist, bei uns aber kühle Distanz, Hektik und Leistungsdruck das Klima bestimmen?

Meine Karenzzeit geht zu Ende

Frühjahr

Mein drittes Karenzjahr geht im Herbst zu Ende, ich werde wieder in meine Dienststelle zurückkehren und muß für Claudia einen Platz finden, wo sie tagsüber betreut werden kann. Der Zufall hilft mir dabei: Claudia ist vom Baby der Nachbarin sehr angetan. Diese Nachbarin wäre auch bereit, Claudia untertags zu betreuen. Durch den Verdienst als Tagesmutter könnte sie zu Hause bleiben und damit ihr eigenes Kind ein weiteres Jahr selbst betreuen. Mir gefällt der Gedanke ganz gut. Ich sehe auch, wie sehr sich die Nachbarin um Claudia bemüht, das gibt mir Zuversicht, obwohl sie mir persönlich nicht sehr nahe steht. Wir beginnen gezielt, die Kinder langsam aneinander zu gewöhnen, und Claudia lernt in kleinen Schritten mit meiner Abwesenheit umzugehen.

Ehe im Herbst die Doppelbelastung der berufstätigen Hausfrau und Mutter auf mich zukommt, verbringen Claudia und ich zehn Urlaubstage in Kärnten, zusammen mit der frisch promovierten jungen Ärztin, Susi, die zeitweise Claudia betreut, um mich zu entlasten. Ich genieße es zu sehen, wie sich Susi und Claudia mögen, wie beide aufeinander zugehen können und sich gegenseitig herzlich begegnen. Das entspannt mich. Ich kann mich wirklich erholen.

Einerseits freue ich mich wieder auf meine berufliche Arbeit, es wird mir gut tun, mit den psychischen Problemen anderer konfrontiert zu sein, wird mich von meinen eigenen Problemen ablenken und mich vielleicht vor zu viel Selbstmitleid schützen. Andererseits aber fürchte ich die Doppelbelastung, erschwert noch durch die Behinderung meines Kindes, also letztlich schon eher eine dreifache Belastung!

Auch das noch!

September

Seit Claudia ein Jahr alt ist, fällt auf, daß sie manchmal schielt. Deshalb war ich zweimal mit ihr zur Untersuchung in der Augenklinik - jedesmal mit dem Ergebnis, es handle sich nur um "Pseudo-Strabismus". Erst bei einer neuerlichen Untersuchung wird eine sehr starke Weitsichtigkeit diagnostiziert! Auch das noch! Ich bin doppelt betroffen, erstens kommt zu Claudias bisherigen Störungen eine weitere Behinderung hinzu, und zweitens ärgert es mich, daß drei Untersuchungen für die richtige Diagnose notwendig waren und wir damit zwei Jahre versäumt haben. Ich bin wieder einmal über die Ärzte verbittert, immer mit dem Gefühl, bei mehr Vorsorge oder mehr Gewissenhaftigkeit hätte schneller gehandelt werden können. Dann wäre Claudia vom ersten Lebensjahr an schon Brillenträgerin, und ihre Entwicklungschancen wären vermutlich bei intaktem Sehvermögen größer gewesen.

Claudia trägt die Brille von Anfang an gern und ohne Widerspruch. Sie wirkt auch aufgeweckter und interessierter. Ich aber leide, wenn ich Claudia sehe: die starken Gläser vergrößern optisch Claudias Augen, sie bekommt dadurch einen glotzenden Blick und fällt mehr auf als früher.

Claudias viertes Lebensjahr

Tagesmutter

Die Umstellung auf meine Berufstätigkeit hat Claudia erstaunlich gut bewältigt. Sie geht jeden Morgen gerne zur Nachbarin und ist von der inzwischen einjährigen "Jaqueline" recht angetan. Es tut ihr gut, mit einem anderen Kind beisammen zu sein, und die Lösung scheint recht passabel, auch wenn ich Zugeständnisse machen muß: Weil die Nachbarin deklarierte Waldorf-Anhängerin ist, darf Claudia keine ihr vertrauten Spielsachen mitnehmen. Ich setze wenigstens durch, daß ihr heißgeliebter Teddy sie zur Tagesmutter begleiten darf, obwohl auch er nicht der Waldorf-Pädagogik entspricht. Insgeheim ärgere ich mich über diese sehr sture Einstellung. Es scheint mir hier weniger um das Wohl des Kindes, als vielmehr ums Prinzip zu gehen. Ich frage mich, ob das im Sinne Rudolf Steiners ist. Ich selbst bin weder für noch gegen Waldorf-Pädagogik eingestellt, sehe gewisse Vorteile, lehne aber Extremismus ab.

Es ist unmöglich, mit der Tagesmutter über die Waldorf-Idee zu sprechen. Für sie ist es wie ein Glaubensbekenntnis, man muß davon einfach überzeugt sein. Die Toleranz gegenüber "Andersgläubigen" ist gering. Da ich aber grundsätzlich keinen Nachteil für Claudia sehe, wenn sie tagsüber nur mit Waldorf-Spielsachen spielt, akzeptiere ich die Bedingungen.

Fünf Monate später treten plötzlich Probleme auf:

Nach einem längeren Urlaub der Tagesmutter, begegnet diese Claudia plötzlich auffallend reserviert, distanziert, fast abweisend. Ich denke zunächst recht naiv an eine schlechte Tageslaune. Am gleichen Tag passiert es - sicher nicht zufällig - daß Claudia die Hose naß macht, was an sich nur noch selten vorkommt. Die Nachbarin reagiert darauf unverständlicherweise sehr ungehalten, fast aufgebracht, das empört mich. Ich finde nichts dabei, wenn einem dreieinhalbjährigen retardierten Mädchen einmal "etwas passiert".

Ich kann das Verhalten der Tagesmutter nicht begreifen und ersuche sie um eine Aussprache unter vier Augen. Dabei falle ich aus allen Wolken: Ich höre, wie sehr die Tagesmutter mit viel Ehrgeiz bemüht war, Claudias Entwicklungsrückstand in kürzester Zeit aufzuholen. Sie wollte mir - der Psychologin - zeigen, wie man es besser, wie man es richtig macht. Sie war überzeugt, sie würde Claudia schon weiterbringen, Ihre ehrgeizigen Bemühungen jedoch führten nicht ans Ziel, sondern zu Frustration und in der Folge zu Aggression, die sie jetzt Claudia und mich spüren läßt. Weil ihre unrealistisch hohen Ansprüche sich nicht erfüllt haben, ist sie jetzt mir gegenüber voller Vorwürfe. Sie kann ihre eigene Enttäuschung nur schwer verkraften und gibt mir die Schuld.

Nie hätte ich geglaubt, daß sie so wenig Einsicht in Claudias Störung hat, - hatte ich doch ausführlich mit ihr darüber gesprochen. Sie wollte einfach glauben, ich als Mutter wäre schuld an der "Misere" und sie würde das schon korrigieren. Offensichtlich fehlte ihr von Anfang an das Verständnis für Claudias Behinderung. Nach dieser Aussprache bin ich zutiefst betroffen und weiß nur eines: so kann es nicht weiter gehen. Aber was soll ich tun?

Wie sehr Claudia von der ganzen Situation betroffen ist, zeigt sich am nächsten Morgen: sie klammert sich an mich, weint und will um keinen Preis bei der Tagesmutter bleiben. Das war bisher noch nie der Fall. Mir blutet das Herz. Ich muß zum Dienst und muß Claudia dort gegen ihren Willen zurücklassen. Im Moment gibt es keine andere Möglichkeit. Mir ist elend zumute, ich bin voll von Wut und Aggression gegen diese Person. Ich werde Claudia keinen Tag, keine Stunde länger als unbedingt notwendig dieser Tagesmutter ausliefern.

Voller Verzweiflung telefoniere ich mit meiner Mutter, die 75 Kilometer entfernt wohnt. Drei Stunden später ist sie zur Stelle und holt Claudia heim. Wie gut, daß es die "Großi" gibt! "Großi", unser rettender Engel! Claudia und Großi lieben sich sehr. Sie sind sich sehr zugetan und vertraut. Großi übernimmt für die nächsten Monate die Rolle der Ersatz-Tagesmutter.

Oft schon hat meine Mutter ausgeholfen und als Babysitter fungiert. Es war auch immer beruhigend für mich, Großi für den Notfall in "Reserve" zu wissen. Jetzt aber plagt mich die Angst, sie könnte sich überanstrengen, könnte mit ihren 76 Jahren diesen Belastungen doch nicht gewachsen sein. Ich weiß, jeder Tag mit Großi ist ein Geschenk, ein Geschenk für uns alle. Sie ist eine wichtige psychische Stütze, ein emotionaler Ruhepol.

Unser Schicksal nimmt sie, ohne zu jammern oder zu klagen, Sie liebt ihr Enkelkind bedingungslos, da gibt es keine Einschränkungen durch Claudias Behinderung. Was mir meine Mutter so wertvoll macht, ist ihr dezentes Wesen, ihre Güte und Würde. Sie hilft, ohne sich aufzudrängen, äußert ihre Meinung zurückhaltend, ohne Druck auszuüben, sie zeigt Toleranz und Verständnis, auch dort, wo sie anderer Meinung ist. Ich bin glücklich, so eine Mutter zu haben. Könnte ich doch meine Mutter noch möglichst lange genießen! Könnte ich doch Claudia eine annähernd so gute Mutter sein!

Berufsalltag

Wenn ich vom Dienst heimkomme, freue ich mich auf Claudia. Meistens wartet sie schon im Vorraum und begrüßt mich freudig. Verspäte ich mich, wird sie ungeduldig und zeigt auch ihre Enttäuschung; dann kann es passieren, daß sie mein Kommen einfach "übersieht", dann muß ich sie begrüßen gehen und ein bißchen um ihre Gunst buhlen. Es sind täglich nur wenige Stunden, wo ich für Claudia da sein und mich ganz auf sie konzentrieren kann. Wir beide genießen diese Zeit. Vielleicht ist es jetzt sogar leichter, wo ich nicht mehr den ganzen Tag mit ihr zusammen und permanent mit ihrer Behinderung konfrontiert bin. Meine berufliche Tätigkeit lenkt mich ab, da gibt es Probleme, die mich fordern, erfüllen, ausfüllen und ablenken. Ich bin eben nicht nur Mutter.

Solange der Alltag ohne besondere Probleme ist, läuft es. Manchmal fühle ich mich mehr gestreßt, manchmal weniger. Kritisch wird die Situation erst, wenn zusätzlich Probleme auftauchen, vor allem, wenn Claudia krank wird. Gehe ich dann in den Dienst, fühle ich mich elend, weil ich nicht bei Claudia bleiben kann, wo sie mich gerade besonders bräuchte. Bleibe ich zu Hause, muß ich Pflegeurlaub nehmen und fünf Tage im Jahr sind schnell verbraucht. Eine Nacht lang ein hochfieberndes Kind betreuen, übernächtigt in den Dienst gehen, in der Arbeit dann voll einsatzfähig sein, - noch dazu konfrontiert mit den Problemen anderer Menschen, wo die eigenen Sorgen schon riesig sind, - das ist oft wirklich harte Arbeit.

Als alleinstehende berufstätige Mutter fühle ich mich mit fünf Tagen Pflegeurlaub im Jahr benachteiligt gegenüber intakten Familien, wo beide berufstätigen Elternteile je fünf Tage Pflegeurlaub bekommen, also in der Summe genau doppelt so viel. Ist das gegenüber alleinstehenden Müttern nicht ungerecht, wo gerade diese von der Doppelbelastung ohnehin besonders betroffen sind? Die Behinderung eines Kindes sollte - so glaube ich - in der Zahl der Pflegetage außerdem berücksichtigt werden. Betroffene Mütter wie ich müßten vielleicht in der Öffentlichkeit mehr dafür kämpfen, aber gerade solche Mütter haben wenig Zeit und wenig Energie, um auch noch für ihre Rechte zu kämpfen. Schön wäre, es gäbe eine Standesvertretung für uns Mütter!

Kindergarten gesucht

Ich beabsichtige Claudia in einen integrierten Kindergarten zu geben. Im Zusammenhang damit muß ich erstmals "öffentlich" Claudias Behinderung deklarieren und es fällt mir schwer, den Satz auszusprechen: "Ich habe ein behindertes Kind". Ich kann mich mit dieser Tatsache immer noch nicht so recht abfinden. Alles sträubt sich in mir, Claudia mit dem Ausdruck "behindert" zu stigmatisieren, gleichzeitig erkenne ich widerwillig die Fakten an. Innerlich tröste ich mich irgendwo mit dem Gedanken "vorerst behindert".

Die Suche nach einem passenden Kindergarten für Claudia gestaltet sich zu einer wahren Odysee:

Nach einer fixen Zusage eines integrierten Kindergartens, bekomme ich plötzlich wider Erwarten doch noch eine Absage. Ein später angemeldetes, behindertes Kind wird vorgezogen. Die Gründe bleiben unklar, sind auch durch Recherchen nicht eruierbar. Es bleibt für mich der Verdacht, daß Psychologinnen als Mütter nicht sehr willkommen, sondern als fachkompetent und vielleicht kritisch gefürchtet sind. Der unerwartete Widerruf der Zusage bringt mich in einen schrecklichen

Engpaß. Meine Tochter braucht dringend Kontakt zu anderen Kindern, die Förderung durch einen Kindergarten ist für sie ganz wichtig. In einem normalen Kindergarten wäre Claudia überfordert. Findet sich keine Alternative, muß ich Claudia in den Sonderkindergarten geben. Ich bin zutiefst deprimiert und voll Wut.

Aus der Not der Situation verbringe ich mit Claudia einen ganzen Vormittag im Sonderkindergarten. Ich erlebe dort hautnah, wie schwierig es ist, lauter gestörten Kindern innerhalb einer Gruppe gerecht zu werden. Die Kindergärtnerinnen sind nett und bemüht, aber diese Situation zu bewältigen, scheint mir eine unlösbare Aufgabe. Es herrscht Unruhe, Spannung, fast jedes Kind kämpft um Macht und Position. Auffällig erscheinen mir dabei weniger die "eigentlich Behinderten", sondern vielmehr die emotional schwierigen Kinder mit Hospitalisierungssymptomen, starkem Geltungsbedürfnis, Distanzlosigkeit, Aggressivität. Sie sind gegenüber den "Nur-Behinderten" durchsetzungsstärker und beeinflussen stark das Gruppenklima. Wie wird es Claudia da wohl ergehen? Meine arme Claudia, die sich so gar nicht durchsetzen und behaupten kann, die sich so schnell daumenlutschend zurückzieht und in Passivität erstarrt, sobald sie sich einer Situation nicht gewachsen fühlt! Wird sie dem gewachsen sein, ohne auch noch einen psychischen Schaden zu erleiden? Wahrscheinlich wird sie sich ganz abkapseln und jeglichen Kontakt zu anderen Kindern verweigern. Oder wird sie womöglich aggressiv werden, um in einer solchen Gruppe zu überleben? Wie wird das ihr weiteres Sozialverhalten prägen?

Ich bin voll Angst und Sorge. Claudia müßte in eine Gruppe Gleichaltriger sehr behutsam eingeführt werden. Sie bräuchte viel Schutz und Schonraum, um ihre Scheu zu überwinden und allmählich aus sich herausgehen zu können. Im Klima eines Sonderkindergartens scheint mir das unmöglich, auch wenn sich die Kindergärtnerinnen noch so bemühen. Ich bin ratlos, ja verzweifelt.

Plötzlich und unerwartet ergibt sich eine positive Wende. Ich höre von einer privat geführten integrierten Kindergruppe, die bereit wäre, Claudia aufzunehmen. Ein Besuch mit Claudia bei dieser Gruppe macht mich zuversichtlich. Ich spüre, hier kann Claudia das bekommen, was sie braucht. Hier kann sie allmählich lernen, sich zu integrieren, hier wird sie den notwendigen Schutz bekommen, um sich entfalten zu können. So findet eine schmerzliche Odysee doch noch ein gutes Ende.

Kinderfrau gesucht

Nun suche ich auch noch eine Kinderfrau, die Claudia mittags vom Kindergarten abholt und betreut, bis ich vom Dienst heimkomme. Nach den schlechten Erfahrungen mit der Nachbarin, denke ich an eine eher ältere Frau, bei der ein Vergleich zwischen eigenen Kindern und Claudia wegfällt.

Meine Wahl fällt auf eine mir sympathische verheiratete Frau, die schon einen erwachsenen, studierenden Sohn hat. Alle Versuche einer Annäherung scheitern aber kläglich an Claudias konsequenter Abwehr. Sie gibt sich nur verschlossen, unzugänglich, weinerlich und klammert sich an mich. Ich bin wütend, weil Claudia mir einen Strich durch die Rechnung macht, sie ist mit meiner Wahl offensichtlich gar nicht einverstanden.

Mit jedem Versuch muß ich mehr erkennen, daß meine Tochter in ihrer Haltung nicht umzustimmen ist, also bleibt mir nur, klein beizugeben. Nach weiteren Vorstellungen, Kontakten, Zusagen und Absagen, finde ich per Annonce eine 60-jährige Witwe, die selbst drei Kinder und bereits drei Enkelkinder hat und von einer Mindestrente leben muß. Sie ist mir gleich am Telefon sympathisch und diesmal scheint Claudia mit mir offenbar einer Meinung zu sein. Sie ist dieser Frau sehr rasch zugetan, und das ist bis heute so geblieben.

Immer wieder erlebe ich, wie Claudia sich mit instinktiver Sicherheit Leute aussucht, die ihr sympathisch sind. Da weiß sie genau, was sie will. Ihre Kriterien sind für mich undurchsichtig, aber Claudia ist in ihrer Zuneigung unbestechlich. Sie vermag auf ihre Gefühle zu hören, ihnen zu vertrauen und danach zu handeln. Ich hingegen mache es mir mit all meinen vernünftigen Überlegungen, Erklärungen, Begründungen, Rationalisierungen oft schwer, manchmal unmöglich, emotional zu entscheiden. Bisweilen erlebe ich Claudia als junge Knospe, sensibel, zart, weise, voll Ahnung und Intuition, mich hingegen verkopft, verknöchert, verkümmert.

Wie sehr beneide ich oft Claudia um ihre Ursprünglichkeit, Natürlichkeit und Intuition.

Claudias fünftes Lebensjahr

Kindergarten

Die integrierte Kindergruppe, die ich für Claudia gefunden habe, besteht als Verein und beruht auf Privatinitiative. Drei Betreuungspersonen sind für zwölf Kinder zuständig - davon sind zwei bis drei behindert.

Claudia geht von Anfang an gerne in den Kindergarten. AIlerdings kann sie zunächst nur mit den Kindergärtnerinnen Kontakt herstellen, und braucht ganz besonders deren Schutz und Beistand; für sich allein spielt sie kaum, andere Kinder sind ihr eher unheimlich.

Von klein auf fühlt sich Claudia zu Kindern zwar hingezogen, verhält sich dann im Kontakt aber sehr schüchtern, passiv und in sich gekehrt so auch im Kindergarten. Ihre einzige Aktivität besteht zunächst im Schauen und Staunen. Zu Hause aber beobachte ich, wie sie versucht, Gesehenes für sich umzusetzen, nachzuahmen, auszuprobieren. Dabei sind bereits Fortschritte zu erkennen. Claudia wird in dieser Gruppe mit ihren Bedürfnissen und Ängsten akzeptiert und respektiert. Sie bekommt die Geborgenheit, die sie braucht, aber auch Anregungen und Angebote. Weil die emotionale Basis stimmt, kann Claudia ganz langsam aus ihrer Passivität heraussteigen. Dabei hilft ihr die sehr herzliche und liebevolle Beziehung zu ihrer Kindergärtnerin Julia. Zwischen beiden scheint eine starke gegenseitige Zuneigung zu bestehen. Dieser emotionale Rückhalt stärkt und ermutigt Claudia zusätzlich. Allmählich lernt sie ein wenig, sich anderen Kindern zu nähern und etwas selbständiger zu werden. In dieser Gruppe werden die Kinder als Individuen respektiert, Begegnung, Gefühle und Miteinander sind wichtiger als Leistungen. Kreativität hat viel Chance, es wird versucht, dem Kind und nicht einer bestimmten Methode gerecht zu werden, und es werden keine Leistungen als Erfolgsbeweise eingeübt. Wie schön ist es, diese Arbeit gedeihen zu sehen, wie wertvoll für alle Kinder! Hier leben behinderte und nichtbehinderte Kinder miteinander. Hier gibt es kaum Vorurteile, der Alltag bringt sie zusammen.

Die behinderten Kinder sind auf ihre Art beliebt in der Gruppe, sie bekommen viel Aufmerksamkeit und Zuwendung, vielleicht weil sie nicht als Rivalen erlebt werden, vielleicht weil sie emotional ehrlich und offen sind und mit Liebe, Dankbarkeit und Freude auf Zuwendung reagieren. Sie sind fast so etwas, wie eine emotionale Insel innerhalb der Gruppe. Auch die behinderten Kinder untereinander mögen sich sehr. So ist für Claudia z.B. Martin, ein schwerstbehinderter Bub, sehr wichtig. Morgens begrüßt sie ihn mit viel Hingabe, fehlt er, dann fehlt auch Claudia etwas. Sie genießt es, wenn sie ihn füttern darf, ihm gegenüber kann sie stark, tüchtig und hilfreich sein. Vanessa ist um ein Jahr jünger und ähnlich behindert wie Claudia. Claudia fühlt sich ihr überlegen, möchte den Ton angeben, indem sie bestimmt, was gespielt wird. Endlich einmal ist sie die Stärkere. Das tut ihr gut. Als Vanessa nicht mehr in den Kindergarten kommt, ist Claudia traurig und vermißt Vanessa noch lange.

Ich staune, mit welcher Schnelligkeit und mit welch' instinktiver Sicherheit Kinder ihre Stellung innerhalb einer Gruppe erfassen, und zwar unabhängig vom Intellekt. Oft sind Gefühle dem Verstand überlegen. Das kennt jeder von uns: Längst haben wir etwas emotional begriffen, was wir rein verstandesmäßig noch nicht erfassen können. Wir haben nur meist verlernt, auf unsere Gefühle zu hören. Hier können selbst wir Erwachsene noch von den Kindern lernen und ganz besonders von behinderten Kindern.

Die nichtbehinderten Kinder erleben in dieser Gruppe, daß alle Kinder, unabhängig von ihren Leistungen, akzeptiert werden. Darin sehe ich eine ganz wichtige Erfahrung für die gesunden Kinder. Das bedeutet nämlich, daß jeder so akzeptiert wird, wie er ist, auch mit Schwächen und Defiziten. Das wiederum bedeutet, daß kein Kind Angst haben muß, einer Schwäche wegen abgewertet zu werden. Gerade diese Erfahrung wirkt der Leistungsangst entgegen und ist ein guter Nährboden für ein angstfreies Klima.

Die Kinder lernen, daß es schön sein kann, rücksichtsvoll und verständnisvoll gegenüber anderen zu sein. Es ist eine Chance für diese Kinder, vom Prinzip der Macht und Unterdrückung abzugehen, hin zu gefühlvolleren, liebevolleren Beziehungen, wo jeder seinen Platz hat, jeder wichtig ist.

Noch etwas: Es gibt Dinge, die nur Kinder Kindern vermitteln können. Auch die beste Therapie wäre dafür oft kein Ersatz. Kinder sind für Kinder in vielerlei Hinsicht wirklich die besseren Lehrmeister. Sie fördern, ohne zu fordern, sie sind nachahmenswürdige Modelle und ihre Angebote sind wirklich kindgerecht. Gerade bei Claudia sehe ich, welch ungeheure Fortschritte sie gemacht hat, allein durch das Beisammensein mit anderen Kindern.

Leider ist der Weiterbestand der Kindergruppe ungewiß. Dem privaten Verein fehlen die finanziellen Mittel; die intensive Form der Betreuung kostet viel Geld. Die Elternbeiträge decken nur einen Bruchteil der anfallenden Kosten. Durch Bittbriefe, Ansuchen um Spenden und Subventionen versuchen wir, die für unsere Kinder so wertvolle pädagogische Arbeit zu erhalten, aber ohne öffentliche Zuschüsse wird dies nicht möglich sein. Von Behörden und Politikern werden wir auf bestehende öffentliche Institutionen verwiesen, dort gibt es aber bisher keine Integration. Privatinitiativen finden leider kaum Unterstützung, für sie ist im System nur wenig Raum.

Wie schade, wenn unsere Kindergruppe nicht überleben kann!

Ich sehe hier eine Idee verwirklicht, die für uns alle eine Chance sein kann, wieder eine menschlichere Dimension in den Alltag zu bringen,

um vom brutalen Leistungsdenken, Rivalisieren und Konkurrieren wegzukommen. Gemeinschaft ohne Aussonderung!

Wie sehr wünschte ich mir die Integration auch als Möglichkeit in der Schule!

Betroffene Mütter

Bei einer Diskussion zum Thema "Integration" höre ich billige Gegenargumente wie: Integration brauchen wir nicht, das kann man gesunden Kindern nicht zumuten, Behinderte sollen lieber unter sich bleiben. Ich argumentiere als betroffene Mutter, werde aber mit meinen Argumenten nicht wirklich angehört, sondern einfach nur kurz abgetan. Wie doch mit uns "behinderten Müttern" umgegangen wird! Welche Ohnmacht und welche Hilflosigkeit! Einfach abgespeist zu werden, als ob man selbst geistig beschränkt und nicht ganz zurechnungsfähig wäre! Heiliger Zorn steigt in mir hoch. Ich bin entschlossen, mich nicht so behandeln zu lassen, mich gegen diese Form der Mißachtung zu wehren, und weil ich mich als "Nur-Mutter" zu hilflos und ausgeliefert fühle, demaskiere ich mich als Psychologin, wohlwissend, daß das im Moment ein Trumpf in meiner Hand ist. - Siehe da, plötzlich bekomme ich Aufmerksamkeit und Beachtung. Überheblichkeit und Arroganz sind verschwunden. Einerseits triumphiere ich, andererseits aber macht es mich traurig, wieder einmal erfahren zu müssen, wie mit uns betroffenen Müttern umgegangen wird. Wir werden überhört und nicht ernst genommen, wir sind die Schwachen ohne Macht, angewiesen auf die Solidarität und soziale Einstellung anderer, uns kann man ja als Bittsteller behandeln und abweisen, so als ob wir mit unseren Ansprüchen eine Zumutung für die Gesellschaft wären: Mütter mit behinderten Kindern leisten keinen wirklichen Beitrag für die Gesellschaft, sind nur eine Belastung für jeden Steuerzahler, mögen sie sich doch zurückziehen und in Bescheidenheit ihr Schicksal ertragen und uns nicht dauernd ihre Probleme vor Augen führen!

Oft glaube ich diese Einstellung zu spüren. Erst wenn Behinderte zum eigenen Familien- oder Bekanntenkreis zählen, werden viele verständnisvoller und menschlicher, können sich dann eher einfühlen und mit emotionaler Beteiligung reagieren. Gerade auch deshalb wäre es so wichtig, daß Behinderte nicht isoliert und abgeschirmt leben, sondern daß möglichst viel Gelegenheit der Begegnung und des Kontaktes mit dem "Rest der Welt" bestünde.

Stimmungsschwankungen

Oktober

Meine Krankheitsanfälligkeit wächst mit meiner Überbelastung und Überforderung. Nach sehr arbeitsintensiven, anstrengenden Wochen liege ich seit Tagen mit Angina im Bett.

Fast schaut es so aus, als wäre mein Kranksein als Folge der Überlastung eine sehr gesunde Reaktion des Körpers: so komme ich ein bißchen zu mir, weg von Alltag, Streß, Hektik, Terminen. Die Angina zwingt mich zur Ruhe, die ich so dringend brauche - ja trotz Krankheit fast genieße. Dabei wird mir deutlich bewußt, wie wenig Zeit mir doch sonst im Alltag bleibt, wie sehr ich mich verausgabe, ausbeute, erschöpfe.

Jetzt habe ich Zeit für mich - Zeit zum Liegen, Lesen, Schlafen, Denken . . . das ist mein "Krankheitsgewinn", während Claudia im Kindergarten ist und von der Kinderfrau betreut wird.

Mit Faszination habe ich das Buch von Kübler-Ross, "Kinder und Tod" gelesen. Es konfrontiert den Leser mit viel Leid, Tragik und dem schweren Schicksal meist krebskranker Kinder. Genau das scheint mir mein eigenes Leid vorübergehend etwas erträglicher zu machen. Meine eigene Betroffenheit wird relativiert, ich spüre nicht nur mein Elend. Vielleicht ist das nur ein fauler Trick, wenn ich meine eigenen Sorgen mit anderen vergleiche und damit bagatellisiere. Aber die Konfrontation mit den Leiden anderer bewahrt mich vor zu viel Selbstmitleid. Es macht wieder kämpferisch, wenn ich sehe, wie andere ihr Schicksal meistern. Leider hält diese Stimmung meist nicht allzu lange an. Oft und oft empfinde ich mich als Schilfrohr im Wind, als Welle, hin und her, auf und nieder - oft realistisch zuversichtlich, stabil, so als ob ich schon ganz gut mit mir, mit Claudia, mit unseren Problemen zurecht käme, dann wieder sehr deprimiert, traurig, verzweifelt; gerade dann reagiere ich sehr sensibel und mit viel Betroffenheit, dann genügt es schon, wenn ich nur gesunde Babies sehe. Dann kommen wieder die Gedanken, warum muß genau das mein Schicksal sein? Warum nur? Wie schmerzlich zu denken, es hätte vielleicht verhindert werden können, müßte nicht so sein! Schrecklich der Gedanke - ein Leben lang! Dieser Gedanke, er wird uns begleiten, - mich und mein Leben, - Claudia und ihr Leben. So viel Leid, und das vielleicht nur, weil die medizinische Betreuung unzureichend war. Ist das nicht zum Heulen? Viel Schmerz und Wut empfinde ich. Warum hat das passieren müssen? Unwiederbringlich - für Claudia, - für mich, - für uns, - für immer. Wieder einmal hadere ich mit meinem Schicksal, warum nur, warum?

Oft möchte ich mich verkriechen vor der ganzen Welt, habe es satt, mich immer und überall zu rechtfertigen, zu erklären, ständig zu kämpfen. Oft habe ich das Gefühl, als wäre eine Lawine über mich hinweg gedonnert und hätte mich zutiefst im Fundament erschüttert und vieles mitgerissen. Das macht meine Situation existentiell bedrohlich. Wo finde ich Halt, wer gibt mir Halt?...

Ungeachtet dessen aber geht der Alltag in seiner Routine weiter, als wäre nichts. Manchmal geht's besser, manchmal schlechter, aber irgendwie geht es immer. Ich staune, wie sehr ich funktioniere.

Wenn ich dann wieder mein Leid mit dem anderer vergleiche, bin ich volI Dankbarkeit und denke, daß es mir trotzdem noch relativ gut geht. Ich fühle mich fast unbescheiden, wenn ich unzufrieden bin, es könnte ja alles noch viel schlimmer sein.

Aber ich kann mein Leid nicht am Leid anderer messen. Durch meine Trauer muß ich allein hindurch. Werde ich es schaffen, an meinem Leid nicht zu Grunde zu gehen? Ich wüßte ja den Weg, aber ob ich die Größe und Stärke haben werde, diesen Weg auch zu gehen - mit vollem Einsatz, voll Kampfkraft und Entschlossenheit, in innerem Gleichgewicht? Ob ich das schaffe?

Ich habe Angst zu zerbrechen, als Wrack auf der Strecke zu bleiben, an den Klippen des Schicksals zu zerschellen.

Immer wieder plagt mich die Frage: Wie wäre mein Kind ohne diese Schädigung? Nie werde ich es wissen. Wäre es für mich leichter, ich hätte neben Claudia noch andere Kinder und wüßte, wie es ist, gesunde Kinder zu haben? Ich weiß es nicht.

Trotz allem:

In der Begegnung mit Claudia bin ich oft eine glückliche Mutter. Das mag für Außenstehende unbegreiflich sein, umso lauter und deutlicher möchte ich es sagen: Wie jede andere Mutter liebe ich mein Kind und zwar unabhängig von den Problemen, die ich mit Claudia habe. Die Behinderung beeinträchtigt meine Liebe nicht. Ich möchte, daß man mir zugesteht, eine zwar belastete, aber gleichzeitig auch eine liebende Mutter zu sein.

Wenn ich sehr ehrgeizige Mütter erlebe, denen es gar so wichtig ist, was die Kinder schon alles können, machen, sprechen, wünsche ich solchen Müttern oft vorübergehend meine Probleme, damit auch sie alles mit anderen Augen sehen könnten, und ihre Kinder, unabhängig von deren Leistungen wertschätzen und lieben lernten. Claudia reduziert mich auf Wesentliches, auf die emotionale Beziehung, auf Liebe, auf Gefühle; gerade in diesem Punkt habe ich von ihr gelernt. Das versöhnt mich manchmal mit meinem, mit unserem Schicksal.

Besuch der alten Dame

Dezember

Eine alte Dame, selbst Ärztin, kommt mit ihren Enkelkindern auf Besuch. Ich kann Claudia nicht darauf vorbereiten: aus heiterem Himmel stürzen sich zwei kleine Kinder auf Claudias Spielsachen. Claudia sucht weinerlich und verängstigt Schutz auf meinem Schoß, Eine solche Überrumpelung verkraftet sie nicht, sie ist irritiert und klammert sich wie ein Baby an mich.

Ich bin ärgerlich über ihr regressives Verhalten und möchte sie zurechtweisen, aber ich weiß, das würde die ganze Situation nur verschlimmern, sie braucht mich jetzt sehr. Welche Enttäuschung, daß Claudia einen so jämmerlichen Eindruck macht! Ich möchte ein bißchen stolz auf sie sein, aber sie zeigt sich von der denkbar schlechtesten Seite. Sie kann doch oft so lustig, unbekümmert, vergnügt sein, und jetzt sitzt sie als Häufchen Elend auf meinem Schoß. Ich schäme mich, weil es mir in dieser Situation schwer fällt, Claudias Verhalten zu akzeptieren. Daneben bemühe ich mich um Konversation: Es geht darum, was die anderen Kinder schon alles machen, wie konzentriert sie spielen, wie aktiv sie sind . . . Ich leide. Wie kann nur jemand angesichts dieser, meiner Situation mit den eigenen Enkelkindern brillieren wollen? Muß das sein?

Ich wünschte mir mehr Feingefühl. Lobeshymnen über jüngere Kinder, die schon mehr können als Claudia, tun einfach weh, - immer noch und immer wieder.

Ich möchte auf und davon, aber harre "tapfer" aus, laß mir möglichst nichts anmerken, spüre aber Aggressionen hochsteigen. Warum muß mir jemand diese brutale Konfrontation antun? Oder bin ich zu empfindlich?

In solchen Momenten spüre ich nur noch Schmerz, ich fühle mich wie eine einzige klaffende Wunde, die nie heilen kann. In dieser beinahe unerträglichen Situation sagt mir die Dame auch noch so, als Kontrast zu ihren Kindern und Kindeskindern: "Du hast wohl ein schweres Schicksal zu ertragen".

Ich bin zu betroffen von diesem Mitleid, es nimmt mir die Luft, ich muß Tränen unterdrücken. Mit letzter Energie versuche ich meine Gefühle abzublocken. Kühl, distanziert und anscheinend souverän höre ich mich sagen, "ja, das ist nun einmal so, damit muß man leben". Damit versuche ich dieses Thema endgültig zu beenden - aus Angst, der Damm könnte brechen und mich als heulendes Elend zurücklassen. Noch mehr Mitleid könnte ich nicht ertragen und wirkliches Verständnis kann ich nicht erwarten. Darum versuche ich so gut es geht, mich

mit meinen Gefühlen zu verschanzen und die Situation zu überstehen. Nach dem Besuch sitze ich wieder einmal tief im Loch, Tränen steigen hoch, der Schmerz ist unermeßlich, ich bin unsagbar traurig und völlig aus dem Gleichgewicht.

"Meine Ruhe ist dahin " Ich sehe Claudia plötzlich wieder einmal mit objektiv distanziertem, diagnostizierendem Blick: Bei allem, was sie sagt und tut, sehe ich ihren Rückstand, all das, was sie noch nicht kann, all das, was ihr im Vergleich zu Gleichaltrigen oder Kleineren fehlt. Diese Nüchternheit ist qualvoll für mich als Mutter. Ich fühle so viel Distanz zu Claudia, die Liebe ist wie verschüttet. Ich bin unglücklich, angespannt, gestreßt, aggressiv, ich verstehe mich selbst nicht mehr. Was kann mich in der Beziehung zu Claudia so irritieren?

Ganz langsam und allmählich kapiere ich, daß ich mich vom Leistungs- und Erfolgsdenken dieser Ärztin habe anstecken lassen, ihre Werthaltung übernommen habe, die da lauten mag: "Nur wer leistet, ist wertvoll". Nach dieser Erkenntnis kann ich mich allmählich bewußt davon distanzieren und beginne, mich wieder Claudia emotional zu nähern. In der Folge fühle ich mich schuldig. Ich habe vorübergehend unsere Beziehung durch die heilige Kuh "Leistung", stören lassen, die sich so aus heiterem Himmel brutal und zerstörerisch eingeschlichen hat.

Offensichtlich bin ich dem Leistungsdenken immer noch sehr verhaftet. Ich will daraus lernen, - im Interesse wahrer Liebe. Ich will doch Claudia ohne Bedingungen lieben, und meine Liebe zu Claudia nicht von ihrer Leistung abhängig machen. Werde ich es schaffen, meinem Kind gerecht zu werden? Zweifel nagen an mir. Ausgelöst durch die frustrierende Situation mit der alten Dame fühle ich mich verunsichert, ich zweifle an mir und meiner Erziehung. Dementsprechend auch meine Gedanken: mache ich vielleicht gravierende Fehler ohne es zu ahnen? Oft schon haben Mütter nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, und es war schlecht für die Kinder.

Ich kann doch nicht davon ausgehen, daß nur andere Mütter schwerwiegende Fehler machen. Ich möchte Claudia die bestmögliche Mutter sein. Gehe ich den richtigen Weg? Wenn ich mich unsicher und deprimiert fühle, - wie im Moment - glaube ich, andere könnten es vielleicht besser. Wäre Claudia womöglich schon weiter, wenn ich als Mutter konsequenter, energischer, fordernder und vielleicht damit fördernder wäre, kurzum, wenn ich eine andere Mutter wäre?

