Sexualität und geistige Behinderung

Themenbereiche: Sexualität
Textsorte: Beitrag
Releaseinfo: Beitrag für die 24. Fortbildungstage für Sexualmedizin und Psychosomatik, zugleich 7. Jahrestagung der Akademie für Sexualmedizin, veranstaltet von der Akademie für Sexualmedizin (AMS) und der Gesellschaft für Praktische Sozialmedizin (GPS), Igls / Innsbruck 1.-3. Juni 2000
Copyright: © Volker Schönwiese 2000

Gesellschaftliche Haltung gegenüber der Sexualität geistig behinderter Kinder/ Jugendlicher und Erwachsener

Behinderte Menschen haben stark mit Vorurteilen und Diskriminierungen der Gesellschaft kämpfen, bis hin zur Haltung, sie sollten als behinderte Kinder eigentlich gar nicht auf die Welt gekommen sein.

Auf die Sexualität behinderter Personen bezogen setzt sich dies in Meinungen um wie

  • sie haben gar keine Sexualität

  • sie werden nie eine/n Partner/in bekommen,

  • es ist besser für sie, keine Sexualität zu entwickeln oder zu leben, da sie sowieso nur enttäuscht werden können

  • auch ohne Beziehung und Sexualität kann man glücklich werden

  • Behinderte können Sexualität nicht beherrschen und können gefährlich werden

  • usw. usw.

Diese Haltungen sind sicher nicht nur als Vorurteile und Haltungen entsprechend dem gesellschaftlichen Alltag unserer westlichen Welt zu sehen, sondern haben ihren historischen fachlichen Hintergrund, der sich epochal in der Praxis der Institutionen der Behindertenhilfe niedergeschlagen hat. Wir erinnern nur an Prof. Andreas Rett, dessen Verdienst es ist, zur Sexualität geistig behinderter Menschen in Österreich geforscht zu haben, der aber eine starke Defizitorientierung und eine repressive Haltung gegenüber der Sexualität geistig behinderter Menschen vertreten hat. Er hat z.B. mit der Lebenshilfe Österreich eine jahrzehntelange Zusammenarbeit beendet, nachdem die Lebenshilfe gegen seinen Rat eine Broschüre zur Sexualaufklärung geistig behinderter Personen herausgegeben hatte.

Eltern behinderter Kinder

Auch Eltern von behinderten Kindern können abwertende und defizitorientierte Haltungen gegenüber der Sexualität ihrer Kinder haben. Dahinter steht meist vielfältige Angst. Diese Angst kann verstanden werden als

  • Angst vor dem größeren Aufwand der Auseinandersetzung mit behinderten Kindern, die ja oft nicht so klar und genau fragen können, wie andere Kinder;

  • Angst vor Vorurteilen innerhalb der sozialen Umgebung, die sich z.B. in abwertenden Äußerungen von Verwandten und Bekannten zeigen können;

  • Angst daß Sexualität unbeherrschbar werden könnte, wenn sie nicht eingeschränkt wird;

  • Angst davor, daß behinderte Personen einen "exzessiven" Trieb entwickeln oder ausleben könnten, der nicht mehr "beherrschbar" ist;

  • Angst davor, daß behinderte Personen selbst Kinder wünschen oder bekommen könnten;

  • Angst, daß ein gewecktes Bedürfnis zu sexuellem Mißbrauch führen könnte.

Die Entsexualisierung behinderter Kinder kann Symptom einer lebenslangen Abhängigkeit und zur Nichtauflösung symbiotischer Beziehungen werden. Nach unseren Informationen ist es häufig der Fall, daß die als "Kinder" behandelten erwachsenen geistig behinderten Personen im Ehebett bei den Eltern schlafen, bzw. bei der Mutter im Ehebett, wobei der Vater aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen ist.

Behinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene benötigen dringend vorgelebte Beziehung, Partnerschaft und Sexualität, und das Gespräch. Dies bezieht Eltern, Geschwister, Freunde und Bekannte usw. ein. Eltern sollten ihre Kinder darin unterstützen möglichst viele Erfahrungen in ihrer näheren Umgebung mit nicht behinderten Personen machen zu können (Spielplatz, Kindergarten, Schule usw.).Behinderte Kinder haben dadurch die Möglichkeit, vielfältige Anregungen aus Begegnungen in die Familie zurückzubringen. Somit haben Eltern alltäglich die Möglichkeit, die in die Familie hineingetragenen Erfahrungen und Fragen aufzugreifen.

