Was hat Humangenetik und Pränataldiagnostik mit Integration zu tun?

Themenbereiche: Eugenik
Textsorte: Interview
Copyright: © Bayerisches Integrationsinfo, November 1999

Was hat Humangenetik und Pränataldiagnostik mit Integration zu tun?

Die Humangenetikerin Prof. Dr. Stengel-Rutkowski gilt als engagierte Befürworterin der schulischen Integration behinderter Kinder. Im Interview legte sie ihre Sichtweise dar, die sich wohltuend unterscheidet vom weitverbreiteten Defekt-Denken. Das Gespräch führte Diomar Kögler.

D. Kögler: Frau Prof. Sabine Stengel-Rutkowski, Sie sind Professorin für Medizinische Genetik am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Bitte beschreiben Sie uns Ihre Tätigkeit.

S. Stengel-Rutkowski: Mein Arbeitsschwerpunkt ist die genetische Diagnostik und Beratung, wenn bei einem Kind Verdacht auf eine Genveränderung besteht. Im Rahmen der medizinischen Patientenversorgung werden Erbgut (Genotyp) und Erscheinungsbild (Phänotyp) analysiert. Danach wird den Eltern die Bedeutung der genetischen Diagnose für ihr Kind, die Familie und das soziale Umfeld erklärt. Sie erfahren auch die Wiederholungswahrscheinlichkeit im Falle einer weiteren Schwangerschaft, sowie die verfügbaren Wahlmöglichkeiten, um das Wiederauftreten dieser Genveränderung in der Familie zu vermeiden. Neben dieser Diagnostik- und Beratungstätigkeit vertrete ich die Humangenetik in den Studiengängen Medizin, Biologie und Pädagogik in Forschung und Lehre.

D. Kögler: Ich habe Sie als sehr engagierte Professorin kennengelernt, die ihre Studenten damit überrascht, dass sie ihnen eine ganz andere Art von Humangenetik präsentiert als erwartet. Anstatt zu lernen, welche genetischen Defekte welche Symptomenkomplexe nach sich ziehen, hört man bei Ihnen zuerst davon, welchen biologischen Sinn genetische Vielfalt hat. Die Abweichungen von der genetischen Norm werden von Ihnen nicht negativ bewertet.

S. Stengel-Rutkowski: Diese von den üblichen Denkschemata der Medizin abweichende Sichtweise hat sich im Laufe meiner human-genetischen Beratungstätigkeit entwickelt. Ich verstehe mein Fach als Wissenschaft von der Variabilität der Menschen. Die konstitutionelle Humangenetik hat mit Medizin relativ wenig zu tun. Angeborene Genveränderungen sind nicht heilbar. Es geht hier nicht um Krankheiten, sondern um unterschiedliche Genprogramme, mit denen man geboren werden kann. Sie sind für die Menschen, die sie tragen normal, auch wenn sie mehr oder weniger selten sind. Wir diagnostizieren weder Defekte noch Störungsbilder, sondern unterschiedliche genetische Normalitäten. Veränderungen gehören zum Leben. Mutationen sind Voraussetzung für die ständige Erneuerung einer Population und ihre Anpassung an sich ständig ändernde Umweltbedingungen. Sie stabilisiert sich durch Vielfalt und destabilisiert sich durch Homogenität - nicht nur biologisch sondern auch sozial. Die aus der genetischen Diagnostik und Beratung erwachsenden wissenschaftlichen und praktischen Fragen lassen sich nach meiner Erfahrung am besten interdisziplinär beantworten: Genveränderungen werden biologisch nachgewiesen, Wiederholungswahrscheinlichkeiten mathematisch-statistisch ermittelt, konstitutionelle Phänotypanalysen beruhen auf anthropologischen Methoden und bei der Analyse von Entwicklungs- und Verhaltensphänotypen spielen psychologische und pädagogische Aspekte eine Rolle. Nicht zuletzt wird das für die Auswirkungen von Genveränderungen so wichtige Zusammenspiel von Erbe und Umwelt im Hinblick auf die Entwicklung eines Menschen mit soziologischen Denkmodellen erfasst. Ich versuche, diese verschiedenen Aspekte bei der humangenetischen Beratung sowie in Forschung und Lehre zu berücksichtigen. Ein Kind, das sich aufgrund eines veränderten Genprogramms anders entwickelt als gewohnt und erwartet, hat seine eigenen Entwicklungschancen. Sie sind grundsätzlich nicht negativ zu bewerten, auch wenn die Integration in das normale soziale Leben oftmals schwierig ist.