Ich kenne diese Neigung, mich schlecht und klein zu machen, dann sehe ich nur die Leistung und Tüchtigkeit anderer und daneben meinen eigenen "Scherbenhaufen", vor dem ich sitze. Es ist ein grausames Spiel, das ich mit mir treibe, ich kann es aber nicht einfach abstellen.

Immer wieder gerate ich in solch einen Sog. Jetzt kann ich nur hoffen, da wieder heraus zu kommen und allmählich mein Gleichgewicht wieder zu finden.

Die vorweihnachtliche Stimmung macht es mir auch nicht leichter, wo doch alles so beschaulich, besinnlich und harmonisch ist. "Oh Du fröhliche Weihnachtszeit".

Mitten in diese meine Stimmung hinein fällt der Besuch meiner Schwester. Ich spreche mit ihr über meine Bedrücktheit, über meine Sorgen und meine Verbitterung. Wieder einmal sind die möglichen Ursachen von Claudias Behinderung das Thema. Meine Schwester, die zur Zeit meiner Schwangerschaft in einer Gebärklinik gearbeitet hat, erzählt mir, sie erinnere sich noch genau, meine Hormonwerte wären drei Wochen vor der Geburt sehr schlecht gewesen und sie habe sich gewundert, daß eine medizinische Intervention ausblieb und mir nicht zumindest eine Infusion angehängt wurde. Sie wollte mich damals nicht verunsichern und vertraute darauf, daß ich ja in bester ärztlicher Betreuung wäre- beim Professor höchstpersönlich.

Dieses Gespräch stürzt mich in noch tiefere Trauer: Waren da offensichtlich handfeste Anzeichen und es wurde nichts getan? Wieder taucht in mir die Frage auf, warum hat der Arzt damals nichts unternommen? Tagelang komme ich davon nicht los. Immer wieder steigen mir Tränen hoch. Ich spüre wieder so viel Schmerz in mir, könnte schreien und heulen zugleich. All das, von dem ich glaubte, ich hätte es schon bewältigt, ist wieder da.

Ich glaube, mein und Claudias Schicksal lagen damals in den Händen des Professors, und der hat uns nicht wichtig genommen. Hätte ich das Gefühl, der Arzt wäre in seiner Funktion überfordert gewesen, hätte sein Bestes gegeben, aber es nicht besser gekonnt, könnte ich ihm vielleicht noch Verständnis entgegenbringen. Mir aber bleibt das Gefühl, es war nicht Unvermögen, sondern Leichtfertigkeit - und dafür hasse ich ihn - vielleicht mein Leben lang.

In dieser finsteren Stimmung tut es mir gut zu sehen, wie sehr meine Schwester Claudia liebt, wie beide miteinander vergnügt sind. Claudia ist ihrer Tante Heidi sehr zugetan. In dieser liebevollen, herzlichen Begegnung spielt die Behinderung keine Rolle. Da ist die kleine Welt in Ordnung. Das macht es mir leichter, allmählich doch wieder mein Stimmungstief zu überwinden. Wieder einmal muß ich mühsam den Weg aus der Tiefe emporsteigen und weiß gleichzeitig, diesen Weg werde ich noch oft, immer wieder gehen müssen. Immer wieder werden kleine, äußere Anlässe mein labiles Gleichgewicht erschüttern können und mich in die Tiefe stürzen. Ich hoffe, daß mir diese Tiefen mit der Zeit vertrauter werden und dann vielleicht nicht mehr ganz so bedrohlich sind. Vielleicht gelingt es mir später einmal, wenigstens die Vergangenheit zu bewältigen; die Sorgen um die Zukunft meiner Tochter werden mir wohl bleiben.

Mein Alltag mit Claudia - heute

Claudia geht nach wie vor gerne in den integrierten Kindergarten. Gleichaltrigen gegenüber ist sie inzwischen kontaktfreudiger, sie kann sich sprachlich jetzt ganz gutverständlich machen, damit wird sie auch durchsetzungsfähiger. Manchmal gelingt sogar ein vollständiger Satz. Bei einfachen "Turnübungen" ist sie noch sehr ungeschickt, aber neuerdings hat sie Spaß daran, sich zu bewegen - das ist ein Fortschritt. Leider vermag sie nicht rasch genug zu reagieren, wenn sie hinfällt, dadurch ist sie sehr verletzungsgefährdet, und mir bleibt oft förmlich das Herz stehen, wenn ich solche Gefahrenmomente miterlebe. Vor allem beim Stiegensteigen und Bergabgehen ist sie noch unsicher, und ich reagiere entsprechend ängstlich.

Claudias Freude an der Bewegung aber macht mir Mut, sie ist dadurch von sich aus motiviert und lernwillig, vielleicht wird sie auch bald Spaß daran haben zu zeichnen - vorerst kritzelt sie nur eher unwillig.

Schon lange gibt es keine Probleme mehr mit Claudias Sauberkeit. Auch kann sie allein mit dem Löffel essen. Der Alltag läuft eigentlich ganz gut.

Auch hat Claudia eine gute Beziehung zu ihrem Vater, was sehr wertvoll ist. Er besucht sie regelmäßig und nimmt sie auch öfter auf Urlaub mit.

Was mich aber immer wieder belastet, ist die Frage, ob ich Claudia wohl auch ausreichend fördere. Gerade weil ihre Lernkapazität eingeschränkt ist, müßte jede Phase ihrer Lernbereitschaft optimal genutzt werden. Oft habe ich Angst, da etwas zu versäumen. Ich weiß, daß Claudias Entwicklungsrückstand durch eine cerebrale Schädigung bedingt ist, daß Gehirnzellen, die zerstört sind, nicht reaktivierbar sind, aber ich weiß auch, daß durch gezielte Förderung die vorhandenen Gerhirnzellen teilweise Aufgaben der zerstörten Hirnzellen übernehmen können.

Es gibt somit nur die Möglichkeit, durch Übung und Training Claudias Defizite bestmöglich zu kompensieren. Das ist eine große Verantwortung für mich!

Gerne nütze ich daher jene therapeutischen Angebote, von denen ich mir für Claudia oder für mich Anregungen verspreche:

So gehe ich regelmäßig mit meiner Tochter zu Christine, einer Ergotherapeutin an der CP-Ambulanz in der Klinik. Ihr gegenüber ist es Claudia gelungen, allmählich und ganz behutsam eine sehr vertraute Beziehung aufzubauen. Christine bastelt, baut, zeichnet, spielt und turnt mit ihr. Dank des emotional guten Klimas ist Claudia immer wieder bereit, Widerstände zu überwinden, über ihre Grenzen hinauszugehen und Fortschritte zu machen. Auch ich bekomme dabei Anregungen für zu Hause. Christines Arbeit ist für uns beide wertvoll. Monatlich fahre ich mit Claudia nach München zur Montessori-Therapie, - eine Therapie, die ich vom Ansatz, vom Konzept her sehr schätze. Leider gibt es im Umkreis von Innsbruck keine Möglichkeit für diese Form von Therapie, und bei der Distanz Innsbruck- München (150 km) ist eine regelmäßige wöchentliche Betreuung nicht möglich. So ist diese Förderung eher nur als Anregung für meine Arbeit mit Claudia zu verstehen: Was ich bisher gelernt habe, ist, Claudia beim Spielen mehr Führung zu geben, klar zu strukturieren, wenn es um Planung und Ausführung geht, und das Begonnene auf alle Fälle auch zu beenden, - wenn nötig mit Hilfestellung.

Dieses gezielte Herangehen an eine Aufgabe und die konsequente Durchführung scheint mir eine gute Schulung für Claudia.

Klare Richtlinien geben Struktur und Struktur gibt Halt. Claudia liebt diese klare Strukturierung, sie gibt ihr Sicherheit.

Vor über einem Jahr habe ich zum ersten Mal von der Reit-Therapie gehört, die angeblich für Spastiker schöne Erfolge bringt, und zusätzlich psychisch stabilisierend wirkt. Von der Klinik aus ist Claudia für eine Reit-Therapie nicht vorgesehen; sie ist medizinisch in dieser Richtung nicht förderungswürdig, sie ist ja nicht spastisch. Trotzdem ist sie in ihren Bewegungen retardiert und unsicher.

Ich habe mich entschlossen, auf eigene Kosten mit Claudia reiten zu gehen. Seit über einem Jahr reitet sie jetzt regelmäßig auf einem Islandpferd, das am Halfter geführt wird. Anfängliche Verkrampfung, Anspannung und Ängstlichkeit sind längst überwunden. Claudia sitzt ohne Sattel auf dem Pferd, oft schon ohne sich mit den Händen zu halten. Sie hat dabei viel Spaß, es tut ihr in jeder Hinsicht gut. Vor und nach dem Reiten darf sie das Pferd mit Karotten und hartem Brot füttern und in den Stall oder auf die Koppel führen. Das fördert zusätzlich die Beziehung zum Pferd.

Überhaupt vermag meine Tochter Tieren gegenüber nach anfänglicher Zurückhaltung, sehr aus sich herauszugehen. Das gilt ganz besonders für "Anke", ihren Lieblingshund, der uns oft besucht und auch manchmal bei uns wohnt. Hier spürt Claudia einerseits Überlegenheit und genießt diese, lernt aber andererseits auch die Toleranzgrenze des Hundes kennen und respektieren, nämlich dann, wenn dieser zu knurren beginnt. Die Erfahrungen mit Tieren scheinen mir für Claudia sehr wertvoll zu sein.

Seit kurzem gehe ich mit Claudia auch noch zu einer Physikotherapeutin, um gegen ihre schlechte Körperhaltung anzukämpfen. All diese Fördermaßnahmen sind sehr zeitaufwendig für mich - zusätzlich zu acht Stunden Arbeit im Beruf. Aber ich glaube, diese Therapien tun Claudia gut.

Wenn ich nach Arbeit und zusätzlicher Therapie abends endlich müde nach Hause komme, wartet noch die Hausarbeit auf mich. Dann erreiche ich oft meine oberste Leistungsgrenze mit dem Gefühl: "ich kann nicht mehr". Dann muß ich mich fragen, wie viel zusätzliche Beanspruchung ich überhaupt noch verkraften kann. Ich fühle ganz genau, auch im Interesse meiner Tochter darf ich mich nicht überlasten. Ich muß in Zukunft sorgsam kalkulieren, wann eine zusätzliche Förderung für Claudia, für mich zur Überforderung wird. Dies zu entscheiden, scheint mir fast ein Balanceakt zu sein. Meine psychische Ausgeglichenheit und körperliche Gesundheit sind aber mindestens ebenso wichtig für Claudia wie jede weitere Förderung.

Kommen zum Alltag noch Probleme im Beruf oder privat hinzu, erlebe ich echte Bedrängnis, fast existentielle Not. Der Alltag ist dann fast zu brutal.

Wie gut ist es da, daß es in solchen Momenten gute Freunde gibt, die mich psychisch stärken, einfach nur da sind, oder mir hilfreich beistehen.

Wie wird es weitergehen?

Vorerst macht mir Claudias Einschulung große Sorgen. Ich bin ziemlich ratlos, habe zwar noch ein Jahr Zeit, aber die Zeit drängt, und ich muß eine Lösung finden. Wo gibt es für Claudia eine adäquate Schule? Eine "Allgemeine Sonderschule", in der behinderte, verhaltensgestörte, hospitalisierte, milieugeschädigte und aggressive Kinder zusammengewürfelt sind, scheint mir für Claudia die denkbar ungünstigste Lösung. Aggressiven Kindern gegenüber ist sie nach wie vor hilflos, sie wäre dort diesen Kindern ausgeliefert. Ich fürchte, sie würde sich rasch verschreckt abkapseln und in sich zurückziehen. Das wäre vielleicht prägend für ihr weiteres Sozialverhalten. Ich möchte diese Entwicklung tunlichst vermeiden. In diesem Zusammenhang beschäftigen mich dieselben Probleme wie damals bei der Wahl des Kindergartens.

Lasse ich Claudia privat unterrichten, beraube ich sie der Klassengemeinschaft, wo doch für sie der Kontakt zu Gleichaltrigen so besonders wichtig ist.

Ich hoffe sehr auf die Möglichkeit schulischer Integration für Claudia. Ich bin überzeugt, daß es für sie die beste Lösung ist. Deshalb werde ich auch keine Mühe scheuen, dafür zu kämpfen.

Natürlich weiß ich, daß es ganz bestimmter, guter Bedingungen bedarf, damit Integration auch gelingt: Es muß das soziale Umfeld stimmen, in das Integration eingebettet wird; Integration solle nicht als Zwangsmaßnahme verfügt werden, sollte auf Freiwilligkeit basieren; Eltern sollten ihre Kinder auf eigenen Wunsch in eine integrierte Klasse geben können, und beide Lehrkräfte sollten sich für diese Form des Unterrichts freiwillig zur Verfügung stellen und zur Zusammenarbeit bereit und fähig sein.

Was mir bei schulischer Integration besonders gefällt:

  • Keine Aussonderung, gesunde und behinderte Kinder können gemeinsam aufwachsen

  • Zwei Lehrer in der Klasse bedeuten für jedes Kind zwei Bezugspersonen.

  • Leistungen werden untereinander nicht verglichen, jedes Kind lernt, auf einem ihm entsprechenden Leistungsniveau bestmöglich zu arbeiten.

  • Die herkömmliche Ziffernbenotung entfällt, sie kann den Bemühungen und Anstrengungen des einzelnen Kindes ohnehin nicht gerecht werden, vielmehr werden der jeweilige individuelle Leistungsstand und der daraus folgende Lernschritt besprochen - in Form verbaler Beurteilung.

  • Die soziale Komponente findet besondere Beachtung: das Für- und Miteinander steht einem zu harten und ausschließlichen Leistungsdenken entgegen.

Wie schön, Claudia könnte all' das erleben und erfahren!

Aber auch für gesunde Kinder - so glaube ich - ist Integration eine echte Chance.

Der Vorteil für gesunde Kinder:

Verstärkte individuelle Förderung kann gerade sehr begabten Kindern zugute kommen, sie müssen sich nicht langweilen, sondern werden eben auch ihrem Leistungsniveau entsprechend gefördert, ohne zu Überheblichkeit erzogen zu werden, weil ja Leistungsvergleiche entfallen. Gute Arbeitshaltung kann sich aber entwickeln, wenn jedes Kind adäquat gefordert wird. Überforderung ist ebenso schlecht wie Unterforderung. Um einseitige intellektuelle Förderung zu vermeiden, wird auf die soziale Erziehung besonderer Wert gelegt. Es wird nicht nur Wissen vermittelt, die Bildung der Gesamtpersönlichkeit steht im Mittelpunkt. Wissen ist Macht und Macht ist Verantwortung und um später einmal Verantwortung zu tragen, bedarf es ganzer und nicht nur auf Leistung reduzierter Persönlichkeiten.

Ist das nicht ein sehr erstrebenswertes Ziel für alle unsere Kinder? Wünschen wir uns nicht auch alle ein bißchen mehr Menschlichkeit und ein bißchen weniger Konkurrenzdenken für unsere Kinder? Integration sehe ich als Chance.

Manche Eltern fürchten, daß bei weniger Leistungsdruck die Kinder faul und bequem werden, das Gegenteil ist aber der Fall. Angst macht dumm, Freude hingegen fördert die Kreativität, die Motivation steigt und die Lernkapazität nimmt zu. Wie schön ist es, Kinder lustvoll lernen zu sehen, wenn sie Spaß an der Arbeit haben, weil sie nicht besser als andere sein müssen. Wie schrecklich hingegen, Kinder verspannt, bedrückt und lustlos beim Lernen zu erleben, wo Angst und Widerwille dominieren und all die schöpferischen Kräfte verschüttet werden! Schulische Integration verlangt eine Abkehr von übertriebenem Leistungsdenken. Leistungsdruck soll durch Motivation ersetzt werden. Immer mehr Eltern lehnen einseitige intellektuelle Förderung ihrer Kinder ab und legen mehr Wert auf Persönlichkeitsbildung. Gerade diese Eltern plädieren dann auch für Integration.

Die Barrieren, einen Schulversuch mit Integration zu erreichen, sind bei uns in Innsbruck leider noch hoch. Ich aber bin voller Hoffnung und, wenn nötig, auch voller Kampfbereitschaft für mein Kind, für seine Zukunft . . .

Wird mein Kampf ein harter Kampf werden? - Ein ungleicher Kampf als Gegner gewaltige, mächtige Institutionen?

Oder ist die Integrationsidee schon zu bekannt und genügend Eltern ebenso wichtig wie mir?

Sind wir vielleicht schon eine breite Front?

Weil ich von der Integrationsidee so sehr überzeugt bin, bin ich auch davon überzeugt, daß sich diese Idee nicht mehr aufhalten lassen wird, es ist nur eine Frage der Zeit, für Claudia habe ich aber nur mehr ein Jahr Zeit.

Und wie wird es nach der Schule weitergehen? Wie wird Claudia sich weiterentwickeln? Wird sie später einmal selbständig leben können? Wird sie berufsfähig sein, oder wird sie einer Institution bedürfen, die sie umsorgt?

Auf all diese Fragen gibt es keine Antwort. Die Zukunft liegt im Dunkeln.

Ich denke, so lange ich lebe, werde ich für Claudia sorgen können. Aber was wird, wenn ich einmal nicht mehr bin?

Ich weiß, es gibt Institutionen, die sich die Betreuung Behinderter zur Aufgabe gemacht haben. Das beruhigt mich zwar einigermaßen, aber wer wird später einmal emotional für Claudia da sein, wo sie doch so viel Liebe braucht, so viel mehr emotional mitbekommt als sie rational zu verstehen vermag? Wird Claudia stark genug sein, für sich emotional zu sorgen, Beziehungen herzustellen und sich zu behaupten? Wird sie den Härten dieses Lebens gewachsen sein? Wird sie für sich einen Platz finden, den sie ausfüllt und der sie erfüllt? - Oder erwarte ich zu viel?

Im Hinblick auf die Zukunft, scheint es mir wichtig, Claudia gerade in ihrem Sozialverhalten möglichst zu fördern, sodaß sie von sich aus Kontakte herstellen und Beziehungen aufbauen lernt. So könnte ihr vielleicht später einmal emotionale Isoliertheit erspart bleiben.

In die Zukunft blickend beschäftigt mich außerdem immer wieder die Frage, ob und wie sehr Claudia später einmal ihre Behinderung erkennen und darunter leiden wird.

Bis heute, scheint mir, hat sie nicht bewußt registriert, daß ihr Gleichaltrige sowohl körperlich als auch geistig weit überlegen sind. Unbewußt spürt sie aber ihre Unterlegenheit längst, weil sie auch sehr rasch mitbekommt, wenn sie einmal die Überlegene ist.

Wird Claudia in ihrer intellektuellen Entwicklung so weit kommen, daß sie ihre Behinderung im Vergleich zu anderen erkennt? Intellektuell wäre das ein Fortschritt. Emotional aber würde diese Erkenntnis belasten und Minderwertigkeitsgefühle sehr begünstigen. Was ist also besser für Claudia: "Selig die Armen im Geiste, . . ." oder Erkennen der eigenen Unfähigkeit? Ich weiß keine Antwort.

In diesem Zusammenhang habe ich mich in letzter Zeit oft gefragt, was wohl das härtere Schicksal ist? Eine körperliche Behinderung bei klarem Kopf und Verstand, oder eine geistige Behinderung, die vor der Klarheit dieser Erkenntnis schützt.

Wäre Claudia "nur" körperbehindert - was auch ein hartes Schicksal wäre - könnte sie durch die Mächtigkeit ihres Intellekts später eher für sich sorgen: Eine adäquate Ausbildung und spätere Berufstätigkeit wären möglich, gerade auch weil die heutige Technik Körperbehinderungen sehr entgegenzukommen vermag. Bei einer geistigen Behinderung sind diese Grenzen und Möglichkeiten viel enger. Das ist auch die Realität für Claudia. Weil aber Claudias Stärke vor allem im emotionalen Bereich liegt und sie hier sehr viel zu geben vermag, könnte das in unserer doch eher emotionsarmen Zeit für Claudia eine Chance sein. Ich jedenfalls habe diese Hoffnung.

Ich bin anders geworden

Immer schon war mir mein Beruf wichtig, und ich war mit viel Engagement dabei. Früher trieb ich zum Ausgleich viel Sport: Schifahren, Langlaufen, Tennis, Schwimmen, Jogging, Konditionstraining. Dabei genoß ich die Gesellschaft und Geselligkeit anderer.

Es war mir unvorstellbar, auf all diese Aktivitäten eines Tages verzichten zu müssen. Heute habe ich für sportliche Aktivitäten weder Zeit, noch Energie, sodaß mir der Verzicht auf Sport nicht einmal schwer fällt. Habe ich einmal etwas Zeit, sehne ich mich nach Ruhe, Beschaulichkeit, Entspannung, weil mein ganzer Tagesablauf voll von Aktivitäten, Terminen, Streß und Arbeit ist. Mein früheres sportliches Leben war unbekümmerter, unbeschwerter, fast sorglos, trotzdem möchte ich heute nicht mehr tauschen. Durch Claudia bin ich wichtig geworden und habe eine große Aufgabe zu erfüllen.

Meine veränderte Lebenssituation hat sich auch auf meinen Freundeskreis ausgewirkt: Der Kontakt zu früheren Sportkollegen hat sich notgedrungen reduziert, und einige wenige meiner früheren Freunde haben sich zurückgezogen. Ob für sie meine Belastungen zu belastend sind, ob sie mit Behinderung nicht konfrontiert werden wollen, oder ob Claudia kein adäquater Spielgefährte für ihre Kinder ist - ich kenne die Gründe nicht. Ich habe auch nichts unternommen, diese zu eruieren, es wäre zu schmerzlich für mich, allein schon die Enttäuschung tut weh.

Die meisten Freunde aber sind mir geblieben. Sie akzeptieren Claudia genauso wie mich, sie stehen zu uns, ohne uns mitleidvoll zu begegnen. Das ist schön und wertvoll für mich!

Meine kleine Lehrmeisterin

Die Form von Liebe, die mir durch Claudia begegnet, war mir bis dahin unbekannt. Nie konnte ich mit solcher Entschlossenheit und Absolutheit jemanden lieben. Immer waren da Vorbehalte. Durch mein Kind lerne ich jetzt vorbehaltlos zu lieben. Viel hat mir Claudia schon beigebracht. Wer weiß, wo ich ohne meine kleine Lehrmeisterin heute stünde!

Claudias Liebe ist unbekümmert, ehrlich, spontan. Sie sagt und zeigt, was sie braucht. Sie holt sich Liebe ebenso, wie sie sie gibt oder auch verweigert. Sie riskiert Gefühle, zeigt Ablehnung ebenso offen wie Zuwendung, sie ist mutig, ohne bewußt mutig zu sein. Sie ist intuitiv, voll Vertrauen, Liebe und Zuversicht. Wenn ich Claudia diese Spontaneität nur erhalten könnte!

Ich bin durch Claudia voll von Liebe, das macht mich reich, füllt mich aus. Ich erlebe viel mehr Begegnung, mehr Miteinander, mehr Füreinander. Zwar muß ich einen sehr steinigen Weg gehen, der Einsatz ist hoch - aber auch der Lohn. Claudia macht mich reifer, ruhiger, engagierter. Kein anderer hätte mich das so eindringlich lehren können. Sie lehrt mich Liebe und hilft mir, mich vom übermäßigen Leistungsdenken zu befreien. Sie reduziert mich auf wahre Werte. Ich komme durch Claudia zum Wesentlichen im Leben, denn die wesentlichen Dinge des Lebens liegen eben im Verborgenen.

Heidi Praxmarer: Integration und Therapie : Reflexionen einer Physikotherapeutin

Bei meiner Ausbildung zur Physikotherapeutin lernte ich als erstes und sehr genau den gesunden, normalen Körper kennen - Knochengerüst, Muskulatur, Nerven- und Hirnfunktionen, Bewegung, Empfindung, Kreislauf, Stoffwechsel . . .

Alles, was von der Norm des Gesunden abweicht, braucht Therapie - im Bereich der Bewegung also mich.

Nach meiner Ausbildung begann ich 1966 meine Arbeit im "Elisabethinum", einem Heim für körperbehinderte Kinder. Natürlich war mir damals klar, daß bei diesen Kindern ein Heilen als "Normalmachen" nicht möglich war.

Wunsch und Anspruch zu heilen, mindestens zu bessern, der Norm anzugleichen, waren aber sehr mächtig; - sie kamen von mir selbst, von überweisenden Ärzten und den Eltern.

Und so sah das "Diktat der Therapie" dann aus: Richtig - falsch, falsch - richtig, und alles bezog sich auf die "gesunde Norm" , eine Norm, die für meine Patienten ewig unerreichbar bleiben würde.

In der Praxis verleitete dies nur allzu oft dazu, den Kindern zu vermitteln: "Was Du machst, ist nicht richtig, wie Du es machst, so ist es falsch". Auch hatte die Praxis unserer Arbeit nur wenig mit der Bewältigung des Alltags zu tun und war losgelöst von den Bedürfnissen der Kinder. So bekam ich einmal ziemliche Schwierigkeiten, als ich mit einem Mädchen zusammen seinen Rollstuhl flickte. Reifenwechsel und Patschenflicken trugen zwar wesentlich mehr zu ihrer Fortbewegung bei als jegliche Gymnastik, entsprachen aber nicht meinem Auftrag als Therapeutin. Damals schon spürte ich, wie wichtig es wäre, dem Kind zu helfen, seine Fähigkeiten in Alltagshandlungen zu integrieren und durch entsprechend einfühlsame Angebote die selbständige Weiterentwicklung des Kindes im Rahmen seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten zu fördern.

Nach zwei Jahren Arbeit besuchte ich den "Bobath-Kurs". Bobath-Therapie ist eine Spezial-Methode zur Behandlung cerebral gelähmter Kinder. Dort lernte ich, wie und wodurch Behinderungen entstehen, lernte die Mechanik und die sensorischen Zusammenhänge der Bewegung kennen. Ich lernte auch Kontrollpunkte, Schlüsselpunkte und reflexhemmende Stellungen kennen, lernte das Verhindern falscher Bewegungen und das Fascilitieren richtiger Bewegungsabläufe. Ich lernte, Defekte aufzuspüren und an ihnen zu arbeiten. Unsere Patienten wurden sogar nach dem jeweiligen Defekt benannt: der Spastiker, der Querschnitt, die Hemiplegie. Gerade daran merkte ich aber, wie sehr auch bei der Bobath-Methode die Kinder mit ihren jeweiligen Behinderungen in ein Schema gepreßt werden und wie wenig auf ihre Individualität eingegangen wird. Bei einem zusätzlichen Seminar berichtete eine Referentin, daß sie bei Kindern mit Halbseitenlähmung die Entwicklung der gesunden Seite so lange unterdrücke, bis die kranke Seite aufgeholt habe.

Die Bobath-Ausbildung war gut für mich, denn sie hat mir mehr und andere therapeutische Möglichkeiten aufgezeigt, und mein Blickwinkel hat sich erweitert.

Eine neuerliche persönliche Standortbestimmung drängte sich bald darauf durch die Geburt meiner eigenen Kinder auf. Für mich war von vornherein ganz klar, daß ich sie auch im Falle einer Behinderung nie einer "Institution" übergeben würde.

Jahre später las ich eine Broschüre von Monika Aly - und, dadurch angeregt, ihr Buch "Kopfkorrektur". Darin las ich zum ersten Mal von Professor Adriano Milani Comparetti und wie er Behinderung, Therapie und Integration sieht. Er bezeichnet die Ausgliederung Behinderter als einen Abwehrmechanismus des sogenannten Normalen, Gesunden. Er fordert die Integration des Behinderten in das System der sozialen Bindungen, seine Eingliederung in das Schul- und Arbeitsleben und den Abbau von Barrieren. Als grundlegende Arbeitsform sieht er die Teamarbeit, um der Ganzheitlichkeit des Menschen gerecht zu werden. Er meint damit, daß es falsch ist, einzelne Probleme isoliert durch die jeweiligen Fachkräfte zu bearbeiten. Für ihn ist Therapie auch keine Abfolge von therapeutischem Reiz und Antwort des Behinderten, sondern eine kreative Folge von Vorschlag und Gegenvorschlag im offenen Dialog. Letztlich geht es ihm also um die Zusammenführung verschiedener Sichtweisen in ein komplexes Gesamtbild.

Die Ansichten Comparettis haben mich sehr beeindruckt. Sicher haben aber auch all die kleinen alltäglichen Erfahrungen und Erlebnisse zu meiner heutigen Auffassung des Therapeutenberufes beigetragen und prägen so meine Arbeit. Wichtig scheint mir, daß ich heute nicht mehr isoliert arbeite. Oft brauche ich den Erfahrungsaustausch und die Zusammenarbeit mit anderen Fachleuten. Auch an Bewegungsmustern eines Kindes arbeite ich nicht mehr "isoliert". Die Ansatzpunkte für meine Behandlung sind die Fähigkeiten des Kindes, seine Möglichkeiten, seine Kapazität, seine Wünsche. Wichtig ist mir dabei eine ganzheitliche Sicht des Kindes. Ich muß mit meinen Vorschlägen und Anregungen sein Umfeld ebenso berücksichtigen und mit einbeziehen wie seine eigenen Bedürfnisse. Meine Behandlung und die therapeutischen Maßnahmen sollen sich dem Leben des Kindes, dem Umfeld von Familie, Kindergarten, Schule usw. unterordnen, nicht es bestimmen. So dürfen durch die Therapie zum Beispiel die Eltern-Kind- und Geschwisterbeziehungen nicht gestört werden, es darf auch keine Schuldzuweisungen an Eltern oder Kinder geben. - Ich bin verpflichtet, schädliche Entwicklungen rechtzeitig zu erkennen. Ziel bleibt die größtmögliche Selbständigkeit des Behinderten auf allen Gebieten, um ihm eine weitestgehende Selbstbestimmung zu ermöglichen. - Die Therapie wird also nie nach einem allgemeinen Schema, nach einem starren Plan ablaufen. Die Planung muß flexibel sein, Wahrnehmen und Akzeptieren des Kindes müssen darin Platz haben, denn Therapie muß aktive Zusammenarbeit des Kindes mit mir sein.

Meine Arbeit in der Praxis sieht dann so aus, daß ich mit den Eltern und dem Kind die Prognose bespreche, welches Ziel wir anstreben und wie es erreicht werden kann. Das Kind soll sich entwickeln können, nicht "gemacht" werden - es muß eine aktive Rolle dabei übernehmen.

Seit zehn Jahren arbeite ich teilzeitbeschäftigt im "Kindergarten für alle", den behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam besuchen. Eine Initiativgruppe für Integration, die durch Mithilfe des Instituts für Erziehungswissenschaften an der Universität Innsbruck entstanden war, hat diesen Kindergarten 1978 gegründet. Die Möglichkeiten der Therapie innerhalb des Kindergartens bringen große Vorteile: Ich erlebe das Kind im Alltag, im Kontakt mit anderen Kindern, mit Betreuern und Eltern. Je nach den Bedürfnissen kann ich meinen Patienten innerhalb der Gruppe unterstützen oder mit ihm allein im Therapiezimmer arbeiten. Er muß also keine Klinikatmosphäre fürchten und gerät nicht so leicht in den Streß der Ausnahmesituation. AIle Kinder im Kindergarten kennen mich, sie dürfen manchmal bei der Therapie dabei sein, und ich erkläre ihnen, was ich tue. So ermögliche ich den Kindern, die "Mängel" und das "Anderssein" der Behinderten besser kennenzulernen und zu verstehen. Manchmal ermuntere ich zum Beispiel alle Kinder zu kriechen statt zu gehen, zu deuten statt zu sprechen oder sich mit geschlossenen Augen zu bewegen. Sie können sich dadurch besser einfühlen und erkennen, daß auch Behinderte besondere Fähigkeiten und Fertigkeiten haben. Wenn Eltern bei der Therapie anwesend sind, besprechen wir auch, was im Alltag zu Hause angewendet werden kann. Wir überlegen uns zum Beispiel besondere Lagerungs- und Sitzmöglichkeiten, passen Stühle an oder stellen sie selbst her, besprechen Kleidung, Spiele, Essen und sonstige Alltagsschwierigkeiten, wie Reinlichkeit, Ängste, Probleme mit Geschwistern usw.

Bei meiner Arbeit im Kindergarten profitiere ich besonders durch die Teamarbeit: es finden häufige Gespräche mit den Kindergarten-Betreuern, Ergotherapeuten und Logopäden statt. Gemeinsam entscheiden wir, welche Therapie ein Kind gerade braucht und in welchem Ausmaß. Wir tauschen unsere Erfahrungen aus, besprechen Probleme und machen Vorschläge. Bei manchen Kindern ist es besser, mehr zu tun, bei anderen wiederum ist es besser, zurückhaltend zu sein. Dabei ist immer die ganzheitliche Sicht des Kindes wichtig.

Auch in der Supervision, an der alle Betreuer teilnehmen, wird immer wieder der Stellenwert der Therapie besprochen und zurechtgerückt und mir wird ermöglicht, meine Arbeit zu reflektieren. Oft muß ich mir verdeutlichen, daß das Kind und nur das Kind in seiner Gesamtheit wichtig ist. Ich darf nicht Gefahr laufen, statt dem Kind die Therapie in den Mittelpunkt zu stellen. Ich weiß, wie wohl es tut, wenn ein Kind sich in meinen Händen entspannt oder aktiv wird, wenn es Fortschritte macht und mich mag. Hier laufe ich dann Gefahr, die Therapie für mich zu benutzen. Immer muß aber das Kind Mittelpunkt bleiben mit seiner Fähigkeit, sich selbst weiterzuentwickeln.

Der "Kindergarten für alle" ist für mich ein gelungenes Beispiel für Integration und sehr wertvoll für die Entwicklung aller Kinder. Ich wünsche mir, daß unser "Kindergarten für alle" in einer "Schule für alle" seine Fortsetzung findet.

Seit meine eigenen Kinder in die Schule gehen, frage ich mich immer wieder, welche Ziele unsere Schule verfolgt, was die Kinder lernen und was nicht: Wissensvermittlung ist wichtig, humanes Lernen aber, wie zum Beispiel Respekt gegenüber anderen, steht nicht im Lehrplan und ist von der Persönlichkeit des Lehrers abhängig. Behinderung und Anderssein sind weit weg - eben in Sonderschulen und Heimen und höchstens ein Thema für Weihnachtstheater und Spendenaktionen. In dieses System paßt niemand mit "Mängeln". Meine Wunschvorstellung für die Schule sieht so aus:

  • Kinder sollen lernen, Verantwortung für sich selbst und für andere zu übernehmen.

  • Selbstbewußtsein und Gruppenverständnis sollen gefördert und gestärkt werden. Wichtig wäre eine aktive und verstehende Annahme aller Mitschüler - ohne Vorurteile.

  • Kinder sollen lernen, sich gegenseitig Hilfe zu geben und sich mit Respekt zu begegnen, auch wenn der andere langsamer, schwächer oder ungeschickter ist.

  • Jeder soll seinen Fähigkeiten entsprechend gefördert werden.

Eine solche "Schule für alle" hätte ich mir auch für meine Kinder gewünscht.

Volker Schönwiese: Thesen zu Integration und Therapie

Inhaltsverzeichnis

Eine der Forderungen zur schulischen Integration war und ist, daß für die entsprechende therapeutische Begleitung behinderter Kinder, die in der Regelschule integriert sind, gesorgt sein muß, ist doch das besondere therapeutische Angebot in Sondereinrichtungen bisher eine der hauptsächlichenLegitimationsgrundlagen dafür, behinderte Kinder in Sonderschulen und Sonderschulheimen unterzubringen. Integrative Maßnahmen dürfen aber keinesfalls auf Kosten der therapeutischen Versorgung gehen. Allerdings erfordert Integration ein grundsätzliches Überdenken von Therapiekonzepten, ja das Zerstören des "therapeutischen Mythos" und das Suchen nach neuen Wegen.

Ich möchte nun in kurzen Thesen den Problembereich charakterisieren.

1. Die durch die Schulmedizin angeleitete Therapie - ich denke hier insbesondere an die Physikotherapie, die Logopädie und die Ergotherapie - denkt im Rahmen des naturwissenschaftlichen Modells von Behinderung. Darin wird ein Defekt als objektives Faktum gesehen, auf das sich der "ärztlicheBlick" konzentriert. Dies ist unabhängig davon, ob die Defekte körperlicher, geistiger oder sozialer Art sind. Das Problem ist aus dieser Sicht das Problem der behinderten Person selbst, nicht das der Familie, der Schule oder der sozialen und gesellschaftlichen Bezüge, in denen der Mensch lebt.

2. Der "ärztliche Blick" ist historisch gesehen insbesondere mit der Aufklärung entstanden, im Umbruch von der feudalen zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung und der damit zusammenhängenden Notwendigkeit neuer Leistungsanforderungen. Die Entstehung des "ärztlichen Blicks" ist in sich zutiefst ambivalent. Sie führte zu großen Fortschritten in der Heilung kranker/behinderter Personen und gleichzeitig zu einer neuen Stigmatisierung unheilbarer/unerziehbarer oder nicht vollständig wiederherstellbarer Personen mit der Folge von neuen Aussonderungen und der Entstehung von vielfältigen neuen Schädigungen. Die konsequente und institutionalisierte Aussonderung, wie die Einrichtung von Heimen und Sonderschulen, geht mit der Entwicklung der aufgeklärten Medizin Hand in Hand.

3. Auch die Medizin bewegte sich damit im Rahmen eines neuen konsequenten Denkens nach Kosten-Nutzen-Relationen, typisch für aufgeklärt-technokratisches Denken. Dieses Denken führte z. B. zusammen mit der darwinistischen Selektionstheorie und einer rassistischen Ideologie im Faschismus zur systematischen Vernichtung "nutzlosen, lebensunwerten Lebens". Ärzte erfüllten dabei ihre "Pflicht" der Selektion (drei unabhängige Gutachter entschieden über Leben und Tod. Mit Fortschreiten des Zweiten Weltkrieges wurde die Euthanasie dann auch "wild" betrieben).

4. Die ärztliche Definitionsmacht durch Gutachten ist auch heute existent. Ärztliche Gutachten sind z. B. entscheidend für Heim- und Sonderschuleinweisungen, wobei u. a. zwei Funktionen wichtig sind:

  • Gutachten legitimieren Entscheidungen, die schon vorher in der sozialen, institutionellen oder gesellschaftlichen Umgebung gefällt wurden.

  • Ärztliche Empfehlungen orientieren sich vielfach an dem (isolierten) therapeutischen Angebot von Sonderinstitutionen.

