Sozialarbeit mit Behinderten

Bezahlte Arbeit im öffentlichen Auftrag und meine Ansprüche an Sozialarbeit

Autor:in - Marlies Sutterlüty
Themenbereiche: Psychosoziale Arbeit
Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen in: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 35 - 44
Copyright: © Jugend und Volk 1982

Widersprüche meiner Arbeit

Seit fünf Jahren darf ich mich "Sozialarbeiterin" nennen und ebenso lange bekomme ich Geld dafür, daß ich Behinderte berate und betreue (oder verrate und befürsorge). Ich bin angestellt um zu helfen und das habe ich wahrhaftig auch gelernt. Schon in meiner frühesten Kindheit bin ich dafür gelobt worden, wenn ich zu Gunsten meiner kleineren Geschwister auf alles mögliche verzichtet habe. Später hätte ich doch in das Geschäft meines Vaters einsteigen sollen. Weil ich das aber aus vielen Gründen nicht wollte, mußte ich glaubwürdig machen, daß es mir ein ganz großes Anliegen ist, anderen Leuten zu helfen. Ich wollte daher Sozialarbeiterin werden. Meine Eltern als christliche Leute und die, die mir immer beigebracht haben, daß Frauen für andere da sein sollen, meinten, daß das ein schöner Beruf für eine Frau sei, und begrüßten bzw. duldeten meine Entscheidung.

Während meiner Ausbildung veränderte sich bei mir, zusammenhängend mit dem Ortswechsel und der Konfrontation mit anderen Menschen und Ideen, enorm viel. Ich wurde langsam "anpolitisiert", wie man das nennt. Als ich dann die Arbeit in der Behindertenberatungsstelle begann, kam ich mir schon recht "bewußt" vor. Ich wußte bereits, daß Behindertenprobleme mit Außenseiterproblemen allgemein vergleichbar sind, d.h., daß nicht die "objektive Behinderung" die Probleme der Leute schafft, sondern wie sich die Gesellschaft, repräsentiert durch Elternhaus, Schule oder besser Sonder(ausschließungs)schule, Umgebung, öffentliche Meinung usw. zu ihnen stellt.

In meinem Kopf habe ich viel gewußt, trotzdem habe ich es in dieser Arbeit fast 2 Jahre ausgehalten, ohne jemals einen Rollstuhl über einen Gehsteig geschoben oder einen Behinderten in meinem Auto mitgenommen zu haben.

Eine sehr wichtige, oder vielleicht die wichtigste Chance in meiner Karriere als Sozialarbeiterin war dann die Mitarbeit in der Selbsthilfegruppe "Initiativgruppe Behinderte-Nichtbehinderte-Innsbruck", zu der ich durch Bekannte (Behinderte) gestoßen bin. Es war für mich am Anfang eher schwierig, in einer Gruppe zu sitzen - sozusagen als einfaches Mitglied, ohne meine Sozialarbeiterfunktion -, um mit anderen Leuten Probleme anzugehen. "Ich bin genauso behindert, nur nicht so sichtbar wie die Behinderten in der Gruppe". Dieser Spruch stammt aus dieser Zeit, in der ich besonders stark gespürt habe, welche Probleme ich im Umgang mit den sogenannten Behinderten habe. Mein Anspruch, der Behinderte ist mein gleichberechtigter Partner, mit dem ich gemeinsame Aktionen machen kann, war zwar in meinem Kopf ganz klar, aber emotional führt ein weiter Weg dorthin. Die Probleme, die sich für mich stellten, waren ganz einfacher Natur: Helfe ich dem Behinderten, wenn ich glaube, daß er etwas nicht allein schafft, oder warte ich, bis er mir sagt, was er braucht? Wie schiebe ich einen Rolli über Stufen, darf ich mir anmerken lassen, daß ich da einfach keine Übung habe? Was mache ich, wenn einer mich fragt, ob ich ihn auf das Clo bringe? Wie verhalte ich mich, wenn ein behinderter Mann mit mir schlafen will? Wie kann ich Leute als gleichberechtigte Partner in der Gruppe sehen, wenn sie nie etwas sagen, sich schlecht ausdrücken können?