D. Kögler: In unserem Verein sind viele Eltern von Kindern mit einem genetischen Syndrom. Oft haben sie die Erfahrung gemacht, dass die Humangenetik sich nur mit den Ursachen für die Behinderung ihres Kindes beschäftigt. Ein "Gen-Defekt" wird benannt und es wird beschrieben, was das Kind einmal alles nicht können wird. Eine solche Diagnostik und Beratung greift in Ihrer Sicht zu kurz.

S. Stengel-Rutkowski: Ich habe mich von diesem Defekt-Blickwinkel getrennt und werbe dafür, dass sich mehr Menschen in Fachwelt und Gesellschaft von dieser negativ geprägten Sicht auf Menschen mit Genveränderung distanzieren. Defekt-Denken führt zu einer Verarmung (Deprivation) und Vereinsamung (Isolation) der Menschen mit Genveränderungen und ihrer Familien. Sie werden gesellschaftlich an den Rand gedrängt. Es entstehen vermeidbare sekundäre soziale Behinderungen als Folge primär vorhandener genetischer Veränderungen. Kinder mit Genveränderungen können jedoch wie andere am normalen sozialen Leben teilnehmen und dazu beitragen, auch wenn sie nicht wie diese laufen, sprechen oder begreifen. Sie haben ein Recht auf Chancengleichheit. Für Menschen, die mit einer Genveränderung geboren werden, ist das Defekt-Denken entwicklungshemmend und diskriminierend. Unsere Sprache kennt das Wort Erbgut, nicht jedoch das Wort Erbschlecht. Menschen aufgrund einer Genveränderung als" defekt" oder" behindert" einzustufen halte ich politisch nicht für korrekt.

D. Kögler: Ein paar Worte zur Pränataldiagnostik. Sie macht vielen Eltern Angst. Sie befürchten, dass Kinder, die mit einer Genveränderung geboren werden, zunehmend mehr als eine Art "Betriebsunfall" angesehen werden, der vermeidbar gewesen wäre.

S. Stengel-Rutkowski: Ich sehe die Pränataldiagnostik als eine Herausforderung für die Humangenetik und die ganze Gesellschaft. Wir müssen ihre Licht- und Schattenseiten reflektieren. Die Entscheidung der Eltern, ob sie ein Kind mit nachgewiesener Genveränderung zur Welt bringen oder einen Schwangerschaftsabbruch wählen, muss individuell und frei bleiben. Diese Entscheidungsfreiheit ist eine Grundvoraussetzung der vorgeburtlichen Diagnostik und Elternberatung. Sie darf von keiner Seite her eingeschränkt werden. Die verbreitete Auffassung "So ein Kind hätte doch nicht zur Welt kommen müssen, das wäre doch vermeidbar gewesen" beinhaltet eine Aufforderung zum Töten. Mit Nachdruck ist vor einem gesellschaftlichen Konsens zu warnen, nach welchem genetische Veränderungen beim Menschen durch Schwangerschaftsabbruch zu eliminieren sind. Die Eltern würden dadurch ihre Entscheidungsfreiheit verlieren und die Pränataldiagnostik würde zu einem Instrument der Eugenik.

D. Kögler: Sie haben von "sekundären, sozialen Behinderungen" gesprochen, die vermeidbar sind. Können Sie hierfür ein konkretes Beispiel geben?

