Zwischen Barrierefreiheit, Aktivierung und Marktradikalismus

Der Zugang zum Arbeitsmarkt durch die Invalidenversicherung

Autor:in - Christoph Tschanz
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jahrgang 23, 3/2017,http://szh.ch/zeitschrift
Copyright: © Christoph Tschanz 2017

Abbildungsverzeichnis

    Abstract

    Es ist ein erklärtes Ziel der Invalidenversicherung, die Eingliederung in den Arbeitsmarkt anderen Lösungen vorzuziehen. Dementsprechend könnte man einen barrierefreien Zugang zum Arbeitsmarkt für alle erwarten. Verglichen mit anderen westlichen Ländern haben in der Schweiz Menschen mit einer Behinderung nur wenig Rechte bezüglich Arbeitsmarktintegration. Die Verantwortung scheint einseitig auf die Betroffenen abgewälzt worden zu sein. Dies lässt sich mit der Geschichte der Invalidenversicherung sowie mit gegenwärtig dominanten Interpretationen ihrer Funktionsweise erklären. Die Klärung der Frage nach der Verantwortlichkeit für die Zugänglichkeit des Arbeitsmarktes kann auch für die Heil- und Sonderpädagogik hilfreich sein.

    Ausgangslage

    In diesem Beitrag wird der Zugang für Menschen mit Behinderung zum schweizerischen Arbeitsmarkt thematisiert. Es geht jedoch nicht darum, das Thema aus heil- und sonderpädagogischer Sicht zu beleuchten und zu beschreiben, welche Zugänge und Ausschlüsse durch das Bildungssystem geschaffen werden. Vielmehr wird kritisch der Frage nachgegangen, welche Rolle der Sozialstaat und die Beschaffenheit des Arbeitsmarkts bei der Bemühung um eine gelingende Arbeitsmarkt(re)integration spielen.Im Zentrum des Artikels steht die Invalidenversicherung (IV) in ihrer Wechselwirkung mit dem Arbeitsmarkt. Bei dieser seit 1960 bestehenden Sozialversicherung verlagerte sich der Fokus in jüngster Zeit von der Berentung zur Arbeitsmarktintegration (Probst, Tabin & Courvoisier, 2015). Dieser Wechsel ist inzwischen in den Statistiken vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) ersichtlich. So hat sich die Zahl der jährlichen Neurentnerinnen und Neurentner im Jahr 2014 gegenüber 2003 mehr als halbiert (BSV, 2015a, S. 31).

    Die historischen Bezüge der IV zum Arbeitsmarkt

    Es stellt sich die Frage, weshalb die Invalidenversicherung in den letzten 15 Jahren drei grundlegende Reformen umsetzen musste und der Zugang zur Rente erschwert wurde. Germann (2010) hat die Entstehungsgeschichte der IV eingehend untersucht. Dabei fällt auf, dass von Anfang an eine hohe Wechselwirkung zwischen der Sozialversicherung und dem Arbeitsmarkt bestand. Es ist festzustellen, dass die Devise „Eingliederung vor Rente“ nichts Neues ist, sondern sich bereits in der Diskussion zur Einführung der IV in den 1950er Jahren als Leitlinie durchgesetzt hat (ebd., S. 156). Nach Germann (2010) muss man diese Devise aber vor dem Hintergrund des Arbeitsmarktes der 1950er Jahre sehen: Hohes Wachstum, Vollbeschäftigung, Verknappung der Arbeitskräfte. Die Arbeitsmarktintegration wurde von verschiedenen Akteuren aus unterschiedlichen Motiven befürwortet.

    „Die Sozialpolitiker versprachen sich davon finanzielle Entlastungen, die Arbeitgeber erwarteten die Mobilisierung eines dringend benötigten Arbeitskräftereservoirs, körperlich und geistig beeinträchtige Menschen hofften auf eine aktive Teilnahme an der Wohlstandsgesellschaft der Nachkriegszeit“ (Germann, 2010, S. 168).