5. Die Medizin strebt weiterhin das Ideal einer Gesellschaft ohne Behinderte an. Aber Familienberatung, Frühdiagnose und Gentechnologie nehmen gefährliche Dimensionen der Konzentration auf das medizinisch-technisch Machbare an. Bevölkerungspolitische Forderungen nach Verhinderung von Behinderung dominieren vor dem Recht behinderter Personen, anders zu sein: so tritt z. B. die ärztliche Empfehlung einer Abtreibung bei drohender Behinderung des Kindes zunehmend an die Stelle einer neutralen Beratung. Vorurteilshaft wird auch oft Behinderung mit Leiden gleichgesetzt und nicht nach den Lebensbedingungen gefragt, die erst Leiden erzeugen.

6. Dazu kommt noch, daß die derzeitige Therapiepraxis - mit ihren eigenen naturwissenschaftlichen Vorgehensweisen im Widerspruch dazu neigt, klar definierbare Ziele aufzugeben und statt dessen die Einstellung "je mehr Therapie, desto besser" zu ihrer Ideologie macht. So wird Therapie zum Selbstzweck bzw. ist nur mehr aus der institutionellen Eigendynamik (der Sonderinstitution) und deren Legitimation verstehbar.

7. Die Suche der Medizin nach Defekten führt zu einer Parzellierung des Menschen in einzelne Teile und Funktionen. Die Teile/Funktionen werden nach statistischen Standardnormen be- und verurteilt. Die minutiöse und fast zwanghafte Suche nach Defekten führt zu ebenso zwanghaften Bemühungen um verbessernde und heilende Therapien: Zu traditionsreichen Therapien wie Physikotherapie, Ergotherapie und Logopädie kommen z. B. Hippo-, Freizeit-, Musik-, Spiel-, Wander-, Wasser-, Bibliotherapie hinzu. Dieser Weg beinhaltet die Gefahr, daß Therapie zur Therapeutisierung wird.

8. Bei therapeutischen Erfolgen ist oft nicht klar, ob sie auf den Alltag der behinderten Personen übertragen werden können, da der Lebensalltag nicht der therapeutischen Situation (dem "setting") entspricht.

9. Die Medizin reagiert auch auf dieses Problem mit einer verstärkten Therapeutisierung und unterstützt die Tendenz, den gesamten Alltag von behinderten Personen in viele voneinander unabhängige Therapien zu verwandeln, wie wir es gerade von den bestausgebauten Heimen und Therapiezentren her kennen. Das gleiche passiert z. B. bei dem Versuch, Eltern zu konsequenten Co-Therapeuten zu machen. Die Sicht auf die Gesamtperson geht dabei leicht verloren.

10. Therapie bekommt eine gefährliche Funktion als Mischung von Förder- und Kontrollinstanz durch einen heimlichen Lehrplan für die Betroffenen. Dabei wird oft das therapeutische Ziel aus den Augen verloren und dem Behinderten nur vermittelt, "nicht fähig" zu sein; der Blick auf die eigene "Abweichung" wird ununterbrochen geschärft, anerzogen wird eine Haltung des Selbstzweifels, der Ohnmacht und der Hilflosigkeit. Bei Erfolglosigkeit der Therapie (und unsere Heime und Sonderschulen sind voll von Personen, bei denen Therapie darin erfolglos war, "normale" Funktionstüchigkeit herzustellen) wird der Therapierte selbst dafür verantwortlich gemacht. Das Gefühl der "Selbstverschuldung" beim Betroffenen ist eine der schlimmsten Folgen traditionell-therapeutischen Vorgehens, denn damit bleiben die behinderten Personen immer "therapiebedürftig", und es wird eine Situation von sich selbst aufrechterhaltenden Therapien erreicht, die nicht selten zu lebenslanger Abhängigkeit und Therapiebedürftigkeit führt.

11. Zur Zerstörung des "Therapeutischen Mythos" gehört auch die tiefenpsychologische Frage, inwieweit therapeutische Qualifizierung nicht als ein Mittel zur Distanzierung, zur eigenen Abgrenzung, zum Selbstschutz des Therapeuten, zu seiner Angstabwehr dient. Die scheinbar genaue Eingrenzung von Problemen hilft eher dem Therapeuten, mit der für die eigene Identität bedrohlichen Therapiesituation fertig zu werden, als dem Therapierten.

12. Alle diese Kritikpunkte (und viele weitere mehr) beziehen sich auf die zunehmend technologisch und depersonal orientierte Schulmedizin, wie sie heute vorherrschend ist. Die Suche nach Alternativen muß allerdings nicht bei Null beginnen. Es gibt nämlich auch eine Tradition kritischer und demokratischer Medizin, einer Medizin der Gesundheit. Die Weltgesundheitsorganisation hat das auf die Formel "from cure to care" gebracht, am besten übersetzt mit "Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um die Gesundheit". Adriano Milani-Comparetti, dem wir auf diesem Gebiet ganz wichtige praktische Anregungen verdanken, spricht davon, daß der Mißbrauch der Medizin beendet werden muß.

13. Es ist schwer, diesen Ansatz auch umzusetzen: Dazu ist es notwendig, daß Therapie sich mehr mit den "normalen" und "gesunden" Entwicklungen des Menschen in seinen gesellschaftlichen und institutionellen Zusammenhängen beschäftigt.

14. Bei behinderten Kindern geht es z. B. nicht darum, eine abstrakte Diagnose zu stellen, in der ein isoliertes Defizit im Mittelpunkt steht, sondern um genaue und lange Beobachtungen, was ein Kind in alltäglichen Zusammenhängen kann. Aus der genauen Beobachtung, wie z.B. Kind und Eltern miteinander umgehen, kann eine Prognose erstellt werden, die die Möglichkeiten des Kindes genauer beschreibt als jede in der klinischen Umgebung erstellte medizinisch-technische Diagnose. Therapie, die von den Motiven und Möglichkeiten des Kindes ausgeht und das Ziel hat, die Selbständigkeit des Kindes und die Kräfte zur eigenständigen Entwicklung zu unterstützen, kann nur mit Hilfe einer genauen Prognose durchgeführt werden.

15. Prognosen und Therapiepläne sollen nicht von einzelnen Spezialisten isoliert voneinander erstellt werden, die Teilung des Kindes (in: die Hände der Beschäftigungstherapeutin, die Beine der Krankengymnastin, den Mund der Logopädin usw.) muß aufgehoben werden. Das Kind muß in seiner Ganzheitlichkeit gesehen werden; dem kann nur durch Teamarbeit der einzelnen Spezialisten entsprochen werden, dabei sollte aber das Kind nicht aus seiner gewohnten Umgebung herausgerissen werden.

16. Daraus ergibt sich die Forderung nach regional organisierten, ambulant und mobil tätigen Teams von Therapeuten, Ärzten, Psychologen usw. Diese Forderung ist nicht neu und ist auch nicht im Zusammenhang mit der Integration erstmalig aufgetaucht. Im Rahmen der Entwicklung von Konzepten der primären Gesundheitsversorgung wurde von der Weltgesundheitsorganisation schon lange "die bürgernächste, d. h. in der Gemeinde verankerte Komponente eines integrierten und umfassenden Gesundheitssystems" gefordert.[1]

17. Prognose und Therapie kann im Zusammenhang mit Behinderung nur gelingen, indem Kommunikation und Erfahrung in den vielfältigsten Lebensbereichen gefördert werden - und das bedeutet Integration. Anstelle von therapeutischen Sitzungen und therapeutischen Übungen sind Erfahrungen im täglichen Leben zu ermöglichen, die für die behinderte Person befriedigend sind. Dazu muß u. a. auf die Kraft des Behinderten vertraut werden, daß auch er selbst seinen Wünschen und Motiven entsprechende Entwicklungsmöglichkeiten finden kann.

18. So werden die verschiedenen Spezialisten von Alleinhandelnden und Alleinwissenden, die den Betroffenen Verantwortung abnehmen, zu Beratern in der Übersetzung bestimmter fachlicher Kenntnisse in die Sprache des täglichen Lebens, zu Förderern von Normalität und Autonomie.

Literatur:

Folgende Literatur wurde verwendet und ist zum Lesen empfohlen:

ALY, Monika u. a.: Kopfkorrektur oder der Zwang gesund zu sein. Ein behindertes Kind zwischen Therapie und Alltag. Rotbuch-Verlag, Berlin 1981 .

ALY, Monika: Frühtherapie als Streß- und Störfaktor in der Entwicklung geschädigter Kinder. In: Gusti STEINER (Hrsg.), Hand- und Fußbuch für Behinderte. Fischer-Verlag, Frankfurt 1988, Seite 11 - 25.

MILANI-COMPARETTI, Adriano und L.0. ROSER: Förderung der Normalität und Gesundheit in der Rehabilitation. In: WUNDER, M./SIERK, U. (Hrsg.): Sie nennen es Fürsorge. Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand. Verlagsgesellschaft Gesundheit, Berlin 1982, Seite 77 ff.

PIKLER, Emmi: Laßt mir Zeit - Die selbständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen. Pflaum-Verlag, München 1988.

SCHMITTEN, Inghwio aus der: Schwachsinnig in Salzburg. Zur Geschichte einer Aussonderung. Verlag Umbruch, Salzburg 1985.

Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um die Gesundheit. Dokumentation einer Fachtagung des Paritätischen Bildungswerkes Bundesverband (Heinrich-Hoffmann-Straße 3, D-6000 Frankfurt am Main).

WÖHLER, Karlheinz: Sonderpädagogik und Therapie - Wahlverwandtschaften und Chancen. In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, 1/1981, Seite 11 - 14.



[1] Anmerkung: KAPRlO, Leo A.: Primäre Gesundheitsversorgung in Europa. Weltgesundheitsorganisation, Regionalbüro für Europa, Kopenhagen 1980, Seite 3.

Wir in Österreich haben auch auf dieser Organisationsebene noch wenig Erfahrung. Am ehesten entsprechen dem noch die "Nord- und Südburgenland-Teams".

Sieglinde Schauer: Unser Weg mit Martin

Martin ist ein Wunschkind. Er kam in der 29. Schwangerschaftswoche mit 1,40 kg in der Innsbrucker Universitätsklinik völlig unerwartet zur Welt. Von seinem Reifegrad her war er an der Grenze zwischen Fehlgeburt und Frühgeburt. Voller Angst, ich könnte ihn verlieren, schrieb ich ihm damals mein erstes Brieflein: "Mein liebes, kleines Kindele! Am Freitag, den 14. August 1981 bist Du, lieber Martin, auf die Welt gekommen. Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe, ich wollte Dich nicht schon in der 29. Woche allein lassen. Nun bist Du ganz einfach nicht mehr bei mir, und ich weiß nicht mehr, was Du fühlst, wie es Dir geht und was Du denkst. Für mich ist es so furchtbar, daß ich nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll. Am liebsten würde ich Dich den ganzen Tag streicheln und liebhaben. Wir kommen Dich jeden Tag besuchen. Du mußt nämlich wissen, daß Du einen ganz lieben Papa hast. Vor lauter Glück und Liebe, wovon ich leider nicht viel erleben durfte, habe ich so eine Angst, ich könnte Dich verlieren. Bitte, bitte schnauf fest und halte Dich tapfer. Ich bete zum lieben Gott, daß er mir das Schönste und Liebste, und das bist Du, mein kleiner Martin, erhalten möge. Ich möchte Dich endlich in meine Arme nehmen können. Bitte, lieber Gott, beschütze uns alle. Deine Mami."

Die ersten Monate

Heute noch sehe ich das Bild vor mir: Martin im Brutkasten, winzig klein und zart wie eine filigrane Puppe, die Haut fast durchsichtig, dichte, kohlrabenschwarze Haare, die Augen verbunden und durch die Nase Kanülen eingeführt. Wie viele Ängste stand ich in dieser Zeit durch! Jeden Tag mußte ich um sein Überleben bangen . . . Und immer die gläserne Wand des Brutkastens zwischen uns! Aber gerade das war wohl mit der Beginn einer ganz besonderen Beziehung: Sooft ich hinein greifen durfte, spürte ich deutlich, wie gut Martin jede Berührung, jedes Streicheln tat, wie wohl er sich dabei fühlte. Endlich, Martin war inzwischen 5 Wochen alt, durften wir ihn aus seinem kleinen Gefängnis herausnehmen, zuerst nur für ein paar Minuten, später dann länger. Das Aufleuchten in seinen Augen, jedesmal, wenn er in unseren Armen lag! Wie sehr er das Gefühl von Geborgenheit genoß! Und jedesmal schmerzte es uns, Martin wieder zurücklegen zu müssen, ich sah dann immer gleich so einen Ausdruck der Leere und Verlorenheit in seinen Augen. Dann war der große Augenblick gekommen: Wir durften unseren Sohn mit nach Hause nehmen - einen kleinen Menschen von 3 Monaten und mit 2,40 kg. Wir waren voller Zuversicht, voller Hoffnung. Es war ein glücklicher Tag, Beginn einer schönen Zeit.

Der große Schock

Vier Monate später: Masern. Klinik. Man sagt uns: "Martin ist Spastiker. Martin ist Epileptiker. Martin hat BNS-Krämpfe. Jeder Anfall zerstört Gehirnzellen. Diese Krankheiten sind gefährlich. Martin wird sein Leben lang behindert bleiben. Cortison als minimale Chance." Wir konnten den Aussagen der Ärzte kaum folgen, wir waren wie gelähmt. Für uns waren diese Krankheiten völlig fremd, und wir wußten mit alldem nichts anzufangen. Warum hatten wir zu Hause nie irgendwelche Anfälle beobachtet? Aber wir waren viel zu betroffen, hilflos und unwissend einerseits und andererseits voll von Vertrauen in die Kunst der Ärzte, sodaß wir für diese Cortisonkur unsere Einwilligung gaben. Tagelang saß ich an Martins Krankenbett und beobachtete hilflos und mit Bangen seine weiteren Anfälle. Die Cortisonmenge wurde ständig gesteigert. Erst an der obersten Grenze der Dosierung blieben die Anfälle allmählich aus. Martin selbst aber hatte sich durch die Krankheit, vielleicht auch durch die Kur, schlagartig verändert. Er schaute leer durch die Gegend, es interessierte ihn einfach nichts mehr. Auch das Lächeln fehlte ihm. Nur wenn wir ihn in die Arme nahmen, schien es für ihn immer noch das gleiche beruhigende Gefühl zu sein. Im gleichen Zimmer lag noch ein "Anfallskind", bei dem auch die Cortisonkur angewendet wurde. Als am dritten Tag die Eltern - es waren sehr einfache Leute - ihr Kind besuchten, sagte der Vater: "Der Bub schaut ja ganz anders drein, die machen uns das Kind noch spinnett, das nehmen wir mit nach Hause!" Was wohl aus diesem Kind geworden ist? Ich frage mich noch heute, ob das wirklich so unvernünftig war, wie der Arzt behauptete. Hätte ich vielleicht auch so handeln sollen? Endlich durften wir unser Kind mit nach Hause nehmen. Als wir die Stufen hinaufstiegen, lächelte Martin erstmals wieder - nach 12 Wochen! In der Klinik war ich oft dabei, wenn Martin Anfälle hatte. Zu Hause konnte ich nie Anfälle beobachten, weder vorher noch nachher. Trotzdem wurde die medikamentöse Behandlung fortgesetzt. Von Zeit zu Zeit wurde ein EEG gemacht, die Ärzte erkannten eine leichte Besserung, aber niemand konnte mir Auskunft geben, ob die Anfallsgefahr einmal aufhören wird. Viele Fragen - keine Antworten. Wir mußten wieder einmal mit allem rechnen, auf alles gefaßt sein. Untersuchungen . . . Unsicherheit . . . Diagnosen . . . Das Unbehagen gegenüber der Cortisontherapie steigert sich bis zum Mißtrauen gegenüber den Ärzten, die sich hinter Fachausdrücken verschanzen . . . Ich versuche mich durch Fachliteratur hindurchzubeißen und stoße auf das Buch "Kopfkorrektur" von Monika Aly. - Ermutigung zum eigenen Weg:

"Trau Deinem Gefühl - Du kennst Dein Kind am besten!" - Letztlich habe ich mich dazu durchgerungen, das Cortison versuchsweise und in ganz kleinen Schritten zu reduzieren, mit dem Ziel, es ganz abzusetzen. Aus eigener Verantwortung. Kein Arzt war dazu bereit, mich dabei zu unterstützen; - eine schwere Entscheidung, eine schwere Last. Aber es hat sich gelohnt: Mit der Abnahme der Medikamente kam allmählich auch die Besserung. Martin lag nicht mehr ganz so apathisch da, wurde etwas interessierter und hatte trotzdem keine Anfälle. Ich glaube, die Medikamente hatten ihn zu sehr beeinträchtigt, und ich wünsche mir heute oft, wir wären mit dieser Cortisonbehandlung nie einverstanden gewesen. Auch mache ich mir heute noch Vorwürfe, daß ich Martin damals in die Klinik gegeben habe, denn ich glaube an einen Zusammenhang zwischen dem Krankenhausaufenthalt und seinen Anfällen: ich glaube, daß der Schock der Trennung von zu Hause diese Anfälle ausgelöst haben könnte. Insgesamt habe ich 4 Jahre gebraucht, um Martin wieder medikamentenfrei zu bekommen.

Behindert!

Lange wollte ich es nicht wahrhaben, heute weiß ich: Martin ist ein schwerst behindertes Kind. Zuerst erklärte ich mir seine Entwicklungsrückstände einfach damit, daß Martin eine Frühgeburt war und daher "etwas länger brauche". "Man muß ihm eben Zeit lassen, dann wird er sicher alles nachholen!" Auch andere Leute bestätigten diese Meinung, und ich klammerte mich daran. Immer wieder aufkommende Zweifel schob ich beiseite, ich wollte es so. Erst ganz allmählich wuchs in mir die Bereitschaft, mich mit der Problematik "Behinderung" ein bißchen auseinanderzusetzen. Im gleichen Maße, wie ich begann, diesen Begriff für mich anzunehmen, wurde die Frage immer quälender:

"Welche Zukunft wird mein Martin wohl haben?" - und so begann der Integrationsgedanke in mir Wurzeln zu schlagen - als Möglichkeit eines menschenwürdigen Weges. Irgendwann einmal ging ich zu einer Sitzung eines Vereines, in dem die Eltern behinderter Kinder zusammenarbeiten. Es war dies ein ganz neues, ein eigenartiges Gefühl für mich. Als ich dort das Thema Integration ansprach, wurde ich belächelt. Alle schienen zufrieden und glaubten, ihre behinderten Kinder in den diversen Institutionen gut versorgt. - Welch ein Gedanke! Versorgung um den Preis von Isolation! - Da war aber auch ein junger Behinderter, Georg, der Kritik äußerte, der offensichtlich am eigenen Leib die Isolation der Behinderten erlebt hatte. Er als einziger sprach mir aus der Seele. Durch ihn kam ich zu einer Selbsthilfegruppe von Behinderten. Hier fühlte ich mich verstanden. Hier ist Integration keine Utopie, sondern ein sehr erstrebenswertes Ziel, das es Schritt für Schritt zu erkämpfen gilt. im Laufe der Zeit fand diese Idee die Unterstützung von immer mehr Eltern, und wir gründeten eine "Integrationsgruppe", die bis heute besteht und sich inzwischen vor allem mit schulischer Integration befaßt. Wir haben hier auch schon kleine Fortschritte gemacht, und Gott sei Dank gibt es inzwischen schon viele Integrationsbefürworter und -anhänger.

Alltag

Martin ist ein sehr zartes, sensibles Kind. Er kann weder sitzen noch stehen, ein großer Erfolg war es, als er die Faust willkürlich öffnen lernte, und ganz kurzfristig gelingt es ihm jetzt sogar, etwas zu halten. Er beginnt auch schon einzelne Worte zu sprechen, aber die Artikulation ist noch recht verwaschen. Weil er aber für sich selbst so gut wie gar nichts tun kann, könnte ich den ganzen Tag damit verbringen, ihn zu fördern und zu führen, damit er wenigstens einen Bruchteil von dem erfahren kann, was gesunde Kinder eigenständig tun. Daneben muß ich Martin wie einen Säugling versorgen - wickeln, füttern, tragen. Und meine permanenten Kreuzschmerzen signalisieren mir Überlastung - Martin ist inzwischen immerhin 15 kg schwer! Nachmittage lang bin ich mit ihm in diversen Fördertherapien unterwegs. Dort bekomme ich auch Anregungen für gezielte Übungen, die ich selbst mit Martin durchführen kann. Vorwiegend über den Tastsinn kann ich ihm helfen, Dinge zu erfahren und zu begreifen. Ich bräuchte sooo viel Zeit für ihn. Obwohl ich die Hausarbeit auf ein Minimum reduziere, habe ich oft ein schlechtes Gewissen, zuwenig für Martin getan zu haben und obendrein noch die übrigen Familienmitglieder zu vernachlässigen. Manchmal bin ich außerstande, mit Martin zu üben, einfach weil ich am Ende bin, ausgelaugt und ausgepumpt. Ich kann dann nicht mehr, es fehlt mir an Ruhe und Geduld. Oft spüre ich auch Aggressionen in mir hochsteigen und fühle mich absolut überfordert. Alles erscheint mir in solchen Momenten unerträglich, am liebsten würde ich dann ausbrechen aus diesem teuflischen Karussell. Ich wünsche mir dann, ich könnte von einem bösen Traum erwachen, die Realität scheint zu brutal. Einfach alles, was ich mit Martin unternehme, ist anstrengend. Es ist ja nicht nur die körperliche Behinderung allein! Da Martin sehr auffällt, muß ich auch viele Gedankenlosigkeiten verkraften. Oft fühle ich mich einfach zu schwach, mit Martin auf die Straße zu gehen. Lieber würde ich mich dann mit ihm zurückziehen. Man muß schon in guter Verfassung sein, um ertragen zu können, wie einen die Leute anstarren oder gar taktlos-neugierig fragen, was denn eigentlich mit diesem Kind los sei. Ich bin gegen Isolation. Aber ich muß zugeben, manchmal wäre dies der bequemere, sicher der angenehmere Weg. Früher, als begeisterte Laiendarstellerin, habe ich es genossen, auf der Bühne zu stehen - von allen gesehen und bestaunt. Ich habe meine Rollen förmlich ausgekostet. Meine Rolle als Mutter eines schwerstbehinderten Kindes aber ist keine Rolle mehr, das bin ich, das ist mein, ist unser Leben, und wir sind kein Schauspiel, wollen, können es nicht sein. Vielleicht wäre alles anders, würden Behinderte zum alltäglichen Straßenbild gehören, würden sie nicht mehr nur isoliert, abgeschoben? Ich glaube es, und deshalb kämpfe ich, kämpfe für Integration - nicht nur für Martin, nicht nur für die Behinderten, sondern auch für mich selbst.

Unsere Familie

Knapp ein Jahr nach Martin kam Vanessa zur Welt, ein liebes, braves Mädchen. Sie war ein problemloses Baby, und ich war damals schon so sehr mit Martin belastet und beschäftigt, daß ich aus heutiger Sicht fürchte, mich Vanessa zu wenig gewidmet zu haben. Ich habe deshalb ein schlechtes Gewissen und mache mir Vorwürfe: ist Vanessa gegenüber Martin zu kurz gekommen? Kommt sie vielleicht immer noch zu kurz? Solche Gedanken machen mich traurig. Aber die Zeit, die ich ausschließlich für Vanessa zur Verfügung habe, ist einfach zu kurz. Ob sie je verstehen kann, warum ich Martin so viel Zeit widme und ihr so wenig? Seit Vanessa gelernt hat, ihre Wünsche zu formulieren und sich durchzusetzen, mache ich mir etwas weniger Gedanken. Mein großer Sohn Alexander ist schon 17 Jahre, er bekommt oft zu spüren, wenn ich nervös und ungeduldig bin. Kann ich mich den beiden Kleinen gegen über gerade noch beherrschen, ihm gegenüber kann ich es nicht mehr: erwarte ich doch gerade von seiner Seite schon verstärktes Verständnis. Ob ich ihn damit vielleicht überfordere? Auch meine Ehe ist durch Martins Behinderung starken Belastungen ausgesetzt. Es ist so unheimlich viel Aufwand, Martin zu betreuen, daß ich für die übrige Familie kaum noch Zeit übrig habe. Seine Pflege hat mich physisch und psychisch erschöpft. Ich bin einfach nicht mehr die alte, nicht mehr die heitere, lustige Partnerin meines Mannes. Wie gerne sind wir früher gemeinsam ins Theater gegangen, haben Schitouren unternommen oder Badetage genossen! Heute habe ich keine Energie mehr dazu. Meine Aktivitäten reduzieren sich im Wesentlichen auf den Alltag. Ich bin eine andere geworden und damit auch eine andere Partnerin für meinen Mann. Jeder von uns beiden mußte und muß mit Martins Behinderung leben lernen - jeder für sich, jeder auf seine Weise. Die Angst, mein Mann könnte die Schuld für Martins Behinderung bei mir suchen, ist immer noch da, obwohl ich denke, daß sie unbegründet ist. Auch glaube ich zu bemerken, daß ihn die Behinderung unseres Sohnes immer wieder neu trifft, wenn er beruflich einige Tage weg war und dadurch etwas Distanz bekommen hat: weiß ich doch noch, wie schwer es ihm am Anfang fiel, mit Martin umzugehen! - Und nach jeder Trennung erlebe ich ihn wieder ähnlich unbeholfen wie damals. Durch unsere kleine Vanessa hat mein Mann aber viel an Spontaneität gegenüber Martin gelernt. - Vanessa kann Martin mit so viel kindlicher Unbekümmertheit begegnen, wie es ein Erwachsener kaum kann. Sie spielt mit ihm, und Martin genießt es. Er schaut Vanessa und anderen Kindern auch gerne beim Spielen zu; ganz besonders liebt er es aber, wenn Vanessa mit Papa herumtobt und er dann in das Spiel mit einbezogen wird. Wenn mein Mann mir gegenüber dann aber auch nur erwähnt, wie schön es doch wäre, Martin wäre ein gesundes Kind, reagiere ich schon empfindlich, fast gekränkt, gerade so, als ob ich allein für Martin zuständig und verantwortlich wäre. Ja, ich phantasiere dann sogar, daß Martin und ich meinem Mann ohnehin nur im Wege stehen. Ich kann einfach nicht anders, obwohl ich genau weiß, daß ich ihm das alles nur unterstelle und daß es falsch und unbegründet ist, so zu denken. Ich fürchte diese schrecklichen Stimmungen, weil ich immer viel Zeit brauche, um wieder halbwegs ins Gleichgewicht zu kommen. Martin ist eben immer noch ein sehr wunder Punkt in unserer Beziehung: vielleicht, weil es vorerst noch keinen gemeinsamen Weg durch unser Leid hindurch zu geben scheint - irgendwo ist jeder alleine. Insgeheim habe ich aber auch die Angst, mein Mann könnte uns verlassen. Ich muß noch lernen, diese Angst zu überwinden, meinem Mann ganz zu vertrauen. Unsere Ehe ist bisher durch viele Krisen hindurchgegangen, aber es gibt auch positive Aspekte. Manchmal glaube ich sogar, Martins Behinderung könnte eine Chance für unsere Ehe sein: gerade dann, wenn ich spüre, wie wir durch die ungeheuren Probleme näher zusammenrücken, wie wir gelernt haben, in der Not stärker zusammenzuhalten und auch frohe Stunden mehr zu genießen. Genau besehen lebe ich in Schuldgefühlen meiner ganzen Familie gegenüber. Weder meinen Kindern noch meinem Mann kann ich ganz gerecht werden, und dabei verausgabe ich mich ohnehin völlig. Alle sind mitbetroffen, alle bekommen etwas davon ab. Es wird immer wichtiger für mich, Martins Behinderung nicht als meine ureigene, sondern als unsere gemeinsame Belastung zu sehen, - auf uns alle als Familie zu vertrauen.

Überlebensfrage

Ist Martin einmal krank, steht jedesmal der Tod zwischen uns. Martin bekommt dann ein auffallend blasses Gesicht und ganz matte Augen. - Und mich überkommt eine unheimliche Angst, fast Panik: Werde ich Martin verlieren? Schreckliche Bilder und Gedanken verfolgen mich, aber solange Martin krank ist, bin ich stark. Die Angst um Martin hält mich wach. Erst wenn er es dann wieder einmal überstanden hat, kommt bei mir der Zusammenbruch. Dann scheint mir einfach alles sinnlos. Kann es für Martin jemals ein erträgliches Leben geben? Der Professor der Innsbrucker Kinderklinik spricht gerne von den glücklichen Eltern, wenn die Babies nach Hause entlassen werden. Ja, auch wir gehörten zu diesen überglücklichen Eltern, wir hatten ja keine Ahnung, was auf uns zukommen würde. Martin war so klein und lieb, und wir konnten den Aussagen der Ärzte nicht glauben, wollten es auch nicht. Erst als wir zwei Jahre lang keine einzige Nacht durchgeschlafen hatten, wurde uns allmählich bewußt, was es bedeutet, ein behindertes Kind zu haben. Ich selbst wußte oft nur: Ein Tag beginnt und geht dann irgendwie und irgendwann auch zu Ende. Und immer wieder aufs neue die quälende Frage: Was hat dieses Kind einmal vom Leben zu erwarten? Wird sein Leben wirklich lebenswert sein? Ich will versuchen, für Martin das Beste daraus zu machen - so gut ich das kann - mehr kann ich nicht tun. Die Lebenslast kann ich Martin nicht abnehmen - und wahrscheinlich auch kein Professor!

Bürokratie

Lebenslast: Immer wieder erlebe ich Situationen, wo ich kämpfen muß und nicht einsehen will, warum ich kämpfen muß. Wenn ich bei Behörden von Tür zu Tür geschickt werde, fühle ich mich wie eine armselige Bettlerin behandelt, nur weil ich das beanspruche, was meinem Kind von Rechts wegen zusteht. Warum muß alles erst erkämpft werden? Jede Bewilligung, jeder Antrag? Daß es bisher keine administrative Erleichterung gibt, scheint mir Methode zu haben. Wie soll Martin später einmal mit all diesen bürokratischen Hürden allein fertig werden? Viel mehr an Unterstützung wäre notwendig, und von dem Wenigen, worauf Rechtsanspruch besteht, erfährt man nur per Zufall. So macht es die derzeitige gesetzliche Regelung den Eltern schwer, ihr behindertes Kind zu Hause zu behalten, es nicht in ein Heim zu geben: Mütter, die ihre behinderten Kinder zu Hause betreuen, bekommen viel zu wenig finanzielle Unterstützung, von einer angemessenen Entschädigung für ihre fast unzumutbare Schwerstarbeit gar nicht zu reden. In einem Heim aber kostet dasselbe Kind den Staat monatlich zwischen 10.000 und 30.000 Schilling! Würden die mütterlichen Leistungen entsprechend honoriert, könnten viele Mütter unter angemesseneren Bedingungen ihre Kinder selbst und liebevoll zu Hause betreuen und sich zur Entlastung zeitweilig eine unbedingt notwendige Betreuungshilfe leisten. Die Vorteile: den Staat käme es letztlich billiger, und viele Kinder bräuchten nicht in ein Heim, wären wahrscheinlich sogar besser versorgt. Wie sehr leiden oft schon gesunde Kinder, wenn sie sich in ein Ferienlager oder gar in ein Heim abgeschoben fühlen und reagieren auffällig! Wie schlimm muß das erst für behinderte Kinder sein, die in allen Situationen viel hilfloser und ausgelieferter sind? Wären nicht in vielen Fällen die Eltern die besseren Betreuer? Warum also erhalten Mütter, die ihre behinderten Kinder selbst betreuen, keine finanzielle Unterstützung für ihre schwere Ganztagsbeschäftigung? Wäre das nicht nur gerecht? Sicher braucht es Heime für Kinder, die nicht zu Hause bleiben können, weil deren Eltern sich dieser schweren Aufgabe einfach nicht gewachsen fühlen. Aber häusliche Betreuung sollte wirklich honoriert werden, damit das Heim, das ohnehin die bequemste und einfachste Lösung darstellt, darüber hinaus nicht auch noch am billigsten kommt. Oder ist es vielleicht so, daß Politiker die Aufopferungsbereitschaft von Müttern schamlos ausnutzen, um einzusparen? Wie war das doch gleich mit den Reserven des Familienlastenausgleichsfonds und diversen Budgetlöchern?? Ich möchte Martin nach Möglichkeit nie in ein Heim geben. Aber wie lange werde ich, wird unsere Familie noch stark genug sein, alleine für Martin zu sorgen? Ein weiterer Punkt: Martin wird als schwerstbehindert eingestuft, und deshalb wird keine "Rehabilitation" bezahlt, das heißt, es wird ihm auf Staatskosten keine Chance auf eine Weiterentwicklung gegeben. Dieses Urteil ist für mich als Mutter geradezu unmenschlich und vernichtend. Aber Staatsgelder sollen eben nicht nutzlos verschwendet werden, nicht für hoffnungslose Fälle wie Martin! Das Urteil "nicht förderungswürdig" tut weh. Kann man es wirklich verantworten, einem Kind jede Entwicklungsmöglichkeit abzusprechen? Man kann! Als Mutter eines schwerstbehinderten Kindes lehne ich die Diagnose "nicht förderungswürdig" grundsätzlich ab. Ich glaube, daß in einem so frühen Alter eine so vernichtende Diagnose unangebracht ist.

Krankenzusatzversicherungen: Gerade für Martin wäre es wichtig, bei einem Krankenhausaufenthalt eine vertraute Bezugsperson dabei zu haben. Privat ist das kaum erschwinglich, aber keine Krankenzusatzversicherung ist bereit, einen Schwerstbehinderten aufzunehmen. Die wollen mit einem Patienten wie Martin nichts zu tun haben. Auch hier scheinen wir wieder einmal durch das soziale Netz hindurchzufallen. Wer hilft uns Müttern, die der Alltag völlig erschöpft, die bei all dem Leid, bei all der Last und Schwerarbeit einfach keine Energie mehr haben, ihre mageren Rechte durchzusetzen und Erleichterungen zu erkämpfen? Wer ist für uns da?

Heutiger Stand

Als Martin vor 2 Jahren begann, zusammen mit seiner Schwester einen integrierten Kindergarten zu besuchen, spürte ich erstmals eine wirkliche Entlastung, wenn auch nur für ca. 3 Stunden täglich. Aber ich schöpfte wieder mehr Kraft und Freude. Mit mehr Abstand bekam ich wieder neue Ideen und konnte mich auch mit den Kindern wieder geduldiger und liebevoller beschäftigen. Und so ist es bis heute: Habe ich ein bißchen mehr Zeit für mich, bekomme ich wieder Mut und Hoffnung und sehe nicht alles so schwarz. Geht es mir gut, geht es der ganzen Familie gut, und das spürt auch Martin ganz besonders. Inzwischen besucht Martin eine integrierte Klasse. Unsere Elterngruppe, die von Integrationsbefürwortern sehr unterstützt worden ist, hat diesen Schulversuch initiiert. Martin ist heute fast 8 Jahre alt und hat in letzter Zeit enorme Fortschritte gemacht; er kann sitzen und auch in Sätzen sprechen - oft zwar undeutlich, aber immerhin verständlich. Über all diese neueren Entwicklungen sind wir sehr froh. Dazu kommt noch, daß sich mein lang gehegter Wunsch nach einer häuslichen Betreuungshilfe erfüllt hat. Martin wird zweimal in der Woche für 4 Stunden vom "Mobilen HiIfsdienst" betreut.

Schluß

Martin hat unser Leben und unsere Pläne total umgekrempelt und verändert, durch ihn lernen wir das Leben von einer ganz anderen Seite kennen. Die Wertvorstellungen haben sich gewaltig verschoben: Viele alte Freunde gibt es nicht mehr, geblieben sind uns die wirklichen Freunde, die unser Leid mit ansehen können und oft auch hilfreich zur Seite stehen. Mit Martin habe ich zwar eine große Last zu tragen, aber durch die ganze Situation bin ich auch stärker geworden. Und ich spüre, daß ich wichtig bin. Das Besondere ist: ich habe durch Martin viel verloren, aber auch viel gewonnen. Martin kann mir soviel Liebe geben, er ist so anschmiegsam und genießt jede Form von Zuwendung. Wenn ich mit ihm allein bin, könnte ich vergessen, daß er behindert ist. Ich spüre, wie er sich über jede Kleinigkeit freut, und über das Strahlen in seinen dunklen Augen muß ich dann einfach glücklich sein.

Udo Gerwin Mayr: Persönliche Einstellung eines Neurologen zur Betreuung behinderter Kinder

Wenn ich gefragt werde, was ich beruflich mache und darauf sage, ich sei Kinderneurologe, bekomme ich oft die Meinung zu hören, wie schwierig diese Tätigkeit wohl sei oder wie interessant die Fälle sein müßten, die ein Kinderneurologe zur Beurteilung zugewiesen bekommt.

Bei solchen Gesprächen habe ich den Eindruck, daß ich entweder bedauert oder beneidet werde; auffällig dabei ist, daß zwar mein Beruf auf Interesse stößt, weniger aber das Schicksal der Behinderten, die einen Großteil meiner Patienten ausmachen. Dies scheint mir eine landläufige Fehleinstellung zu sein.

Wir Mediziner werden dazu ausgebildet, alle Krankheiten und Behinderungen so intensiv und gewissenhaft wie nur möglich anzugehen und die modernsten Hilfsmittel zur Anwendung zu bringen. Es ist von hier nur noch ein kleiner Schritt zur Aussonderung Behinderter und unheilbar Kranker, wenn man glaubt, sie in eigens errichteten Institutionen besser und konsequenter behandeln zu können.

Es ist immer sehr hart, zu dem Ergebnis zu kommen, daß eine Erkrankung durch Behandlung nicht gebessert werden kann - gar nicht nur für die betroffenen Eltern und die Patienten selbst, sondern auch für den behandelnden Arzt. Ärztliche Tätigkeit sollte mehr sein als eine bloße Heilbehandlung. Für mich ist es mindestens ebenso wichtig, die Patienten und - wo nötig - deren Eltern zu begleiten, Anteil zu nehmen und das erst recht, wenn kein günstiger Verlauf erwartet werden kann. Dies kann die Entscheidung beinhalten, auf eine Behandlung zu verzichten, wenn sie nicht erfolgversprechend ist und den Patienten zu sehr in seiner Lebensführung einschränken würde. Gerade diesen wichtigen Teil der ärztlichen Betreuung Behinderter können wir Ärzte nur übernehmen, wenn wir den behinderten Menschen so annehmen wie er ist: mit seiner Behinderung. Wir müssen die Behinderung zunächst einmal akzeptieren, was uns oft sehr gegen den Strich geht, denn wir sind es ja gewohnt, die Behinderung eben nicht zu akzeptieren, sondern so intensiv wie möglich gegen sie vorzugehen.

