Sozialarbeit für und mit Behinderten im Spannungsfeld von Institutionen und Gesetzen

Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen in: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 103 - 109
Copyright: © Jugend und Volk 1982

Einleitung

Die Verfasser dieses Artikels arbeiten seit ca. 4 Jahren als Sozialarbeiter in einer öffentlichen Einrichtung, deren Aufgabe hauptsächlich die berufliche Gleichstellung von Behinderten und Nichtbehinderten ist. Wir wollen die Gelegenheit nützen, im Gefolge des von der UNO proklamierten Jahres der behinderten Menschen, in dem die Öffentlichkeit vermehrt mit dieser Problematik konfrontiert wurde, unsere alltäglichen Erfahrungen und Schwierigkeiten in der Sozialarbeit mit Behinderten mitzuteilen.

Die Rahmenbedingungen der Sozialarbeit mit behinderten Menschen

Der Sozialarbeiter, der als Bindeglied zwischen behinderten Klienten und einer Institution eingesetzt wird, steht in einem Spannungsfeld, das durch die Bedürfnisse der Behinderten auf der einen Seite und die Strukturen der Institution (Hierarchie, Arbeitsteilung, Dienstvorschriften, Personalzusammensetzung u.a.) bzw. ihrer Rahmenbedingungen (z.B. gesetzliche Bestimmungen) auf der anderen Seite entsteht. Darüber hinaus will jeder engagierte Sozialarbeiter auch noch seine eigenen Ansprüche im Sinne der professionellen Standards der Sozialarbeit erfüllen können.

Bedürfnisse der Behinderten

Grundsätzlich sind unserer Meinung nach die Bedürfnisse der behinderten Menschen ebenso wie diejenigen anderer Menschen stark von ihren Sozialisationserfahrungen geprägt. In der Regel werden frühzeitig Behinderte durch ein System von sogenannten Fördermaßnahmen geschleust, das sich nachträglich als echte Hemmung demaskiert:

Durch ein fast lückenloses, perfektes System von verschiedenen Sondereinrichtungen, insbesondere Sonderschulen, bei dessen näherer Betrachtung sich die Frage aufdrängt, ob noch niemand an eine Sondereinrichtung für Linkshänder oder Brillenträger gedacht hat, wird der Beginn einer oft lebenslänglichen Stigmatisierung und Segmentierung gesetzt. Am Ende dieses Aussonderungsprozesses haben weder die Behinderten noch die Nicht-Behinderten gelernt, miteinander umzugehen. Dies ist genau der Zeitpunkt, zu dem die Sozialarbeit die Fehler falscher "Förderung" ausgleichen soll.

Die jahrelang eingeübte Randgruppenposition behindert die Entwicklung von Selbständigkeit und hat bei vielen Behinderten das Verlangen nach einer totalen Befürsorgung zur Folge. Die Entstehung dieses Bedürfnisses wird durch die institutionalisierte Bevormundungsfürsorge, das heißt: arbeiten "für" und nicht "mit" den Betroffenen, durch Spendenaktionen der Wirtschaft und Öffentlichkeit und auch durch bestimmte Versorgungsstrukturen, wie z.B. die Ghettosituation in Heimen, weiter begünstigt. Dadurch entsteht die Rolle des Behinderten als Gnadenaktempfänger und resignierter Bittsteller.

Interessen von Institutionen

Bei vielen etablierten Institutionen nimmt das Bedürfnis der Institution nach fortwährender Rechtfertigung der eigenen Existenz eine vorrangige Rolle ein. Aus diesem Interesse nach vorweisbaren, kontrollierbaren Aspekten der Tätigkeit der Mitarbeiter resultieren unweigerlich bürokratische Züge. Diese drücken sich etwa darin aus, daß der Verwaltungsapparat ungleich größer als der Betreuungsapparat ist; oder darin, daß durch quantitative Statistiken ein Leistungsbeleg erbracht werden soll - und überdies noch die Tätigkeit der Betreuer besser kontrollierbar wird. An der Bedeutung, die solchen Statistiken zugeschrieben wird, die natürlich nur genormte Hilfeleistungen wiedergeben, aber die jeweilige Qualität und Individualität der Arbeit nicht zum Ausdruck bringen können, wird deutlich, daß das Ziel einer individuellen und persönlichen Betreuung der Klienten manchen Verantwortlichen erst in zweiter Linie wichtig ist. Bezeichnend für diese Situation ist auch die panische Angst davor, daß Konflikte, die in manchen Fällen unweigerlich entstehen müssen, in die Öffentlichkeit getragen werden.