    Für den Fall, dass ein Arbeitsmarktzugang für Betroffene nicht funktioniert, hat die IV von Anfang an die subsidiäre Möglichkeit von Rentenzahlungen installiert. Bezüglich Zugängen zum Arbeitsmarkt musste bei der Installierung der IV nicht viel unternommen werden, es herrschte grosse Nachfrage und Verknappung auf dem Arbeitsmarkt.

    Ab den 1990er Jahren: Die IV in Problemen

    Richtig in Schwierigkeiten geriet die IV ab den 1990er Jahren. Zwischen 1960 und 1975 gab es bei der IV zunächst ein „finanzielles Gleichgewicht“, zwischen 1976 und 1990 ein „leichtes strukturelles Defizit“ und zwischen 1991 und 2005 ein „starkes strukturelles Defizit“, welches eine zunehmende Verschuldung zur Folge hatte (BSV, 2015a, S. 4 f.). Wie in Abbildung 1 ersichtlich, gab es nach den goldenen Vollbeschäftigungszeiten der 1960er Jahre ab 1990 grundlegende Veränderungen auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt. Bereits nach der Ölkrise Anfang der 1970er Jahre wurde der Wind rauer, doch blieb die Beschäftigungslage bis Ende der 1980er Jahre stabil. Ab 1990 kam es zum Ende des Vollbeschäftigungsmodells, da das Arbeitskräfteangebot nicht auf den Beschäftigungsrückgang reagierte.

    Abbildung 1. IV-Renternerinnen und -Rentner, Arbeitslose und Erwerbstätige in der Schweiz, in den Jahren 1960–2015

    Grafische Darstellung 1960-2015, siehe Text oben.

    IV: 1960–1989 (Historische Statistik der Schweiz, 2017b); 1990–1995 AHV-IVStatistik (BSV, 1996); 1996–2015 IV-Statistik (BBS, 2017; BSV, 2015a; BSV, 2007); Arbeitslose: 1960–1990 (Historische Statistik der Schweiz, 2017a); 1991–2015 Erwerbslose gemäss Internationaler Arbeitsorganisation (BFS, 2017b); Erwerbstätige: 1960–2015 Erwerbstätige gemäss Inlandkonzept (BFS, 2017a)Zu beachten: Als IV-Rentnerinnen und -Rentner werden Beziehende einer IVRente im Alter von 18–65 Jahren gezählt; wegen fehlender Werte wurde bei den IV-Rentnerinnen und den IV-Rentnern für die Jahre 1970–1975 der Wert von 1969 beibehalten.

    Anfang der 1990er Jahre stiegen die Arbeitslosenzahlen stark an und erst im Jahr 2001 war die Zahl der Erwerbstätigen wieder auf dem Niveau von 1991. Der Arbeitsmarkt und die offenen Stellen waren im Jahr 2001 jedoch anderer Art. Der Strukturwandel hat einen Teil der Arbeitsplätze für gering qualifizierte Personen vernichtet. Die Geschwindigkeit und die Produktivitätsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt haben zugenommen. Die Schweiz hat sich im globalen Standortwettbewerb zunehmend mit kapital- und wertschöpfungsintensiven Aktivitäten positioniert (Knöpfel & Bochsler, 2015, S. 16); der Arbeitsmarkt hat sich stark auf die Globalisierung ausgerichtet.Für die Invalidenversicherung hatte diese Entwicklung zwei Auswirkungen. Erstens haben ab den 1990er Jahren die Schwierigkeiten für Stellensuchende mit geringer Qualifikation zugenommen. Dank der hohen Nachfrage nach Arbeitskräften gelang bis in die 1980er Jahre die Integration eines Teils der Menschen mit einer Behinderung ohne spezielle Unterstützung und ohne spezielle Rechte. Diese stille Integration in den Arbeitsmarkt wurde ab der Wirtschaftskrise der 1990er Jahre zunehmend schwieriger. Zweitens hat ab den 1990er Jahren die Anzahl von älteren Erwerbstätigen, welche im Verlauf des Erwerbslebens ein Gesundheitsproblem entwickeln und eine IV-Rente beantragen, zugenommen. Wie man in Abbildung 1 sehen kann, gab es zeitverzögert zum Anstieg der Arbeitslosenzahlen auch einen Anstieg der IV-Rentnerinnen und IV-Rentner. Hinter diesem Phänomen steht ein Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Arbeitslosenquote und dem Anstieg von Neuberentungen in Sozialversicherungssystemen für Menschen mit einer Behinderung (O’Brien, 2013; OECD, 2010, S. 34 ff.; Bütler & Gentinetta, 2007, S. 177). Wegen diesem Zusammenhang steigt nach Wirtschaftskrisen die Anzahl von Rentenbeziehenden in Sozialversicherungen für Menschen mit einer Behinderung an.