Erfahrungen in Sondereinrichtungen?

Für behinderte Kinder sind oft die Informationsquellen, die Kinder sich untereinander bieten können und die Freiräume, außerhalb der Familie Erfahrungen zu sammeln, eingeschränkt. Dort, wo Kinder nicht am Ort der Familie integriert sind und den Großteil ihrer Kinderzeit in Kliniken, Heimen oder Sondereinrichtungen mit anderen behinderten Kindern zusammen verbringen und dann als Erwachsene wieder in die Familie zurückkommen, ist das besonders stark. Trotz nicht zu unterschätzenden Bemühungen von manchem Betreuungspersonal, wird in Sondereinrichtungen Sexualität meist nicht als offenes Thema behandelt und durch Verschweigen und Verdrängen repressiv gehandhabt. Es gibt einen ganz großen Nachholbedarf, daß Eltern und BetreuerInnen (besser: BegleiterInnen), TherapeutInnen, LehrerInnen usw. miteinander darüber reden, wie Sexualität und Sexualentwicklung begleitet und unterstützt werden können.

Damit verbunden ist in der Umsetzung die Frage nach dem eigenen Informationsstand und die Frage, ob das, was man/frau sich selbst zugesteht, auch eigenen Kindern, KlientInnen, PatientInnen usw. zugesteht.

Positives Körpergefühl

Die lebenslange Entwicklung von Sexualität ist bei behinderten Personen - wie bei allen - eine Frage der Erfahrungen im Rahmen der Sozialisation.

Für die Entwicklung eines positiven Körpergefühls ist es wichtig, mit Kindern im direkten Kontakt Körpererfahrungen zu machen. Behinderte Kinder müssen den ganzen Körper kennenlernen dürfen, alle Körperteile benennen, den eigenen Körper überall berühren und Hilfestellungen bekommen, wenn sie das selber nicht können. Ganz wichtig für behinderte Kinder ist es, den eigenen Körper als lustvoll zu erleben. Dies gilt unter anderem auch für Therapiemaßnahmen, wo verschiedenste Personen (KindergärtnerInnen, FrühförderInnen, LeherInnen, Eltern usw.) ja oft als Co-Therapeuten eingesetzt und angeleitet werden, Kinder auch unter Schmerzen zu therapieren. Außerdem muß berücksichtigt werden, daß behinderte Kinder oft durch notwendige medizinische Eingriffe den eigenen Körper schmerzhaft erleben müssen. Den eigenen Körper mit Behinderung sowohl lustvoll als auch schön erleben zu können, erfordert entsprechendes Verhalten der Erwachsenen. Die Frage nach lustvollem Körpererleben oder (hart erarbeiteter) therapeutischer Funktionsverbesserung darf nicht einfach für die Funktionsverbesserung entschieden werden.

Aufklärung

Alle Fragen, die den eigenen Körper und den des anderen Geschlechts betreffen, müssen wie bei allen Kindern immer beantwortet werden. Dabei ist zu beachten, daß die Fragen von behinderten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen oft sehr indirekt gestellt werden und ein Nichtaufgreifen des Themas von Behinderten als ein Warnzeichen gesehen werden muß und nicht (mit Erleichterung) unterstützt werden darf. In dem Zusammenhang gibt es zwar keinen richtigen Zeitpunkt, aber das direkte und deutliche Ansprechen ist unverzichtbar. Dazu gehören Fragen nach der Normalität von Selbstbefriedigung bis zu speziellen Fragen wie z.B. die Zeugungsfähigkeit bei "Down Syndrom" oder die Frage von vielen behinderten Frauen, ob sie Kinder bekommen können. Wichtig ist es, daß Eltern und Profis sich selbst auch bei speziellen Problemen genau informieren und keine Wissenslücken haben. Zur Aufklärung ist es oft ganz sinnvoll auch (Bild-) Material zu verwenden, wie es in allgemeinen Aufklärungsbüchern verwendet wird (sie z.B. Bundesvereinigung Lebenshilfe 1995).