Wenn wir aber die intensive Behandlung in den Vordergrund stellen, wird es dazu kommen, daß noch mehr spezialisierte Institutionen für behinderte Kinder errichtet werden. Und die Behinderten werden immer mehr "Rehabilitationsmaßnahmen" unterzogen, die nur im Rahmen solcher Institutionen überhaupt möglich sind und einen längeren Aufenthalt dort erforderlich machen.

Eine solche Unterbringung ist aber gerade bei Kindern sehr problematisch. Wenn die durchgeführte Behandlung nicht den erwarteten Erfolg zeitigt, was leider immer wieder vorkommt, ist dies besonders augenscheinlich. Das Kind hat dafür nämlich einen hohen Preis zu bezahlen: es zahlt mit dem Verlust oder mit einer beträchtlichen Einschränkung seiner sozialen Integration.

Seine Rückkehr wird schon allein dadurch erschwert, daß der Kontakt mit den Nachbarskindern verloren geht. Die Kinder begegnen einander von nun an mit Scheu: schnell haben es die gesunden Kinder gelernt, Behinderte auszusondern. Auf keinen Fall möchte ich mit diesen meinen Bemerkungen den Eindruck erwecken, daß ich nur pessimistisch bin und am Erfolg verschiedener Behandlungsmethoden zweifle. Im Gegenteil: Ich meine nur, daß alle speziellen Maßnahmen gezielt und kritisch eingesetzt werden müssen. Es soll in jedem einzelnen Fall entschieden werden, wie sich die Behandlung ins tägliche Leben einbauen läßt, ohne das behinderte Kind aus seiner gewohnten Umgebung zu entfernen. Jeder geringste Vorteil, welcher dem Behinderten verschafft werden kann, muß angestrebt werden. Regelmäßige und sorgfältige Kontrolluntersuchungen sind erforderlich und sollten, wo immer möglich, durch Videofilme ergänzt werden, weil Therapiefortschritte besser und leichter anhand solcher Unterlagen objektiv beurteilt werden können. Abzulehnen ist die unkritische Anwendung von Therapien, die nur zur Aussonderung beitragen und in der gegebenen Situation nicht hilfreich sind.

So gut manche Institutionen für behinderte Kinder auch immer sein mögen, alle haben sie eine Reihe wesentlicher Nachteile: Viel zu früh werden behinderte Kinder von ihrer Familie getrennt, mit allen daraus resultierenden psychischen Problemen. Nicht alle Eltern können mit der Behandlung Schritt halten. Sie verlieren den Überblick, weil alles an verschiedene Spezialisten delegiert wird. Die Behinderten haben nicht mehr die Möglichkeit, durch Nachahmen von den gleichaltrigen gesunden Kindern zu lernen. Und auch die gesunden Kinder lernen es nicht früh genug, mit Behinderten zu leben. Kinder wären an sich sehr hilfsbereit, wenn ihnen Hilfsbereitschaft vorgelebt würde. Sondereinrichtungen für Behinderte kann man sehen, sie wirken plakativ und haben eine Alibifunktion für die öffentlichen Stellen. "Seht her, was hier alles für Behinderte geschieht", könnte mit großen Buchstaben über ihrem Eingang stehen. Oder "Wir haben bereits alles Menschenmögliche getan, seht nur, noch mehr zu tun, ist nicht vorstellbar". Der Blick in die Zukunft oder auch nur ins angrenzende Ausland wird so verstellt.

Existierende Institutionen müssen in Anspruch genommen bzw. ausgelastet werden. Auch wirtschaftliche Gründe zwingen dazu, sie vollbelegt zu halten. Manch ein behindertes Kind wird daher länger dort sein, als unbedingt nötig. Es ist aber bekannt, wie schwer Kinder aus solchen Institutionen später im Berufsleben unterzubringen sind. Es ergibt sich daraus sogar die Notwendigkeit, weitere Institutionen zur Betreuung dieser behinderten Jugendlichen zu schaffen.

Die Menschlichkeit zwingt uns, neue Wege zu suchen. Selbstverständlich kann unser derzeitiges System nicht über Nacht geändert werden. Das Wissen und die Erfahrung aller, die bisher schon in Institutionen gearbeitet haben, wird man in jedem Fall auch weiterhin brauchen.

Auch müssen bestehende Einrichtungen nicht als Fehlinvestitionen betrachtet werden. Sie werden nötig sein, zum Beispiel für behinderte Kinder in schwierigen sozialen Verhältnissen oder als Zentren, in denen Spezialisten ausgebildet und behinderte Kinder regelmäßig untersucht werden, um den weiteren Therapieplan zu erstellen und mit jenen Personen zu besprechen, die das Kind an seinem Wohnort ständig betreuen.

Im Ausland gibt es schon genügend Erfahrungen mit ausgereiften Modellen, die auf dem Integrationsgedanken beruhen. Gerade durch integrative Schulen gelingt es wesentlich besser, Behinderte einzugliedern - auch in ihrem späteren Leben.

Die ersten Tiroler Schulversuche mit integrierten Klassen sind ein Schritt in diese Richtung. Die öffentlichen Stellen sollten die in Gang gekommene Entwicklung begrüßen und fördern - denn schließlich spricht das "Tiroler Landes-Behinderten- und Pflegebeihilfengesetz" von "Eingliederung ins Berufs- und Gesellschaftsleben".

Heinz Forcher: Veränderungen

Schicksalsschlag

Am 13. November 1979 wurde unser Kind Ernsti - er war damals sieben Monate alt - behindert. Es traf uns völlig unvorbereitet, ohne jede Vorwarnung, es war wie ein gewaltiger Tritt aus heiterem Himmel. Ich war an diesem Nachmittag geschäftlich unterwegs und kam gegen 20 Uhr nach Hause. Schon beim Eintreten wurde mir bewußt, daß etwas Schlimmes geschehen sein mußte. Unsere drei älteren Kinder, damals vier, sechs, und neun Jahre alt, sowie meine Mutter standen auf der Treppe und sahen mir teils entsetzt, teils erwartungsvoll entgegen: "Weißt du es schon?" fragte Jutta, mit neun Jahren unser ältestes Kind.

"Was soll ich wissen?" fragte ich zurück. "Die Ilse ist mit dem Ernsti zum Doktor und anschließend in das Krankenhaus gefahren, aber ich glaube, es ist nicht so schlimm", sagte meine Mutter zu mir.

Es durchfuhr mich siedendheiß, ich sprang förmlich in mein Auto und raste zum sieben Kilometer entfernten Krankenhaus. Dort wurde Ernsti gerade auf einer Liege ins Freie gefahren. Dahinter ging meine Frau, kreidebleich und voll Angst um Ernsti. Die Augen von Ernsti waren offen und starr nach oben gerichtet. Sein Körper zuckte ständig, und der Schlauch aus seiner Nase verstärkte meine argen Befürchtungen. Ich ahnte das Schlimmste. Der Arzt erklärte mir etwas von Absaugen und Transportfähigmachen. Ilse, meine Frau, erzählte mir kurz den Hergang des fürchterlichen Unglückes- Ernsti hatte einen Erstickungsanfall erlitten. Als ich vernahm, daß Ernsti über längere Zeit ohne Sauerstoff gewesen sein mußte, kreiste nur noch ein Gedanke durch meinen Kopf - Ernsti ist behindert!

Er wurde mit der Liege in das bereitgestellte Rettungsauto geschoben. In Begleitung eines Arztes fuhr meine Frau mit Ernsti nach Innsbruck in die Kinderklinik. Ich fuhr nach Hause, versorgte die Kinder und brachte sie zu Bett. Dann war ich wieder mit mir allein, meine Gedanken waren bei Ernsti. Es waren keine guten Gedanken - ich wurde fast verrückt vor Sorge und haderte mit dem Schicksal.

Später habe ich dann noch mit Ilse telefoniert, sie konnte in Innsbruck bei ihrer Cousine bleiben. Auch sie konnte mir im Prinzip nichts Neues mitteilen. Sie erzählte mir, wie unendlich lange für sie die Fahrt nach Innsbruck gedauert hatte. Die letzten 20 Minuten der Fahrt war sie ganz verzweifelt, denn ab diesem Zeitpunkt wurde Ernsti von starken Krämpfen geschüttelt. Oft habe ich mich noch gefragt, wie es gekommen wäre, hätte damals bereits eine Kinderabteilung im Krankenhaus Reutte bestanden? Wäre dann die Fahrt nach Innsbruck vermeidbar gewesen? Und . . . und . . . und .

In der Klinik angekommen, wurde Ilse von der diensthabenden Ärztin gefragt: "Was wollen Sie überhaupt mit dem Kind noch hier?" - Eine ungeheuerliche Frage, für die sich die Ärztin später entschuldigte. Meine Frau wollte, daß Ernsti lebt - was denn sonst. Ihr einziger Wunsch war, daß Ernsti wieder gesund wird, daß all das, was in den letzten Stunden geschehen war, nicht einmal als ein Traum in Erinnerung bleibt. Ernsti hatte mit seinen sieben Monaten gerade die ersten Stehversuche hinter sich. Er war ein liebes, herziges Kind, und wir fühlten uns immer sehr glücklich, wenn er uns anlachte oder uns seine Ärmchen entgegenstreckte. Ungefähr ab der dritten Lebenswoche hatte er die Nacht durchgeschlafen. Darüber waren wir sehr froh, da wir aus beruflichen Gründen relativ spät zur Ruhe kommen. Er hatte sich ganz normal entwickelt, und wir waren rundum zufrieden und glücklich gewesen. Warum gerade Ernsti? Warum bei uns ein solches Unglück? Wir konnten es einfach nicht begreifen und stellten uns immer wieder die gleiche Frage - warum?

Am nächsten Tag gingen meine Frau und ich zusammen in die Klinik. Ernsti lag allein in einem Zimmer. Eine Schwester war Tag und Nacht an seiner Seite. Seine Atmung wurde durch verschiedene Geräte unterstützt, und er konnte dadurch überleben. Fünf Tage lag er da ohne Bewußtsein. Immer wieder fragte ich die Ärzte, wie es Ernsti gehe, wie es weitergehe, wann er wieder aufwache, ob er wieder ganz gesund werde und . . . und . . . und . . . Geduldig gaben mir die Ärzte Antwort, aber es blieb dennoch alles offen. Am fünften Tag seines Krankenhausaufenthaltes wurden unsere Befürchtungen bestätigt, sie wurden durch die Auskunft des Oberarztes noch übertroffen. Es war ein schrecklicher Moment, und ich glaubte, "jetzt ist alles aus", als er uns mitteilte, daß Ernsti ein Leben lang in totaler geistiger Umnachtung, als schwerst und mehrfach behinderter Mensch, als "Pflegefall" weiterleben oder, besser gesagt, dahinvegetieren wird.

Es war niederschmetternd. Ich bin ganz einfach nicht in der Lage zu beschreiben, wie wir uns fühlten, wie uns zumute war, nach dieser fürchterlichen Mitteilung des Arztes.

Wir blieben noch für kurze Zeit bei Ernsti und verließen dann gemeinsam die Klinik. Wir gingen ziellos durch die Straßen, ich weiß heute nicht mehr wie lange, ich weiß nur noch, daß wir anschließend sehr gefroren haben, wir zitterten am ganzen Körper. Es war für uns immer noch unfaßbar, was der Arzt uns mitgeteilt hatte. Wir standen total unter Schock. Da war nichts als Leere. Wir hatten keinerlei Vorstellung, wie es in Zukunft weitergehen sollte. An diesem Abend war auch für meine Frau die Grenze des Ertragenkönnens erreicht, sie sank auf der Bank im Wohnzimmer ihrer Cousine mit einem Schreikrampf in sich zusammen. Sie schrie minutenlang, während wir daneben saßen, weinten und nicht wußten, was wir tun könnten. Zwei bis drei Wochen pendelte ich die 100 Kilometer zwischen Weißenbach und Innsbruck hin und her. Dabei war es für uns eine große Stütze, daß Ilse und teilweise auch ich bei der Familie ihrer Cousine bleiben konnten. Sie unterstützten uns, ohne dabei aufdringlich zu sein, wir fühlten uns einigermaßen geborgen, wir hatten das dringend nötig.

Wir lebten wochenlang in einem Zustand der Angst. Inzwischen mußte Ernsti beim Atmen zwar nicht mehr durch Geräte unterstützt werden, aber er zeigte sonst noch keinerlei Reaktionen. Wir saßen an seinem Bett nur da, schauten auf ihn, streichelten zwischendurch seine Hände, versuchten mit ihm zu reden und hofften wenigstens auf eine kleine Reaktion, wir hofften ständig auf ein Zeichen, daß er uns zumindest hört. Mit der Zeit lernten wir von den Schwestern, wie Ernsti das Essen und das Trinken gegeben wird. Er "ließ alles hängen", sein Körper war ohne Kraft. Sein Blick blieb leer, ohne jeden Ausdruck. Es war erschütternd, so dasitzen zu müssen und nichts anderes tun zu können, als auf ein Wunder zu warten. Wir versuchten uns gegenseitig Zuversicht und Mut zuzusprechen es war meistens wenig überzeugend und ohne Erfolg.

Endlich war es soweit: Am 14. Dezember 1979 durfte Ernsti nach Hause. Wir freuten uns sehr darüber, daß er endlich wieder ganz bei uns war. Die Kinder und meine Mutter warteten ebenfalls voll Spannung auf unser Kommen. Zu Hause begann sich wieder zaghaft Hoffnung in uns zu regen.

Alles verändert sich

Große Freude am 21. Jänner 1980: Wir hatten das erstemal wieder Blickkontakt mit Ernsti. Es begann ein Zeitabschnitt mit täglich vielen unbeantworteten Fragen. Es war uns trotz ärztlicher Diagnose schwere cerebrale Schädigung durch Sauerstoffmangel - noch nicht bewußt, daß Ernsti für sein ganzes Leben behindert sein werde. Wir wollten das Furchtbare nicht wahrhaben, wir verdrängten diese Gedanken täglich aufs Neue. Damals wußte ich noch nicht, wie sehr sich mein eigenes Leben durch dieses Unglück verändern würde. Vieles war plötzlich nicht mehr so wichtig wie noch Wochen zuvor. Ich setzte meine Prioritäten plötzlich ganz anders. Ich merkte es nicht sofort, aber ich begann mich stark zu verändern. Meine Umgebung veränderte sich ebenfalls. Anfängliches Mitgefühl seitens mancher Mitmenschen verwandelte sich in Unverständnis, sie gingen teilweise auf Distanz, bei einigen entwickelte sich Ablehnung mir gegenüber und sogar Zorn, daß ich sehr betroffen und empfindlich reagierte und vieles ernster und grundsätzlicher betrachtete als früher. Es veränderte sich mein Bekannten- und Freundeskreis. Alte Freundschaften gingen verloren, ein neuer Freundeskreis entstand. In dieser "neuen Umgebung" verspürte ich menschliche Wärme, Verständnis für meine Situation, Zuneigung und Liebe. Ich konnte offen meine Gedanken aussprechen, ich hatte ein großes Bedürfnis, über meine Situation, über meine Probleme reden zu können. Diese Gespräche waren für mich sehr wichtig. Ich brauchte diese Reflexion, es half mir sehr, die ersten Jahre einigermaßen ohne großen Schaden zu überstehen. So gesehen war und ist die Behinderung von Ernsti ein Anstoß für meine persönliche Weiterentwicklung. Durch meine Erlebnisse mit Ernsti bin ich von einem vertrauensseligen, passiven, eigentlich naiven zu einem suchenden, praktisch und politisch aktiven und engagierten Menschen geworden. Die Erlebnisse unserer Familie zeigen, welch schwerwiegende Umstände eintreten müssen, damit Eltern von behinderten Kindern sich endlich aufraffen, die Versorgung und die Betreuung ihrer Kinder selbst zu bestimmen und ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen.

Aufbruch statt Resignation

Natürlich hätte es auch bei uns so verlaufen können, wie leider bei so vielen Familien mit einem behinderten Kind, wo sich Resignation, Flucht in den Alkohol, zerrüttetes Familienleben usw. einstellen. Auch in unserer Familie haben die ständigen Belastungen sowie der Druck von außen Spuren hinterlassen. Glücklicherweise hatte ich aber noch genug Energie, mich dagegen zu wehren und auch gegen bestehende Mißstände, die sich zuerst einmal im Fehlen einer ausreichenden therapeutischen Versorgung für mein Kind zeigten. Durch mehrmaligen Wechsel der für den Bezirk Reutte zuständigen Therapeuten und durch wochenlange Zwischenzeiten ohne Therapie wurde die Situation für die behinderten Kinder und deren Eltern zu einer unzumutbaren Belastung. Da dieser Zustand über Jahre dauerte, entschlossen wir uns - zusammen mit anderen Eltern - zur Selbsthilfe. Für mich bedeutete dies, die bestehenden Zustände stärker politisch zu sehen und mit den anderen Betroffenen gemeinsam die eigenen Vorstellungen zu artikulieren. Es ging darum, die notwendigen Forderungen an die zuständigen Behörden und die politisch Verantwortlichen zu stellen und die Öffentlichkeit auf die Mißstände aufmerksam zu machen. Anstatt die betroffenen Eltern in ihrem selbstbewußten und verantwortungsvollen Auftreten zu unterstützen und sich mit ihren berechtigten Anliegen und Forderungen solidarisch zu erklären, entwickelte sich bei den für diese Mißverhältnisse verantwortlichen Personen ein mehr als unqualifizierter Cliquengeist. Dieses plötzliche und wahrscheinlich unerwartet selbstbewußte Handeln der Eltern ging einigen für den Betreuungs- und Versorgungsbereich der behinderten Menschen im Bezirk Reutte verantwortlichen Personen so sehr unter die Haut, daß sie geschockt und scheinbar total verwirrt waren, denn anders sind die Reaktionen von verschiedenen Leuten nicht erklärbar, in denen uns Eltern direkt oder indirekt das Recht abgesprochen wurde, die Interessen unserer Kinder wahrzunehmen, zu vertreten und letztendlich auch durchzusetzen.

Hoffnungen und Rückschläge

Nach dem anfänglichen Schock bei meiner Frau und mir kam mit der Zeit die Hoffnung, daß sich der Zustand unseres Sohnes nach und nach bessern würde. Ich fragte die damalige Therapeutin immer wieder: "Wann gibt es wieder eine Verbesserung für Ernsti, wie weit wird er überhaupt kommen, gibt es vergleichbare Fälle?" usw. Bei uns entwickelte sich mit der Zeit das Denken, die Therapeutin macht das schon alles, und sie sagt uns auch in gewissen Zeitabständen, wie weitergemacht wird bzw. was zu tun ist, damit sich der Zustand von Ernsti möglichst schnell verbessert - wir waren einfach passiv.

Obwohl die Therapeutin uns allen - auch den Verantwortlichen der Bezirkshauptmannschaft und des Landes - rechtzeitig, nämlich ca. ein Jahr vorher mitteilte, daß sie ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr zur Verfügung stehen werde, wurde dies erst wirklich registriert, als die Therapeutin wirklich nicht mehr zur Verfügung stand und kein Ersatz organisiert war. Ich selbst habe mich zwar vorher einige Male erkundigt und mit der Therapeutin gesprochen, was man tun könnte und wie die Situation verbessert werden könnte, aber niemand handelte, und es blieb eben, wie so oft, beim Vorsatz. Wahrscheinlich verließen wir uns insgeheim darauf, es würde jemand anderer diese Dinge erledigen und die entsprechende Verantwortung übernehmen.

Vor Weihnachten 1983 mußten meine Frau und ich uns dann jedoch mit dem Gedanken beschäftigen, Ernsti gegen Ende Jänner 1984 in ein "geeignetes Heim" zu geben. Wir hatten uns unter vorgegebenen Möglichkeiten zu entscheiden!

Die Trennung

Nach gründlicher Überlegung, vorheriger Besichtigung und ausführlichen Gesprächen mit den dort arbeitenden und verantwortlichen Personen waren meine Frau und ich gezwungen,

Ernsti im Jänner 1984 in das 100 Kilometer entfernte Elisabethinum in Axams zu geben. Die "Notwendigkeit" ergab sich aufgrund der nicht vorhandenen therapeutischen Möglichkeiten im Heimatbezirk.

Vielleicht kann man sich vorstellen, in welcher Verfassung wir waren, als wir uns genötigt sahen, Ernsti, unser Kind, wegzugeben und fremden Menschen anzuvertrauen.

Beim ersten Auseinandergehen hat Ernsti es uns relativ leicht gemacht, weil er beeindruckt und begeistert war von der neuen Umgebung, den netten Menschen, von den neuen Spielsachen und dem bunten Kugelbad. Er hat uns gehen lassen, weil zu diesem Zeitpunkt für ihn das Neue faszinierend wirkte. Er konnte natürlich nicht wissen, daß das der Beginn einer langen und sich immer wiederholenden Trennung von seiner gewohnten Umgebung und seiner Familie war und daß nicht nur ein "Spieltag", sondern eine ganze Woche Therapie auf ihn wartete. Für uns kam eine endlos scheinende erste Woche, die wir durch mehrmalige Telefonate mit unserem Kind zu verkürzen versuchten. Dabei bemerkten wir sofort an seinem Verhalten, wie sehr auch ihn die Trennung belastete und traf.

Natürlich ist auch diese erste Woche vorbeigegangen, und ich habe Ernsti am Freitag Mittag nach Hause geholt. Auf die überschwängliche Freude, mit seinem Papa wieder nach Hause fahren zu können, folgte aber unausweichlich der Montag, am dem ich Ernsti wieder ins Heim bringen mußte. Schon während der Fahrt nach Axams spürte er, daß es eine neuerliche Trennung geben werde, und er gab mir mehrmals zu verstehen, daß er gerne wieder zu seiner Mama möchte. Die folgende Abschiedsszene war sicher eines jener Erlebnisse, durch welches ich in meinem Innersten zutiefst getroffen und für mein weiteres Leben bestimmt wurde.

Noch heute habe ich dieses Bild vor Augen, wie Ernsti voll ohnmächtiger Verzweiflung seine ganze Not heraus brüllte, ja, wie es geradezu aus ihm herausbrach. Es war ganz, ganz furchtbar.

Wie ein Brandmal prägte sich diese Szene bei mir ein. Jedenfalls war für mich der Punkt erreicht, am dem ich etwas unternehmen mußte, an dem ich nicht mehr bereit war, jene Umstände zu akzeptieren, die für seine ohnmächtige Verzweiflung und meinen Zorn verantwortlich waren. Ich habe das Gefühl, daß in diesem Moment die Energie freigesetzt wurde, von der ich bis heute getrieben werde, die mich dazu bringt zu versuchen, die Situation für mein Kind und für die behinderten Menschen generell zu verbessern. Ich bin zutiefst überzeugt: Nur wenn die Lebenssituation für alle behinderten Menschen in Österreich verbessert wird, kann mein Sohn Ernsti in einem Klima leben, das dauerhaft seinen Bedürfnissen gerecht wird. Meiner Überzeugung nach ist eine Verbesserung der Lebensumstände für behinderte Menschen gleichzeitig die Voraussetzung für eine Verbesserung der Lebensqualität für alle Menschen. Ich bedauere es sehr, daß mir diese grundsätzliche Einstellung immer wieder als parteipolitisches Interesse (ich bin aktives SPÖ-Mitglied) ausgelegt wird.

Der Wendepunkt - Gründung des Elternvereins

Es gab für mich einen Zeitpunkt, an dem ich die bestehende Situation einfach nicht mehr akzeptieren wollte. Wegen der Behinderung unseres Sohnes Ernsti - Tetraplegie (Lähmung aller vier Gliedmaßen) mit Rechtsüberwiegen - war mein Leben ganz gewaltig ins Trudeln gekommen, wie wenn bei einem Flugzeug eine Tragfläche abreißt. Da wir nicht bereit waren, Ernsti im Heim aufwachsen zu lassen, setzte ich mich mit verschiedenen zuständigen Stellen in Verbindung und informierte mich über die Möglichkeiten für eine Verbesserung der Situation im Bezirk Reutte.

Wie es nun zur Gründung des Elternvereins für Behinderte im Außerfern gekommen ist, auf dessen Gründung von offizieller Seite übersensibel reagiert wurde, möchte ich genauer erklären: Nachdem sich herausstellte, daß von keiner Seite eine aktive Unterstützung zu erwarten war, setzte ich mich mit Hilfe der Amtsärztin mit anderen betroffenen Eltern in Verbindung. Bei einer ersten Besprechung kam das starke Bedürfnis nach einer Verbesserung der bestehenden Situation deutlich zum Ausdruck. Bei diesem Treffen herrschte ein stark emotionalisiertes Klima - viele Mütter weinten, alle redeten durcheinander. Obwohl eigentlich die mangelhafte therapeutische Betreuung Anlaß für dieses Gespräch war, wurde uns allen bewußt, wie vielfältig sich die Probleme Behinderter und ihrer Angehörigen wirklich darstellen. Gleichzeitig kam bei unseren Überlegungen zum Ausdruck, daß wir uns keine Hilfe erwarten durften, wenn wir nicht selbst bereit wären, dementsprechend zu engagieren. Das wurde uns besonders deutlich gemacht durch die Erfolglosigkeit vieler Einzelinitiativen. Uns wurde klar: wenn es eine Möglichkeit zur Verbesserung geben kann, dann nur geschlossen und gemeinsam!

Um diese Gedanken umzusetzen, wurde die Gründung eines Elternvereins für Behinderte im Außerfern in die Wege geleitet. Es gab vielfältige Versuche, den Elternverein erst gar nicht entstehen zu lassen. Die Forderung nach mehr Therapie wurde als unqualifiziert, nicht notwendig oder als utopisch und nicht finanzierbar bezeichnet. So wurde z. B. von den Verantwortlichen die Zahl der Menschen, die Physiotherapie notwendig hatten, mit nur 20 Prozent der tatsächlichen Höhe angegeben. Trotz der massiven Widerstände auf sachlicher und persönlicher Ebene ließen wir uns nicht einschüchtern. Die Gründung erfolgte am 24. Mai 1984. In Selbsthilfe stellten wir als Elternverein einen Therapeuten ein. Es hat dann zirka acht Monate zäher Verhandlungen gebraucht, bis wir das erste Geld vom Land Tirol für die schon geleisteten Therapiestunden erhielten.

Die ersten inhaltlichen Erfolge des Vereins verhinderten nicht, daß weiterhin Angriffe auf persönlicher Ebene - sie reichten oft bis unter die Gürtellinie - fortgesetzt wurden. Sie beinhalteten immer wieder die Vorwürfe gegen mich als aktives SPÖ-Mitglied, die Behinderung meines Kindes parteipolitisch zu mißbrauchen. Es paßt zur Situation, daß derartige Angriffe nur von verschiedenen Amtsträgern gekommen sind, die die Absonderung Behinderter erhalten wollten. Die intensive Zusammenarbeit des Elternvereins mit Ärzten des Bezirkes und eigene Erhebungen waren die Grundlage für die Erfassung möglich. Durch dieses fruchtbare Zusammenwirken konnte der Elternverein im Laufe der Zeit rund 65 behinderten Menschen im Bezirk Reutte eine entsprechende Therapie ermöglichen. Dieses frucht bringende Zusammenwirken war die Grundlage für die Erfassung möglichst aller, die einer Therapie als Unterstützung zur Bewältigung ihrer Lebenssituation bedurften. Auch die Qualität der Betreuung änderte sich entscheidend, weil erstmals dem Wunsch und den Bedürfnissen sehr vieler Betroffener nach freier Wahl der Therapie, sei es ambulant oder stationär, Rechnung getragen wurde. Nach unserer Ansicht kommt gerade die ambulante Therapie den Bedürfnissen der behinderten Menschen in den meisten Fällen mehr entgegen als die stationäre, da eine stationäre Versorgung für viele Menschen schon aus rein geographischen Gründen, durch z.B. unzumutbar lange Anfahrtswege aus dem Lechtal, gar nicht bzw. sehr schwer möglich ist. Nicht die vielen Geräte, z.B. Sprossenwand usw. sind für Therapie entscheidend, sondern die Einbeziehung der wirklichen Lebenssituation des behinderten Kindes und seiner Eltern.

Es geht nicht darum zu versuchen, jede Behinderung mit Gewalt zu heilen. Es geht meiner Ansicht nach vielmehr darum, dem betroffenen Kind unter Mithilfe der Therapie bessere Lebensvoraussetzungen zu schaffen, das heißt, das betroffene Kind dahingehend zu unterstützen, seine Lebenssituation möglichst autonom und selbständig bewältigen zu können. Es ist notwendig anzuerkennen, daß j e d e r Mensch - ob behindert oder nichtbehindert - eine Persönlichkeit mit vielfältigen Möglichkeiten ist. Er hat daher das Recht auf möglichst individuelle Förderung und Unterstützung bei seiner Entfaltung ohne Isolation von der gewohnten Umgebung.

Fusion mit der Sektion Lebenshilfe Außerfern

Der Elternverein arbeitete unter diesen Zielsetzungen kontinuierlich weiter und konnte bald zwei weitere Therapeuten anstellen. Dadurch wurde allerdings der Konflikt im Bezirk nicht geringer, sondern nahm immer neue Dimensionen an. Dies führte z. B. dazu, daß im Mai 1985 der damalige Bundespräsident Dr. Rudolf Kirchschläger mit Landeshauptmann Eduard Wallnöfer im Gefolge bei einem Besuch im Bezirk Reutte in der Öffentlichkeit mit den Mitgliedern des Elternvereins ihre Probleme diskutierte. Dieses Gespräch brachte eine entscheidende Wende insofern, daß nun doch alle Verantwortlichen ernsthaft an einem gemeinsamen Gespräch zur Lösung der Konflikte interessiert waren. In wochenlangen Verhandlungen wurde vereinbart, daß der Elternverein mit der Lebenshilfe fusioniert: Die Sektion "Lebenshilfe Außerfern, Elternverein für Behinderte im Bezirk Reutte", wie die neu organisierte Sektion ab nun heißen soll, bekommt eine neue Geschäftsordnung, die der Sektion weitgehende Autonomie sichert und in der die Zielsetzung der gesellschaftlichen Integration Behinderter verankert wird. Es werden Neuwahlen des Vorstandes in geheimer Abstimmung durchgeführt.

Im Dezember 1985 fanden dann die entsprechenden Wahlen statt, wobei der größte Teil des bisherigen Vorstandes des Elternvereins in den neuen Sektionsvorstand der "Lebenshilfe Außerfern, Elternverein für Behinderte im Bezirk Reutte" gewählt wurde.

Die Gesprächsbasis aller Beteiligten verbesserte sich ab diesem Zeitpunkt zusehends, wenn auch der prinzipielle inhaltliche Konflikt bis heute besteht und der Kampf um die Integration ein langes, mühsames Ringen erfordert. Es ist mir wichtig auch festzustellen, daß in jüngster Zeit Wünsche der Sektion Außerfern seitens der "Lebenshilfe Tirol" zunehmend ernster genommen werden. Die Toleranz gegenüber einer neuen und umfassenderen Lebenshilfe im Außerfern scheint zu wachsen.

Inzwischen erweiterte sich das ambulante Betreuungsteam für den Bezirk Reutte auf zwei Physiotherapeutinnen, zwei Logopädinnen und zwei Therapeutinnen für die ambulante Frühförderung.

Die Therapeutinnen arbeiten in den Familien, Kindergärten und Schulen sowie in den eigenen Therapieräumen der Lebenshilfe Außerfern. Damit ist die direkte Zusammenarbeit mit den Eltern, den Kindergärtnerinnen, den Lehrpersonen weitgehend gewährleistet. Nicht nur die Eltern, sondern auch die Kindergärtnerinnen und die Lehrpersonen beginnen diese Art der Zusammenarbeit mehr und mehr zu schätzen. Ein großes Problem für die Arbeit der Sektion ist der ständige finanzielle Engpaß. Aufgrund der bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten in Tirol ist es nicht möglich, den gesamten Betreuungsumfang in Rechnung zu stellen. So entsteht für die Sektion monatlich ein erheblicher finanzieller Ausfall, welcher nur über Spendengelder abzudecken ist. Die Lebenshilfe Außerfern ist meines Wissens die erste Teilorganisation innerhalb der Lebenshilfe Österreichs, die in ihren formulierten Zielsetzungen die gesellschaftliche Integration auf allen Ebenen (Kindergarten, Schule, Arbeitswelt, Wohnen usw.) verankert hat. Auch fühlt sie sich nicht nur für geistig behinderte Personen zuständig, sondern hat grundsätzlich den Anspruch, allen behinderten Personen des Bezirkes Reutte, die Hilfe benötigen, die entsprechende Unterstützung zu geben.

Schulische Integration

Sicherlich hat diese grundsätzliche Haltung der Lebenshilfe Außerfern auch dazu beigetragen, daß im Bezirk inzwischen (Schuljahr 1988/89) vier Schulversuche zur Integration von behinderten Kindern eingerichtet wurden.

Dabei ergaben sich je nach örtlichen Voraussetzungen verschiedene Problemstellungen: Zwar konnte in Weißenbach der Schulversuch anfänglich ohne große Probleme eingerichtet werden, doch traten ab dem Zeitpunkt Schwierigkeiten auf, als die beiden Lehrerinnen den Standpunkt vertraten, die weitere Integration unseres Sohnes Ernsti sei nicht mehr möglich. Es wurde argumentiert, daß es günstiger wäre, er ginge noch ein bis zwei Jahre in den Kindergarten, um dann bessere Voraussetzungen für die Schule zu haben. Es zeigte sich sehr deutlich, daß die Haltung der beiden Lehrpersonen sehr auf ein normiertes Leistungsverhalten ausgerichtet war. Das Problem für die Integration von Ernsti war offensichtlich nicht so sehr seine Behinderung, sondern das Unvermögen der Lehrpersonen, sich auf die Individualität des Kindes einzustellen und den Unterricht entsprechend zu gestalten. Ständig wurde auch den Eltern der nichtbehinderten Kinder suggeriert, daß durch die Integration der behinderten Kinder Nachteile für ihre Kinder entstehen könnten. Auch in verschiedenen Lehrerkreisen wurden entsprechende Argumente ohne genaue Kenntnis der Situation verbreitet. Das führte und führt immer noch dazu, daß Eltern schulische Schwächen ihrer Kinder auf die Integration zurückführen. In diesem Klima fortgesetzter Vorurteile kommt es dann zu Aussagen wie: "Zwei Jahre Versuch sind genug, aber jetzt gehören die Behinderten hinaus", oder "Die Kinder, die um die Behinderten herum sind, erleiden auf jeden Fall einen Schaden!" Es muß dazu gesagt werden, daß dieser Schulversuch nach einem Austausch beider Lehrer allen Anfeindungen zum Trotz sehr erfolgreich arbeitet. Dieser Erfolg beruht vor allem auf dem großen Engagement der beiden derzeitigen Lehrerinnen.

Ganz anders hingegen ist die Situation in Steeg. Dort hat der Schulleiter frühzeitig seine Bereitschaft bekundet, die behinderten Kinder in seine Schule aufzunehmen und auch die notwendigen Rahmenbedingungen herzustellen. Diese Initiative wurde auch seitens der Gemeinde durch ihren Bürgermeister unterstützt. Durch dieses positive Klima in der Gemeinde gibt es bei diesem Schulversuch keinerlei erkennbare Schwierigkeiten.

Eine besondere Situation ergab sich in Lechaschau bei Reutte. Ein gehörloses Kind mußte aufgrund seiner Behinderung den Heimatort verlassen und verbrachte ein Jahr in einem 120 Kilometer entfernten spezialisierten Sonderkindergarten. Für die Mutter und das Kind war die Isolation durch die Trennung von zu Hause so unerträglich, daß sie sich entschied, mit ihrem Kind wieder nach Reutte/Lechaschau zurückzuziehen. Zu diesem Zeitpunkt ergab sich das Problem der Einschulung dieses Kindes. Die Sonderschule Reutte war bereit, eine integrative Schulversuchsklasse einzurichten und das Kind aufzunehmen. Von ihr gingen entscheidende Impulse aus, Eltern nicht behinderter Kinder für diesen Schulversuch zu gewinnen. In mehreren Elternversammlungen, zu denen die "Lebenshilfe Außerfern, Elternverein für Behinderte im Bezirk Reutte" eingeladen hatte, wurden die Eltern informiert, es wurden organisatorische Schwierigkeiten besprochen und gemeinsam Wege gesucht. Ausschlaggebend für das Zustandekommen dieses integrativen Schulversuches war das positive Klima, das durch die Lehrerschaft der Sonderschule und einen engagierten Volksschullehrer geschaffen worden war. Schließlich waren es 39 Eltern, die ihre nichtbehinderten Kinder in eine Integrationsklasse geben wollten. Es waren mehr Kinder, als überhaupt in die Klasse aufgenommen werden konnten. Daß dieser Schulversuch letztlich doch nicht an der Sonderschule, die ihn ja eigentlich initiiert hatte, eingerichtet wurde, sondern an der Volksschule, ist auf eine Maßnahme der Schulbehörde zurückzuführen.

Gerade dieses Beispiel zeigt, wie viele Eltern durch entsprechende Information und Aufklärung für Integration zu gewinnen sind. Das ist eine sehr erfreuliche Erkenntnis und läßt mich zuversichtlich sein in bezug auf die Zukunft. Vielleicht wird sich mit dieser Entwicklung auch die Einstellung gegenüber Behinderten allmählich verändern. Integration braucht eine gesunde Einstellung zur Behinderung. Im Buch "Italienische Verhältnisse" von Jutta Schöler bin ich auf ein Zitat von Milani Comparetti gestoßen: Er meint, ". . . daß Rehabilitation mit dem Einbeziehen in das normale Leben beginnt und ohne diese zum Scheitern verurteilt ist". Und er spricht mir aus der Seele, wenn er sagt:

"Die Aussonderung ist in sich selbst eine Behinderung."

Heinz Forcher / Volker Schönwiese: Zur Geschichte der schulischen Integration in Österreich

Über die österreichische Integrationsbewegung zu berichten, ist leicht und schwer zugleich.

Es ist deswegen leicht, weil Österreich in seinen Bestrebungen, "Integration in der Schule" durchzuführen, bisher nur eine kurze Geschichte hat. Haben andere Staaten, gerade entwickelte Industriestaaten in unserer Umgebung, schon seit den 50er Jahren entscheidende Fortschritte gemacht und haben dort Elternbewegungen schon sehr lange für schulische Integration gekämpft, wie z. B. in Italien, im ganzen skandinavischen Raum, aber auch in der BRD, so hat diese Welle Österreich erst Mitte der 80er Jahre so richtig erreicht (also auch wesentlich später als in der BRD).