    Konkurrierende Theorien

    O’Brien (2013) arbeitet zwei mögliche idealtypische Erklärungsansätze heraus, um dieses Phänomen zu erklären: Erstens die Reservationslohn-These. Diese geht davon aus, dass Arbeitnehmende einerseits einen Lohn vor Augen haben, zu dem sie gerade noch arbeiten würden (Reservationslohn). Andererseits sind sie über die Höhe einer möglichen Sozialversicherungsrente im Falle von Behinderung informiert. Sie wägen das eine gegen das andere rational ab. In ökonomischen Krisen entscheiden sie sich aus rationalen Überlegungen eher für die Rente. Der Sozialstaat stellt demnach einen Anreiz zum Nicht-Arbeiten dar (O’Brien, 2013, S. 323).Die zweite Theorie ist die Direkt-Behinderung-These. Diese geht davon aus, dass der Arbeitsmarkt Personen und deren Gesundheit direkt beeinflusst, ohne Umwege über rationale Vorabwägungen und sozialstaatliche Anreize zu nehmen. Erstens kann durch Arbeitsplatzunsicherheit der psychische Stress so weit gesteigert werden, dass dies negative Konsequenzen für die Gesundheit hat. Zweitens kann eine Verschlechterung des Arbeitsmarktes die Intensität von bereits vorhandenen Gesundheitsproblemen so weit steigern, dass diese beginnen, behindernd zu wirken (O’Brien, 2013, S. 323 ff.). Arbeitenden Menschen mit einem verletzbaren Gesundheitszustand geht es demnach gesundheitlich besser bei einer guten Arbeitsmarktlage.