S. Stengel-Rutkowski: Aus biologischer Sicht gibt es keine genetisch behinderten Kinder. Wir kennen kein Gen für Behinderung. Kinder, die mit einem veränderten Genprogramm zur Welt kommen, sind jedoch in Gefahr, sekundär sozial behindert zu werden. Erfahren Eltern z. B. nach der Diagnose einer Trisomie 21 von Ärzten, dass ihr Kind eine "genetische Behinderung" hat, "geistig behindert ist", bei seiner Entwicklung viele Schwierigkeiten haben und nicht selbständig werden wird, so wird dies alles mit hoher Wahrscheinlichkeit auch eintreten. Nach dem Gesetz der Hermeneutik behindern solche sich selbst erfüllende Prophezeihungen die Entfaltung seines genetisch determinierten Entwicklungspotentials. Erfährt das Kind aus seiner Umwelt nicht, dass es befähigt, sondern unbefähigt ("disabled") ist, so wird es sich nicht so entwickeln können wie andere Kinder, die von Anfang an eine positive Verstärkung erhalten. Erbe und Umwelt wirken zusammen. Wir sehen bei einem Menschen nie die alleinige Auswirkung von Genprogrammen, sondern immer auch, was die Umwelt damit gemacht hat. Diese Wechselwirkung kann für Menschen mit Genveränderungen ein großer Segen aber auch ein großer Fluch sein. Ihre Gene können nicht verändert werden, wohl aber ihre Umwelt. Der Blick auf das unveränderliche Erbgut darf den Blick auf das Gestaltungspotential der Umwelt nicht verstellen. Geeignete Umweltreaktionen auf geänderte Genprogramme verursachen in der Regel wenig Kosten. Sie benötigen jedoch ein Umdenken, welches zulässt, dass alle Menschen unabhängig von ihren Genprogrammen ihre persönlichen Entwicklungschancen im normalen sozialen Umfeld erhalten.

D. Kögler: Damit kommen wir auf die wichtige Rolle der Erziehung im Rahmen der Entwicklungsförderung. Sie meinen, die elterliche Erziehungskompetenz solle von den Fachleuten unterstützt werden. Wir Eltern machen dagegen oft die Erfahrung, dass uns diese Kompetenz durch Ärzte, Therapeuten oder Pädagogen aus der Hand genommen wird.

S. Stengel-Rutkowski: Auch dies sehe ich als Folge einer Sichtweise, die bei Kindern mit Genveränderungen von Defekten und Störungsbildern ausgeht, für deren Behandlung die Eltern von den Fachleuten nicht als kompetent angesehen werden. Förderprogramme, die aus einem solchen Defekt-Blickwinkel heraus konzipiert wurden, sind jedoch wenig wirksam. Oft wird hier viel Zeit und Mühe vergeudet und am Kind und seinen Eltern vorbei gearbeitet. Nach meiner Erfahrung ist die frühzeitige Wiedergewinnung der normalen, intuitiven elterlichen Erziehungskompetenz nach der Geburt eines Kindes mit Genveränderung wichtiger als solche Förderprogramme. Ärzte bzw. Personen mit medizinisch-therapeutischen Assistenzberufen werden benötigt, wenn konkrete medizinische Probleme bestehen. Hierfür ist die genetische Diagnose jedoch keine Voraussetzung. Ein Herzfehler muss behandelt werden unabhängig davon, ob er als Folge einer nachweisbaren Genveränderung entstanden ist oder nicht. Andererseits sind Ärzte in der Regel nicht dafür ausgebildet, Eltern kompetent zu vermitteln, wie sie ihr Kind erziehen und seine kognitive Entwicklung herausfordern können, wenn es andere genetische Voraussetzungen hat als gewohnt und erwartet. Dies ist das primäre Fachgebiet der Pädagogik. Früh müssen SpieltherapeutInnen eingeschaltet werden, die den anfangs oft ratlosen Eltern zeigen, wie sie zur Entfaltung des Entwicklungspotenzials ihres Kindes beitragen können. Mit zunehmender Elternkompetenz können auch diese sich wieder zurückziehen und ihre Interventionen auf besondere Situationen beschränken, in denen die Eltern ihre Hilfe benötigen. Kinder, die im Rahmen von Förderprojekten ständig an Körper und Geist "beübt" werden, laufen Gefahr, zu wenig erzogen zu werden. Sie entfalten kaum konstruktive Eigeninitiative. Häufig nehmen sie Verhaltensweisen an, die ihre Entwicklung behindern. Sie erwarten, dass ständig jemand etwas für sie tut und kleinste Leistungen mit Beifall belohnt. Unsicherheiten der Erwachsenen hinsichtlich ihres Entwicklungspotentials führen zu fehlenden Grenzsetzungen und in der Regel zu massiver Unterforderung. Nach einer genetischen Diagnose muss meines Erachtens dafür gesorgt werden, daß die Eltern ihre Erziehungskompetenz rasch wieder erlangen und nicht zu Therapiebegleitern bzw. Therapeuten ihrer Kinder werden. Gute Erziehung ist die beste Frühförderung. Die Kinder werden dadurch fit gemacht für das Leben im sozialen Umfeld, in das sie hinein geboren wurden. Die Eltern dürfen sich diese wichtige Aufgabe und Kompetenz nicht aus der Hand nehmen lassen.