Ansprüche der Sozialarbeit

Die Problematik für die Sozialarbeit entsteht grundsätzlich daraus, daß Solidarität mit den Betroffenen - in diesem Fall den Behinderten - häufig zur direkten Konfrontation mit der Institution, also auch den direkten Vorgesetzten und leider oft alleine Entscheidungsberechtigten führt. Da die Sozialarbeiter in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Institution stehen und somit von vornherein bei einem derartigen Konflikt als Verlierer feststehen, sind sie sehr oft dazu gezwungen, entgegen den Bedürfnissen der Behinderten und ihrer eigenen Überzeugung zu handeln, indem sie diesen Konflikten möglichst aus dem Weg gehen und unter allen Umständen auf ein gutes Verhältnis mit den Entscheidungsberechtigten, die überwiegend Verwaltungsbeamte sind und nicht vorrangig nach fachspezifischen Kenntnissen der Sozialarbeit, sondern nach den Kriterien der Rechtskundigkeit ausgesucht werden, bedacht sind.

Dies steht in direktem Gegensatz zur Aufgabe und zum Auftrag der Sozialarbeit. Um diesen gerecht werden zu können, wäre es unumgänglich notwendig, das Rollenbild der Sozialarbeiter in diesen Institutionen gründlich zu überdenken und in ihnen nicht nur ausführende Organe auf unterster Ebene zu sehen. Es ist auch erforderlich, der Sozialarbeit mehr Einfluß in der Gesetzgebung, Planung und Organisation der Durchführung einzuräumen. Nur über diesen Weg kann die Sozialarbeit ihren emanzipatorischen und prophylaktischen Auftrag erfüllen.

In der praktischen Arbeit müßte die Entscheidungsfreiheit der Sozialarbeiter weitgehend gewährleistet sein, um ihnen die Möglichkeit zu geben, die Interessen und Rechte der Behinderten in Zusammenarbeit mit diesen unbürokratisch wahrzunehmen und entsprechende Aktivitäten zu setzen. So lange jedoch die Sozialarbeiter, wie dies derzeit in den meisten uns bekannten Ämtern gehandhabt wird, mit administrativen Arbeiten "überschüttet" werden, ist an eine effektive und zielführende "Hilfe zur Selbsthilfe" sicher nicht zu denken.

Für die Zukunft stellen sich zwei Alternativen: Entweder werden die Institutionen der Behindertenhilfe dazu übergehen, die Vorstellungen der Sozialarbeit nicht mehr nur als zwar diskussionswürdig anzusehen, aber deren praktisches Einfließen in die Arbeit mit Randgruppen durch Bürokratie und Formblattideologie zu verhindern, oder die Betreuung wird sich weiterhin auf eine reine Verwaltung, die wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse der Betroffenen nimmt, beschränken.

Der Tatsachencharakter gesetzlicher Richtlinien, am Beispiel der Einschätzung der Minderung der Erwerbstätigkeit

Für die Sozialarbeit mit Behinderten stellt die komplizierte und z.T. nicht adäquate gesetzliche Materie eine besondere Problematik dar. Nicht selten muß der Sozialarbeiter eine Einstufung, die Gewährung oder Ablehnung einer Leistung etc., den Betroffenen gegenüber vertreten, obwohl er deren gesetzliche Grundlagen aus der Sicht seiner Arbeit als unzureichend einschätzt.

Als Beispiel sei hier die Einschätzung der sogenannten Minderung der Erwerbstätigkeit nach dem Invalideneinstellungsgesetz genannt. Grundsätzlich erfolgt diese Einschätzung nur von medizinischer Seite. Die einzige uns bekannte zusätzliche berufskundliche Beurteilung wird beim Landesinvalidenamt für Kriegs- und Heeresopfer vorgenommen. Eine Einschätzung nach sozialen Kriterien entfällt zumeist überhaupt.