    Die doppelte Frage nach der Verantwortlichkeit

    Hinter diesen beiden Erklärungsansätzen stehen ganz unterschiedliche Antworten auf die Frage nach der Verantwortlichkeit für die Verschuldungssituation der IV. Nach O’Brien (2013, S. 322) beinhaltet die Reservationslohn-These die Idee des „Wegziehens“ und die Direkt-Behinderung-These die Idee des „Abstossens“. Die erste Theorie geht davon aus, dass der (ausgebaute) Sozialstaat Menschen aus dem Arbeitsmarkt wegzieht. Die zweite Theorie besagt, dass der Arbeitsmarkt Menschen abstösst. Es sind demnach ganz unterschiedliche Akteure dafür verantwortlich. Nach der Reservationslohn-These liegt die Schuld beim Sozialstaat, der wegzieht, und bei der Person, die sich dazu entscheidet, wegezogen zu werden. Nach der Direkt-Behinderung-These liegt die Schuld hingegen beim Arbeitsmarkt, der abstösst.In diesem Artikel wird angenommen, dass die Direkt-Behinderung-These eine passende Erklärung ist, um die vergangene Verschuldungssituation der IV zu erklären. Aus soziologischen Überlegungen gibt es verschiedene Gründe zu dieser Annahme. Erstens findet O’Brien (2013, S. 330 ff.) mittels einer statistischen Analyse starke Evidenz für einen direkten Einfluss von makroökonomischen Bedingungen auf den Gesundheitszustand. Als zweites finden Studien, in denen sich im IV-Verfahren befindende Personen befragt werden, keine rationalen und nur auf Nutzenmaximierung ausgerichtete Sinngebungen der Personen (Koch, 2016; Caduff & Budowski, 2012). Die Annahme, dass sich Menschen frei und rational für eine IV-Rente entscheiden, ist implizit bei der Reservationslohn-These mitgedacht: Es wird davon ausgegangen, dass sich Menschen im IV-Verfahren während der Rentenprüfung ähnlich rational verhalten wie bei einer simplen Kaufentscheidung und deshalb die IV-Rente als Anreiz ähnlich funktioniert wie ein guter Preis für ein Produkt. Damit kommt man zum dritten Grund für die Annahme. Menschen in einer schwierigen Lebenssituation scheinen nicht durch Anreize steuerbar zu sein. Die Erfolge und Misserfolge der neuen IV-Politik sind gut mit der Direkt-Behinderung-These erklärbar. Mittels Früherfassung und Frühintervention bei Menschen mit Gesundheitsproblemen können Erfolge verzeichnet werden (Guggisberg, 2016, S. 33). Das heisst, bei der Darbietung von Unterstützung zu einem Zeitpunkt, in dem für Menschen die Kombination aus prekärem Gesundheitszustand und Druck im Arbeitsmarkt zum Problem werden kann. Nach Guggisberg (2016, S. 36) gestaltet sich hingegen die Reintegration von IV-Rentnerinnen und IV-Rentnern in den Arbeitsmarkt viel schwieriger. Bei diesen Personen hat sich der schlechte Gesundheitszustand und die Erfahrung, vom Arbeitsmarkt abgestossen worden zu sein, verfestigt. Obwohl man in solchen Fällen versucht hat, Anreize zur Arbeitsmarktintegration zu schaffen, bleibt der Erfolg dieser Massnahmen bisher aus.Die Reservationslohn-These scheint aber eine weitverbreitete Erklärung zu sein. Ein Durchexerzieren von ökonomischen Denken im Sinne der Reservationslohn-These findet sich beispielweise bei einer Publikation im Auftrag von Avenir Suisse (Bütler & Gentinetta, 2007). Kaum in dieser Studie enthalten ist die Analyse von Veränderungen bei der Nachfrageseite des Arbeitsmarktes für gering Qualifizierte ab den 1990er Jahren. Auch nicht thematisiert werden Produktivitätssteigerungen und Beschleunigungseffekte im Arbeitsmarkt. Die Verantwortlichkeit für die Verschuldung wird in dieser Publikation dem Sozialstaat und den Personen zugeteilt. Diese retrospektive Beschreibung und Erklärung hat aber auch Auswirkungen für die Zukunft. Die Frage, wer verantwortlich ist für die Verschuldung der IV, wurde durch die IV-Reformen eng verflochten mit der Frage, wer grundsätzlich verantwortlich sein soll für einen zugänglichen Arbeitsmarkt für Menschen mit einer Behinderung.

    Vom versorgenden zum aktivierenden Sozialstaat

    Hinter diesen strittigen Angelegenheiten verbirgt sich eine Grundsatzfrage des modernen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems (Polanyi, 1978): Liegt es in der Verantwortung des Marktes, der Gesellschaft zu dienen oder liegt es in der Verantwortung der Gesellschaft, dem Markt zu dienen? Diese Frage wurde in den letzten Jahren verstärkt dahingehend beantwortet, dass die Gesellschaft dem Markt zu dienen habe (Lessenich, 2008; Blyth, 2002). Diese Logik hat sich auch auf sozialstaatliche Einheiten wie die Invalidenversicherung ausgedehnt (Bonvin & Rosenstein, 2010; Wyss, 2008). Nach Blyth (2002, S. 274 f.) kam es in den letzten 35 Jahren zu einer Neuausrichtung der politischen Ökonomien, teilweise getrieben von (neuen) ökonomischen Ideen. Relativ typisch ist, dass man einerseits jegliche Bereiche der Gesellschaft den ökonomischen Modellen unterordnet, andererseits der nachfrageseitigen Steuerung des Arbeitsmarktes kaum mehr Bedeutung beigemessen wird. Unabhängig von der Plausibilität passt die Reservationslohn-These demnach perfekt in den gegenwärtigen marktradikalen Mainstream.Der Sozialstaat wurde in dieser Zeit vielerorts von einem versorgenden zu einem aktivierenden Sozialstaat umgebaut (Lessenich, 2008, S. 76). Typisch für den aktivierenden Sozialstaat ist, dass er das Verständnis der Verantwortlichkeit für Beschäftigung neu regeln muss. In der Nachkriegszeit galt in den meisten westlichen Staaten der Konsens, dass der Staat und die Gesellschaft für die Herstellung von Vollbeschäftigung verantwortlich sind. Diese Übereinkunft galt zu weiten Teilen auch in der Schweiz, obwohl sie immer sehr liberal war. Der aktivierende Sozialstaat gibt diese Verantwortung aber an die Individuen ab. Nach Nadai (2017, S. 112 f.) stellt die asymmetrische Verteilung der Verantwortung auf Individuen und Wirtschaftsakteure ein Hauptmerkmal der neuen aktivierenden Ausrichtung des Sozialstaates dar.Die letzten drei Reformen der IV sind ein typisches Beispiel für den Wandel vom versorgenden zum aktivierenden Sozialstaat. Fast lehrbuchartig zeigen sich dabei die nötigen Bedingungen: Die Problematiken von Menschen mit einer Behinderung oder gesundheitlich verletzlichen Menschen werden nicht dadurch gelöst, dass man diese besser schützt oder die Strukturen des Arbeitsmarktes verändert. Stattdessen wird ihnen die Eigenverantwortung übergeben, sich fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Die fast elterlich umsorgende Hand des versorgenden Sozialstaates wurde zur fördernden, fordernden und Verantwortung delegierenden Hand des aktivierenden Sozialstaates.