Daß ich diese Probleme inzwischen nicht mehr als Probleme zwischen Behinderten und Nichtbehinderten sehe und daß sie jetzt zum Teil gelöst sind, verdanke ich den Leuten in der Gruppe und den Erfahrungsmöglichkeiten, die wir uns geschaffen haben: Den gemeinsamen Abenden, die teilweise einfach angenehm waren, oder auch mühsam, aber wo Auseinandersetzung stattgefunden hat. Wo durch gemeinsame Arbeit und Aktionen bei mir das Gefühl entstanden ist, hier kann ich ein Stück von meinen Vorstellungen darüber, wie die Probleme der Behinderten angegangen werden können, verwirklichen, ohne dabei meine eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu Gunsten der Behinderten vergessen zu müssen. In diesem Zusammenhang sind mir auch die gemeinsamen Feste, Ausflüge in der Gruppe, und die Anrufe zwischen den Sitzungen wichtig. Es sind einfach menschliche Beziehungen zwischen uns entstanden, mit ihren erfreulichen und unerfreulichen Seiten. Die Probleme, die wir miteinander haben, sind für mich weitgehend dieselben, wie ich sie von allen anderen Beziehungen auch kenne.

Ich fühle mich immer weniger unter dem Zwang, auf meine Kosten für andere da zu sein, wie es der Frauen- und Sozialarbeiterrolle entspricht und wie es der Ausgangspunkt in meiner Berufsausbildung war.

Diese Erfahrungen aus der Gruppe hatten Auswirkungen auf die Arbeit in der Beratungsstelle. Mir wurde an vielen Beispielen sehr deutlich, wie Behinderte ständig sonderbehandelt und ausgeschlossen, letztlich einfach nicht ernst genommen werden. Das beginnt bei lächerlichen technischen Einzelheiten. Ein Beispiel dafür ist selbst unsere Beratungsstelle, die nur über Stufen, d.h. für einen Rollstuhlfahrer nicht selbständig zu erreichen ist. Gleiches gilt für das Innsbrucker Landhaus, wo das Behindertengesetz mit den ganzen schönen Worten über die Integration des Behinderten ins Berufs- und Gesellschaftsleben beschlossen und ausgeführt wird, sowie für viele andere öffentliche Stellen vom Stadtmagistrat bis zum Invalidenamt.

Aber nicht nur vom öffentlichen Leben werden die Behinderten ausgeschlossen, es beginnt bereits im Kindergarten und in der Schule, wo sie ausgesondert werden und statt Bildung ein behindertes Bewußtsein erwerben. Das heißt, sie fühlen sich behindert und verhalten sich so: Dankbar, nett und brav, als ob sie sich entschuldigen müßten für ihr Anders-sein, oder aggressiv und trotzig. Nach jahrelanger Ausschließung und Sonderbehandlung erhalten wir Sozialarbeiter die ehrenvolle Aufgabe, die Behinderten ins Berufs- und Gesellschaftsleben zu integrieren.

Der Fall K.

Um zu verdeutlichen, wie die Realität und die Zukunftsperspektiven von manchen "sonderbehandelten" Menschen aussehen, möchte ich die Geschichte von K., einem Klienten, den ich seit Beginn meiner Arbeit (also seit über 5 Jahren) kenne, erzählen. An diesem Beispiel möchte ich auch einen Teil meines Arbeitsalltags zeigen und wie sich die gängige "Behindertenpolitik" auf den einzelnen Behinderten und auf mich als Sozialarbeiterin auswirkt.

K. ist jetzt 26 Jahre alt, also gleich alt wie ich. Über seine frühe Kindheit weiß er nichts, außer, daß weder seine Mutter noch sein Vater sich je um ihn gekümmert haben. Er kennt sie beide nicht. Mit sechs Jahren kam er in ein Sonderschulinternat in der Nähe von Innsbruck. Er war immer dort bis er die Pflichtschulzeit vorbei hatte.

Natürlich war dann die große Frage, was mit ihm weiter geschehen sollte - er hatte niemanden außer dem Jugendamt. So kam er wieder in ein Internat. Diesmal nach Salzburg, in ein sogenanntes Rehabilitationszentrum für geistig behinderte Jugendliche. Er war dort in der Malerei. Eine Lehre mit Abschluß konnte er dort nicht machen. Er ist aufgefallen, weil er frech und schlampig war, aber auch sehr anhänglich. Für das Heim stellte sich immer wieder das Problem, für ihn eine Familie zu finden, die ihn in den Ferien aufnahm.