D. Kögler: Bei uns hier in Bayern ist der Eingriff in die elterliche Erziehungskompetenz ganz besonders schmerzlich bei der Entscheidung über die Schullaufbahn. Nach dem bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetz (BayEUG) werden diejenigen Kinder vom Besuch der allgemeinen Schulen ausgeschlossen, von denen zu erwarten ist, dass sie das Klassenziel nicht erreichen - also ihrer Altersnorm nicht genügen. Das betrifft die meisten Kinder mit Genveränderungen. Sie halten es für einen schwerwiegenden Fehler, diese Kinder schulisch auszusondern.

S. Stengel-Rutkowski: Im Rahmen meiner Arbeit als Humangenetikerin bin ich zu einer überzeugten Integrationsbefürworterin geworden. Kinder benötigen kein "normales Genprogramm" als Eintrittskarte in das normale soziale Leben. Sie gehören aufgrund ihrer Geburt dazu. Unsere Schulen handeln gegenwärtig vielfach so, als wäre ein "normaler Genotyp" eine notwendige Voraussetzung für gemeinsames Lernen, als ließen sich Kinder mit unterschiedlichen Genprogrammen und daher unterschiedlichen Lernzielen nicht gemeinsam unterrichten. Verschlossene Schultore bedeuten jedoch in unserer Kultur verschlossene Wege ins Erwachsenenleben. Im Rahmen der vielfach empfohlenen extegrativen Sonderförderung verlieren die Kinder mit Genveränderungen die Möglichkeit, sich an anderen Kindern und an den Gegebenheiten des normalen sozialen Lebens zu orientieren. Dieser Verlust kann nicht durch Sonderpädagogik wettgemacht werden. Extegrative Schulen führen in der Regel nicht in eine größtmögliche berufliche und private Selbständigkeit sondern in eine beschützende Werkstatt mit ständiger Abhängigkeit von Betreuern. Diese eingeschränkte Erwachsenenperspektive veranlasst verantwortungsbewusste Eltern im Schwangerschaftskonflikt nicht selten zu der Entscheidung, nach Pränataldiagnostik einer Genveränderung ihr in der Gesellschaft offensichtlich unerwünschtes Kind nicht zur Welt zu bringen. Wenn in Zukunft verhindert werden soll, dass Kinder mit Genveränderungen aufgrund der Entscheidung ihrer Eltern überwiegend pränatal getötet werden, müssen sie von der ganzen Gesellschaft angenommen, willkommen geheißen, entsprechend ihren Fähigkeiten gefördert und wie andere Kinder in das Erwachsenenleben hinein geführt werden. Kinder können und sollen nicht genetisch genormt zur Welt kommen. Sie dürfen und müssen verschieden sein. Ich sehe keine wirtschaftliche oder politische Notwendigkeit dafür, dass in der Schule alle im Gleichschritt marschieren. Die Schulen müssen zu den Kindern passen - nicht umgekehrt! Kinder mit Genveränderungen brauchen nicht mehr soziale Schutzräume als andere. Der Aufbau tragender sozialer Beziehungen kann sie ein Leben lang besser schützen als eine geschlossene Einrichtung. Kinder mit Genveränderungen haben Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe am normalen sozialen Leben. Sie können wie andere von Anfang an entsprechend ihren Fähigkeiten dazu beitragen. Die immer wieder geäußerte Meinung, sie könnten nicht mit Erfolg an einem integrativen, differenzierten, lernzieldifferenten Unterricht teilnehmen, bzw. andere Kinder würden durch sie beim Lernen behindert, ist unbegründet. Die in den zurückliegenden zwanzig Jahren durchgeführten Studien sowie die praktische Arbeit in erfolgreich geführten Integrationsklassen haben gezeigt, dass das Gegenteil erreicht werden kann. Alle Kinder können lernen, wenn man sie lässt! Je mehr sie am normalen sozialen Leben teilnehmen, desto mehr Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben sie. Die schulische Integration dieser Minderheiten scheint heute bei einer angemessenen Ausbildung und Unterstützung der Lehrer weniger ein pädagogisches, als ein gesellschafts-politisches Problem zu sein. Die viel gerühmte Liberalitas Bavariae sollte meines Erachtens dazu führen, dass Eltern von Kindern mit Genveränderungen nicht in andere Bundesländer oder ins Ausland ziehen müssen, um ihre Kinder in integrativen Schulen lernzieldifferent unterrichten zu lassen. Wenn wir davon ausgehen, dass Menschen verschieden sind, verschieden sein dürfen und jedes geborene Kind sich nach seinem angeborenen Potential entwickeln kann und muss, auch wenn dieses anders ist als üblich, so benötigen wir eine pluralistische Demokratie, die Randgruppen integriert.