    Die Legitimation der Aktivierung

    „Der aktivierende Sozialstaat kann nur unter zwei alternativen Bedingungen weiter Legitimation erwarten. Entweder er hält daran fest, dass Vollbeschäftigung möglich ist und dass alle Menschen ihrem Wunsch nach Erwerbsarbeit entsprechend beschäftigt werden können. Dies käme einem ‚Recht auf Arbeit‘ gleich. Oder aber die Unfähigkeit, auf dem Arbeitsmarkt eine Stelle zu finden, wird als individuelles Defizit gedeutet, weil die Betroffenen entweder nicht können oder nicht wollen" (Knöpfel & Bochsler, 2015, S. 16).

    Weil die Anschuldigung des Selbstverschuldens bei Menschen mit einer offensichtlichen Behinderung relativ schwierig zu machen ist und sehr unethisch wirkt, hat man mit „Scheininvalidität“ einen Begriff geschaffen (Hassler, 2016; Caduff & Budowski, 2012; Weisser, 2005), um zumindest einem Teil der Personengruppe eine Eigenschuld zu unterstellen.Die Idee der Selbstverschuldung ist demnach quasi notwendig zur Legitimation der neusten IV-Reformen. Bemerkenswert ehrlich ist hier die Avenir Suisse Publikation (Bütler & Gentinetta, 2007, S. 7 f.): Gleich zu Beginn wird erwähnt, dass die Verbreitung von „Scheininvalidität“ aus wissenschaftlicher Sicht eigentlich als falsch betrachtet werden müsse. Man bedankt sich aber für die Thematisierung, weil mit ihr die „Basis für die Annahme der 5. IV-Revision“ gelegt worden sei (Bütler & Gentinetta, 2007, S. 7).

    Die Frage nach der Verantwortlichkeit für die Zugänglichkeit zum Arbeitsmarkt

    In die andere mögliche Legitimationsrichtung, im Sinne eines „Rechts auf Arbeit“, hat sich die schweizerische Behindertenpolitik nicht orientiert. In Tabelle 1 sind die Verpflichtungen von Arbeitgebenden gegenüber Angestellten und sich neu Bewerbenden mit einer Behinderung oder gesundheitlichen Einschränkung im internationalen Vergleich dargestellt. Es fällt auf, dass die Schweiz relativ tiefe Werte hat.