Nach vier Jahren war seine Zeit im Rehabilitationszentrum um - er mußte woanders untergebracht werden und sollte arbeiten gehen. Weil er keine anerkannte Berufsausbildung mitbrachte, war es gar nicht so einfach, eine Stelle für ihn zu finden. In einem Lehrlingsheim in Innsbruck konnte ihm eine Unterkunft verschafft werden. Die erste Arbeitsstelle verlor er sehr bald und auch die zweite und die dritte, jeweils in Malereibetrieben.

Dann wurde er bei den städtischen Verkehrsbetrieben angestellt. Das war seine beste Arbeitsstelle. Er identifizierte sich voll mit dem Betrieb, die Arbeit bei der Schienenwartung machte ihm Spaß. Am Wochenende fuhr er mit der Straßenbahn spazieren, weil er eine Gratisnetzkarte hatte. Auch bei dieser Stelle gab es aber nach einiger Zeit Probleme. Er war zu den Kollegen frech, arbeitete nicht besonders fleißig und "ließ sich nichts gefallen". Im Heim gab es dieselben Schwierigkeiten mit den Zimmerkollegen - bald wollte niemand mehr mit ihm das Zimmer teilen.

Mein Eindruck ist, daß seine Behinderung darin besteht, nie ein Zuhause und eine sogenannte normale Umgebung kennengelernt zu haben, auch keine normale Schule. Weil er ein Leben außerhalb von Anstaltsmauern nicht kennengelernt hatte, fand er sich nun auch nicht zurecht. Es fehlten ihm die grundlegendsten Voraussetzungen für ein selbständiges Leben.

Unter diesen Voraussetzungen mußte ich mit ihm zu arbeiten beginnen.

Ich trat immer dann in Erscheinung, wenn die Probleme besonders groß wurden, wenn ihn der Heimleiter und sein Arbeitgeber loswerden wollten. Ich mußte besänftigen, beschwichtigen, K. so weit bringen, daß er versprach, sich zu bessern, die Wogen glätten, mir alles anhören und so tun, als könnte ich dafür sorgen, daß sich etwas verändert. Dabei hätte ich die Beteiligten viel lieber ermutigt, die Konflikte auszutragen, miteinander Vereinbarungen zu treffen, die eingehalten werden können, jedenfalls miteinander Wege zu suchen, die Konflikte zu bearbeiten. Aber das konnte ich mir nicht leisten, ich mußte ja schauen, daß er nicht "fliegt". Ich appellierte also weiterhin an die Menschlichkeit der Mächtigeren.

Beim Arbeitgeber ging das nicht sehr lange gut. K. wurde von seinem "Lieblingsarbeitsplatz" entlassen. Für ihn war das völlig unverständlich und eine seiner größten Enttäuschungen, von der er sich lange nicht erholte. Er wurde aufsässiger, frecher und schlampiger denn je, bis der Heimleiter endlich veranlaßte, daß er in die Psychiatrie eingewiesen wurde. K. war dort depressiv, glaubte, nie wieder entlassen zu werden und sprach von Selbstmord. Er schrieb mir verzweifelte Briefe und setzte alle übriggebliebene Hoffnung darauf, daß ich ihn dort heraushole. Ich besuchte ihn oft und versuchte, mit ihm aufzuarbeiten, wie es dazu gekommen war und welche Möglichkeiten es nach der Entlassung gäbe. Er hatte aber nur eines im Kopf - "möglichst bald hinaus". Er stellte sich das "draußen" ohne jedes Problem, als das Paradies, vor.

Bevor er entlassen werden konnte, verlangte der Oberarzt von mir Bestätigungen über eine neue Arbeitsstelle und die Unterkunft. Ich war selber abhängig geworden vom guten Willen der Ärzte, Arbeitgeber und Heimleiter. Ich mußte das bringen, was sie von mir verlangten, wenn ich K. "herausbringen" wollte. Ich mußte lügen, Versprechungen machen und mir schließlich noch selber einreden, daß K. es heraußen jetzt besser schafft - nach ein paar Monaten Psychiatrie, einer schlimmen Erfahrung mehr.