Es ist deshalb besonders schwer, darüber zu berichten, weil diese junge Bewegung eine Fülle sehr unterschiedlicher und differenzierter Erfahrungen gemacht hat, wobei wir versuchen möchten, einige dieser Erfahrungen zu beschreiben.

Die Anfänge

Der genaue Zeitpunkt des Beginns der österreichischen Integrationsbewegung ist nicht leicht zu bestimmen. Ein wichtiger Ausgangspunkt war ganz bestimmt der erste integrierte Kindergarten Österreichs in Innsbruck, der konsequent dem Anspruch von Integration nachgekommen und damit auch an die Öffentlichkeit getreten ist.[2] Dies war Ende der 70er Jahre. Wichtig ist festzustellen, daß es zu dieser Zeit in Österreich noch keine Elternbewegung für Integration gegeben hat.

In Ansätzen existierte allerdings schon eine kleine Bewegung von Initiativgruppen Behinderter und Nichtbehinderter, die sich nach dem Vorbild des Frankfurter Volkshochschulkurses "Bewältigung der Umwelt" von Ernst Klee gebildet hatte.[3] Diese Gruppen sind regional und auch überregional mit massiven Forderungen an die Öffentlichkeit getreten und haben den Abbau von Segregation sowie den Abbau von Sondereinrichtungen verlangt. Sie waren erfolglos in der realen Umsetzung ihrer Forderungen (was die schulische Integration betrifft), konnten aber erste Erfolge in der Sensibilisierung der Öffentlichkeit verzeichnen.[4]

Dann kam das für die Betroffenen berühmt-berüchtigt gewordene Jahr der Behinderten 1981 . Kaum ein Behinderter betrachtete dieses von oben verordnete Jahr wirklich als "sein Jahr". Als Protest gegen dieses "Jahr der Behinderer" - wie es von kritischen Behinderten umbenannt wurde - das offensichtlich nur zur Selbstdarstellung von Politikern und Funktionären dienen sollte, schlossen sich die Behinderteninitiativen zusammen. Eine Aktion, die in der Öffentlichkeit einige Wellen schlug, war dabei recht bedeutend: Zur Eröffnung des Jahres der Behinderten durch die Bundesregierung in der Wiener Hofburg kamen die Initiativgruppen aus ganz Österreich zusammen, und Rollstuhlfahrer blockierten eine halbe Stunde lang alle Eingänge der Hofburg, um den Offiziellen der Bundesregierung, den Landessozialreferenten und den höchsten Beamten des Staates den Eintritt zu verwehren, sie zu "behindern". Dies machte auch klar: Dieses Jahr der Behinderten ist nicht das Jahr von Eltern behinderter Kinder, nicht das Jahr von Behinderten selbst. Es ist das Jahr einer Sozialpolitik, die nicht human ist, sondern den Ausschluß fördert. Es ist eine Pikanterie, daß das Jahr der Behinderten, das weitgehend als Jubeljahr der bestehenden Einrichtungen dazu benutzt werden sollte, den einmal eingeschlagenen Weg zu legitimieren, um ihn kritiklos fortsetzen zu können, darin eigentlich am erfolgreichsten war (und langfristig wirksam geworden ist), daß es eine kritische Einstellung und den Widerspruch gegen eben diese Politik der Absonderung gefördert hat.

Die Öffentlichkeit wurde zu dieser Zeit erstmals auf die echten Probleme aufmerksam. Diesem "Abwehrkampf" der Behinderten ist es zu verdanken, daß es dann auch im österreichischen Fernsehen zu zwei wichtigen Sendungen gekommen ist:

Eine dokumentarische Sendung hat erstmals das Schulsystem von Nord- und Südtirol verglichen. Nordtirol hat ein selektives und stark ausgeprägtes Sonderschulsystem. Südtirol als Teil des Staates Italien ist durch das römische Gesetz verpflichtet worden, 1977 die schulische Integration einzuführen. In Südtirol war es so, daß Elterninitiativen die Verwirklichung dieses Staatsgesetzes durchgesetzt haben. Wenn auch in Südtirol noch viele Schwierigkeiten zu bemerken sind (insbesondere in der Lehrerbildung), so ist es dennoch gegenüber Österreich und auch der Bundesrepublik Deutschland in seiner Entwicklung weit voraus.

Der zweite Beitrag war eine Club-2-Diskussion, in der es um schulische Integration ging und es zu charakteristischen Auseinandersetzungen kam. An dieser Sendung nahm ein behinderter Mann der Innsbrucker Initiativgruppe teil, der über seine konkreten Erlebnisse in der Sonderschule berichtete, insbesondere über die sehr problematische Unterrichtssituation, in der er ein "schwieriges" Kind unter vielen weiteren "schwierigen" Kindern war. Neben ihm saß in der Sendung ein Sonderschullehrer, der behauptete, das alles stimme nicht. Die Diskussionsleiterin mußte darauf bestehen, daß jetzt einmal der ehemalige Sonderschüler mit seinem Bericht, dies und jenes sei in der Sonderschule passiert, ernst genommen werden solle. Diese Gesprächsszene war typisch für den Verlauf der Diskussion und zeigte klar einen Standardkonflikt, nämlich die mehr oder weniger wohlmeinende Entmündigung von Sonderschülern durch durchaus engagierte Sonderpädagogen. In diesem Club 2 wurde durch den behinderten jungen Mann auch der Aufruf eingebracht, ein Volksbegehren zum Thema Sonderschule einzuleiten. Die Initiativgruppe, aus der dieser Behinderte kam, versuchte dann als eine Art Vorläufer für ein Volksbegehren - dessen Zustandekommen zum damaligen Zeitpunkt nicht realistisch erschien - eine Unterschriftenaktion zur Abschaffung von Sonderkindergärten und Sonderschulen in ganz Österreich in Gang zu bringen. Diese Unterschriftenaktion löste helle Empörung unter den leitenden Sonderpädagogen aus. Sie wurde kein quantitativer Erfolg (ca. 2500 Unterschriften). Dennoch hat diese eher kleine Unterschriftenaktion durch ihr Informationsblatt, das den verschiedensten Zeitschriften beigelegt wurde und so in ganz Österreich Verbreitung fand, einen ersten, wichtigen Bericht über den internationalen Stand der schulischen Integration gegeben, der im Stande war, über den engen Kreis einiger Fachleute hinaus auch Eltern und Lehrer anzusprechen. In vielen westlichen Ländern gab es zu diesem Zeitpunkt schon Gesetzeswerke zur Integration: Norwegen 1976, Italien 1977, Dänemark 1980.

Im Rahmen der österreichischen Schulentwicklung können als Vorformen der Integration die einzelnen Ambulanzlehrersysteme gelten: Sprachheillehrer, Beratungslehrer und psychagogische Betreuer für verhaltensauffällige Schüler, Stützlehrer zur kognitiven Förderung von Schülern der ersten beiden Volksschulklassen, Begleitlehrer für Ausländer, Lehrer der diversen Sonderschulsparten, die vereinzelt und stundenweise Integrationshilfen an den Regelschulen leisten (z. B. Lehrer der Sehbehindertenschule oder der Körperbehindertenschule usw.) etc. So begrüßenswert diese Hilfen zur Zeit ihrer Einführung waren, so nachteilig wirkte sich ihre Institutionalisierung auf die Dauer aus. Es konnte und kann nämlich in mit Ambulanzlehrern gut versorgten Regionen, wie z. B. Wien durchaus passieren, daß aus einer Klasse während eines Tages zwei oder drei Ambulanzlehrer ihre Schützlinge herausholen. Abgesehen davon, daß diese Ambulanzlehrer sehr selten in der Klasse arbeiten und so ein Klima der Separation erzeugen, splittern sie die Kompetenz des Lehrers auf, so daß die Lehrer darin behindert werden, den betreffenden Schüler in seiner Ganzheit zu begreifen. Logische Abhilfe dieser Schwierigkeit ist nur im gemeinsamen Unterricht von zwei Lehrern zu finden, wie er international in verschiedener Weise für integrativen Unterricht ja auch schon lange gehandhabt wird. Zeichen dafür, daß der Integrationsgedanke in Österreich Fuß zu fassen begann, waren grundsätzliche Überlegungen zur Reform des Sonderschulwesens - bis hin zu seiner Infragestellung - mit denen Exponenten des sozialistischen Zentralvereins der Wiener Lehrerschaft an die Öffentlichkeit traten.

Ein wichtiger Impuls war auch die 1981 veröffentlichte Studie von Rudolf Forstar: "Normalisierung und Ausschließung - über die Berufsfindung und das Lebensschicksal von Sonderschulabgängern" (Institut für Höhere Studien, Wien 1981 ). Durch diese Arbeit wurde zumindest in Wien eine breitere Diskussion ausgelöst. Für Außenstehende muß hinzugefügt werden, daß die Auseinandersetzungen damals (und zum großen Teil auch heute noch) hoch emotionalisiert geführt wurden (werden). Zu sehr schienen die notwendigen Folgerungen der neuen Integrationsgedanken den Status der Sonderschullehrer zu gefährden; Volksschullehrer und Eltern nichtbehinderter Kinder fürchteten auch eine Leistungsminderung und eine unzumutbare emotionale Belastung der Kinder. Die Behörde sorgte sich vor allem um die aus der Integrationsdiskussion resultierenden Folgen für das gesamte Schulsystem (Frage der Beurteilung, Zweilehrersystem, Aufhebung der Jahrgangsklassen, verschiedene Lehrpläne pro Klasse und sogar pro Schüler usw.). Die politischen Parteien ignorierten offiziell die Diskussionen völlig, und es kann auch bis heute eine erstaunliche Zurückhaltung aller Parteien festgestellt werden.

Erste Versuche schulischer Integration

Treibende Kraft für erste integrative Schulversuche waren (und sind immer noch) regionale Gruppen von betroffenen Eltern, die mit Lehrern, Therapeuten und Wissenschaftlern zusammenzuarbeiten begannen. Ein erstes - fast zufälliges - Zusammentreffen der einzelnen regionalen Gruppen ergab sich im Herbst 1984 in Brixen: Das Heilpädagogische Institut der Pädagogischen Hochschule Kiel und das Wiener Zentrum für Verhaltenspädagogik veranstalteten gemeinsam eine Exkursion, um speziell die italienischen Integrationsbemühungen in Südtirol zu studieren (und zwar sowohl an den deutschsprachigen wie an den italienischen Schulen). Dort trafen zum ersten Mal die Vertreter der burgenländischen, steirischen, Tiroler und Wiener Initiativen zusammen und konnten ihre Ideen mit der italienischen Praxis vergleichen.

Die Entstehung mehrerer regionaler Initiativen in Österreich soll nun kurz beschrieben werden:

Burgenland: Es besteht die eigenartige (aber nicht untypische) Situation, daß in Wien, einem reichen Bundesland, ca. 5 % der Kinder Sonderschulen besuchen, gleichzeitig im benachbarten Burgenland, einem an sich ärmeren Bundesland, nur 2 % der Kinder Sonderschüler/innen sind. Das liegt sicher nicht daran, daß die burgenländischen Kinder gescheiter sind als die Wiener Kinder, vielmehr ist anzunehmen, daß in Wien, wo eben mehr Sonderschulen gebaut worden sind, diese Sonderschulen entsprechend gefüllt werden müssen.[5] Nun war es ein Anliegen engagierter Ärzte und Sonderpädagogen, dieses "Entwicklungsgebiet" Burgenland entsprechend zu "versorgen" und auszubauen. Dazu wählte man ambulante Betreuungs- und Beratungsteams, die die Aufgabe hatten, die unterversorgten Regionen zu betreuen und gleichzeitig Erhebungen durchzuführen, wo und in welcher Größe Sonderschulen, Sonderkindergärten und Therapiezentren zu bauen wären. Anstatt aber nur kontinuierlich ambulant und mobil zu arbeiten und die Empfehlung auszusprechen, weitere Sonderinstitutionen zu errichten, begannen diese Teams die Eltern und Betroffenen im Aufbau von integrativen Einrichtungen zu unterstützen. Es war ein bemerkenswerter Schritt der Sozialbürokratie, daß sie dieses Team weiter arbeiten und gewähren ließ. Im Bereich des Südburgenlandes, einer eher abgelegenen Region an der ungarischen Grenze, bildete sich eine Elterngruppe, die mit Vehemenz den ersten österreichischen Schulversuch zur Integration von behinderten Kindern aufbaute. Die Durchsetzung dieses Schulversuchs und der Kampf, daß er auch bestehen bleibe, waren schwierig und hatten eine Vorreiterfunktion für ganz Österreich. Aus dem Bedürfnis, diesen Schulversuch inhaltlich zu unterstützen, wurde von der Elterninitiative ein gesamtösterreichisches Symposium zur schulischen Integration organisiert und unter Mitwirkung von internationalen Referenten in Bad Tatzmannsdorf abgehalten. Diese Tagung war auch der Startschuß für weitere, immer größer werdende Symposien, die im Jahresabstand abgehalten wurden (2. und 3. Symposium in Südburgenland, 4. Symposium 1988 in Wien und 5. gesamtösterreichisches Symposium 1989 in Reutte/Tirol). Diese Symposien zeigen die inhaltliche und gesellschaftspolitische Kraft, die diese neue Bewegung entwickelt hat.

Steiermark: Eine ähnliche Entwicklung nahm die Initiative in der Steiermark. Dort hielt die Pädagogische Akademie in Graz zusammen mit dem Pädagogischen Institut des Landes im April 1983 eine Tagung zur Förderung von Schwerstbehinderten ab und stellte sie unter das Thema "Schulische Integration", wohl nicht ahnend, in welches Wespennest mit einem derartigen Thema gestochen werde. Diese Tagung verlief eher dramatisch: nach einem stark an der Sonderschule orientierten Beginn setzten sich die Argumente für die Integration weitgehend durch. Aus dieser Tagung heraus bildete sich die steirische "Initiative Soziale Integration" (ISI), die fortan kontinuierlich Sitzungen abhielt und über die ganze Steiermark hinweg Kontakte aufbaute. Die Gruppe bestand und besteht aus Lehrern, Therapeuten und einer Anzahl von Eltern. Es fand sich dann in der Nähe von Graz (in Kalsdorf) eine Schuldirektorin, die bereit war - und es auch aktiv vertrat -, an ihrer Schule einen Schulversuch zur Integration durchzuführen. Diese Schuldirektorin hat selbst ein behindertes Kind, das während seiner Schulzeit "wild" integriert gewesen war (d. h. ohne irgendwelche begleitende Förderung). Auch aufgrund dieser Erfahrung war sie sehr interessiert. Das besondere an der steirischen Situation ist, daß dort innerhalb der Schulverwaltung ein für die Integration günstiges Klima herrscht, was nicht zuletzt auch auf das Engagement von Eltern und Lehrern zurückzuführen ist: So ging zum Beispiel ein Vater mit seinem behinderten Kind zu einer Wahlveranstaltung des Landeshauptmannes und verlangte von ihm das Versprechen, daß sein Kind integriert werde, sonst würde er ihm in jede Wahlveranstaltung folgen und diese Forderung vor dem gesamten Publikum jedesmal neu stellen. Politiker sind in Wahlkampfzeiten sehr sensibel - die Voraussetzungen für die Integration dieses Kindes wurden schnell geschaffen. Es entstanden innerhalb weniger Jahre, von der Schulverwaltung unterstützt, viele integrative Schulversuche, und es entwickelte sich ein für ganz Österreich vorbildliches "steirisches Klima".[6]

Tirol: In Tirol bildete sich eine Gruppe aus Vertretern des schon vorher genannten integrierten Kindergartens, weiteren Eltern und aus einzelnen Mitgliedern der Initiative von Behinderten und Nichtbehinderten. Über mehrere Jahre bemühte sich diese Gruppe um die Einrichtung eines integrativen Schulversuches in Innsbruck-Stadt. Dies gelang zuerst nicht, die Initiative verstrickte sich in lange Verhandlungen mit der Schulbehörde. Die wichtigen Grundsatzinformationen durch die Initiative in Innsbruck machten Eltern an anderen Orten Mut, und es entstanden in Weißenbach im Lechtal ein integrierter Schulversuch und weitere Schulversuche in ganz Tirol - Jahre danach dann auch in Innsbruck. [7]

Die aktiven Personen (Eltern, Lehrer, Therapeuten usw.) schlossen sich zum "Tiroler Arbeitskreis für integrative Erziehung" (TAFIE) zusammen. Dieser Beginn integrativer Arbeit veranlaßte das Pädagogische Institut des Landes, eine Arbeitsgruppe zum Thema schulische Integration einzurichten.[8] Es geschah in Österreich das erste Mal, daß eine schulbehördliche Institution eine solche Projektgruppe gründete. Vom Unterrichtsministerium ist zwar das Ersuchen an alle Landesschulräte Österreichs ergangen, entsprechende Arbeitsgruppen in den Pädagogischen Instituten einzurichten, aber bisher gibt es nur diese eine Arbeitsgruppe in Österreich.

Wien: Kurz nach dem ersten gesamtösterreichischen Symposium im Burgenland wurde in Wien der Verein "gemeinsam leben - gemeinsam lernen" ins Leben gerufen und unter Mitarbeit des Instituts für Angewandte Psychologie ein erstes Konzept erstellt, das vom Wiener Stadtschulrat eher wenig wohlwollend aufgenommen wurde. Die Wiener Situation war dadurch gekennzeichnet, daß der Stadtschulrat es unter dem Druck der Eltern ermöglichte, die Integration voranzutreiben, sich aber inhaltlich relativ wenig von den Vorstellungen der Eltern beeinflussen ließ.

Niederösterreich. In Niederösterreich bildeten sich in Tulln und in Wiener Neustadt (später auch in Mödling) Elterninitiativen. Die Ablehnung der gemeinsamen Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern durch die Schulbehörde konnte unter größtem Einsatz der Eltern und Lehrer bisher nur an wenigen Orten überwunden werden oft mußten dafür aber miserable Bedingungen in Kauf genommen werden: Die zwei Integrationsklassen in Tulln sind z. B. an einer Sonderschule untergebracht, was besonders für die Eltern der nichtbehinderten Kinder eine große Belastung bedeutet, denn niemand gibt sein Kind gerne an eine Sonderschule.

Die Schulbehörde hat hier - wie so oft in Österreich - nicht akzeptieren wollen, daß sich in ihrem Zuständigkeitsbereich eine ganz wichtige Entwicklung abspielt (organisatorisch, didaktisch, inhaltlich, . . .), sie bietet nur Kontrolle, aber keine wirkliche Unterstützung an.

Diese genannten Initiativen waren die wichtigsten regionalen Gruppen, die in Österreich die Integration ins Rollen gebracht haben. Es wurden bis zum Schuljahr 1988/89 immerhin - je nach Lesart - rund 50 "integrative" und 30 "kooperative" Klassen in ganz Österreich eingerichtet.[9]

In den meisten Bundesländern waren und sind oft die Direktoren, Bezirksschulräte und Landesschulräte ein extremer Filter zur Verhinderung der Integration.

Während des Wahlkampfes vor den Nationalratswahlen 1986 setzte sich der ORF-"Inlandsreport" mit typischen Schwierigkeiten bei der Installation von Schulversuchen auseinander. Dabei wurde am Beispiel des Problems der zweiten Integrationsklasse in Oberwart, Burgenland ( wo schon der erste integrative Schulversuch Österreichs stattfand) deutlich, mit welchen Vorgehensweisen die Schulbürokratie solche Schulversuche behindert: Nach der Genehmigung des Schulversuchs teilte der Schuldirektor zu Schulbeginn mit, es bestehe in der Schule kein entsprechender Raum, und der Schulversuch könne deshalb nicht durchgeführt werden. Es war mehr als eigenartig, daß die Direktion dieses Problem nicht schon ein halbes Jahr vorher gekannt hatte. Die ganze Situation wurde von den Eltern so verstanden, daß sie durch eine Zuwartestrategie in Zeitnot gebracht werden sollten, um nicht mehr reagieren zu können. Nur hatte die Schulverwaltung nicht mit der Reaktionsfähigkeit der Eltern gerechnet. Sie hielten nämlich sofort eine Pressekonferenz ab, die auch im Fernsehen zum Teil gezeigt wurde. Die Eltern kündigten an, wenn der Schulversuch keine Klasse habe, würden sie für entsprechenden Ersatzraum sorgen. Am ersten Schultag, an dem üblicherweise noch kein Unterricht stattfindet und die Klassen in die Kirche gehen, stand noch immer kein Klassenraum für die Integrationsklasse zur Verfügung. Daraufhin erklärten sich die Eltern der bereits bestehenden Integrationsklasse bereit, "ihre Klasse" zur Verfügung zu stellen und zogen allesamt demonstrativ aus dem Schulhaus aus. Es fuhr ein Lastwagen vor, und die Eltern begannen im Schulhof ein großes Zelt einer karitativen Organisation aufzustellen. Während der Aufbauarbeiten wurde die Schulverwaltung offensichtlich sehr unsicher. Direktor, Schulinspektor und Landesschulinspektor versuchten, den Bau zu stoppen. Es gab stundenlange Verhandlungen, während denen das Zelt auf- und abgebaut wurde, je nach Stand der Verhandlungen, bis endlich unter der "Drohung" des Fernsehens, das kam, um aktuell zu berichten, letzten Endes eine Lösung gefunden wurde. Ganz in der Nähe der Schule hatte ein Kindergarten noch eine größere Anzahl freier Räume, was anscheinend vorher niemand bedacht hatte. So konnten am nächsten Tag beide Integrationsklassen ihren ersten Schultag beginnen. Doch sofort ergab sich ein zweites Problem: Der Direktor nahm den Sonderschullehrer aus der Klasse und teilte ihm mit, er sei nicht angestellt. Was war passiert? Der Direktor hatte den Schulversuch nicht entsprechend mit dem Namen des Sonderschullehrers weitergegeben. Die Integrationsklasse hatte nun keinen zweiten Lehrer mehr. Als Vertretung wurde eine Lehrerin, die hochschwanger war, in die Klasse versetzt; sie verließ nach einer Woche die Klasse wieder, und der nächste Supplenzlehrer wurde in die Klasse gesteckt. Ein völlig unhaltbarer Zustand! Nach großen Elternprotesten, die neuerdings von den Medien aufgriffen wurden, wurde dann endlich eine Lehrerin gefunden, die in dem Schulversuch kontinuierlich mitzuarbeiten begann. Dieser Vorgang wurde dann in der vorher erwähnten Fernsehdokumentation aufgezeigt, wobei sich die Schulinspektoren direkt widersprachen, womit klar wurde, daß hier gezielte Desinformation betrieben wurde. Um es noch einmal deutlich zu machen: das ausführlich geschilderte Beispiel soll zeigen, wie sehr die Verwaltung oft die Bedürfnisse von Betroffenen mißachtet und in welch verzweifelten Kleinkrieg Eltern geraten können, wenn sie nicht einfach resignieren (wie so oft).

Diese Fernsehsendung und ein von den regionalen Initiativen wieder einmal gemeinsam geschriebener Brief an den Unterrichtsminister mit Bitte um Hilfe führte dazu, daß eine Mutter aus Wien, die in der Fernsehsendung ebenfalls zu Wort gekommen war, eine Einladung ins Unterrichtsministerium für ein kurzes Gespräch mit dem Unterrichtsminister bekam.[10]

Vorstoß zur höchsten Ebene der Schulpolitik

Ein Problem der Elterngruppen war lange Zeit, daß sie kaum in die Spitze der Entscheidungen, nämlich in die Entscheidungen des Ministeriums, eingreifen konnten. Vom Ministerium in Wien wurden die Schulversuche zur Integration zwar meist genehmigt, aber es standen wichtige gesetzliche Probleme zur Entscheidung an.

Die Initiativen in ganz Österreich wurden durch die eingeladene Mutter informiert, setzten sich untereinander in Verbindung und verlangten - dies war im November 1986 - vom Minister, gemeinsam empfangen zu werden, andernfalls würde auf ein Gespräch verzichtet werden. Daraufhin wurde einer kleinen Anzahl von Elternvertretern die Erlaubnis für ein ausführliches Gespräch von ca. 45 Minuten mit dem Minister gegeben. Zehn Elternvertreter und von Eltern genannte Fachleute kamen dann zu dem Gespräch mit dem Minister, der die Elterngruppe bereits nach zehn Minuten wieder hinaus komplimentieren wollte - nach einigen einleitenden Worten, die etwa so lauteten: "Es wurde schon viel für die Integration getan, trotzdem werden Sonderschulen weiterhin notwendig sein, weil es eben Kinder gibt, die nur in Sondereinrichtungen und durch besondere Maßnahmen betreut bzw. gefördert werden können, leider, leider, . . ., ich danke für Ihr Engagement . . ."

Die Initiativgruppenvertreter (auch die Autoren vorliegenden Beitrags waren dabei) ließen sich jedoch nicht abweisen. Heftige Proteste in der Sitzung konnten den Minister überzeugen, daß für dieses Gespräch mehr Zeit notwendig sei, worauf er der Abordnung tatsächlich zwei Stunden einräumte. Im Laufe des Gesprächs zeigte sich, daß er überhaupt erstmals konkret über die Probleme schulischer Integration informiert wurde. Klar wurde, daß bisher alle Informationen und Ministerbriefe zur Integration von Beamten ohne wirkliche inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsminister geschrieben worden waren. Das Resultat des Gespräches war, daß der Minister zustimmte, im Ministerium eine Arbeitsgruppe einzurichten, in der die Eltern und Initiativgruppen beteiligt sind, Elternvertreter die Mehrheit in der Arbeitsgruppe bekommen, ein Gleichgewicht zwischen Behördenvertretern und Fachleuten angestrebt wird. Den Vorsitz sollen Elternvertreter und Ministerialbeamte abwechselnd übernehmen. Diese Arbeitsgruppe, die die inhaltliche und rechtliche Entwicklung der schulischen Integration kontinuierlich vorantreiben sollte, ist dann auch nach den Nationalratswahlen 1986 zustande gekommen. Es ist wirklich bemerkenswert, daß hier ein Ministerium bereit ist, mit der Basis zusammenzuarbeiten. Ein Ergebnis dieser anstrengenden und mit vielen Auseinandersetzungen verbundenen Arbeit ist die relativ rasche Behandlung des Themas in der Schulreformkommission und die Verabschiedung der 11 . SchOG-Novelle im Juni 1988, durch die die integrativen Schulversuche erstmals eine legistische Basis gefunden haben.

Um auf den Arbeitsstil der unkonventionellen Arbeitsgruppe im Ministerium einzugehen: das Problem in der Arbeitsgruppe war lange, daß die Beamten versuchten, Zusagen des früheren Ministers nicht genau einzuhalten. Für die Elternvertreter war es wichtig, auf allen Zusagen auch wirklich zu beharren, waren die Kämpfe um formale Details letztlich doch immer auch inhaltliche Kämpfe. Es ging darum, in einem für Laien aufs erste undurchschaubaren Ministerium nicht den Boden für inhaltliche Arbeit zu verlieren. Vor diesem Hintergrund gab es z. B. immer wieder Streit um die Einladungspolitik der Beamten und um den Vorsitz. Aber nicht nur von den Ministerialbeamten fühlten sich die Eltern behinderter Kinder immer wieder schwer "behindert", sondern auch von bestimmten Elternvertretern, die in die Arbeitsgruppe eingeladen wurden. So kam es zu Auseinandersetzungen um folgenden für Eltern behinderter Kinder ganz sensiblen Punkt: Das Menschenrecht und demokratische Grundrecht auf Teilnahme von behinderten Menschen an allen Lebensbereichen (in UNO-Deklarationen beschworen und in unserer Verfassung als Gleichheitsgrundsatz niedergelegt) wird gerne dadurch ersetzt, daß die Mehrheit darüber abstimmt, ob die Minderheit teilnehmen darf. (Es geschah auch schon, daß behinderte Kinder in geheimer Wahl aus der Schule ausgeschlossen worden sind das ist ein Vorgang, der jede Menschenwürde verletzt. Jeder sollte sich einmal in die Situation der betroffenen Eltern hineindenken, um das Entsetzliche dieses Vorgangs zu verstehen.)

Modelle

In der ministeriellen Arbeitsgruppe, in der auch Vertreter der verschiedenen Landesschulräte vertreten sind, wird vor allem auf folgenden Modellebenen diskutiert:

Die eine Modellebene ist die der integrierten Klasse, wie sie von den Eltern gefordert wird, das heißt, individuelle Integration. Behinderte Kinder gehen in die Regelschule, wobei sehr auf begleitende Maßnahmen zu achten ist (z. B. 2-Lehrer-System).[11]

Insbesondere der Stadtschulrat von Wien versucht in großem Stil, Schulversuche zu initiieren, die von diesem Modell entscheidend abweichen und vertritt ein sogenanntes Kooperationsmodell. Dabei geht es darum, daß ganze Sonderschulklassen, z. B. eine Schwerstbehindertenklasse mit fünf schwerstbehinderten Kindern, einer Regelschulklasse angegliedert werden, das heißt: zwei Klassenräume liegen nebeneinander, es gibt den klassenführenden Regelschullehrer (der dem Volksschuldirektor untersteht), den klassenführenden Sonderschullehrer (der dem Sonderschuldirektor untersteht), und je nach Interesse und Fähigkeit der Lehrer können die beiden Klassen miteinander in bestimmten Gegenständen kooperieren oder auch nicht. Es ist dies eine eingeschränkte Möglichkeit der Integration, wobei durch die Größe der Gruppe der behinderten Kinder und durch die getrennten Klassenräume Absonderung gefördert wird. Aber immer wieder wird damit argumentiert, daß dieses Modell einen Übergang zu den echten Integrationsklassen fördere. Es ist jedoch zu bezweifeln, ob so ein Übergang gefunden wird. Soll damit nicht vielleicht ein typisch österreichischer Kompromiß eingeleitet werden, der dann Ewigkeitswert hat? Letzten Endes handelt es sich um eine Maßnahme, die den Sonderschullehrern ihre Sonderschulklassen und damit ihre dienstrechtliche Stellung erhält und bei der (aufgrund größerer Klassenschülerzahl) gegenüber der vollen Integration gespart werden kann. Daraus ergibt sich das große Bedenken, daß nicht die Integration bei diesem Modell im Mittelpunkt steht.

Eine weitere Variante, die besonders in Oberösterreich durch den Landesschulinspektor massiv vertreten wird, ist das sog. Kleinklassenkonzept: Es handelt sich dabei um der Regelschule angeschlossene Förderklassen, in denen Kinder der Allgemeinen Sonderschule an den Leistungsstand der Regelschule herangeführt und dann integriert werden sollen." Die Elterninitiativen haben im Ministerium immer wieder schwerste Bedenken gegen dieses Modell geäußert, es konsequent abgelehnt und als Etikettenschwindel bezeichnet. Die Sonderschulklassen bleiben bei diesem Modell mit verminderter Schülerzahl voll erhalten, die Regelschule muß sich überhaupt nicht ändern, und so wird sich nach diesem Modell de facto überhaupt nichts ändern, außer daß der Regelschule angeschlossene Sonderklassen in Kleinklassen umbenannt werden. Es wird der Versuch unternommen, die Kinder auf eine vorgegebene gesellschaftliche Norm einzurichten, wobei in keiner Weise auf die Bedürfnisse und die realen Möglichkeiten der behinderten Kinder eingegangen wird. Es ist auch zu vermuten - die Zukunft wird das zeigen -, daß die Rückführungsrate von der Kleinklasse in die Regelschule äußerst gering oder gleich null sein wird, genauso, wie das bei der Sonderschule der Fall ist.

Am wenigsten diskutiert ist noch das Modell der Einzelintegration mit einem Stützlehrer. Vor allem für ländliche Gebiete bietet es die Möglichkeit, behinderte Kinder am Ort zur Schule gehen zu lassen; bei der Rolle des Stützlehrers und der Unterrichtsgestaltung ergeben sich allerdings Probleme, die noch genauer geklärt werden müssen.

Auf diesen Modellebenen wird in Österreich diskutiert.

Gesetzliche Regelung

Entscheidend für die Möglichkeit, längerfristig überhaupt Schulversuche zur Integration durchführen zu können, war eine Novelle des Schulorganisationsgesetzes. Die ersten Schulversuche basierten auf der auslaufenden Möglichkeit, Schulversuche zur inneren Schulreform einzurichten. Ein Ergebnis der Arbeitsgruppe im Unterrichtsministerium ist - wie schon oben angedeutet - die Verabschiedung der 11. SCHOG-Novelle im Juni 1988, durch die eine gesetzliche Basis für die Schulversuche hergestellt wurde.

Diese Novelle entspricht einer alten Forderung der Elterninitiativen und hat auch ihre Geschichte: Eine Bundesrätin der ÖVP, Maria Rauch, hatte schon bei der Behandlung der 9. SCHOG-Novelle im Bundesrat den Antrag eingebracht, entsprechende Bestimmungen zur Integration aufzunehmen. Sie hatte diesen Antrag allerdings nicht, wie es üblicherweise geschieht, mit ihrer Fraktion abgesprochen, sondern während einer Rede im Bundesrat direkt gestellt. Damit hatte sie ihre eigene Fraktion überrascht, und es mußte sofort abgestimmt werden: Tatsächlich stimmte der Bundesrat dem Vorschlag zu, und der Antrag wurde an das Parlament weitergegeben. Dort beschlossen die großen Parteien gemeinsam, den Antrag abzulehnen. Es muß noch dazu gesagt werden, daß die Bundesrätin, die diese mutige Einzelaktion im Bundesrat vorgenommen hat, die Mutter eines behinderten Kindes ist. Eine der Auswirkungen des Elterngesprächs beim Unterrichtsminister kurz vor der Wahl 1986 war, daß der scheidende Unterrichtsminister in die Koalitionsverhandlungen für die nächste Regierung das Thema "Schulische Integration" eingebracht hat.

Folgende Formulierungen wurden dabei verwendet, die wir kurz kommentieren wollen: ". . . nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen sollen behinderte Kinder integriert werden . . ." Diese Erkenntnisse sind keinesfalls neu, sondern wir Österreicher hinken 20 Jahre hinter anderen entwickelten Staaten her. Weiters ist in diesem Übereinkommen zu lesen: ". . . soweit als möglich in die Normalschule zu integrieren . . ." Die "Soweit als möglich" - Argumentation ist eine ganz traditionelle sonderpädagogische Formel, mit der oft unterstellt wird, daß behinderte Kinder nicht integrierbar sind, statt zu fragen, ob die Schule integrationsfähig ist bzw. gemacht werden kann. Dann ist im Koalitionsabkommen auch noch die Einschränkung zu finden: ". . . nach Maßgabe der staatsfinanziellen Mittel . . ."

Alle diese Formulierungen beinhalten keine weiterführenden Gedanken. Zum Schluß steht noch, daß auch weiterhin immer Sonderschulen benötigt würden, Allgemeine Sonderschulen und Spezialsonderschulen. Wir befürchten, daß diese Formulierung zum Ziel hat, die einmal eingeleitete Dynamik der Schulentwicklung einzugrenzen. Entscheidend wichtig war und ist allerdings die Absichtserklärung, daß in allen Bundesländern Schulversuche durchgeführt werden sollen, denn diese Absichtserklärung ermöglichte erst die oben genannte SCHOG-Novelle. In dieser Novelle wurde die Möglichkeit verankert, Versuchsklassen im Ausmaß von 10 % der Sonderschulklassen einzurichten - das sind ca. 250 Klassen im ganzen Bundesgebiet, die befristet bis zum Schuljahr 1992/93 begonnen werden dürfen. Danach bedarf es einer neuerlichen Gesetzesinitiative bzw. einer gesetzlichen Übertragung der Schulversuchserfahrungen ins Regelschulsystem. Zweifelsohne bleibt allen Beteiligten weiterhin ein gewaltiges Arbeitspensum.

Ein wichtiger Punkt muß noch erwähnt werden: die Integration geht im Sekundarschulbereich (Hauptschule, Gymnasium) weiter. Die erste integrierte Hauptschulklasse wurde im Schuljahr 1988/89 als kooperative Klasse in Oberwart/Burgenland eingerichtet. Mit diesem Modell gibt es massive Schwierigkeiten, da durch das Leistungsgruppen-System der Hauptschule Integration von der Intention und von der Praxis her eigentlich verhindert wird. Es ist unausweichlich, daß es eine erneute Diskussion über die Zukunft der "Schule der 10- bis 14jährigen" geben wird.[12] Dieses Thema ist durch den "Glaubenskrieg" der politischen Parteien um die "Integrierte Gesamtschule" seit den 60erJahren schwer belastet. Die "Integrierte Gesamtschule" meinte eine gemeinsame Schule für alle Kinder von 6 bis 14 Jahren (Auflösung von Hauptschule und Gymnasium zu einer einheitlichen Schule, wobei verschiedene Modelle mit und ohne Leistungszüge zur Diskussion standen). Die SPÖ forderte die "Integrierte Gesamtschule" (mit Leistungsgruppen), die ÖVP lehnte die "Integrierte Gesamtschule" insgesamt strikt ab. Behinderte Kinder wurden in die Diskussion nie einbezogen. Um hier befriedigende Erfolge zu erzielen, wird es noch große Anstrengungen der Elterninitiativen brauchen sowie sicher auch eine Weiterentwicklung eines "realpolitischen Blicks", um imstande zu sein, parteipolitische Verengungen in der Schulpolitik aufzulösen. Gerade dieser letzte Punkt darf u. a. auch deshalb nicht übersehen werden, da als letzter Grund gegen die Integration ja immer wieder die Unmöglichkeit der Finanzierung von Integration als quasi "natürliche Grenze" angeführt wird. Dies ist jedoch ein Scheinargument, denn:

  • Zur Abdeckung der Kosten hat jedes Bundesbudget einen Spielraum, dessen Nutzung von der herrschenden politischen Wertordnung abhängt.

  • In allen Kostenanalysen muß auch der Wert einer entscheidend verbesserten Lebensqualität mit einberechnet werden.

  • Fortschreitende Integration entlastet die speziellen sonderpädagogischen Einrichtungen; die freiwerdenden Ressourcen können ins Regelschulwesen übernommen werden (z. B. durch Umschichtung von Lehrerdienstposten).

  • Die langfristigen Folgen der Integration sind in ihren positiven finanziellen Konsequenzen kaum abzuschätzen. Integration ist eine präventive Maßnahme, die die Aussonderung mit ihren Folgekosten verhindert.