Diese medizinische Einschätzung beschränkt sich hauptsächlich auf die Beurteilung von körperlichen Gesundheitsschädigungen oder Behinderungen, einerseits wohl deshalb, weil körperliche Funktionsschwächen aus medizinischer Sicht eindeutiger und besser definierbar sind, andererseits, weiles den Körperbehinderten möglich und teilweise auch gelungen ist, sich zu organisieren und zu artikulieren, was etwa geistig Behinderten nicht möglich ist. Besonders die Kriegsopferverbände waren schon aufgrund ihrer großen Mitgliederzahl, aber auch aufgrund der ihnen gegenüber bestehenden kollektiven Schuldgefühle, in der Lage, die Versorgungsangebote und Einschätzungskriterien zumindest teilweise den Gesundheitsschäden der von ihnen vertretenen Personen anzupassen.

Demgegenüber sind Richtlinien für die Einschätzung geistiger Behinderungen nur sehr ungenau vorhanden, sie fehlen für die Beurteilung von psychischen und psychosomatischen Behinderungen überhaupt. So wird etwa der Leidensdruck, der durch die tiefe seelische Niedergeschlagenheit eines an Hypochondrie Erkrankten verursacht wird, in diesen Richtlinien überhaupt nicht berücksichtigt.

Auch bei gleichen Behinderungen bestehen noch immer ungleiche Regelungen in Abhängigkeit von der Behinderungsursache. So werden etwa bei Zivilinvaliden in der Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit berufliche Kriterien nicht berücksichtigt. Verliert also etwa ein Cellist der Wiener Philharmoniker den kleinen Finger der linken Hand, so wird ihm dieselbe Minderung der Erwerbsfähigkeit zugesprochen wie etwa einem Tischler mit gleichem Gesundheitsschaden. Daß der Cellist jedoch seinen Beruf nicht mehr ausüben kann, wird dabei außer Acht gelassen.

Fallbeispiele zum Alltag der Sozialarbeit mit Behinderten

Beispiel 1: Bürokratische Auflagen als Erschwerung des Zugangs zu Klienten

Durch Hinweise aus ihrem Bekanntenkreis angeregt, wendet sich die Mutter eines stark kontaktgestörten und depressiven, etwa 35jährigen Mannes telefonisch an einen Sozialarbeiter in einer Einrichtung für Behinderte. Sie ersucht um einen Hausbesuch, da sie sich gerne näher über diese Probleme unterhalten will. Der Sozialarbeiter ist verpflichtet, für jeden Außendienst eine Bewilligung seines Abteilungsleiters einzuholen; er sucht diesen auf und hofft nach einer kürzeren Erklärung der Situation die Genehmigung für diesen Außendienst zu erhalten. Der Vorgesetzte erklärt jedoch, daß bei jedem Außendienst zum Zweck der Einschulung mindestens ein weiterer Beamter mitgenommen werden müsse. Die Einwände des Sozialarbeiters gegen eine solche Vorgehensweise - es handle sich bei dieser Angelegenheit ja eher um persönliche Probleme, deren Behandlung nicht wie etwa die Prüfung von Anspruchsvoraussetzungen für irgendwelche Beihilfen möglich sei, sodaß das Beisein einer dritten Person eine offene und persönliche Gesprächssituation verhindern könnte - werden nicht akzeptiert. Erst durch Einschaltung eines weiteren Vorgesetzten gelingt dem Sozialarbeiter die Durchsetzung der von ihm vorgeschlagenen Vorgehensweise.

An diesem Beispiel zeigt sich, daß nicht die Bedürfnisse und die soziale Situation eines Rat- oder Hilfesuchenden die Art der Kontaktaufnahme und der Betreuung bestimmen, sondern die eingefahrenen Vorschriften einer Organisation - verkörpert in Vorgesetzten, die als Verwaltungsbeamte nach völlig andere Gesichtspunkten entscheiden als Sozialarbeiter.

Beispiel 2: Wann ist ein Fall für eine Bürokratie interessant?