Trotzdem konnte und wollte ich nicht aufgeben. Einerseits weil K. mich so bedrängte, andererseits weil ich irgendwie an die Möglichkeiten der Sozialarbeit glaubte, was da heißt intensive Betreuung von K., regelmäßige Gespräche mit ihm, seinem Arbeitgeber und dem Heimleiter. Trotz meiner Bemühungen verlor er seine neue Arbeitsstelle rasch wieder, weil er die Arbeit nicht ordentlich machte. Seine weiteren Arbeitsstellen suchte er sich selber - bald hatte er darin richtige Routine. Was mich dabei wunderte: Er hatte immer wieder die Hoffnung, daß es bei der nächsten Arbeitsstelle besser gehen werde. So unrealistisch das auch war, so wichtig war es dafür, daß es überhaupt "weiterging".

Ich war enttäuscht, daß meine Möglichkeiten, trotz meines Einsatzes, immer wieder zu kurz griffen.

So begann ich zu träumen: Von Wohngemeinschaften, mit ganz wenigen Leuten, mit intensiver Betreuung, wo die Heimdefizite aufgeholt werden können, wo es die Sicherheit gibt, nicht gleich "gefeuert" zu werden; von Arbeitgebern, denen es nicht nur um die Leistung geht, die lernen, mit abweichenden Verhaltensweisen umzugehen; von der Bürokratie, die sich die Behebung von Heimschäden etwas kosten läßt und sich für die bestehenden Heime, die voll von Kindern und Jugendlichen sind, Alternativen überlegt. Bei mir blieb es zwar nicht beim Träumen. Aber K. merkte wenig davon, wenn ich mit anderen Leuten zusammen versuchte, mit den zuständigen Stellen über die Schaffung von Wohngemeinschaften zu sprechen, oder Artikel schrieb, um die Öffentlichkeit über die Probleme zu informieren.

Er ist weiterhin von einer Arbeitsstelle zur anderen gewandert, mit vielen Phasen Arbeitslosigkeit dazwischen. Vom Lehrlingsheim noch einmal in die Psychiatrie, wieder zurück ins Heim und schließlich ins Obdachlosenheim.

Manchmal packt mich dann die Wut auf K., weil er sich überhaupt nicht helfen läßt, einfach nirgends länger bleibt und ich dadurch Arbeit und Ärger habe. Dann habe ich wieder eine Wut auf mich, daß ich ihm das anlaste. Einen Trost gibt es allerdings, ich muß mich nicht so sehr in meinen Emotionen ihm gegenüber zurückhalten, denn er sagt es mir schon, wenn er findet, daß ich ein "Arschloch" bin.

Die Sozialarbeit, die ich ich hier betreibe, hat den Charakter des "Weiterwurschtelns" von einer Woche zur anderen und mein Anspruch hat sich in Bezug auf K. reduziert auf das Einfache: Ihn vor weiteren Einweisungen in die Psychiatrie zu bewahren. Sein Lebensunterhalt wird von der öffentlichen Hand bezahlt, keiner weiß wie lange noch, weil er ja arbeiten gehen sollte. Zusätzliches Taschengeld verdient er sich durch gelegentliche Arbeiten und "Betteln" bei Bekannten und verschiedenen Stellen der privaten Wohlfahrt. Auch im sogenannten "Sandeln" hat er Übung, so wie manche andere, denen kaum eine andere Wahl bleibt. Jeder "Schmäh" ist gut, je perfekter er ausgedacht und vorgetragen wird, um so mehr "zieht" er. Ich finde es erstaunlich, wie schnell er gelernt hat, sich durchzuschlagen, wieviel Kräfte er mobilisieren kann und wie gut aufgelegt und kreativ er oft, trotz allem, ist. Manchmal kann ich mich ganz unreflektiert freuen, aus Schadenfreude, daß er die Bürokraten immer wieder "dran kriegt" und trotzdem ist es schlimm, daß das notwendig ist.

So konnte ich letztlich nicht verhindern, daß K. einen weiteren Schritt in seiner "Behinderten-Karriere" machte, und daß er jede Lust am Selbständigwerden verlor und vielmehr glaubte, durch Tricks und das "Verkaufen" seiner Behinderung etwas zu erreichen.