Es wird in Zukunft notwendig, ja wahrscheinlich von existentieller Bedeutung sein, daß sich die Eltern und Initiativgruppen noch stärker als bisher miteinander besprechen bzw. sich vernetzen. Eltern muß gesagt werden: "Seid selbstbewußt, laßt Euch nicht mit fadenscheinigen Argumenten abweisen. Seid Euch bewußt, daß Euer politisches Gewicht wesentlich größer ist, als es vielleicht momentan erscheint. Ihr müßt Eure Kraft nur vermehrt einsetzen, Eure Kinder sind in jeder Beziehung gleichberechtigte Staatsbürger. Es ist die Aufgabe der gewählten Politiker, sich der Diskussion mit der Basis zu stellen und entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Eure Kinder die Möglichkeit bekommen, ihr Recht genauso wahrzunehmen wie jeder andere Mitbürger auch!"



[2] Integrative Kindergärten entstanden in den folgenden Jahren auch in Lienz, Linz, Graz, Tulln, Feldkirch sowie an einigen weiteren Orten. Folgendes Buch ist zu empfehlen: Judith KESSLER, Gemeinsam leben lernen - Behinderte und nichtbehinderte Kinder in integrierten Kindergärten, Verlag Jugend und Volk, Wien 1986.

[3] Vgl. Ernst KLEE, Behindert-ein kritisches Handbuch, Fischer-Verlag 1980.

[4] Vgl. den Forderungskatalog der Initiativgruppen, in: R. FORSTER/V. SCHÖNWIESE (Hrsg.), Behindertenalltag, Verlag Jugend und Volk, Wien 1982, S. 391-400.

[5] In Wien gibt es auch noch ein besonderes Problem mit einer überdurchschnittlich hohen Anzahl von Gastarbeiterkindern, das mit Hilfe der Sonderschulen "gelöst" wird.

[6] Vgl. den Beitrag von HEUBERGER im vorliegenden Buch.

[7] Vgl. den Beitrag von FORCHER im vorliegenden Buch.

[8] Vgl. den Beitrag von WIESER im vorliegenden Buch.

[9] Die offiziellen Bezeichnungen nach den Schulversuchsmodellen, die noch beschrieben werden, stimmen nicht immer mit der tatsächlichen Schulpraxis überein. So werden in Wien die Schulversuchsklassen als "integriert" bezeichnet, obwohl sie durchwegs nur "kooperativ" sind.

[10] Alle Briefe waren bis zu diesem Zeitpunkt entweder ausweichend oder ablehnend beantwortet worden, und die Eltern hatten nicht das Gefühl, wirklich ernstgenommen zu werden.

[11] Vgl. den Beitrag von WIESER im vorliegenden Buch. 11 Vgl. den Beitrag von WIESER im vorliegenden Buch.

[12] Es zeigt sich jetzt schon die Tendenz, die Hauptschule zu einer neuen "Restschule" zu machen - in Ballungsräumen (wie in Teilen von Wien) besuchen schon bis zu 80 % der Kinder das Gymnasium: Wenn weiterführende Integration nun von vornherein nur auf die Hauptschule beschränkt wird, besteht auch hier die Gefahr, daß möglichen zukünftigen Schulentwicklungen a priori Grenzen gesetzt werden.

Gabriele Huterer: Was hat denn Ihr Kind, daß es in eine solche Schule gehen muß?"

Anfangsschwierigkeiten

Der Wunsch, einen integrativen Schulversuch zu wagen, ist ganz langsam entstanden. Eltern nicht behinderter Kinder, die mit dem üblichen Schulsystem nicht zufrieden waren, Eltern behinderter Kinder, also Eltern, deren Kinder in Sonderschulheime hätten müssen, und Fachleute, die an eine neue, bessere Form der Pädagogik durch die gemeinsame Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder glaubten, fanden sich eher zufällig zusammen. Im Laufe des Winters entstand unsere Gruppe, die immer konkretere Vorstellungen hatte, und je mehr wir über die gemeinsame Erziehung aller Kinder nachdachten, desto logischer und richtiger, desto "normaler" kam uns unsere Idee vor. Wir haben uns viele Fragen gestellt und uns viele Probleme, die es vielleicht geben könnte, überlegt. Wir haben Spekulationen angestellt, wie es zwischen den Kindern gehen könnte, aber als es um die konkrete Durchsetzung des Schulversuches ging, waren die Probleme von seiten der Behörde so gewaltig, daß wir kaum mehr Zeit hatten, noch über anderes als organisatorische Probleme und über unsere Taktik den Behörden gegenüber nachzudenken. Mein Sohn Bernd ist ein nicht behindertes Kind. Nach der Einschulung in die Integrationsklasse wurde mir oft die Frage gestellt, was denn mein Kind "habe", daß es in eine "solche" Schule gehen müsse. Auch andere Eltern nicht behinderter Kinder hatten damit zu kämpfen, daß sie die Einschulung ihres Kindes in einen integrativen Schulversuch vielen Leuten erklären und begründen mußten; einige haben ihr Kind deshalb dann lieber doch nicht in die Klasse gegeben, damit niemand auf den Gedanken kommen könne, ihr Kind habe "etwas". Nun, wenn mich andere Leute damals fragten, warum ich für mein Kind so entschieden habe, erklärte ich ihnen immer, daß es für mich selbstverständlich sei, daß behinderte Kinder nicht ausgesondert würden. Der Vorteil durch eben diese Form der Pädagogik ist für Bernd mindestens eben so groß gewesen wie für die behinderten Kinder dieser Klasse.

Soziales Lernen - Erziehung zur Individualität

In der integrierten Klasse waren Kinder mit unterschiedlicher Behinderung, das hatte zur Folge, daß die Lehrerinnen jedes dieser Kinder genau anschauen mußten, um den geeigneten Lernplan in jedem Gegenstand zu finden. Diese Praxis bewirkte, daß alle Kinder in ihrer Individualität genauer wahrgenommen wurden als in anderen Klassen. Auch die Aufgabenstellung innerhalb eines Themas war für jedes Kind immer wieder eine andere. Dies wurde durch die verschiedenen Lehrpläne geradezu gefördert. Bernd hatte so immer wieder die Gelegenheit zu lernen, seine besonderen Fähigkeiten für die Gemeinschaft einzusetzen. Gab es etwas außerhalb der Klasse zu vertreten, so war es immer wieder Bernd, der dies tat. Gerne tat er sich auch hervor, wenn es galt, Lösungen für soziale Probleme zu finden. Das brachte ihm bald den Titel "Professor" ein.

Für mich war es sehr schön, wenn ich erleben konnte, wie differenziert Bernd andere Kinder sehen konnte, wie genau er die anderen Kinder und ihren Charakter beschreiben konnte, mit welch sozialer Intelligenz und Wendigkeit er versucht hat, verschiedenste Lösungen zu finden für Konflikte zwischen sich und einem anderen Kind oder auch für Schwierigkeiten zwischen zwei anderen Mitschülern. Er hat gelernt, über Beziehungen zu Menschen nachzudenken und sie ernst und wichtig zu nehmen.

Die Kinder lernten, die Fähigkeiten und Eigenarten der anderen zu erkennen, zu schätzen und zu akzeptieren.Jedes einzelne Kind wuchs in seiner Individualität und wurde so immer mehr zu einer eigenen Persönlichkeit.

Wir Eltern - von der Vereinzelung zur Integration

Freilich hatten wir Erwachsenen oft genug unsere liebe Not mit dem Akzeptieren dieser für so junge Kinder ungewohnt stark ausgeprägten Persönlichkeit. Viele Elternabende verbrachten wir mit Diskussionen, ob die Verhaltensweise des einen oder anderen Kindes "gut" und "richtig" wäre. Dabei stellten sich bei vielen Eltern, auch bei mir, immer wieder Unsicherheiten ein, ob denn wirklich alles zum Besten der Kinder wäre. Die erste größere Krise entstand zu Weihnachten, als wir Eltern erst so richtig verstanden, wie anders der Unterricht im Vergleich zu anderen Klassen ablief.

Auch waren wir Eltern es nicht gewohnt, vor anderen über die Schwierigkeiten unserer Kinder offen zu reden. Die traditionelle Einstellung, daß das eigene Kind das beste zu sein hat oder zumindest nicht negativ auffallen darf und Probleme zu Hause zu lösen sind, ist vielen Eltern schon durch die "Erziehungsarbeit" im Kindergarten mitgegeben worden.

So bedeutete es eine große Umstellung, offen vor anderen Eltern über das eigene Kind zu reden. So schwer mir das anfangs fiel, so entlastend habe ich das dann bald erlebt. Probleme der Kinder waren da, um gelöst zu werden - und zwar in der Gemeinschaft - und nicht, um vertuscht zu werden. Dabei stellte sich bald heraus, daß die behinderten Kinder meist nicht das Problem der Klasse waren, sondern andere Kinder. Wahrscheinlich wird auf anderen Elternabenden nicht soviel über die Beziehung der Kinder untereinander geredet, wie dies in unserer Elterngruppe möglich war. Ich habe dabei viel dazugelernt. Andere Eltern waren da oft auch ein liebevolles Korrektiv in der Beziehung zwischen Bernd und mir.

Wenn der Druck von außen besonders groß war, wie etwa damals, als es so aussah, als ob der Schulversuch gar nicht erst zustande kommen sollte, spürte ich manchmal schon, daß es zu Problemen zwischen den Eltern behinderter und nicht behinderter Kinder kommen könnte: War es mir immer noch möglich, Bernd in eine andere, eine "normale" Volksschulklasse zu geben, so hatten die Eltern der behinderten Kinder diese Chance nicht und mußten wesentlich härter oder ängstlicher für den Schulversuch kämpfen. Die Bereitschaft, sich mit schlechten Schulversuchsbedingungen zufrieden zu geben, ist in dieser Notlage nur mehr als verständlich. Da war es dann gut, wenn auch Eltern nicht behinderter Kinder hartnäckig waren. Wenn uns aber die Kraft auszugehen drohte, konnten wir nur den Hut vor dem Stehvermögen der Eltern behinderter Kinder ziehen. So wuchs mit zunehmender Dauer des Schulversuches das Selbstvertrauen und Zusammengehörigkeitsgefühl unserer Elterngruppe und somit auch das Selbstbewußtsein unserer Kinder.

Es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt

Jeder kleinste Vorfall in unserer Klasse wurde immer wieder von Außenstehenden, etwa anderen Lehrern der Schule oder anderen Eltern, mit allerlei Kommentaren versehen, die nicht immer sehr freundlich waren. Interessant für mich war, daß manche Leute für alles und jedes immer wieder die Integration verantwortlich gemacht haben: jede Schwierigkeit mit irgendeinem Kind unserer Klasse wurde auf die Tatsache zurückgeführt, daß in der Klasse behinderte Kinder sind.

Dies merkten natürlich auch unsere Kinder. Bernd hat dies oft kommentiert und hinterfragt. Oft war es schwierig, mit ihm darüber zu reden, denn er konnte viele Befürchtungen, Vermutungen und Spekulationen Erwachsener nicht verstehen. In seinem persönlichen Erleben mit den behinderten Mitschülern gab es einfach keine Probleme. Bernd hat "seine" Klasse als etwas Besonderes erlebt, und er war stolz darauf, vielleicht ein wenig nach dem Motto "was man sich so schwer erkämpfen muß, muß eine Menge wert sein". Die äußeren Umstände haben ihn aber auch oft mitbelastet. In Zeiten, als die Integrationsklasse an der Schule besonders hart umkämpft und angefeindet war und Bernd wußte, daß ich mit zwei anderen Eltern so eine Art "Rädelsführerrolle" innehatte, sagte er sogar einmal, daß es ihm lieber wäre, wenn er an der Schule nicht als mein Sohn bekannt wäre. Das hat mich hart getroffen und zeigt, wie sehr solche Anfeindungen sich nicht nur auf das Klima in der Schule negativ auswirken. Es wäre wirklich not wendig, die Eltern von seiten der Behörde her eher zu unterstützen als zu behindern. Besonders pikant finde ich, daß gerade in dieser Phase ein Schulinspektor unsere Argumente mit den Worten: "Wissen Sie, ich muß ja schließlich die Verantwortung für die Kinder tragen" entkräften wollte.

Die Kämpfe mit den Behörden, die vielen Inspektionen in den ersten zwei Jahren, die dazu da waren zu beweisen, daß der Schulversuch scheitern müsse, haben uns schon sehr oft die Sache erschwert. Wie viel Energie wurde da verschwendet, um das alles abzuwehren, Energie, die uns dann in der Arbeit mit den Kindern fehlte!

Wo sind denn da die Behinderten?

Oft werde ich gefragt: "Wie ist denn Bernd mit den behinderten Kindern zurechtgekommen?" Eigentlich kann ich darauf nur sagen:

"Genauso wie mit allen anderen Mitschülern." Bald war er mit dem einen Freund, bald mit dem anderen. Es würde mir schwerfallen und könnte leicht ein völlig verzerrtes Bild ergeben, wollte ich jetzt die Beziehungen zwischen Bernd und den behinderten Kindern isoliert beschreiben.

Behinderungen, weil jemand z. B. nicht gehen konnte, nicht alles so schnell begriff oder nicht reden konnte, fielen meist nicht ins Gewicht, damit konnten sich alle Beteiligten arrangieren. Behinderung wurde immer dann erlebt, wenn ein Kind die ganze Gruppe durch sein Verhalten störte. Und das waren im seltensten Fall die Kinder, die nach einem Sonderschullehrplan unterrichtet wurden, also als behindert deklariert waren.

Die Kinder, die nicht fähig waren, Verantwortung für ihre Rolle in der Gemeinschaft zu tragen, waren die wirklich Behinderten, - so wie unsere Gesellschaft auch an den Leuten krankt, die zwar "tüchtig" und "hochspezialisiert" sind, aber die globalen Konsequenzen ihrer Leistungen und Produkte nicht erkennen wollen. Mit den vier Jahren Integrationsklasse bekam ich immer mehr Schwierigkeiten mit dem Begriff "Behinderung". Anderen Beteiligten erging es ebenso. Treffend der Ausspruch eines Kindes: "Behindert ist er nicht, nur ,hatschen' (gehen) kann er nicht".

Der Begriff "Behinderung" hat viele Facetten:

Für mich ist dieses Wort inzwischen nicht mehr nur Sammelbegriff für geistiges oder körperliches "Anderssein". Öfter und sehr real erlebte ich "Behinderung" im Bereich der Phantasie: Wenn wir bei Direktoren oder Schulbehörden vorstellig wurden, wunderten wir uns nicht selten über die mangelnde Vorstellungskraft, wie denn so manche Probleme zu lösen seien. Dafür war die Phantasie aber sehr rege und produktiv, wenn es sich darum handelte, mögliche Probleme zu erfinden, die sich aus der gemeinsamen Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder ergeben könnten.

Mit Behinderung zu leben ist sicher anstrengend, speziell in unserer Gesellschaft, die sich darauf nicht einstellen kann. Das ist der Grund, warum ich nicht verstehen kann, daß manche Menschen freiwillig mit der "Behinderung" ihrer Phantasie leben wollen. Vielleicht werden sie noch nicht genug von uns Eltern integriert - oder müssen wir ihnen ihre Behinderung spürbarer machen?

Ilsedore Wieser: Schule ohne Aussonderung

Ausgangspunkte und Schlüsselstellen der gegenwärtigen Entwicklungsarbeit in Österreich

1981 noch konnte Rudolf Forstar in seinen "Kritischen Anmerkungen zur Praxis der Aussonderung lernbehinderter Kinder in eigenen Schulen" der österreichischen Bildungspolitik und Schuladministration vor werfen, "keine Tendenzen zu grundsätzlich neuen Wegen des schulischen Umgangs mit Behinderten" erkennen zu lassen. "Die österreichische Sonderschule.... ist als stabiles System.... zu betrachten. Aktuell ist ein Zustand der Konsolidierung erreicht... . Trotz vieler objektiver Schwächen und der nicht selten subjektiven Ablehnung der unmittelbar Betroffenen befindet sich dieser Schultyp nicht in einer Legitimationskrise." (Forstar 1981 , S. 224).

Inzwischen hat sich einiges getan:

  • Einmal kam es zu einer breiten Rezeption ausländischer Integrationsbemühungen; (I)

  • Die sogenannte Grundsatzdiskussion wurde eröffnet. Die Frage, ob in Österreich Behinderte mit Nichtbehinderten gemeinsam lernen und leben dürfen, wurde allerdings nicht nur gestellt, sondern auch beantwortet: erstens bleiben heute behinderte Kinder relativ häufig in den Regelklassen; sie werden "wild" d.h. ohne besondere pädagogische Unterstützung integriert. Zweitens wurden verschiedene Modelle der Integration mit zusätzlichen Begleitmaßnahmen entwickelt und in Schulversuche umgesetzt; (II)

  • Dadurch wiederum kristallisieren sich neuralgische Stellen heraus, an denen konzentriert (weiter)gearbeitet werden muß, wenn uns die Schule ohne Aussonderung zumindest als Angebotschule ein erstrebenswertes Ziel ist. (III)

I) Wovon wir ausgehen können . . .

Ausländische Erfahrungen mit schulischer Integration reichen zum Teil schon in die frühen 70er Jahre zurück (Vgl. Kasztantowicz 1982). Sie haben in zahlreichen Publikationen ihren Niederschlag gefunden und sind in einer Weise reflektiert bzw. aufgearbeitet, daß sie für unsere gegenwärtige Entwicklungsarbeit zahlreiche Ausgangspunkte abgeben. Vier - mir besonders wichtig erscheinende Punkte - seien im folgenden angeführt:

1. Bei gemeinsamer Beschulung können sowohl Behinderte als auch Nichtbehinderte gefördert werden und zwar nicht nur im Bereich des sozialen Lernens, sondern durchaus auch dort, wo es um den Erwerb von Wissen, Können und Fertigkeiten geht.

Diese Aussage entspricht nicht nur dem Wunschdenken veränderungssüchtiger Integrationseuphoriker, sie ist vielfach abgesichert und zwar durch Untersuchungen unterschiedlicher Art.

Nicht ganz aktuell, aber immer noch sehr informativ ist in diesem Zusammenhang: Kniel, A., Die Schule für Lernbehinderte und ihre Alternativen, Rheinstetten, 1979. Jüngeren Datums ist der Sammel band: Meisel, J. (ed.), Mainstreaming handicapped Children: Outco mes, Controversies and New Directions, London 1986.

Wer nicht Vertiefung im Sinn hat, sondern sich nur rasch informieren möchte, ob die gemeinsame Beschulung von Behinderten und Nicht behinderten nicht automatisch Leistungsverfall bedeutet, sei auf zwei Artikel verwiesen:

- Wang/Baker ist eine sehr interessante Sekundäranalyse zu verdanken. Aus 264 Studien, die zwischen 1975 und 1984 zur Integrationsthematik durchgeführt und durchwegs in renommierten Zeitschriften zur Diskussion gestellt wurden, wählten sie elf Untersuchungen aus, die ihren strengen empirischen Kriterien standhielten und quantitative Leistungsvergleiche zuließen. Das Ergebnis spricht für die Integration: ". . . empirische Studien bestätigen, daß sich der integrative Unterricht für behinderte Schüler leistungs-, einstellungs- und entwicklungsmäßig vorteilhaft auswirkt." (Wang/Baker, 1985/86, p. 517; übersetzt durch die Autorin)[13]

- Wocken hat ebenfalls erfahrungswissenschaftlich gearbeitet, allerdings mit einem völlig anderen Ansatz. Im Gegensatz zu Wang/ Baker geht er selbst in sein Forschungsfeld. In 7 bzw. 13 Integrationsklassen der ersten zwei Schulstufen untersucht er die Lesefertigkeit, das Zahlenrechnen und das Leseverständnis. Sein Fazit: "Entgegen ängstlicher Befürchtungen und pessimistischer Prognosen stören oder hemmen behinderte Kinder die Leistungsentwicklung nichtbehinderter Kinder in integrierten Klassen nicht. Die Ausgrenzung behinderter Kinder aus Grundschulen kann daher mit etwaigen Beeinträchtigungen der Leistungsentwicklung nichtbehinderter Kinder nicht begründet und legitimiert werden." (Wocken, 1987, S. 304 f.)

2. Die schulische Integration zum Wohle aller Kinder (der behinderten wie der nichtbehinderten) ist voraussetzungsreich.

Es braucht unter anderem

  • kleine Klassenschülerzahlen,

  • mehrere in speziellen Bereichen unterschiedlich kompetente Lehrer bzw. Betreuer, die gemeinsam die Verantwortung für die ihnen anvertrauten Schüler tragen,

  • offene Unterrichtskonzepte, die auf ganzheitliches, individualisiertes und gemeinsames Lernen abzielen und sich von starren Leistungsbeurteilungssystemen distanzieren,

  • enge Zusammenarbeit von Schule und Eltern,

  • Unterstützung durch die Öffentlichkeit, besonders die Gemeinde.

Jede der genannten Voraussetzungen, die im Hinblick auf ihre Wichtigkeit in einer frühen OECD-Studie als "Integrationsprinzipien" bezeichnet werden, wird in mehreren Publikationen ausführlich behandelt (Valtin 1984, Muth 1986, Feuser 1987, Schöler 1987, Wocken 1987 und 1988). Erfahrungswerte bezüglich günstiger Lerngruppengrößen bzw. Behinderten-Nichtbehinderten-Relationen gibt es beispielsweise in vielfach abgesicherter Form; die Notwendigkeit, mehrere Erwachsene (z. B. zwei Lehrer) mit der Verantwortung für integrierte Klassen zu betrauen, hat sich im Laufe langer Beobachtungszeit räume deutlich herauskristallisiert; für die Ausgewogenheit gemeinsamer und individualisierter Lernphasen im Unterricht findet man zahlreiche Anregungen; die Wichtigkeit der Außenstützung integrierten Unterrichts durch Eltern und Gemeinde wird anhand vieler Fallanalysen eindrucksvoll dargestellt.

3. Integrationsklassen sind Orte/Brennpunkte der inneren Schulreform.

Gründe für dieses Faktum gibt es viele. In der vor kurzem erschienenen Monographie der Fläming-Grundschule, die 1975 die erste und damit älteste Schule im Bereich des staatlichen Schulwesens der BRD mit Integrationsklassen ist und seit je Vorreiter- bzw. Vorbildfunktionen erfüllt, werden sie so dargestellt:

"Es gibt pädagogische Themen, die heutzutage für jede Grundschule bedeutsam sind: Diagnose von Lernschwierigkeiten und individuelle Fördermöglichkeiten, Binnendifferenzierung im Unterricht, Handlungsorientierung im Unterricht, Zusammenarbeit mit Kollegen und Eltern . . .

Solche Themen stellen sich in Integrationsklassen in besonders drängender Weise, da hier die Gruppen- und Lernsituation durch eine außerordentliche Heterogenität gekennzeichnet ist. Probleme, über die man in einer Regelklasse noch ohne unmittelbare Auswirkungen zumindest eine gewisse Zeit hinwegsehen kann, lassen sich in den Integrationsklassen nicht ignorieren, ohne für alle Beteiligten sofort spürbare, unerträgliche Konsequenzen zu haben. Wer in der Regelklasse z.B. keine Differenzierungsmöglichkeiten einbaut, mag - bei angepaßten Schülern zumindest - sein Versäumnis erst spät bemerken. Wird aber auf ein behindertes Kind nicht bereits bei der Planung Rücksicht genommen und kein differenziertes Angebot gemacht, das ihm ebenso gerecht zu werden versucht, wie dem in derselben Klasse befindlichen begabten Kind, so ist ein sofortiges Ausklinken aus dem Unterrichtsgeschehen die Folge. Harmoniert man als Klassenlehrer im Regelbereich einmal nicht mit einem Fachlehrer, so zeichnen sich die Folgen nicht so rasch ab. In der Integrationsklasse ist die ständige Kooperation mit dem pädagogischen Mitarbeiter und mit den Fachlehrern ein Muß!

Was die Beispiele zeigen sollten, ist die Einsicht, daß Problembereiche der heutigen Grundschule im Integrationszug mit klaren Konturen, ja auch mit mehr Tiefenschärfe... und meist in größerem Ausbildungsmaßstab erkennbar sind als in den Regelklassen. Die Möglichkeit, Schule in dieser Form ständig vor Augen zu haben und darauf reagieren zu müssen, hat das Problembewußtsein bei allen Lehrern der Fläming-Grundschule geschärft und unter anderem dazu geführt, daß auch in den Regelklassen bewußter gehandelt wird."

(Projektgruppe Integrationsversuch 1988, s. 31 6 f)

4. Die internationale Entwicklung geht eindeutig in Richtung "School for all".

Am deutlichsten drückt sich dieser Trend in der Tatsache aus, daß das CERI (Centre for Educational Research and Innovation) und damit die OECD schon mehrere internationale Konferenzen bezüglich der Behindertenbeschulung abgehalten hat und voll hinter folgender Aussage steht: "Die Abschlußdiskussion anerkannte die Bedeutung der 'Schule für alle' als Basis verantwortungsbewußten Rechtsempfindens in Demokratien" (OECD 1987, 6, p. 21; übersetzt durch die Autorin).[14]

Im Zusammenhang damit wird nachdrücklich darauf verwiesen, daß es auf den "political will" ankommt, wenn integrativer Unterricht größere Verbreitung finden soll, daß jegliche Integration einer in Kopf und Herzen überzeugten Trägerschaft bedarf, was auch die große Bedeutung der Elterninitiativen in der Integrationsbewegung erklärt.

II) Wie in Österreich derzeit integriert wird . . .

Angesichts der geschilderten Ausgangslage könnte man annehmen, daß die die Österreicher bewegende aktuelle Kernfrage nicht mehr die grundsätzliche ist, nämlich: "Soll/darf/kann Integration sein?", sondern die konkrete: "WIE wird unter den gegebenen Bedingungen integriert?"

Ganz trifft diese Annahme allerdings nicht zu. Nach meiner Einschätzung befinden wir uns gegenwärtig in einem Übergangsstadium: Es gibt bereits eine Reihe integrierter Klassen und eine nicht mehr zu ignorierende Zahl von Lehrern, Eltern, Schulaufsichtsbeamten und Sozialwissenschaftlern, die sich mit sehr speziellen Integrationsproblemen befassen. Die Grundsatzfrage wird aber auch noch - und immer wieder - gestellt!

Letzteres wurde beispielsweise im Rahmen eines Lehrerfortbildungsseminars deutlich, das das Pädagogische Institut des Landes Tirol gemeinsam mit dem erziehungswissenschaftlichen Institut der Universität Innsbruck im Juni 1988 veranstaltete. Ich zitiere aus dem von mir verfaßten Bericht über die Arbeit der Gruppe 4:

"Freitag nachmittag wird man dem Tagungsthema 'Integration konkret' noch kaum gerecht. Gegensätzliche Standpunkte werden teilweise sehr pointiert gegenübergestellt. Es geht (wieder einmal) um Grundsätzliches. Um darin nicht stecken zu bleiben wird vorgeschlagen

sich die Sonderschule als Angebotschule neben anderen Möglichkeiten der Beschulung zu denken, die Sonderpädagogik verstärkt in die sogenannte Regelschule einfließen zu lassen,

die "school for all"... als Entwicklungsziel zu betrachten, dessen Erreichung bekanntermaßen voraussetzungsreich ist." (Pädagogisches Institut des Landes Tirol, 1988, S. 15)

Wie weiteren Abschnitten des Arbeitsprotokolls zu entnehmen ist, flackerte die Grundsatzdiskussion zwar immer wieder auf, sie verlor aber zunehmend an Bedeutung und machte dem Erfahrungsaustausch Platz über

  • gemeinsame Lernphasen von Behinderten und Nichtbehinderten,

  • besondere Lernarrangements für Kinder mit bestimmten Behinderungen,

  • bewährte Unterrichtsmaterialien,

  • Schwierigkeiten der Zusammenarbeit von Regel- und Sonderschullehrern etc.

Wie sich dieses Seminar immer stärker auf das von den Veranstaltern intendierte Ziel "Integration konkret" zubewegte, so scheint mir auch die gesamtösterreichische Entwicklung zu verlaufen.

Allmählich treten wir aus der Phase der Grabenkämpfe, der Ideologieverdächtigungen in Richtung hoffnungsloser Reaktionäre bzw. falscher Propheten, heraus. Scheinbar unversöhnliche Vertreter gegensätzlicher Auffassungen kommen anläßlich konkreter Integrationsprobleme ins Gespräch, entdecken, daß von beiden Seiten Zugeständnisse möglich sind, bauen Vorurteile ab, geben starre Positionen auf, lassen sich in den Prozeß gemeinsamer Entwicklungsarbeit ein. Letztere braucht ein gewisses Maß der Verständigung genauso wie ein gewisses Maß der Gegensätzlichkeit. Die Maßbestimmung kann nicht generalisiert vorgenommen werden, sie ist von Fall zu Fall neu zu ermitteln.

In dem geschilderten Übergangsklima sind in Österreich in den letzten Jahren zahlreiche Integrationsklassen entstanden. Beim größeren Teil handelt es sich um "wilde" Formen. Lernschwierige Kinder werden aus verschiedenen Gründen in der Regelklasse behalten - allerdings ohne zusätzliche Stützmaßnahmen, wodurch ein allen Schülern dienlicher integrativer Unterricht gefährdet sein kann. Der kleinere Teil der bestehenden Integrationsklassen wird ordnungsgemäß als Schulversuch durchgeführt:

Das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Sport akzeptiert derzeit die folgenden Modelle (BMfUKS, Zentrum für Schulversuche und Schulentwicklung 1988, S. 11f):

  • Integrative Klassen

  • Gestützte Klassen

  • Kooperative Klassen

  • Förderklassen

In integrativen Klassen werden etwa vier behinderte Kinder zusammen mit nichtbehinderten Kindern in Grundschulklassen mit nach Möglichkeit beschränkter Schülerzahl (um 20) von zwei Klassenlehrern (Volksschullehrer und Sonderschullehrer) unterrichtet. Der Unterricht soll nach Prinzipien der Individualisierung, der Binnendifferenzierung und des kooperativen handlungsorientierten Lernens (Projektlernen) erfolgen und möglichst viel Gelegenheit zu förderlichen Kontakten zwischen behinderten und nichtbehinderten Schülern bieten.

In gestützten Klassen werden ein oder zwei behinderte Kinder zusammen mit nichtbehinderten Kindern in Volksschulklassen mit nach Möglichkeit beschränkter Schülerzahl unterrichtet. Für sieben bzw. zwölf Wochenstunden steht neben dem Klassenlehrer (Volksschullehrer) ein Stützlehrer (Sonderschullehrer) zur Verfügung.

In kooperativen Klassen werden behinderte Kinder in Klassen mit kleiner Schülerzahl (Klassengrösse wie in Sonderschulen) zusammengefaßt und entsprechend ihren jeweiligen Voraussetzungen bzw. Behinderungen während eines Teils der Unterrichtszeit gemeinsam mit den nichtbehinderten Schülern einer "Normalklasse" unterrichtet. Auch nehmen sie gemeinsam mit diesen an Schulveranstaltungen teil.

Förderklassen: Schüler, die normalerweise eine ASO oder angeschlossene Sonderklasse besuchen würden, werden an Volksschulen mit mindesten zwei Parallelklassen in "Kleinklassen" mit sechs bis elf Schülern von Sonderschullehrern nach den Lernzielen der Volksschule unterrichtet. Es wird angestrebt, die Schüler dieser Klasse durch einen auf ihre individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse abgestimmten Unterricht die grundlegenden Ziele der Volksschule erreichen zu lassen. Eine Förderklasse ist jeweils zwei Schulstufen zugeordnet.

Diesen Modellen werden aller Voraussicht nach weitere hinzugefügt werden müssen. Bereits jetzt ist deutlich, daß eine Fixierung auf eindeutig definierte Integrationsformen ein Entwicklungshindernis darstellen könnte, weil damit wider die Erkenntnis "Integration konkret bedeutet Flexibilität" gehandelt würde.

Im Rahmen einer Sitzung der Arbeitsgruppe des Zentrums für Schulversuche und Schulentwicklung im BMfUKS wurde beispielsweise am 22. Juni 1988 diese Thematik ausführlich erörtert. Vor allem Prof. Hartmann von der UBW Klagenfurt plädierte für Modell-Toleranz: "Nach genauer Beachtung aller örtlichen Bedingungen, der personellen, räumlichen, einstellungsmäßigen . . . sollte die jeweils günstigste Integrationsform gewählt werden. Die vier erwähnten Modelle hätten dabei der Orientierung zu dienen, sie dürfen nicht zu Erstarrung führen. Modell-Modifikationen müßten möglich sein." [15]

Aus meiner Sicht ist dieser Standpunkt uneingeschränkt zu unterstützen. Abgesehen von künftigen Entwicklungen, läßt sich nicht einmal die gegenwärtige Integrationswirklichkeit in die erwähnten vier Modelle pressen. Ein Beispiel dafür ist die in Tirol erfolgreich angelaufene "Vorbeugende Förderung entwicklungsverzögerter und entwicklungsgefährdeter Volksschüler". Es handelt sich dabei um ein Ambulanzlehrersystem, das Parallelen zur psychopädagogischen Betreuung in der Schweiz (insbesondere im Kanton Tessin) aufweist. Nicht die Frage ob dieses "System" ein Schulversuch sein darf, erscheint weiterführend, sondern lediglich die Frage ob die "Vorbeugende Förderung . . ." tatsächlich Integration bewirkt. In dem von der 11. SCHOG Novelle (327. Bundesgesetz vom 9. Juni 1988, ausgegeben im Verordnungsblatt Nr. 327) geschaffenen gesetzlichen Rahmen für die "Schulversuche zum gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern" hat vieles Platz. Gerade weil dieser Rahmen weit gesteckt ist, muß die Entwicklung integrativer Schulversuchsmodelle kritisch verfolgt werden, um zu sehen, ob sich die wünschenswerte Vielfalt auch tatsächlich als integrationsfördernd erweist.

III) An welchen Schlüsselstellen die weitere integrative Entwicklungsarbeit ansetzen muß . . .

Aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit "wilden" sowie schulversuchsmäßig eingerichteten Integrationsformen muß sich die weitere Entwicklungsarbeit auf die folgenden Bereiche konzentrieren:

l. Die Theorie und Praxis des integrativen Unterrichts

Wie schon in I/3 erwähnt, sind Integrationsklassen Brennpunkte der inneren Schulreform. Im integrativen Unterricht heißt es, für alle Schüler eine möglichst wenig einschränkende Lernumwelt (= least restrictive environment) zu schaffen und in den heterogen zusammengesetzten Klassenverbänden so zu arbeiten, daß jedes Kind gefördert wird das lernschwierige wie das durchschnittliche wie das hochbegabte. Dieser Anspruch ist hoch, ihm kann via Einzelmaßnahmen nicht entsprochen werden. Die Didaktik als Ganzes kommt ins Spiel, besonders:

  • Lehr- und Lernziele, wobei die ständige Beschäftigung mit ihnen und ihre Hinterfragung auch zu permanenten Lehrplanrevisionen führt;

  • verschiedene Konzepte von Unterricht inklusive derer der sogenannten Alternativschulbewegung, wobei es vorwiegend darum geht, bestimmte Elemente von Freinet und/oder Montessori und/ oder Waldorf zu adaptieren;

  • kindorientierte Lehrformen, deren Realisierung im engen Zusammenhang mit bestimmten Unterrichtsmethoden, z.B. dem Projektunterricht, steht;

  • soziale Lernarrangements, die auf die Ausgewogenheit von gemeinsamen und individualisierten Lernformen gerichtet sind;

  • Unterrichtsmaterialien und Lernbehelfe, denen im binnendifferenzierten Unterricht ein besonderer Stellenwert zukommt;

  • Probleme der Beurteilung, die nicht nur das Prinzip der Chancengerechtigkeit inkludieren, sondern - noch grundsätzlicher - die ständig erforderliche Diskussion um den Leistungsbegriff in unserer Gesellschaft.

Literatur zu den angeführten didaktischen Teilthemen ist in großer Reichhaltigkeit vorhanden. Aus dem allgemein didaktischen Bereich verweise ich beispielhaft auf

Meyer, Hilbert; Unterrichtsmethoden, Frankfurt 1987, ein zweibändiges von Lehrern wegen seiner Theorie-Praxis-Ausgewogenheit sehr geschätztes Werk und die

Beiträge aus dem Arbeitskreis "Qualität von Schule", die vom Hessischen Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung herausgegeben werden, jeweils aktuelle Probleme aufgreifen (etwa den binnendifferenzierten Unterricht) und zu deren weiterer Diskussion beitragen.

Ein österreichisches Pendant dazu sind die "Handreichungen" des Zentrums für Schulversuche und Schulentwicklung / Abt. I des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Sport in Klagenfurt (Unversitätsstr. 70), die vorwiegend von Lehrerarbeitsgemeinschaften erstellt werden und dadurch einen noch engeren Praxisbezug haben.

Integrativdidaktisch Interessierten empfehle ich:

Feuser, G./Meyer, H.; Integrativer Unterricht in der Grundschule, Solms-Oberbiel 1987,

Wocken, H./Antor, G. (Hg.); Integrationsklassen in Hamburg, Solms-Oberbiel 1987,

Wocken, H./Antor, G./Hinz, A.; Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen, Hamburg 1988

Schöler, J: (Hg.), Italienische Verhältnisse, Berlin 1987

Projektgruppe Integrationsversuch (Hg.); Das Fläming Modell, Weinheim 1988.