    Tabelle 1: Verpflichtungen der Arbeitgebenden gegenüber Angestellten und sich neu Bewerbenden mit einer Behinderung oder gesundheitlichen Einschränkung

    5 Punkte: Bedeutende Verpflichtungen gegenüber Angestellten sowie sich neu Bewerbenden

    Schweden

    4 Punkte: Bedeutende Verpflichtungen gegenüber Angestellten, gewisse Verpflichtungen gegenüber sich neu Bewerbenden

    Deutschland, Finnland, Italien, Niederlande, Norwegen, Slowakische Republik, Tschechische Republik, Ungarn, Vereinigtes Königreich

    3 Punkte: Gewisse Verpflichtungen gegenüber

    Australien, Belgien, Frankreich, Griechenland, Kanada, Luxemburg, Österreich, Spanien, USA

    2 Punkte: Gewisse Verpflichtungen gegenüber Angestellten, keine Verpflichtung gegenüber sich neu Bewerbenden

    Dänemark, Irland, Neuseeland, Polen, Portugal, Schweiz

    1 Punkt: Keine Verpflichtungen, allgemeiner minimaler Kündigungsschutz vorhanden

    Japan, Korea

    0 Punkte: Keine Verpflichtungen irgendeiner Art

    Mexiko

    OECD-Durchschnitt (28) = 2.9

    OECD (2010, S. 100 ff.)

    Die Arbeitgebenden in der Schweiz haben gewisse Verpflichtungen gegenüber Angestellten, jedoch keine gegenüber Bewerbenden. Wenn es ein erklärtes Ziel ist, dass Menschen mit einer Behinderung arbeiten sollen, dann könnte man hier die Verantwortlichkeit zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden besser aufteilen.

    „So wird zum Beispiel die Frage nach der Behindertenfreundlichkeit des Arbeitsmarktes vollkommen ausgeklammert, obwohl es sich dabei eigentlich um den Kern des Problems handelt“ (Alijaj & Siems, 2016, S. 10).

    Bezüglich sich neu bewerbenden Personen sind einfache Verpflichtungen denkbar. Zum Beispiel die Verpflichtung, dass Menschen mit einer Behinderung zu Vorstellungsgesprächen eingeladen werden müssen. Es sind aber auch effektive Verpflichtungen wie Quoten denkbar. Solche Verpflichtungen sind in vielen anderen Ländern etabliert.

    Die Sonderpädagogik und die Weiterentwicklung der IV

    Im Moment wird die so gennannte Weiterentwicklung der IV verhandelt, diese sieht zwei Schwerpunkte vor: Erstens Menschen mit einer psychischen Krankheit und zweitens Jugendliche und junge Erwachsene. Bei den 18- bis 24-jährigen Versicherten ist es der IV nicht gelungen, die Neurentenquote zu senken (BSV, 2015b, S. 3). Hier möchte die IV in Zukunft mit aktivierenden Massnahmen ansetzen. Das heisst, dass die Thematik sehr viel näher ans Aufgabenfeld der Heil- und Sonderpädagogik herangetragen wird. Der aktivierende Sozialstaat aktiviert normalerweise nebst der Personengruppe auch immer die staatlichen Berufsgruppen. Diesen wird dann die Verantwortung zugeteilt. In diesem Fall wird dies die Pädagogik, die Heil- und Sonderpädagogik und die Soziale Arbeit sein. Es stellt sich aber die Frage, ob der gegenwärtige dynamische und auf internationale Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtete schweizerische Arbeitsmarkt überhaupt genügend Zugänge bietet. Zudem haben die sich bewerbenden Jugendlichen mit einer Behinderung auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt keine speziellen Rechte. Sie sind auf die Freiwilligkeit und den Goodwill der Arbeitgeber angewiesen. Diese strukturellen Barrieren wird man durch Angebote der Sonderpädagogik und der Sozialen Arbeit nicht (alleine) lösen können. Eventuell wird die Heil- und Sonderpädagogik zumindest einen Teil der Verantwortung widerspenstig an den Arbeitsmarkt und die Politik zurückweisen müssen.

    Autor

    Christoph Tschanz, Klinischer Heilpädagoge und Soziologe, MA. Universität Freiburg, Bereich Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit, Route des Bonnesfontaines, 111700 Freiburg, christoph.tschanz@unifr.ch.

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    Quelle

    Christoph Tschanz: Zwischen Barrierefreiheit, Aktivierung und Marktradikalismus – Der Zugang zum Arbeitsmarkt durch die Invalidenversicherung; in: Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jahrgang 23, 3/2017, http://szh.ch/zeitschrift

    bidok-Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

    Stand: 27.4.2018

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