In Institutionen ist es üblich, die Probleme der Behinderten zu individualisieren: Der "Hilfesuchende" wird gesehen als jemand, "der es nicht geschafft hat". Weil aber alle, zumindest nach außen hin, so menschlich sein wollen, wird den Behinderten "geholfen" - zwar mehr schlecht als recht - aber immerhin. Um als Sozialarbeiterin bei solchen Institutionen etwas zu erreichen, darf ich diese Ideologie auf keinen Fall in Frage stellen. Das bedeutet im sozialarbeiterischen Alltag, um kurzfristige Ziele (Geld, Arbeit, Wohnung etc.) zu erreichen, muß ich den Behinderten verraten. Ich muß dasselbe tun, was ich vorher bei ihm "kritisiert" habe - eben die Behinderung verkaufen.

Wenn mir derartiges klar wird, habe ich oft eine richtige Wut auf die Ideologie der Individualisierung und Sonderbehandlung oder besser auf die Vertreter dieser Ideologie, von denen ich ganze Listen anfertigen könnte (Prominente wären auch darunter).

Zur Ideologie der Rehabilitation

Wenn ich anschließend Kollegen vom Arbeitsamt zitiere, dann sicher nicht, um sie anzuschwärzen oder sie als Besonderheit herauszuheben. Für mich sind sie diejenigen, die mir offen sagen, was sich ein Großteil der von Amts wegen an der Rehabilitation Behinderter Beteiligten denkt. Und es spiegelt sich darin das Funktionieren von Institutionen, die wiederum auch nur auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten reagieren, wo eben jeder vorrangig nach einem Prinzip beurteilt wird: Bist du leistungsfähig oder nicht, das heißt, bist du wirtschaftlich verwertbar oder nicht.

Als Sozialarbeiterin bekomme ich dann z.B. folgendes zu hören: "Wir sagen Dir jetzt einmal ehrlich, wie das bei uns ist: Wir bringen in unserem Bezirk nicht einmal die Lehrlinge auf Arbeitsplätzen unter - wie sollen wir dann Deine Behinderten unterbringen? Wir verstehen überhaupt nicht, wie Du das aushältst, dauernd mit Behinderten zu tun zu haben, Du mußt ja ständig frustriert werden. Mach Dir doch das Leben nicht so schwer, such Dir einen netten Mann und bekomme Kinder, dann gehts Dir doch viel besser. Die Arbeit, die Du machst, ist kein Job für eine nette Frau."

Das Ganze nennt sich ohne Umschweife "Arbeitsmarktverwaltung". Es wird ein Markt verwaltet. Die Ware heißt Arbeitskraft (ein besserer Sklavenmarkt?) - sie wird angeboten und findet unterschiedlichen Absatz. Manche sind wahre Prachtexemplare - junge, starke, fleißige - und andere bringt man weniger gut an. Zu den ausgesprochenen "Ladenhütern", um es brutal auszudrücken, zählen die Behinderten - oft auch dann, wenn sie eine normale Arbeitsleistung erbringen können. Man kann sie nicht zu den normalen Bedingungen anbieten - man versucht es also mit Tricks: Z.B. mit Geldzuckerln (ein Unternehmer bekommt einen Teil des Lohnes für den Behinderten ersetzt) oder mit dem Appell an die Menschlichkeit, das Mitleid dessen, der selbst nicht dieses Schicksal erlitten hat (das zieht aber nur noch in ganz seltenen Fällen) oder mit einem Kuhhandel - dem Betrieb werden "gute", weil billige, Gastarbeiter zugesagt, dafür muß er aber einen Behinderten "dazunehmen".

Meine zitierten Kollegen sind die Verkäufer auf diesem Markt. Und das Amt, das den Arbeitskräftemarkt verwaltet, bildet natürlich auch seine Verkäufer und Verkaufsberater aus, um sie für ihre Arbeit gut zu rüsten. Nachdem allgemein hinlänglich bekannt ist, was Verkäufer besonders gut können müssen, will ich mich nicht darüber auslassen, was ich glaube, worauf die Leute dort getrimmt werden. Nur eines möchte ich nicht unerwähnt lassen. Wie überall, gibt es auch auf dem Arbeitsamt besondere Verkäufer, die allerdings auch dort eher die Regaleinräumer als die Chefs sind. Nämlich die, die sich dem Kunden (Behinderten) näher fühlen als ihrem Chef und ihrer Karriere, und die versuchen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten den anderen als Partner zu sehen und ihm weder etwas einreden (z.B. einen bestimmten Beruf), noch ihn verwalten (möglichst bald loswerden) wollen, sondern mit ihm zusammen nach dem Geeigneten suchen und eventuell, wenn sie nicht das Passende finden, ihn auch zur Konkurrenz schicken oder mit ihr zusammenarbeiten (z.B. mit den Beratungsstellen).