Herr B., ein heute etwa 60jähriger Mann, ehemals Landwirt, ist vor 15 Jahren erblindet. Er wohnt in einem Dorf mit ca. 1.500 Einwohnern. Seine Frau hat ihn vor einiger Zeit verlassen, und die Kinder sind ebenfalls aus dem elterlichen Haushalt ausgezogen. Aufgrund seines Alters und seiner sozialen Situation war Herrn B. keine berufliche Umschulung angeboten worden. Er bezieht eine Invaliditätspension sowie die Blindenbeihilfe, wurde jedoch nie persönlich betreut. Bei einer ersten Kontaktaufnahme, die im Zuge eines routinemäßigen Besuchs von Blindenbeihilfebeziehern stattfand, stellt der Sozialarbeiter fest, daß der Behinderte im Dorf fast nicht bekannt ist. Dies bestätigt sich auch im Gespräch mit dem Mann, der vollkommen vereinsamt ist. Die einzige Person, die sich um ihn kümmert, ist seine Nachbarin, die ihm gegen Entgelt die Wäsche wäscht und das Essen kocht. Eine sinnvolle Aufgabe der Sozialarbeit wäre es hier sicherlich, zu versuchen, den Behinderten wieder einigermaßen in das Dorfleben zu integrieren. Dies aber wäre - um überhaupt erfolgversprechend zu sein - nur mit entsprechendem Zeitaufwand möglich. Daran besteht in der Institution des Sozialarbeiters wenig Interesse, da es sich um ein Problem handelt, das weder die finanzielle Versorgung noch die Berufseingliederung betrifft und überdies in der üblichen Leistungsbilanz schwer ausweisbar ist.

An diesem Beispiel wird deutlich: Die Betreuung der Behinderten wird durch eine Vielzahl von Institutionen wahrgenommen. Die meisten Einrichtungen normieren jene Bedürfnisse und Probleme der Betroffenen, für deren Lösung sie sich als zuständig definieren. Je besser ein Fall diesem Schema entspricht, desto eher können Maßnahmen gesetzt werden. Je komplexer die Situation, je umfassender und grundlegender die Probleme, desto geringer die Möglichkeiten der Institution.

Beispiel 3: Die Willkür von Schreibtischentscheidungen

Ein gehörloser Pensionist ist in seiner Mobilität stark auf seinen Hund angewiesen. Er tritt an einen Sozialarbeiter einer großen Verwaltungsbehörde mit dem Ersuchen um Hilfestellung beim Antrag auf Befreiung von der Hundesteuer heran. Der gemeinsam formulierte Antrag wird an die zuständige Behörde (eine andere Abteilung der gleichen Institution) abgeschickt. Diese lehnt zunächst mit der Begründung ab, daß sie zwar für Anträge von Blinden, nicht aber von Gehörlosen zuständig sei. Darauf wird der Antrag neuerdings bei der zuständigen Oberbehörde eingebracht. Auch diese entscheidet negativ. Da es sich um eine Ermessensfrage handelt, wird die Entscheidung nicht begründet. Der Sozialarbeiter muß nun dem Behinderten gegenüber eine Entscheidung seiner eigenen Behörde vertreten, auf die er nicht den geringsten Einfluß hatte. Vor der Entscheidung wurde weder der Betroffene noch der Sozialarbeiter angehört.

Zusammenfassung

Statt das Sondereinrichtungswesen für Behinderte weiter auszubauen, sollten eher die Notwendigkeit und die Auswirkungen bestehender Einrichtungen überdacht werden.

Da die Verwaltung derzeit weder ausreichend auf die individuelle Situation der Behinderten noch auf die gesellschaftlichen Ursachen ihrer Randständigkeit eingehen kann, besteht ein permanenter Interessenskonflikt zwischen Verwaltung und Betroffenen. Dieser kann durch den verstärkten Einsatz von Sozialarbeitern gemildert werden, unter der Voraussetzung, daß diese ihrer Ausbildung entsprechend und von administrativen Arbeiten entlastet, eingesetzt werden.

Die legistisch fundierte "Behindertenhierarchie" sollte durch gleichberechtigte Anerkennung aller Formen und Arten von Behinderungen, unabhängig von ihrer Ursache, abgebaut werden.

Quelle:

Michael Skocek, Rene Tischina: Sozialarbeit für und mit Behinderten im Spannungsfeld von Institutionen und Gesetzen

Erschienen in: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 103 - 109

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 03.03.2005

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