2. Die Lehrerbildung

Wieweit die didaktische Literatur handlungswirksam wird, hängt von den Qualifikationen der Lehrer ab, von Qualifikationen, die sie sich im Laufe ihrer Ausbildung erwerben, vor allem aber von denen, die sie sich praxisbegleitend im Rahmen neuer Konzepte der Fortbildung aneignen. An derartigen Konzepten wurde in den letzten Jahren vor allem an der Universität für Bildungswissenschaften in Klagenfurt gearbeitet. (Vgl. dazu Altrichter, H./Posch, P., Lehrer erforschen ihren Unterricht, Wien 1989.) Dabei geht es in erster Linie um die Aufarbeitung eigener Unterrichtserfahrungen, um Reflexion und Supervision und erst in zweiter Linie um die Rezeption von Fachliteratur, d.h. die Verschränkung von Theorie und Praxis. Nicht immer bedarf es dazu einer äußeren Organisationshilfe. Lehrer können sich durchaus in Eigeninitiativen schulintern oder regional zur Bearbeitung bestimmter Probleme ihres Schulalltags zusammentun, was durch verschiedene Arbeitsgemeinschaften immer wieder bewiesen wird. Wenn Fortbildungsmöglichkeiten von Institutionen wie den Pädagogischen Instituten oder der Universität angeboten werden, sollten sie sich in erster Linie an den Bedürfnissen der Lehrer orientieren, sowie nach Möglichkeit deren unmittelbare Kontaktpersonen miteinbeziehen. An diesen Veranstaltungen sollten also auch Eltern, Schulaufsichtsbeamte, Erziehungswissenschaftler, Ärzte... teilnehmen. Außerdem ist es günstig, Experten aus dem Ausland beizuziehen, damit die Nähe zu den Problemen nicht betriebsblind macht, sondern der für weitere Entwicklungen distanzierte Blick gesichert ist. Diesbezüglichen Vorbildcharakter haben Seminare und Exkursionen, die gemeinsam vom Pädagogischen Institut des Landes Tirol und dem Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck veranstaltet werden. Als Beispiele verweise ich auf das Seminar "Schulische Integration", das Ende Jänner 1987 im Haus St. Michael bei Matrei a. Brenner abgehalten wurde, auf das Seminar "Integration konkret" im Juni 1988 am Grillhof in Vill bei Innsbruck, auf eine Exkursion zu Berliner Schulen mit langer Integrationserfahrung im Februar 1989.

3. Das Mehrlehrersystem

Abgesehen von "wilden" Integrationsformen, die nicht selten eine unzumutbare Belastung für den Lehrer und folglich kaum "least restrictive environments", d.h. möglichst wenig einschränkende Lernumwelten für die einzelnen Schüler sind, arbeiten im gemeinsamen Unterricht für behinderte und nichtbehinderte Kinder mehrere Erwachsene. Dabei kann es unterschiedlichste Kombinationsformen geben. Es hängt von den örtlichen Bedingungen ab, ob ein Zweilehrersystem gewählt wird, bei dem ein Regel- sowie ein teil- oder ganzbeschäftigter Sonderschullehrer die Verantwortung für eine Klasse übernehmen, oder ein Sonderpädagoge ständig an der Regelschule arbeitet, oder auf Lehrerwunsch zeitweise Ambulanzlehrer angefordert werden, oder ob Angehörige des schulpsychologischen Dienstes bzw. anderer adäquater therapeutischer Institutionen die Unterrichtsarbeit unterstützen.

Der Lernförderung der Schüler scheint es jedenfalls zuträglicher zu sein, wenn Kooperationspartner für längerfristige gemeinsame Arbeiten in der Schule zur Verfügung stehen, als wenn Kinder aus ihrer Lernumwelt gerissen werden, um sich in oft beachtlicher Entfernung einer Spezialbehandlung zu unterziehen. Voraussetzung ist allerdings, daß die Zusammenarbeit der Erwachsenen funktioniert. Wocken (1988) spricht in diesem Zusammenhang von dem "seidenen Faden", an dem der integrative Unterricht hängt, der angesichts der Isolation, in der die meisten Lehrer zu arbeiten gewohnt sind, aber erst allmählich gesponnen werden muß. Schöler führt dazu aufgrund vieler Erfahrungen mit dem Zweilehrersystem eine über zwei Jahre gehende Phasenabfolge an:

  • "Klare Rollentrennung zu Beginn (der Klassenlehrer ist für die "normalen" Schüler zuständig, der Sonderpädagoge widmet sich den Behinderten).

  • Nach etwa zwei Monaten übernimmt der Sonderpädagoge gelegentlich Funktionen für die ganze Klasse.

  • Allmählich beginnt sich der Klassenlehrer den behinderten Kindern zuzuwenden; gemeinsam werden Phasen des Miteinanderlernens geplant.

  • Die anfangs klaren Rollentrennungen werden aufgegeben.

  • Die Lehrer können sich nicht mehr vorstellen, wie es wäre, allein in der Klasse zu stehen. Als größter Kooperationsvorteil wird die Entlastung gesehen, vor allem in Richtung des Tragens der Verantwortung. Über diese Erfahrungen bzgl. der Kooperation von Lehrern berichtete Prof. Schöler im Rahmen des Seminars "Integration konkret" a.a.O.

Dieser Phasenablauf ist selbstverständlich nicht zwangsläufig. Wie bei allen menschlichen Beziehungen muß damit gerechnet werden, daß zwei Lehrer nicht kooperieren können. Die Ursache dafür liegt häufig gar nicht so sehr im persönlichen Unvermögen als in der Tatsache, daß das Umfeld (z.B. eine der Integration gegenüber skeptische Gemeinde bzw. Schulaufsicht) die Zusammenarbeit erschwert. Da dies für die weitere Integrationsentwicklung aber so wichtig ist, sei nochmals auf Wocken verwiesen, der in subtiler Weise Bedingungen aufzeigt, von denen die alltägliche Kooperation der Lehrer als Voraussetzung für einen integrativen Unterricht abhängt, z. B. die Organisation des Schulsystems, der offene Umgang miteinander, das Ablegen der Befürchtung, die individuelle Handlungsfreiheit einzubüßen, Schwächen zu zeigen, die Bereitschaft, Satisfaktion (Anerkennung von Schülern und Eltern) zu teilen, etc.

4. Die wissenschaftliche Begleitung (Evaluation)

Laut Österreichischem Gesetz müssen Schulversuche wissenschaftlich begleitet werden. Dadurch hofft man, dem Anspruch gerecht zu werden, in ihrem Rahmen gemachte Erfahrungen und gewonnene Erkenntnisse als Innovation verantwortbar, weil überprüft/evaluiert, in das Regelschulwesen einzubringen.

Bezüglich der integrativen Schulversuche hinkt die wissenschaftliche Begleitung nach. Die Zeit drängt, weil manche österreichische Versuche schon des längeren laufen, aber noch immer nicht geklärt ist, nach welchem wissenschaftlichen Konzept begleitet werden soll bzw. wer mit dieser Arbeit konkret zu betrauen ist. Dank dem Leiter des Zentrums für Schulversuche und Schulentwicklung liegt seit Juni 1988 ein umfangreichers Konzept vor.[16]

Dieses Konzept hat anläßlich einer ersten Diskussion insofern Zustimmung geerntet, als neuere Vorstellungen der Schul-/ Unterrichtsforschung Berücksichtigung fanden, aber auch eine Reihe von Fragen aufgeworfen, die dringend einer Klärung bedürfen:

Wer verfaßt z. B. die Unterrichtsdokumentationen, führt etwa ein Tagebuch über Schwierigkeiten in der Lehrerkooperation oder in Phasen des gemeinsamen Lernens von behinderten und nichtbehinderten Kindern? Wer koodiniert die Dokumente, stellt sie in einen theoretischen Rahmen, sichert, daß die Evaluation nicht im Episodenhaften stecken bleibt? Wer stellt überregionale Vergleiche an? Wer sorgt dafür, daß die wissenschaftliche Begleitung nicht zur "Tatsachenforschung" verkommt, die nicht selten als Vorwand dafür dient, alles so zu belassen, wie es ist? Wie verteilen sich die Forschungskompetenzen zwischen Universität, Zentrum für Schulversuche und Schulentwicklung und Pädagogischem Institut? Mit welcher Unterstützung können "Lehrer zu Forschern" aufgebaut, kann das realisiert werden, was seit längerer Zeit als anspruchsvollste Form der Fortbildung gilt?

Fragen, die v.a. in Altrichter, H./Posch, P., Lehrer erforschen ihren Unterricht a.a.O., sowie in vielen "grauen Papieren" des Instituts für Schulpädagogik an der Universität in Klagenfurt behandelt werden.

5. Das Innovationsmanagement

Veränderungen im schulischen Bereich werden durch den eingangs erwähnten "politischen Willen" bewirkt, der in demokratischen Gesellschaften einer breiten Verankerung bedarf.

In Tirol hat sich beispielsweise die Zusammenarbeit folgendermaßen organisiert:

Ausgehend von engagierten Elterngruppen, vor allem in entlegenen Gegenden, kam es zu ersten Versuchen des gemeinsamen Unterrichts behinderter und nichtbehinderter Kinder. Ziemlich gleichzeitig damit wurde auf Landesebene die "Projektgruppe Integration" eingerichtet.

Sie setzt sich aus Eltern, Lehrern verschiedener Schulformen, Schulaufsichtsbeamten, Schulpsychologen und Erziehungswissenschaftlern zusammen und versteht sich als Anlaufstelle für alle Probleme und Aktivitäten im Zusammenhang mit der schulischen Integration. In ihr werden verschiedene Möglichkeiten der Integration diskutiert, Fortbildungsangebote für Lehrer initiiert und organisiert, Öffentlichkeitsarbeiten geplant, kritisiert . . . kurz: diese Gruppe ist die Zentrale des Innovationsmanagements, wenngleich dieser Terminus nicht unwidersprochen akzeptiert wird. Aus dieser Kerngruppe sind - getragen von einzelnen ihrer Mitglieder - Spezialgruppen hervorgegangen, wie die Arbeitsgruppe integriert arbeitender Lehrer (AGIL), die vorwiegend dem Austausch über konkrete Unterrichtserfahrungen der Lehrer in integrierten Klassen dient; die Beratungsteams, die sich auf Bezirksebene aus Eltern, Lehrern, Schulpsychologen, Ärzten etc. zusammensetzen und - weil den Integrationsklassen räumlich am nächsten - als erste Ansprechpartner und Helfer bei Problemen aller Art (unterrichtlicher, diagnostischer, therapeutischer, kooperativer) fungieren; das Evaluationsteam hat sich am Institut für Erziehungswissenschaften an der Universität Innsbruck gebildet. Es hat in Eigeninitiative während des Schuljahres 1987/88 ein Konzept für die wissenschaftliche Begleitung der integrierten Schulversuche entwickelt und danach erste Erfahrungen durch Beobachtungen des Unterrichts, Analysen des Schul- und Gemeindeklimas etc. gesammelt.

Alle Gruppen haben untereinander Kontakte und sind ihrerseits wieder auf Bundesebene vertreten, und zwar in der ARGE Integration im Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Sport und im Zentrum für Schulversuche und Schulentwicklung/Abt. II

In jüngster Zeit hat sich die organisatorische Verankerung der Integrationsbemühungen noch verdichtet: über Initiative des Pädagogischen Instituts ist es gelungen, den Schulversuch "Integration" mit anderen Schulversuchen zu vernetzen. Vielversprechend scheinen die Kontakte zum Schulversuch "Kindorientierte Lehrformen", durch den vor allem im Bereich der Binnendifferenzierung viel Know-how entwickelt wurde. Außerdem ist aus einem Fortbildungsseminar der Sonderpädagogische Arbeitskreis (SOPAK) hervorgegangen, der sich am Institut für Erziehungswissenschaften an der Unversität Innsbruck etabliert hat und darauf abzielt, "Integration" interdisziplinär, d.h. vorwiegend durch Zusammenarbeit von Pädagogen, Psychologen und Medizinern zu betreiben. Die verschiedenen Elterngruppen haben sich im Oktober 1988 zum Tiroler Arbeitskreis für integrative Erziehung (TAFIE) zusammengeschlossen.

6. Die Finanzierung

Ein wichtiger Aspekt der Schulentwicklung sind deren Kosten. Bezüglich der Integrationsversuche gibt es erst überschlagsmäßige Berechnungen, die noch zu verfeinern sind. Sie müßten in den Gesamtzusam menhang schulwirklichkeitsverändernder Bemühungen gestellt werden, hätten miteinzukalkulieren, daß individualisierter Unterricht z.B. auch Begabtenförderung bedeutet. Dies nur als Hinweis, daß Kostenrechnungen nicht einseitig an der Banalität festgemacht werden dürfen, daß zwei Lehrer pro Klasse teurer kommen als einer.

7. Die Gesetzeslage

Die verschiedenen Entwürfe zur 11 . SCHOG-Novelle haben deutlich gemacht, wie schwierig gesetzliche Fassungen dynamischer Prozesse sind. Einerseits bedarf es von seiten des Gesetzgebers bestimmter Vorgaben bezüglich zulässiger Modelle der Integration, andererseits sind zu eindeutige Definitionen von übel, weil sie verhindern, daß auf örtliche Bedingungen mit hinlänglicher Flexibilität reagiert werden kann.

Resumee

Wenn in Österreich die "Schule ohne Aussonderung" mehr als ein Lippenbekenntnis ist (Wieser 1987), müssen wir aus den Grundsatzdebatten heraustreten und uns verstärkt der Unterrichts- und Erziehungs wirklichkeit stellen, diese integrationsfähig machen. Dabei ist es notwendig im Sinne von Milani-Comparetti umzudenken: Nicht das Kind mit bestimmten Defiziten wird dem gegebenen System angepaßt, sondern seine Umwelt ist so zu arrangieren, daß eine ganzheitliche Förderung möglich ist. (Vgl. dazu die unter dem Motto "from Cure to Care" geführte Diskussion bei Milani-Comparetti A./Roser, L., Berlin 1982, S. 77 ff.)

Anderswo entwickelte Theorien und Modelle (z. B. Deutscher Bildungsrat 1973, Feuser 1987) bieten für die Gestaltung von "least restrictive environments" (möglichst wenig einschränkende Lernumwelten) wichtige Denk- und Handlungsorientierungen; sie ersparen uns allerdings nicht, eigene Erfahrungen zu sammeln und kritisch aufzuarbeiten.

Ausgehend von den jeweiligen örtlichen Bedingungen müssen wir eigenständig Schritt für Schritt in Richtung Integration gehen. Nüchternheit ist dabei gefragt, der klare Blick für Probleme - auch für neu hinzukommende- unerläßlich.

Das Ziel ist die "school for all", die gemeinsame Schule für Behinderte und Nichtbehinderte (OECD, 1 987, S. 18,21 ). Zu ihr führen keine Wege, die generalisierend vorgezeichnet werden könnten. Die regionalen Verhältnisse müssen vielmehr im Detail berücksichtigt werden. Wer das tut, gewinnt die Einsicht, daß "Integration konkret" großer Flexibilität bedarf.

Allen Kindern möglichst fördernde Lernumwelten zu schaffen, den Voraussetzungen der einzelnen Schüler gerecht zu werden und die Balance zwischen individualisiertem und gemeinsamem Unterricht zu finden, ist höchst voraussetzungsreich.

Wer sich damit beschäftigt, ist mehr als ein Integrationsförderer. Er arbeitet im Kernbereich der inneren Schulreform, die selbstverständlich auch die Förderung Hochbegabter im Auge hat. Dieser abschließende Gedanke ist mir wichtig, weil in Österreich mancherorts der Eindruck erweckt wird, die Behindertenintegration verunmögliche die Begabtenförderung. In Wirklichkeit handelt es sich aber nicht um ein bildungspolitisches Entweder- Oder, denn wo schülerorientiert unterrichtet wird und Lehrer mit Hilfe unterstützender Massnahmen zu indi vidualisieren verstehen, profitieren alle Schüler, auch die begabten.

Literatur

Altrichter, H./Posch, P., Lehrer erforschen ihren Unterricht, Wien 1989.

Bachmaier, G., Handlungsorientierte Unterrichtsanalyse, Weinheim 1982.

Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Sport, Zentrum für Schulversuche und Schulentwicklung, Abt. II, Rahmenkonzept für die wissenschaftliche Begleitung der Schulversuche zur Integration behinderter Kinder, Graz 1988.

Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Sport, Zentrum für Schulversuche und Schulentwicklung, Abt. I, Handreichungen, Klagenfurt. (Die Handreichungen beziehen sich auf Themen zu schulorganisatorischen Veränderungen, zu didaktisch-methodischen Fragen und zur Umsetzung neuer Lehrpläne in die Unterrichtspraxis; sie erscheinen laufend.)

Deutscher Bildungsrat, Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher, Bonn 1974.

Feuser, G./Meyer, H., Integrativer Unterricht in der Grundschule, Solms-Oberbiel 1987.

Forstar, R., Wem nützt die Sonderschule? Kritische Anmerkungen zur Praxis der Aussonderung lernbehinderter Kinder in eigene Schulen, in: Neider, M./Rett, A. (Hg.), Behindertenpolitik, Politik für Behinderte? Wien 1981 .

Hessisches Insitut für Bildungsplanung und Schulentwicklung, Beiträge aus dem Arbeitskreis "Qualität von Schule", Wiesbaden (erscheinen in unregelmäßigen Abständen)

Kasztantowicz, U. (Hg.), Wege aus der Isolation. Konzepte und Analysen der Integration Behinderter in Dänemark, Norwegen, Italien und Frankreich, Heidelberg 1982.

Kniet, A., Die Schule für Lernbehinderte und ihre Alternativen, Rheinstetten 1979.

Meisel, J. (ad.), Mainstreaming handicapped Children: Outcomes, Controversies an New Directions, London 1986.

Meyer, H., Unterrichtsmethoden, Frankfurt 1987 (2 Bde.).

Milani-Comparetti, A./Roser, L., Förderung der Normalität und der Gesundheit in der Rehabilitation, in: Wunder, M./ Sierck, U. (Hg.), Sie nennen es Fürsorge, Berlin 1982.

Muth, J., Integration von Behinderten. Über die Gemeinsamkeit im Bildungswesen, Essen 1986.

OECD, CERI (Centre for Educational Research arid Development), CD (87)6, Active Life for Young People with Disabilities, Paris 1987.

Pädagogisches Institut des Landes Tirol, Integration konkret, Nachlese einer Tagung am 1 7. und 18. Juni am Grillhof, Innsbruck 1988.

Projektgruppe Integrationsversuch (Hg.), Das Fläming Modell, Gemeinsamer Unterricht für behinderte und nichtbehinderte Kinder an der Grundschule, Weinheim 1988.

Schöler, J. (Hg.), "Italienische Verhältnisse" insbesondere in den Schulen von Florenz, Berlin 1987.

Valtin, R./Sander, A./Reinartz, A. (Hg.), Gemeinsam leben-gemeinsam lernen, Behinderte Kinder in der Grundschule, Konzepte und Erfahrungen, Frankfurt 1984.

Wang, M./Baker, E., Mainstreaming programs: Design features arid effects, in: The Journal of Special Education, vol. 1 9/no.4, 1985-86.

Wieset, I., Die "Schule ohne Aussonderung" - Mehr als ein Lippenbekenntnis? In: Schule und Leben, Fachzeitschrift des Päd. Inst. Tirol, 1 987/Heft 6

Wocken, H./Antor, G. (Hg.), Integrationsklassen in Hamburg, Solms-Oberbiehl 1987.

Wocken, H./Antor, G./Hintz, A.(Hg.), Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen, Hamburg 1988.



[13] "... the results reported here from empirical studies of Ne pest decade provide support for Ne effectiveness of mainstreaming in improving performance, attitudinal arid process outcomes for handicapped students."

[14] "The final discussion accepted Ne importance of Ne "school for all" approach es Ne basis of responsible citizenship in a democracy".

[15] Da das Protokoll dieser Sitzung noch nicht vorliegt, berufe ich mich als Mitglied der Arbeitsgruppe auf meine eigenen Notizen.

[16] HR Dr. Petri, der seit vielen Jahren für die wissenschaftliche Begleitung von Schulversuchen zuständig ist, hat in diesem Konzept auch die sog. "handlungsorientierte Unterrichtsanalyse" aufgenommen - vgl. Bachmaler, G., Handlungsorientierte Unterrichtsanalyse, Weinheim 1982, insbes. S. 181-229.

Margret Czekelius / Brigitte Husinsky: Erfahrungen mit Integration in der Schule

Wir sind zwei Lehrerinnen, eine Volksschullehrerin und eine Sonderschullehrerin, die im Rahmen eines Schulversuches in einer Integrationsklasse unterrichten. Von den zwanzig Schülern unserer Klasse gelten drei Kinder als behindert, zwei davon sind geistig und körperlich schwer behindert, ein Kind wird als ASO-Schüler (lernbehindert) eingestuft. Für die behinderten Kinder werden individuelle Lernpläne erstellt, die auf den entsprechenden Sonderschullehrplänen beruhen. Für die nichtbehinderten Kinder gilt der Volksschullehrplan.

Eine integrierte Schule, die Kinder nicht auf Grund einer Behinderung aussondert, wird allein dadurch schon zu einer menschlicheren Schule für alle, daß sie sich auf eine grundlegende Tatsache besinnen muß, die derzeit häufig übersehen wird: nämlich daß kein Kind einer Altersstufe dem anderen gleicht und daß jedes Kind andere Voraussetzungen und Bedürfnisse in Bezug auf das Lernen hat. In der Sonderschule gesteht man behinderten Kindern zu, ihren persönlichen Fähigkeiten entsprechend gefördert zu werden. Dieses Recht muß aber für alle Kinder gelten.

Integrativer Unterricht erfordert also neue Unterrichtsformen, die allen Kindern zugute kommen: eine stärkere Differenzierung des Unterrichts wird dadurch erreicht, daß man den Frontalunterricht zugunsten von Gruppenunterricht und verstärkter individueller Förderung zurückdrängt, also Formen des "offenen Unterrichts" bevorzugt.

Unser Unterricht

Ein Grundprinzip unserer Unterrichtsgestaltung ist es, daß jeder Tag gemeinsame Aktivitäten, Arbeiten in der Gruppe und individuelle Lernphasen umfassen soll. So gibt es bei uns den Sesselkreis, freie Arbeitsphasen und Gruppenarbeit, aber auch Phasen, wo alle nicht behinderten Kinder gemeinsam und die behinderten individuell unterrichtet werden.

Unser Sesselkreis, mit dem wir oft einen Unterrichtstag beginnen, ist ein Beispiel für gemeinsames Lernen und für Lernen voneinander. Die Kinder erzählen Erlebnisse, stellen Bücher vor, berichten von Arbeitsergebnissen oder planen Unterrichtsprojekte. In diesem Kreis sprechen alle Kinder. Da die behinderten Kinder manchmal nicht gleich von allen verstanden werden, hören die übrigen mit großer Aufmerksamkeit zu, fragen nach und erklären einander, was sie verstanden haben. Am Anfang ist es manchen Kindern schwer gefallen, vor der ganzen Klasse zu reden, aber der Ansporn durch die anderen war so groß, daß sie schließlich ihre Scheu überwunden haben.

Die "Freien Arbeitsphasen" ermöglichen ein individuelles Lernen. Es stehen Arbeitsblätter mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden, Anregungen für Texte und Karteien mit Arbeitsaufträgen für Deutsch, Mathematik usw. zur Auswahl. Da jedes Kind an einer selbst gewählten Aufgabe arbeitet, bedeutet das einen großen Anreiz für jeden einzelnen. Gerade auch begabte Kinder nützen die Möglichkeit, intensiver zu arbeiten als andere. Wir Lehrerinnen können uns in dieser Unterrichtsphase speziell jenen Kindern widmen, die uns gerade besonders brauchen, sei es, um sie individuell zu fördern, zu motivieren oder Hilfestellung zu geben. Es kommt vor, daß ein Kind, das seine Arbeit erledigt hat, einem anderen Kind hilft und in bestimmten Situationen sind Kinder wirklich oft die besseren "Lehrer" als wir Erwachsenen. Am Ende der freien Arbeitsphase trägt jedes Kind in eine Liste ein, was es gemacht hat. Wir glauben, daß durch diese Art von Arbeit abgesehen von Unterrichtsinhalten - Kinder lernen, Entscheidungen zu treffen, sich selbst eine Aufgabe zu stellen und diese selbständig zu bearbeiten.

Gruppenarbeit wird oft damit eingeleitet, daß zu einem bestimmten Thema von allen gemeinsam Teilbereiche aufgelistet und Aufgabenstellungen erarbeitet werden. Die unterschiedlichen Aufgaben werden dann von einzelnen Gruppen bearbeitet. Eine Gruppe sammelt zum Beispiel Informationen aus Büchern, eine andere schreibt eigene Gedanken zum Thema auf und wiederum eine andere sucht Bilder dazu aus. Auf Grund des unterschiedlichen Schwierigkeitsgrades der einzelnen Aufgabenstellungen ist es also hier sehr gut möglich, auch behinderte Kinder in die Gruppenarbeit sinnvoll mit einzubeziehen. Die Ergebnisse der einzelnen Gruppen werden abschließend gemeinsam besprochen, zusammengefaßt und fallweise auch ergänzt. Natürlich gibt es auch Unterrichtsituationen, in denen nur die nichtbehinderten Kinder gemeinsam einen Inhalt bearbeiten, besonders in Deutsch und Mathematik. Die behinderten Kinder arbeiten in dieser Zeit nach ihren speziellen Lernplänen und werden von der zweiten Lehrerin betreut. Unser Unterricht ist somit geprägt durch den Wechsel von gemeinsamem Lernen, individuellen Lernphasen und Gruppenunterricht.

Unsere Teamarbeit

Da wir in der Klasse zu zweit unterrichten, bedeutet für uns integrativer Unterricht auch Teamarbeit. Diese Teamarbeit erleben wir als Bereicherung des Unterrichts, aber auch als persönliche Bereicherung; zugleich ist unsere Zusammenarbeit auch eine Herausforderung. Gemeinsam haben wir mehr Ideen zur Unterrichtsgestaltung, oft ist Arbeitsteilung möglich, zum Beispiel beim Anfertigen von Materialien, beim Korrigieren der Arbeiten usw., und dadurch können wir unsere persönlichen Neigungen und Stärken für den Unterricht besser nützen. Durch die Teamarbeit und auch dadurch, daß wir uns gut verstehen, können wir eigenes Verhalten besser reflektieren, was unserer Selbstkritik förderlich ist. Gerade das erleben wir als Chance für persönliche Veränderung und berufliche Weiterentwicklung. Das Zwei-Lehrer-System bedeutet, daß es in der Klasse zwei Bezugspersonen gibt - das ermöglicht eine bessere Betreuung aller Kinder. Unser Umgang miteinander hat außerdem Vorbildfunktion für die Kinder. Gerade auch deswegen erscheint uns gute Kooperation und harmonische Zusammenarbeit in der Klasse sehr wichtig.

Auch die Vor- und Nachbereitung gewinnt durch gemeinsames Arbeiten: gemeinsam planen wir die jeweils kommende Woche. Bei der Tagesvorbereitung teilen wir bestimmte Unterrichtseinheiten untereinander auf. Am Anfang unserer Zusammenarbeit haben wir gemeinsam genau vorbereitet, wer wann was tut, das ist mittlerweile nicht mehr nötig. Kurze Absprachen zwischendurch genügen.

Damit die Vorbereitung effizient wird, hat für uns die Nachbereitung einen wichtigen Stellenwert: Wir reflektieren das Geschehen in der Klasse und besprechen aufgetretene Probleme. Danach treffen wir Entscheidungen für das weitere Unterrichtsgeschehen. Solche Gespräche finden nach dem Unterricht und bei der gemeinsamen Wochenplanung statt.

Unsere Schüler

Der Leistungsstand der Klasse ist laut psychologischen Tests dem Durchschnitt entsprechend. Aber wir sind überzeugt, daß die Kinder in der Integrationsklasse so ganz "nebenbei'" viele Dinge lernen, die mit herkömmlichen leistungsorientierten Tests nicht meßbar sind, wie zum Beispiel Selbständigkeit, Akzeptieren von Andersartigkeit und soziales Verhalten.

Die Sozialkontakte in der Klasse sind völlig "normal". Es gibt Freundschaften und distanziertere Beziehungen wie in jeder anderen Klasse auch. Die beiden schwerstbehinderten Kinder, von denen eines Rollstuhlfahrer ist, gehören zu den beliebtesten Kindern. Gerade besonders "wilde" Buben entwickeln im Umgang mit ihnen viel Einfühlungsvermögen und Sanftheit. In der Außenseiterposition befinden sich eher sozial schwierige Kinder, in unserem speziellen Fall trifft das auf das dritte behinderte Kind zu. Aber auch sein Verhalten ist nicht mehr so auffällig wie am Anfang.

Unser Resumee

Eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen schulischer Integration ist die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Zusammenarbeit, sowie das Engagement beider Lehrer.

Wichtig wäre auch, daß die Eltern positiv zur Integration stehen.

Eine aufgeschlossene, unterstützende und integrationsfördernde Einstellung der Schulbehörde wäre für ein gutes Gelingen ebenfalls wesentlich: schließlich befindet sie über Klassengrößen, Unterrichtsmaterialien, Beurteilungssystem und dgl. Belastend ist die Tatsache, daß von uns ständig gefordert wird zu beweisen, daß Integration funktioniert und gut ist. Um den oft geäußerten Befürchtungen, unsere Schüler würden zu wenig lernen, entgegenzuwirken, müssen wir Leistung im Unterricht mehr betonen als uns günstig erscheint. Derzeit werden die nichtbehinderten Kinder mit Ziffernnoten beurteilt, die behinderten Kinder hingegen verbal. Wünschenswert wäre eine verbale Beurteilung für alle Kinder, damit Entwicklungen und Fortschritte jedes einzelnen individuell und nicht im Vergleich mit irgendeiner Norm beschrieben werden können. Schulische Integration ist, wie auch der Integrationsgedanke überhaupt, noch nicht in unserer Gesellschaft verankert. Es wird daher verstärkte Öffentlichkeitsarbeit notwendig sein, um Mißverständnisse bei Lehrern, Eltern und Behörden auszuräumen. Wir als Lehrerinnen einer integrierten Klasse erleben diese Form des Unterrichts als Bereicherung für alle Beteiligten und als Teil eines guten Anfangs.

Reinhard Hug: Unterrichtsbeobachtungen in einer integrierten Volksschulklasse

In dieser Klasse der vierten Schulstufe unterrichten eine Sonderschullehrerin und eine Volksschullehrerin gemeinsam 20 Kinder, davon sind drei behindert - Klaus und Lukas gelten als mehrfach behindert, Thomas ist lernbehindert.

Zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn versammeln sich die Schüler allmählich im Klassenzimmer. Es herrscht reges Treiben. Schultaschen werden verstaut, Hefte und Bücher hergerichtet und Neuigkeiten werden ausgetauscht. Um die beiden Lehrerinnen haben sich eine Reihe von Schülern aufgestellt. Die Volksschullehrerin sammelt Hausübungszettel ein, die Sonderschullehrerin unterhält sich mit einigen Schülern. Klaus wird von seiner Mutter in die Klasse gebracht. Sie setzt ihn gleich in der ersten Reihe auf seinen Stuhl und hilft ihm beim Ausziehen seiner Jacke. Mit freundlichem "Auf Wiedersehn" verläßt sie den Raum.

Mittlerweile ist es bereits 8.00 Uhr, der Unterricht beginnt. Alle Schüler sind an ihren Plätzen und beten mit den Lehrerinnen das Morgengebet. Anschließend begrüße ich die Buben und Mädchen. Da ich nicht zum ersten Mal am Unterricht teilnehme, kennen mich die Schüler schon und freuen sich, daß ich sie wieder einmal besuche.

Die Volksschullehrerin fordert die Kinder auf, für den Sesselkreis - ein Fixpunkt im Ablauf des Unterrichtstages - an der Tafel vorne Platz zu schaffen. Es dauert nicht lange und alle sitzen im Kreis nebeneinander. Jeder Schüler bekommt einen Zettel, auf dem eine Geschichte in sechs Bildern dargestellt ist. Die Bildergeschichte erzählt von einem Buben, der große Angst hat. Beinahe jeder Schüler möchte derjenige sein, der die Geschichte erzählen darf. Die Volksschullehrerin wählt ein Kind dafür aus. Anschließend sollen die Schüler Geschichten erzählen, wie es war, als sie selbst einmal Angst hatten. Klaus sitzt im Sesselkreis neben Manuel und versucht, mit ihm in Kontakt zu kommen. Er streicht ihm über den Kopf, will ihm dann die Augen zuhalten und lächelt ihn an. Manuel nimmt am Gespräch der anderen teil, ohne sich durch diese "Späße" ablenken zu lassen, legt aber seinen Arm um die Schultern von Klaus. Einige Schüler berichten von recht spannenden Ereignissen. Sogar Thomas, der sich beim Erzählen besonders schwer tut, berichtet von einem Erlebnis. Beide Lehrerinnen geben den Schülern Anregungen, wie solche "Angstgeschichten" noch spannender beschrieben werden können.

Nach 20 Minuten löst die Volksschullehrerin die Runde auf und weist die Schüler an, nun so eine Geschichte ins Heft zu schreiben. An ihre Sitzplätze zurückgekommen, machen sich alle an die Arbeit.

Die Sonderschullehrerin setzt sich mit einer neuen Bildgeschichte zu zwei behinderten Kindern - Klaus und Lukas -, bespricht mit ihnen, was bei dem Unfall in der Bildgeschichte passiert und schreibt dazu ein paar Sätze auf ein Blatt Papier.

Die Volksschullehrerin sitzt neben Thomas, dem dritten behinderten Schüler, und gibt ihm spezielle Anweisungen für seine Geschichte. Sie versucht, mit ihm gemeinsam die ersten Sätze zu formulieren.

Die anderen Schüler arbeiten währenddessen an ihren Aufsätzen. Anna nimmt ihr Wörterbuch und schlägt nach, da sie nicht sicher ist, wie ein bestimmtes Wort geschrieben wird. Andere Schüler zeigen auf und bitten die Lehrerinnen um Auskunft.

Es ist kurz vor 9.00 Uhr als Melanie und einige andere Schüler, die mit ihren Aufsätzen fertig sind, sich im hinteren Teil des Raumes aus der Materialecke verschiedene Spiele und Arbeitsblätter holen. Dort kann nämlich aus denjenigen Materialien ausgewählt werden, welche die Schüler selbständig verwenden dürfen. Die gemeinsame Unterrichtsphase geht allmählich in eine großteils individuelle und selbstgesteuerte Arbeitsphase über. Die Volksschullehrerin hat bei einigen Schülern Station gemacht und deren Geschichten angeschaut; sie beginnt jetzt, mit Klaus Übungen zu machen.

Ingo setzt sich an das Pult, weil er völlig ungestört und alleine arbeiten möchte. Er ist noch mit seiner Geschichte beschäftigt.

Manuel tut sich schwer, in der Materialecke etwas ihn Ansprechendes zu finden. Deshalb macht ihm die Volksschullehrerin Vorschläge, womit er sich beschäftigen könnte. Er entscheidet sich für eine Rechtschreibübung: lustige Karteikärtchen, auf denen Buchstaben durcheinandergewürfelt sind, ergeben zusammengesetzt Namen von Dingen, die Kindern besonders gut schmecken oder ihnen sehr gut gefallen. Manuel macht sich mit den Karteikarten an die Arbeit und überträgt die gefundenen Worte in sein Heft. Wenn er bei einem Wort Schwierigkeiten hat, fragt er eine Mitschülerin, die diese Übung schon einmal gemacht hat.

Zwei Schüler- Evi und Tobias - setzen sich an den kleinen Tisch in der Leseecke und Evi, die sich im Fach Deutsch vor allem beim Lesen schwer tut, diktiert Tobias einen Text aus einem Buch - eine gute Übung für beide. Sie haben sich diese Partnerarbeit selbst organisiert. Drei andere Kinder setzen sich ebenfalls in die Leseecke und jedes nimmt das Buch, das es gerade am meisten interessiert.

Andere Kinder beschäftigen sich in der freien Lernzeit mit Lernspielen:

der behinderte Thomas übt zusammen mit der Sonderschullehrerin ein "Uhrspiel", bei dem die "12-Stunden-Uhr" auf das 24-Stunden Schema erweitert wird. Nach Beendigung dieser Übung nimmt er sich das "Oberwart-Buch" und setzt sich damit zu den anderen in die Leseecke. Dieses dicke Buch, das viele Bilder und verschiedene Texte enthält, ist ein Geschenk einer burgenländischen Schulklasse, in der auch behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam lernen.

Zwei Schüler versuchen, die schwierigen Anforderungen eines Lernspieles gemeinsam zu lösen, bei dem es darum geht, ähnlich wie bei einem Puzzle geometrisch unterschiedliche Kartonplättchen zu ganz bestimmten Grundformen zusammenzulegen. Beim Lösen der recht schwierigen Aufgaben unterstützen sie sich gegenseitig und spornen sich an.

Nachdem Bernhard sein sich selbst gesetztes Pensum für die Freiarbeit erfüllt hat, setzt er sich neben Klaus und spielt mit ihm Steckbrett. Bernhard steckt mit den Knöpfen ein Haus und sein behinderter Mitschüler gibt ihm dazu die Anweisungen. Michaela beschäftigt sich während der heutigen Freiarbeitszeit mit einem Lernspiel zum Fach Deutsch. Dabei versucht sie, in die Worte vorgegebener Sätze die Buchstaben "t" und "d" richtig einzusetzen. Zur Kontrolle dreht sie, wenn sie mit allen Sätzen fertig ist, das Spiel einfach um und kann dann auf der Rückseite selbst kontrollieren, ob sie Fehler gemacht hat. Anschließend schreibt sie die Sätze in ihr Heft ein. Fünf Minuten vor 10.00 Uhr ruft die Volksschullehrerin die Schüler auf, ihre Arbeiten langsam abzuschließen und in die Liste einzutragen, was sie in der heutigen Freiarbeit gemacht haben.

Einige Schüler packen ihre Jause aus und gehen schon in den Schulhof. Melanie hilft Klaus, seinen Anorak anzuziehen, die Volksschullehrerin setzt ihn in seinen Rollstuhl und Schüler schieben ihn hinaus in den Hof. Nach der Pause versammeln sich wieder alle in der Klasse. Auf dem Programm steht jetzt Mathematik; Klaus hat Einzeltherapie beim Logopäden.

Die Volksschullehrerin ruft die Schüler zu sich nach vorne und bestimmt jene fünf Kinder, die heute die Gruppen zusammenstellen dürfen. So bilden sich verschieden große Gruppen: Lukas, Michael und Ralf bilden z.B. eine Dreier-Gruppe. Die Sonderschullehrerin stellt die Tische für die Gruppen zusammen. Die nicht behinderten Schüler sollen nun in Teamarbeit zwei Textrechnungen aus dem Mathematikbuch lösen. Als Rechenoperationen kommen Additionen, Subtraktionen und Multiplikationen vor.

Die behinderten Kinder bekommen eigene Arbeitsblätter. So bekommt Lukas ein Arbeitsblatt mit Kreisen: in jedem Beispiel muß eine entsprechende Anzahl von Kreisen dazu gemalt oder weggestrichen werden, so daß die Endsumme immer acht ergibt. Die Sonderschullehrerin erklärt Lukas seine Übung und er beginnt alleine daran zu arbeiten. Michael und Ralf arbeiten besonders eifrig an ihrer Textaufgabe; nebenbei gibt Michael seinem Sitznachbarn Lukas immer wieder kleine Hilfestellungen. Beide Lehrerinnen beschäftigen sich mit anderen Schülern.