Frauenbild und Sozialarbeit

Meine eigene Position kann ich aus zwei Perspektiven sehen. Einmal bin ich diejenige, die für den Behinderten etwas will, und zwar nicht nur einen Arbeitsplatz, sondern auch noch, daß die Vermittler sich auf die Bedürfnisse der Behinderten einstellen. Es ist deshalb kein Wunder, daß ich irgendwo suspekt bin.

Andererseits bin ich jemand, der Ansprüche mit einer Selbstverständlichkeit stellt, die für die Beamten offensichtlich nicht nachvollziehbar ist. Es ist, so scheint es mir, für die Männer, die in diesen Ämtern sitzen, nicht ganz klar, ob eine Frau mit dem Beruf Sozialarbeiterin und vielleicht noch einigen anderen Eigenschaften und Meinungen, die nicht unbedingt der Norm entsprechen (die Ähnlichkeit mit meinen Klienten ist somit unbestritten), überhaupt ernst zu nehmen ist. Um es ganz deutlich zu sagen: Ich fühle mich jedenfalls bei manchen Gelegenheiten, sowohl als Frau wie auch als Sozialarbeiterin, die im Behindertenbereich arbeitet, diskriminiert - ähnlich wie ich es aus Schilderungen von Behinderten kenne.

Die fatalsten Auswirkungen hat dieses gängige Frauenbild auf die Mädchen, die als "Kundinnen" zum Arbeitsamt kommen. Bei der Vergabe von Lehrstellen werden Burschen ganz offen bevorzugt. Die Begründung dafür: Die Männer müssen ja schließlich später eine Familie erhalten, während die Frauen ohnedies früher oder später zuhause bleiben. Mädchen bekommen die Lehrstellen, die übrig bleiben, und werden fast ausschließlich in den typischen Frauenberufen - im Kochen, Nähen, Servieren (Bedienen)..... - ausgebildet.

Auch ich werde auf diese Frauenrolle - für einen Mann und Kinder, oder einfach für andere zu leben - festgelegt, so wie schon bei meiner Berufswahl. Ich werde gesehen als eine Frau, die noch nicht ihr Ziel (eine Familie) erreicht hat, und werde aufgefordert, daran zu arbeiten ("Such Dir einen Mann...."). Meine jetzige Berufstätigkeit soll ich als Übergangs- oder Notlösung betrachten.

Die Unterscheidung in nette und nicht nette Frauen, die angedeutet ist, interpretiere ich so: Die Männer, die, wie es scheint, das Maß aller Dinge sind, meinen, eine nette Frau solle als Zierde für einen Geschlechtsgenossen nicht verloren gehen. Die nette Frau "muß doch einen Mann finden, der sie heiratet" (denn daß dies das höchste Ziel einer Frau sein muß, darüber gibt es für die Herrn keinen Zweifel), während den anderen, den nicht netten Frauen, was wahrscheinlich meint, nicht den Schönheitsnormen entsprechend, als Ausweg ein "Sozialberuf" zugestanden wird. Diese Einstellung gibt es selbst unter Frauen. Eine junge Frau sagte mir: "Wenn ich in zwei Jahren noch nicht verheiratet bin, geh ich in die Entwicklungshilfe". Jedenfalls wird die Berufstätigkeit der Frau als Kompensation gesehen.

"Wie Du das aushältst, dauernd mit Behinderten zu tun zu haben", interpretiere ich als Versuch, Behinderte und Nichtbehinderte als etwas völlig voneinander Verschiedenes darzustellen und sie auseinanderzudividieren, sich von Behinderten, als mit Defiziten behafteten Menschen, ständig abzugrenzen. Wer sich mit Behinderten zu sehr befaßt, kommt selbst in den Verdacht, daß bei ihm etwas nicht stimmt - sonst hätte er es ja nicht notwendig.

Was mir hier vermittelt wird, läßt sich so zusammenfassen: Ich soll mich anpassen, die Behinderten schaffen es ohnehin nicht.

Quelle:

Marlies Sutterlüty: Sozialarbeit mit Behinderten

Erschienen in: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 35 - 44

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 01.06.2005

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