D. Kögler: Dazu passt der Satz unseres ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, den wir in der LAG gerne zitieren: "Es ist normal, verschieden zu sein." Sie arbeiten eng zusammen mit Lore Anderlik, einer Montessoritherapeutin, die sie im Münchner Kinderzentrum kennengelernt haben. Warum ist die Montessoripädagogik Ihrer Meinung nach besonders gut geeignet, die Potenziale der von Ihnen betreuten "Rätselkinder" mit genetischen Syndromen zu entschlüsseln?

S. Stengel-Rutkowski: Bevor ich die Philosophie und Pädagogik von Maria Montessori in meiner langjährigen und fruchtbaren Zusammenarbeit mit Lore Anderlik kennen und verstehen gelernt habe, sah ich keinen Weg, das Entwicklungspotenzial der Kinder mit Genveränderungen unvoreingenommen wahrzunehmen und erzieherisch herauszufordern. Ich wusste früher nicht, wie man sich einem Kind, das aufgrund einer Genveränderung anders ist als gewohnt und erwartet, nähern und seine Rätsel entschlüsseln kann. Den üblichen Weg, mit Hilfe der klassischen Entwicklungspsychologie das Potenzial dieser Kinder festzustellen, lehne ich aus methodischen und ethischen Gründen ab, da die Kinder hierbei mit einer Norm verglichen werden, zu der sie nicht gehören. Tests, die an Kindern ohne Genveränderungen standardisiert wurden, diskriminieren Kinder mit Genveränderungen beinahe zwangsläufig. Der Nachweis, dass sie nicht die gleiche Entwicklung haben wie gleichaltrige Kinder ohne eine solche Genveränderung kann allenfalls dazu dienen, einen pädagogischen Anspruch auf Integrationshilfe zu objektivieren. Das angeborene Entwicklungspotenzial des Kindes sowie seine Fähigkeiten und Bedürfnisse werden jedoch durch solche Vergleiche nicht erfasst. Die Montessoripädagogik benötigt keine Normvergleiche. Sie ermahnt die ausgebildeten PädagogInnen zur vorurteilsfreien Wahrnehmung des Kindes durch sensitive Beobachtung seiner Spielarbeit in vorbereiteter Umgebung. Während seine Sinne auf ein Material gerichtet sind, das sein Interesse erregt und mit dem es sich spielerischlustvoll auseinandersetzt, zeigt es dem Erwachsenen unabhängig davon, ob eine Genveränderung vorliegt oder nicht - was es kann und welche Hilfen es für weitere Lernerfahrungen benötigt. Manche Kinder lernen viel von alleine, andere müssen von den Erwachsenen viel ermutigt werden und gezeigt bekommen, um Lernerfahrungen zu machen.

D. Kögler: Sie haben im Kinderzentrum München eine genetische Diagnostik- und Beratungsstelle aufgebaut und geleitet. Diese Abteilung gibt es nicht mehr.

S. Stengel-Rutkowski: Meine Abteilung im Kinderzentrum wurde aufgelöst. Ich arbeite jetzt wieder an der Universität.

D. Kögler: Frau Stengel-Rutkowski, ich danke Ihnen herzlich für dieses Gespräch!

Prof. Dr. Sabine Stengel-Rutkowski ist Humagenetikerin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München

Info: Bayerisches Integrationsinfo

Quelle:

Sabine Stengel-Rutkowski: Was hat Humangenetik und Pränataldiagnostik mit Integration zu tun?

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 02.05.2006

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