Für Klaus, der vom Logopäden in die Klasse zurückgebracht wird, hat die Sonderschullehrerin eine spezielle Aufgabe: er bekommt ein Blatt mit vorgezeichneten Formen und die dazu passenden Plastikplättchen, welche richtig zuzuordnen sind. Die Sonderschullehrerin gibt ihm die nötigen Anweisungen und etwas später helfen ihm andere Kinder.

Der lernbehinderte Thomas ist mit seinem speziellen Arbeitsblatt fertig und bringt es der Sonderschullehrerin zur Korrektur. Sie sitzt vorne am Pult. Thomas hat einige Fehler gemacht, deshalb übt die Lehrerin mit ihm weiter. Nebenbei informiert sie ihre Kollegin über die Rechenleistungen von Thomas, und weil er die Abläufe bei den einzelnen Rechenarten verwechselt, schlägt sie vor, mit ihm in nächster Zeit nur die Subtraktion zu üben, um diese zu festigen.

Obwohl einzelne Gruppen ihre Aufgaben noch nicht ganz zu Ende geführt haben, fordert die Volksschullehrerin die Schüler auf, alles wieder aufzuräumen und sich auf ihre Plätze zurückzusetzen.

Die Volksschullehrerin erinnert die Kinder an den Beginn des heutigen Unterrichts, an die Gespräche im Sesselkreis. Nun soll jeder eine eigene Bildgeschichte zeichnen. Die Volksschullehrerin empfiehlt allen, genau nachzudenken, was bei ihren jeweiligen Geschichten besonders wichtig ist und das dann zu zeichnen. Anna fühlt sich über fordert und meint, daß sie in ihrer Geschichte Menschen zeichnen müßte und ihr das zu schwierig sei. Andere Kinder schließen sich ihrer Meinung an. Nach einer kurzen Diskussion einigen sich jedoch alle darauf, es trotz dieser Schwierigkeit mit der Bildergeschichte zu versuchen. Alle Zeichenblätter werden in mehrere Teile unterteilt und jeder fängt mit seiner Arbeit an. Klaus bekommt von der Volksschullehrerin ein Blatt, auf dem eine Schildkröte (große und kleine Flächen) gezeichnet ist. Klaus soll sie anmalen.

Alle arbeiten bis 11.30 Uhr, dann steht Turnen auf dem Stundenplan. Die Schüler müssen das Schulhaus verlassen, da der Turnunterricht im

Bewegungsraum des benachbarten Kindergartens stattfindet. Manuel hilft Klaus beim Anziehen. Lukas ist heute vom Schulbus ausnahmsweise schon um 11.00 Uhr abgeholt worden. Alle verlassen gemeinsam das Schulhaus und Manuel schiebt Klaus im Rollstuhl zum Turnsaal.

Weil heute für den Turnunterricht nur eine knappe Stunde Zeit ist, wird nicht an Geräten geturnt, sondern vor allem Gymnastik betrieben (die Schüler haben an einem anderen Wochentag zwei Stunden für den Turnunterricht zur Verfügung). Jeder Schüler darf eine Übung vormachen, die dann von den anderen nachgemacht wird. Auch Klaus turnt liegend eine Übung vor und nimmt mit etwas Unterstützung durch die Sonderschullehrerin auch bei bestimmten anderen Übungen teil. Abschließend machen die Kinder ein Ballspiel, bei dem Klaus am Rand des Spielfeldes sitzend zuschaut.

Christine Meissner: Schule ohne Angst

Das Thema "Schule" war für mich immer schon ein Problem, besonders da auch ich als Kind sehr unter Schulangst gelitten habe. Ich erinnere mich noch heute an mein Bauchweh von damals, - vermutlich habe ich mit psychosomatischen Symptomen reagiert. Ich stand unter starkem Druck des Elternhauses: Von mir wurden einfach gute Schulleistungen erwartet. Ich hatte damals keine Chance zu entkommen. Bei meinem eigenen Kind beschloß ich, es besser zu machen und keinesfalls soviel Druck und Zwang auszuüben. Es hat lange gedauert, bis ich dahintergekommen bin, daß zuviel Nachgiebigkeit auch neue Probleme schaffen kann. Um einen goldenen Mittelweg kämpfe ich heute noch. Für die Schule habe ich mir Lehrer gewünscht, die es verstehen, auch auf die Persönlichkeit meines Kindes einzugehen und diese zu fördern. Für mich gehört es einfach dazu, daß ein Lehrer das Kind erst einmal annimmt, so wie es vor ihm steht und dann Angebote überlegt und Impulse setzt, um eine Weiterentwicklung zu provozieren. Das Akzeptieren eines Kindes, seiner Interessen und seines Fähigkeitspotentials fällt aber vielen Menschen schwer; vielleicht sind sie selbst auch nie ernst genommen worden? Wichtig finde ich auch, daß der Lehrer sich selbst kennt: So habe ich immer wieder erfahren, wie sehr Probleme, die es mit meinem Sohn gab, auch mit meiner eigenen Persönlichkeitsproblematik zusammenhingen.

Hier im Burgenland eine Schule zu finden, die das Kind wichtiger nimmt als irgendwelche Leistungsprinzipien, schien mir utopisch, obwohl es sicher aufgeschlossene Lehrer gibt. In persönlichen Gesprächen mit der damaligen Schulpsychologin Dr. Schleichart erfuhr ich, daß ein Schulversuch geplant war, in dem behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam unterrichtet werden sollten. Ich dachte, daß dies auch meinen Vorstellungen von Erziehung und Unterricht entsprechen könnte. Mein Sohn hat dann auch als nichtbehindertes Kind alle vier Volksschuljahre in der Oberwarter Integrationsklasse verbracht. Ich habe von Anfang an nie geglaubt, daß es allein dadurch, daß Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam in eine Klasse gehen, zu Schwierigkeiten kommen könnte. Die Probleme, die es für meinen Sohn gegeben hat, sind sicher nicht durch die Behinderten in seiner Klasse entstanden, sondern hatten mit seinen eigenen Schwierigkeiten zu tun, - nämlich mit Lern- und Durchsetzungsschwierigkeiten. Mein Sohn hat in der Beziehung zu seinen Mitschülerinnen und Mitschülern Zu- und Abneigung empfunden und erfahren, aber Sympathie war nie davon abhängig, ob ein Kind behindert war oder nicht, vielmehr von gemeinsamen oder unterschiedlichen Interessen. Ich erinnere mich noch gerne an ein Fangenspiel zwischen meinem Sohn und einem Kind im Rollstuhl: Eine eigene Fahrtechnik und eigene Spielregeln machten es möglich. Beide hatten einen Riesenspaß.

Ich habe es auch immer als angenehm empfunden, daß die Gesprächsbereitschaft der Lehrerinnen in der Integrationsklasse sehr groß war; so konnte ich Unklarheiten immer mit ihnen besprechen. Die größten Schwierigkeiten erlebte ich mit den Behörden: Viele Beamte wollten den Schulversuch nicht und fanden immer irgendwelche Gründe, warum er nicht beginnen oder später dann, warum er nicht weiterlaufen sollte. Um etwas zu erreichen bzw. durchzusetzen, haben wir Eltern oft die Öffentlichkeit durch Presse, Rundfunk und Fernsehen auf uns aufmerksam machen müssen. Es war eigentlich ein ständiger Kampf, ein Kampf in dem die Einigkeit unserer Elterngruppe und der Rückhalt, den der einzelne in ihr fand, wichtig waren. Es ist schade, daß sich mancher Beamte so leicht übergangen, beleidigt oder gar bedroht fühlt. Wie viele Kräfte, die - für Integration eingesetzt - viel Positives bewirken könnten, werden so durch irgendwelche Machtspielchen sinnlos verpulvert!

Ulrike Schindl: Christina - ein Versuch, Integration zu leben

Kein Leitfaden, wie man's machen soll, sondern ein Mutmacher für Eltern von behinderten Kindern, für sich und ihre Kinder ungewohnte, eigenständige Wege zu suchen.

(Zwischenüberschriften von BIDOK)

Als Christina vor acht Jahren geboren wurde, war sie der erste schwer behinderte Mensch, mit dem ich in Berührung kam - bis dahin hatten behinderte Menschen sich außerhalb meines Gesichtsfeldes bewegt. Christina wurde 1980 mit Trisomie 21 (Down-Syndrom, "Mongolismus") in Innsbruck geboren. Aber nicht nur ich, ihre Mutter, hatte große Ängste und Schwierigkeiten, mich diesem "Problem" zu stellen: Wie ich sehr bald und sehr schmerzlich feststellen mußte, waren selbst Ärzte und Schwestern nicht imstande, über fachliche Hilfe hinaus menschlichen Beistand und Trost anzubieten. Auch lernte ich bald, daß die Maßnahmen von Ärzten, Therapeuten und Pädagogen für mein Kind nicht immer unbedingt richtig sind. Darum wollte ich Christinas Förderung nicht mehr ausschließlich in die Hände von Fachleuten legen und nahm mir vor, für meine Tochter einen eigenen Weg zu suchen. Denn ich glaube, die Möglichkeit, Christinas Leben auszufüllen und glücklich zu gestalten, ist in die Hände ihrer Eltern und ihrer Familie gelegt.

Ich halte nicht viel davon, in der Theorie schöne Konzepte auszuarbeiten, vielleicht auf einen gesellschaftspolitischen Umschwung zu warten, darauf, daß ein Miteinander selbstverständlich wird. Ich bin eher für den Weg der Konfrontation in einem positiven, praktischen Sinn, d. h. selbstbewußt Rechte für meine Tochter zu fordern, Berührungsängste abzubauen, um das Miteinander zu ermöglichen. So war mir sehr bald klar: Christina wird überall hin mitgehen, sie wird - soweit es ihr möglich ist - an allem teilnehmen, was unsere Familie unternimmt. Das habe ich bisher auch so gehandhabt. Inzwischen traue ich es einfach auch anderen zu, der Konfrontation mit einer Behinderung gewachsen zu sein, und ich bin eigentlich sehr selten enttäuscht worden.

Der Schock ...

Aber zurück zum Beginn meiner Geschichte: Drei Tage nach Christinas Geburt erfuhr ich die Wahrheit: "Mongolismus". Meinem Mann gegenüber war gleich nach der Geburt der Verdacht geäußert worden. Aber auf Anweisung der Ärzte durfte er mir nichts sagen, da ich nach dem Kaiserschnitt noch geschont werden sollte. Erst auf mein hartnäckiges Fragen hin, nachdem ich im Mutter-Kind-Paß "Trisomie 21 " gelesen hatte, war endlich ein Arzt bereit, mir Auskunft zu geben. Es war für mich ein ungeheurer Schock. Ich wußte damals nicht, ob ich so überhaupt noch weiterleben wollte oder konnte und ich hatte schreckliche Angst, dem ganzen nicht gewachsen zu sein. Gespräche mit meiner Bettnachbarin halfen mir damals über den ersten Schock hin weg: Sie hatte einen sechsjährigen mongoloiden Buben. War es wirklich ein Zufall, daß gerade diese Frau zu mir ins Zimmer gelegt wurde? In den folgenden Monaten kapselte ich mich fast vollkommen ab; es tat mir so entsetzlich weh, anderen von Christinas Behinderung zu erzählen und zu sehen, wie sie zurückprallten und hilflos nichts mehr zu sagen wußten. Meine Initiativen beschränkten sich darauf, durch Gespräche mit Ärzten und vor allem durch das Lesen von Fachliteratur, in die ich mich vergrub, mein Wissen über Christinas Behinderung zu erweitern. Und mir wurde eins dabei sehr schnell klar: Ich wollte nicht zuschauen und abwarten, wie Christina sich entwickelt, ich wollte sehr konsequent mit ihr arbeiten. Als Christina ein Jahr alt war, begann ich mich langsam zu öffnen. Durch Gespräche mit einer Gruppe von Eltern behinderter Kinder sah ich, daß die Probleme der meisten Familien ähnliche waren: quälende Gedanken um die Schuld an der Behinderung, das schlechte Gewissen, ein Kind in die Welt gesetzt zu haben, das die Allgemeinheit so viel Geld kostet, die Tatsache, bei den Behörden immer als Bittsteller behandelt zu werden und das Unverständnis, das uns oft entgegengebracht wird.

Die Gespräche mit Eltern von zum Teil schon älteren behinderten Kindern taten mir sehr gut. Ich begann mir Rat zu holen bei kleinen und großen Nöten. Solidarität macht eben stark.

Ab dem zweiten Lebensjahr ging Christina regelmäßig zum Babyschwimmen und wurde anschließend zwei Stunden lang von einer Sonderkindergärtnerin betreut. Das waren meine ersten Versuche, die Förderung auch "anderen" zu überlassen.

Mit drei Jahren begann Christina dann unter der Woche zwei Stunden den Sonderkindergarten zu besuchen. Als wir von Innsbruck nach Baumkirchen übersiedelten, war auch hier wieder eine Sondereinrichtung in der Nähe (Absam). Ich legte damals den Schwerpunkt auf sonderpädagogische Förderung, war noch gefangen in der Vorstellung, es bräuchte spezielle Methoden und besonderes Material, um Christina etwas "beizubringen". Mehr und mehr aber erkannte ich, daß Christina im Kontakt mit nichtbehinderten Kindern oft viel mehr lernte, als durch spezielle therapeutische Maßnahmen. Sie war problemlos im Umgang mit anderen Kindern und lernte dabei vieles ganz automatisch und selbstverständlich. So begann ich mir immer mehr Gedanken zu machen, wie die optimale Betreuung, abgesehen vom bereits bestehenden Angebot, für Christina ausschauen könnte, - wurde vom "Konsumenten" zum "Mitgestalter neuer Formen", wenn auch dieser Versuch jetzt im Rückblick nicht als nachahmenswert empfohlen werden kann. Christina ging vormittags in den Sonderkindergarten, am Nachmittag in den Dorfkindergarten. Das war für sie ein guter Einstieg: Da am Nachmittag selten mehr als fünf Kinder da waren; erhielt sie verstärkte Unterstützung von seiten der Kindergärtnerin und konnte sich so allmählich eingewöhnen. Aber am Nachmittag gab es leider kein "Programm", also entschied ich im zweiten Jahr, Christina zweimal wöchentlich auch vormittags in den Dorfkindergarten zu bringen, was aber dann wieder zur Folge hatte, daß sie keiner der beiden Gruppen mehr richtig angehörte. Also drängte sich eine Entscheidung auf: sie entweder hier im Dorf zu lassen, zusammen mit den Kindern aus der Nachbarschaft, aber ohne spezielle Förderung, oder sie in den Sonderkindergarten zu schicken, mit sonderpädagogischer Förderung, dafür aber die sozialen Kontakte auf Freizeit und Wochenende zu beschränken. Ich entschied mich dafür, dem Dorfkindergarten den Vorzug zu geben und mit Christina zusätzlich selbst zu arbeiten sowie am Nachmittag zur Logopädie und zum Therapiereiten zu fahren.

Anfänge integrativer Projekte

Etwas sehnsüchtig beobachtete ich die Arbeit der integrativen Kindergärten in Innsbruck, wo neben der sozialen Integration die behinderten Kinder auch verstärkt individuell gefördert und zusätzlich therapeutisch betreut werden. Aber Integration kann nur dort stattfinden, wo man lebt, da mußte ich einen Kompromiß in Kauf nehmen und eben selbst für Christinas spezielle Förderung sorgen. Die Kinder nahmen Christinas Anwesenheit im Kindergarten ganz unvoreingenommen auf. Am ersten Elternabend ging ich von mir aus auf die anderen Eltern zu und fragte sie nach ihrer Meinung. Ich wollte lieber von vornherein auch die Ansichten der anderen hören, als vielleicht später unliebsame Überraschungen erleben, aber es gab nicht die geringsten Vorbehalte. In der Folge entwickelten sich Christinas Beziehungen zu den Kindern ausgesprochen herzlich, sie schloß Freundschaften, wurde eingeladen und lud selbst Kinder zum Spielen ein.

Eigentlich lief alles bestens. Aber gerade in dieser Zeit begann mich etwas anderes zu belasten. Ich hatte immer mehr das Bedürfnis, einmal einfach nur Mutter zu sein. Ich wollte nicht jeden Handgriff und jedes Wort meiner Tochter analysieren, nicht sie ständig nur zum Lernen motivieren müssen. Konnte ich aber diesem Bedürfnis nachgeben und Christina trotzdem so gut fördern, wie es notwendig war? Müßte ich ihr nicht eigentlich doch immer in der Rolle eines Lehrers, Therapeuten oder Logopäden begegnen? War das womöglich der Preis für ihr "Hierbleiben"? War es nicht auch für Christina gut, einfach einmal nur zu spielen, zu schaukeln, Kassetten zu hören, ohne ständig von mir zum Lernen getrieben zu werden?

Als ich dann für die nahende Schulzeit zu planen begann, war mir klar, daß neben der sozialen Integration auch die spezielle Förderung im Rahmen der Schule gewährleistet sein muß. Da der Schuldirektor und die Klassenlehrerin unserer zweiklassigen Volksschule einem Schulversuch in bezug auf Integration offen gegenüberstanden, überlegte ich, wie Christina mit ihren Freunden aus dem Kindergarten auch in die Schule gehen könnte. Ich kannte die Form der Integrationsklassen in Kalsdorf und in Weißenbach. Dort gab es, wie auch bei den anderen Integrationsschulversuchen im Burgenland und in der Steiermark, immer eine kleine Gruppe von meist drei unterschiedlich behinderten Kindern; für unsere Christina aber war nur eine Einzelintegration möglich. Konnte das gut gehen? Würde sie nicht vielleicht frustriert erkennen, daß es ihr nicht möglich war, mit all den anderen mitzuhalten, in vielen Bereichen die "Letzte" zu sein?

Gemeinsam mit hilfreichen Integrationsbefürwortern erarbeiteten wir ein Projekt- abgestimmt auf den Standort Baumkirchen und die besonderen Bedürfnisse Christinas.

Das Projekt:

Ein Klassenlehrer (Volksschullehrer) und ein Stützlehrer (Sonderschullehrer) arbeiten zwölf Wochenstunden gemeinsam in der Klasse, die aus sieben Kindern (sechs plus Christina) der ersten Schulstufe und fünf Kindern der zweiten Schulstufe besteht. Die restlichen acht Unterrichtsstunden ist der Klassenlehrer oder der Religionslehrer allein mit den zwölf Kindern. Dieses Projekt ähnelt dem Südtiroler Stützlehrersystem. Es benötigte sehr viele Gespräche mit der Bezirks- und der Landesschulbehörde und sogar mit dem zuständigen Beamten im Ministerium, um dieses geplante Projekt letztlich auch zu realisieren.

Inzwischen hat Christina das erste Schuljahr in dieser integrierten Klasse beendet. Die Bedenken einiger Eltern, daß das Leistungsniveau der Klasse vielleicht gedrückt werden könnte, erwiesen sich als unbegründet. Als ebenso unbegründet stellte sich meine Sorge heraus, Christina könnte als einziges behindertes Kind in eine Außenseiterrolle gedrängt werden und vielleicht durch die Erkenntnis, daß manches von ihr eben nicht geleistet werden kann, entmutigt werden. Christina ist in

diesem Jahr ein lustiges, offenes, selbstsicheres Kind geblieben und hat viel gelernt. Einer ihrer Lieblingssprüche lautet: "Die Tina kann das auch!"

Neben dem ganzheitlichen Lesen von 40 bis 60 Worten, dem Schreiben und Erkennen von zehn Blockbuchstaben und dem Umgang mit den Zahlenbegriffen bis vier hat sie darüber hinaus gelernt, konsequent und auch selbständig zu arbeiten. Sie hat eine gute Einstellung zur Arbeit entwickelt; dabei half ihr besonders das Vorbild anderer Kinder. Hilfreich waren auch die Lernbehelfe, die der Sonderschullehrer mit viel Engagement ausgewählt hat und das große Einfühlungsvermögen der Lehrerin, die es verstand, Christina mit viel Phantasie und Geschick immer wieder zu motivieren, was gerade bei ihr nicht immer leicht war. Sie hat auch gelernt, in kleinen Gruppen frei zu sprechen, vor der ganzen Klasse schafft sie es noch nicht. Der Tatsache, daß Christina ein so großes Nachahmungsbedürfnis hat, ist es auch zu verdanken, daß sie heuer beim Schulschwimmkurs schwimmen gelernt hat. Was Christina betrifft, bin ich überzeugt, daß die Integration gelungen ist, aber ich möchte nicht verschweigen, daß es auch Probleme gegeben hat: Die Kooperation beider Lehrer hat nicht erwartungsgemäß geklappt. Christina selbst hat zwar von diesen Spannungen nicht bewußt etwas mitbekommen, aber sie waren sicher für alle Beteiligten belastend. Deshalb glaube ich, daß es gut wäre, beide Lehrer könnten sich kennenlernen, ehe sie sich zur Zusammenarbeit bereit erklären. Daß zwei Personen, die zusammenarbeiten, sich bis zu einem gewissen Grad verstehen müssen, ist selbstverständlich. Es ist aber auch ganz normal, daß es nicht immer nur Harmonie und Übereinstimmung geben kann. Daß trotz der geringen Kooperationsfähigkeit beider Lehrer - die Zusammensetzung des Teams wurde im zweiten Schuljahr dann auch geändert - die Integration Christinas gelungen ist, beweist meiner Meinung nach zweierlei: daß wegen Schwierigkeiten in Teilbereichen nicht gleich der Erfolg des jeweiligen Integrationsprojektes ausbleiben muß und daß es falsch ist, die Schuld an auftretenden Problemen bei Integrationsversuchen immer und ausschließlich dem gemeinsamen Lernen von behinderten und nicht behinderten Kindern anzulasten. Wenn aber darüber hinaus solche oder ähnliche Situationen sogar noch dafür herhalten müssen, den gesamten Integrationsgedanken in Frage zu stellen - was leider oft geschieht - empfinde ich das als mutwillige Unterstellung.

Für mich persönlich hat sich in den vergangenen acht Jahren vieles verändert: Ich habe gelernt, mich aus meinem anfänglichen Tief herauszuarbeiten, die Grenzen meiner Belastbarkeit zu erfahren und sie zu akzeptieren. Außerdem konnte ich mich immer auf meine Familie und die vielen Freunde (speziell aus der Integrationsbewegung) stützen; es wäre mir oft nicht möglich gewesen, alles alleine durchzustehen, aber schon ein ruhiger Zuhörer kann oft unglaublich viel zur Lösung eines Problems beitragen. Das Wissen, daß es auch in Zukunft Probleme geben wird, bereitet mir heute keine Angst mehr. Ich werde die Herausforderung annehmen, weiterhin nach Lösungen zu suchen, die Christina und unserer Familie gerecht werden und meiner Tochter zu einem glücklichen, erfüllten Leben verhelfen.

Hubert Heuberger: Gedanken zur Integration

Als ich im Jahre 1931 in die Volksschule eintrat, befand sich im Kreise meiner Mitschüler auch ein Repetent, den wir heute etwa an der Grenze zwischen Lern- und Schwerstbehinderung einstufen würden. Er war zwar, wenn ich mich recht erinnere, in sozialer Hinsicht mehr oder weniger integriert und gehörte zur Klassengemeinschaft, aber als fünf Jahre später mein Bruder in die Schule kam, saß er immer noch in der ersten Schulstufe, und er beendete später in der zweiten seine Schulpflicht: Dieses Ereignis begleitete mich mein Leben lang und ich kann es heute immer noch nicht oder erst recht nicht aus meiner Erinnerung an die Volksschule streichen. Hätte es damals an dieser oder an einer anderen Schule mit zumutbarem Schulweg eine "Hilfsklasse" gegeben, so hätte die Schullaufbahn dieses Schülers einen anderen Verlauf genommen und damit vielleicht auch sein Leben. Wäre es aber damals möglich gewesen, ihn in dieser Klasse auch unterrichtsmäßig individuell zu betreuen, so wäre das einerseits für ihn selbst wertvoll gewesen und man hätte auch andererseits wichtige sonderpädagogische Erfahrungen sammeln können. Ich muß es, weil es auch für die heutige Situation kennzeichnend ist, noch einmal betonen, daß wir diesen Mitschüler nicht als Außenseiter oder Fremdkörper betrachteten; er gehörte einfach zu uns, wir akzeptierten ihn, und auch er schien sich als einer der Unseren zu fühlen. Sein Anderssein äußerte sich nur darin, daß er von den Bildungsinhalten ausgeschlossen war und weder die Lehrerin noch wir ihm helfen konnten. Ich bin überzeugt, hätte auch er ein adäquates Lernangebot erhalten, wäre bei uns, seinen Mitschülern, auch in dieser Hinsicht das Gefühl von Hilflosigkeit und Unbegreifbarkeit unterblieben. Heute würde dieser Schüler entweder die in diesem Schulgebäude untergebrachte dislozierte Sonderklasse besuchen oder sich vielleicht in einer der Grazer Schulversuchsklassen zur Integration befinden, und es stünde nur die pädagogische Frage zur Beantwortung an, welche Maßnahme für ihn die bessere sei. Damit ist ein Thema berührt, das für viele Eltern, Lehrer und Mitbürger grundsätzliche Fragen stellt, nämlich die der Integration und die, was einzelne oder Gruppen darunter verstehen.

Hypothesen, Überzeugungen und Argumente sind differenziert, obwohl sie wahrscheinlich alle den gemeinsamen Nenner mitmenschlicher Verbundenheit und Verpflichtungen haben. So bejahen viele vorbehaltslos das in der österreichischen Schulgesetzgebung begründete Sonderschulwesen, das auf eine traditions- und erfolgreiche Entwicklung zurückblicken kann, von bewährten sonderpädagogischen Prinzipien getragen und von gut ausgebildeten Sonderschullehrern gestaltet wird. Wahrscheinlich wird es auch immer Kinder geben, die des Sonderschulwesens bedürfen. Es darf aber nicht verschwiegen werden, daß auch andere Problemlösungen denkbar und in bestimmtem Ausmaß auch realisierbar sind. Man muß konstatieren, daß die "Allgemeine Sonderschule" und insbesondere die an die Volksschulen angeschlossenen ASO - Klassen einem überproportionalen Schülerschwund ausgesetzt sind und daß in zahlreichen Volksschulklassen Grenzfälle und potentielle Sonderschüler zum Teil zwar schulisch gut, zum Teil aber auch nicht ausreichend betreut werden. Man kommt um die Tatsache nicht herum, daß nicht wenige Eltern - aus welchen Gründen auch immer - ihr Kind nicht gerne in der Sonderschule wissen, daß viele Lehrer in Maßnahmen der Integration ihr pädagogisches Credo sehen und daß der Integrationsgedanke sich quer durch weltanschauliche Gruppierungen zieht. Man spürt es immer wieder, daß es in der Welt der Erwachsenen für Behinderte viele Barrieren gibt und bedauert, daß es nicht gesellschaftliches Allgemeingut ist, Behinderte voll anzunehmen.

Sicher gibt es ohne Leistung keinen wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Fortschritt, aber es gibt auch andere Werte, die man nicht geringer bewerten sollte. Lernreize kann jeder empfangen und ausstrahlen und aus diesem Wechselspiel ergibt sich ein Wachstum in verschiedensten Bereichen, ein Wachstum, das für die Entwicklung des einzelnen und der Gesellschaft von Bedeutung sein kann. Daher ist es immer angebracht, neuen Überlegungen gegenüber offen zu sein und im Rahmen von Schulversuchen neue Modelle und Konzepte zu erproben und die aufgestellten Hypothesen zu hinterfragen, denn das Wesen unserer Welt ist im letzten doch Veränderung. Das gilt für die Gesellschaft und damit auch für die Schule. Doch sollte man für den Bereich der Schule immer bedenken, daß hier Veränderungen nicht nur Flexibilität sondern auch Sensibilität benötigen. Es ist nach Ansicht vieler nicht sinnvoll, Gewachsenes, Bestehendes abrupt durch neue Strukturen zu ersetzen. Evolutionäre Veränderungen liegen vielen, so auch mir, näher, weil Neues behutsam gedeihen kann, weil Wildwuchs eher auszuschließen ist, weil Einsicht und Korrektur mitwachsen können und weil auch Konsens mit Bestehendem erreichbar und möglich ist. - Ein integrativer Gedanke! Grundsätzlich sollen aber neue Bestrebungen Chancen der Erprobung, der Bewährung und des Reifens haben. Auf die Frage der Integration bezogen heißt das, daß Schulversuche ein legitimes Mittel sind, neue Ideen, neue Überlegungen dem Risiko und der Chance im Schulalltag anheimzustellen.

Integrative Schulversuche

Ich hatte daher keine Vorbehalte, als ich vor einigen Jahren von Vertretern der ISI (Initiative Soziale Integration) ersucht wurde, Schulversuche zur Integration zu unterstützen. Ich erwiderte, daß ich solchen Überlegungen aufgeschlossen gegenüberstünde, wenn sich Lehrer, Eltern und Schulerhalter bereit fänden, dieses Unterfangen anzugehen. Dies gelang zwar nicht auf Anhieb, aber nach einigen Jahren war es soweit. Ein ganzer Ort, nämlich Kalsdorf, war bereit, den Versuch zu wagen und stellte sich voll und ganz in den Dienst dieser Aufgabe. Ich bemühte mich, Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen, Konfliktsituationen zu vermeiden bzw. zu bereinigen und insgesamt ein günstiges Klima zu schaffen. Und als es um die Bewilligung des Zweilehrersystems ging, unterstützte ich dies aus voller pädagogischer Überzeugung.

In der Zwischenzeit laufen gleiche Schulversuche an mehreren steirischen Standorten und österreichweit spricht man auch in diesem Bereich vom sogenannten "steirischen Klima" . Anerkennend darf fest gehalten werden, daß der Einsatz der Lehrer sehr groß ist. Durch Beobachtung, Kontrolle und Einfühlung weiß ich, welcher Grundhaltung es bedarf, welche zusätzlichen Bemühungen, welche zeitlichen, physischen und psychischen Investitionen notwendig sind, um sich dieser Aufgabe erfolgreich zu widmen. Das Einstellen auf den Partner ohne selbst aus dem Gleichgewicht zu kommen, das partnerschaftlich abgestimmte Agieren in einer soziologisch äußerst differenzierten Klasse, das Reagieren auf vielfältige Interaktionen, die ständige Kontaktnahme mit den Eltern und das Verarbeiten von Beobachtungen, Zweifeln und Rückschlägen stellt hohe Anforderungen an die Persönlichkeit des Lehrers. Ich weiß aber auch um das Wachsen an der sich selbst gestellten Aufgabe und um die Kraft der Überzeugung, der Argumentation. In zahlreichen Schulbesuchen konnte ich feststellen, wie sich die in Modellbeschreibungen skizzierten Arbeits- und Sozialformen verlebendigen, pulsierender Alltag werden und Individualität und Vielfalt unmittelbar zum Ausdruck kommen. Probleme treten auf, werden gesehen und müssen unmittelbar gelöst werden, das Verständnis füreinander wächst, Einstiegsqualifikationen verbessern sich. Aus meiner Sicht läßt sich sagen: Integration und Sonderschulwesen müssen sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern es ist durchaus ein Nebeneinander möglich. Das soziale Anliegen der steirischen Integrationsklassen scheint zu gelingen. Kinder sind den Erwachsenen voraus, sind unbefangener, die Gemeinschaft zwischen behinderten und nicht behinderten Schülern wächst und hält.

Unvergeßlich wird mir das gemeinsame Auftreten einer schwerstbehinderten und einer nichtbehinderten Schülerin sein, die anläßlich eines Lesefestes zum Andersentag in einer berührenden Art und Weise miteinander agierten, Texte vortrugen und in welcher Unaufdringlichkeit, Herzlichkeit und Selbstverständlichkeit dies geschah. Psychologische Untersuchungen und Beobachtungen der Klassenlehrer geben zur Annahme begründete Hoffnung, daß sich nicht nur die schulischen Leistungen der behinderten Kinder steigern, sondern auch die Nichtbehinderten deutliche Lernzuwächse erreichen. Zwei aufeinander abgestimmte Lehrer, wechselnde Arbeitsformen und verstärkte Selbsttätigkeit scheinen ihre Wirkung nicht zu verfehlen. Man kann also durchaus sagen: im Bereich der Grundschule verläuft der Schulversuch der Integration positiv und erfüllt viele Erwartungen, aber Wunder sind nicht möglich. Voraussetzung für das gute Gelingen ist das Zusammenspiel der beteiligten Lehrer, ihr starkes Engagement und das Mitwirken der Eltern. - Das alles schafft ein günstiges Klima für Motivation und Identifikation, für Bewegung und Begegnung. Offen, unbeantwortet ist aber die Frage, wie es ab der fünften Schulstufe, in der Hauptschule weitergehen soll. Ist ein realistisches und optimales Schulversuchsmodell auch in der Hauptschule erfolgversprechend? Gelingt es die verschiedensten Vorstellungen auf ein Konzept zu vereinigen, das von weiten Kreisen getragen werden kann? Sicherlich gilt es einiges zu bedenken und abzuwägen. Wie viele Lehrer sollen in einer Integrationsklasse der Hauptschule im Team vereinigt sein und sich um die Schüler bemühen? Wäre es nicht angebracht die "Äußere Differenzierung" im Leistungsgruppensystem zu verlassen und im Rahmen einer Binnendifferenzierung einen Weg zu suchen, individuell und zugleich lehrplangerecht zu unterrichten? Auch der Einsatz von zusätzlichen Helfern verschiedenster Art könnte je nach Zusammensetzung der Klasse notwendig sein.

Alle diese Fragen wären sorgsam zu prüfen und zu überlegen. Im Falle der Notwendigkeit wäre so manches in einem Rahmenmodell zu verankern, das dem Lehrerteam Flexibilität und auch ein Stück Autonomie verleiht.

In den nächsten Monaten muß in der Steiermark darüber Klarheit gefunden werden, wie es im Bereich der Hauptschule weitergehen soll, damit auch die an die Volksschule anschließenden vier Schulstufen integriert geführt werden können. Die bisherigen Kontaktnahmen brachten trotz manch unterschiedlicher Akzente die grundsätzliche Bereitschaft, auf dem Boden der Realität ein Modell zu entwickeln, das dem Anliegen der Integration angemessen ist. Sorgsame Versuchsarbeit mit wissenschaftlicher Begleitung soll Aufschluß geben und brauchbare Entscheidungsgrundlagen bieten. Die gegenseitige Ausschließlichkeit von Sonderschule und Integration sollte keine politische Gretchenfrage mehr sein, in Zukunft sollte es heißen: Sonderschule neben Integrationsschule - und freie Wahlmöglichkeit der Betroffenen.

Autoren

CZEKELIUS, Margret; geb. 1961, Volksschullehrerin in einem integrierten Schulversuch, Weißenbach/Tirol, verheiratet, ein Kind.

FORCHER, Heinz; geb. 1946, Gastwirt, Obmann der Lebenshilfe-Sektion Außerfern, Weißenbach/Tirol, verheiratet, Vater von vier Kindern.

HEUBERGER, Hubert; gab. 1925, Tätigkeit als Volksschul- und Hauptschullehrer, Hauptschuldirektor und Bezirksschulinspektor, derzeit Landesschulinspektor für die Steiermark, Graz, verheiratet, ein Kind, zwei Enkelkinder.

HUG, Reinhard; Dr. phil, geb. 1963, Erziehungswissenschaftler, u. a. Mitarbeiter bei der wissenschaftlichen Begleitung von integrierten Schulversuchen, Innsbruck.

HUSINSKY, Brigitte; geb. 1962, Ausbildung zur Sonderschullehrerin an der Pädagogischen Akademie Wien, Sonderschullehrerin in einem integrierten Schulversuch, Weißenbach/Tirol, verheiratet.

HUTERER, Gabriele; geb. 1953, Heilgymnastin, fünf Jahre am NKH Rosenhügel Wien (Prof. Rett), zwei Jahre an einer Schule für körperbehinderte Kinder, derzeit selbständige mobile Physikotherapeutin, Oberwart/Burgenland, zwei Kinder.

MAYR, Udo Gerwin; Univ.-Doz. Dr. med., geb.1937, Kinderfacharzt (Ausbildung in Innsbruck) und Kinderneurologe (Ausbildung in Bern und London), dzt. Oberarzt an der Universitätsklinik für Neurologie und Leiter der kinderneurologischen Sprechstunden, Innsbruck, verheiratet, drei Kinder.

MEISSNER, Christine; geb. 1949, Kindergärtnerin, Lehrerin für Praxis und Kindergartendidaktik an der Bundesbildungsanstalt für Kindergartenpädagogik, Oberwart, geschieden, ein Kind.

MEISTER-STEINER, Birgit; Dr. phil., Volksschullehrerin und Psychologin - derzeit an der Psychologischen Studentenberatung der Universität Innsbruck, ein Kind (behindert).

PRAXMARER, Heidi; geb. 1945, Physikotherapeutin, Arbeit in Sonderschule für körperbehinderte Kinder (Elisabethinum), im Säuglingsheim, Heim für Schwerbehinderte und im integrierten Kindergarten, derzeit selbständige mobile Therapeutin und Teilzeitarbeit im integrierten Kindergarten "Kindergarten für alle", Innsbruck, geschieden, drei Kinder.

SCHAUER, Sieglinde; geb. 1948, Hausfrau, Innsbruck, verheiratet, drei Kinder.

SCHINDL, Ulrike; geb. 1958, Hausfrau, Baumkirchen/Tirol, verheiratet, zwei Kinder.

SCHÖNWIESE, Volker; Univ.-Ass. Dr., geb. 1948, Univ.-Assistent am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck, als selbst Betroffener langjährig in Richtung Integration initiativ, vielfältige Veröffentlichungen zum Thema.

THALER, Nikolaus; Dipl.-Ing. freischaffend.

WIESER, Ilsedore; Univ.-Prof. Mag. Dr., geb. 1937, Volksschul- und AHS-Lehrerin, Lehrerausbildnerin, Erziehungswissenschaftlerin, zahlreiche Publikationen, vor allem zum Bereich Schulpädagogik (Didaktik), derzeit Prof. am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck, verheiratet.

Quelle:

Birgit Meister-Steiner, Volker Schönwiese, Nikolaus Thaler, Ilsedore Wieser (Hg.): Blinder Fleck und rosarote Brille

Behinderung und Integration als Herausforderung für Familie, Kindergarten und Schule Österreichischer Kulturverlag, Thaur/Tirol, 1989

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 21.08.2006

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