Verhütung und Hygiene

Ein wichtiger Teil der Aufklärung, der direkt angesprochen werden muß, ist in der Verhütung zu sehen. Alle Verhütungsmittel müssen genau mit Vor- und Nachteilen erklärt werden und ihr Gebrauch geübt werden. Derartige Formen von Sexualhilfe sind bei uns für geistig behinderte Personen noch sehr ungewöhnlich, müssen aber dringend entwickelt werden, wobei zumindest hier es völlig klar ist, daß es einer sexualmedizinischen Unterstützung bedarf. Wenn dies aufgrund unserer Hilflosigkeit nicht durchgeführt wird, entsteht oft Zwang zur Sterilisation oder totalen und repressiven Überbehütung. Das ganze Problem auf Einrichtungen und deren Spezialisten abzuschieben, kann keine wirkliche Lösung sein.

Sterilisation

Grundsätzlich sollte eine Sterilisation überhaupt erst dann in Erwägung gezogen werden:

  • wenn die betroffene Person die Folgen versteht und zustimmt;

  • wenn alle anderen Verhütungsmittel über einen längeren Zeitraum ausprobiert wurden und sich als nicht funktionsgerecht erwiesen haben;

  • wenn überhaupt sicher feststeht, daß der Wunsch nach Geschlechtsverkehr besteht und/oder aktuell eine entsprechende Beziehung besteht.

Sterilisation aufgrund der Angst und Gefahr vor Vergewaltigung ist prinzipiell abzulehnen, da das nur Täter schützt. Schutz vor Mißbrauch kann nur ausreichende Aufklärung und die Entwicklung eines entsprechenden Selbstbewußtsein der betroffenen Personen bieten.

Die Erfahrung zeigt, daß ungewollte Sterilisation bei den betroffenen Personen (fast nur bei Frauen durchgeführt!) längerfristig schwere psychische Folgen haben kann. Manche psychiatrische Behandlung ist in diesem Zusammenhang zu sehen.

Die fehlende gesetzliche Regelung in Österreich, die Sterilisation gegen den Willen der betroffenen Personen grundsätzlich verbietet, ist ein international durchaus bemerkter Skandal.

Partnerfindung/ Partnerwechsel

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß behinderte Menschen von ihrer Umgebung in den vielfachen "Verwirrungen der Liebesgefühle" verstehend begleitet werden und nicht mit moralischen Bewertungen Partnerfindungsversuche abgewertet werden. Auch da muß Richtlinie sein, daß behinderten Personen dasselbe zusteht, was man/ frau sich selbst und anderen Personen zugesteht und zugestanden hat.

Kinderwunsch

Der Wunsch von geistig behinderten Menschen nach eigenen Kindern muß ernst genommen werden und darf nicht wie ein Tabu oder mit grundsätzlicher Ablehnung abgehandelt werden. Allerdings ist es klar, daß es sehr günstige Beziehungs- und Rahmenbedingungen braucht, damit Kinder von geistig behinderten Eltern entsprechend unterstützt aufwachsen können (vgl Pixa-Kettner 1996 a,b). In Österreich gibt es derzeit diese Rahmenbedingungen nicht. Überlegt muß in jedem Fall werden, ob der Kinderwunsch nicht auch ein Wunsch nach Anerkennung und Stärkung des Selbstwertgefühls - unabhängig von einem realen Kinderwunsch - ist.

Beispiel

An folgendem Beispiel wollen wir einige der oben angeführten Themen verdeutlichen:

Johanna kommt im Alter von 45 Jahren in eine kleine tagesstrukturierende Gruppe einer Einrichtung für geistig behinderte Personen, die von einer Psychologin und zwei Pädagoginnen begleitet wird. Bis dorthin hat sie 25 Jahre ihres Lebens in geschlossenen Abteilungen psychiatrischer Krankenhäuser verbracht und wurde aufgrund des österreichischen Unterbringungsgesetztes (1991) "befreit".

Anfangs verhält sich Johanna in der Gruppe sehr angepaßt, bedankt sich ständig für Selbstverständlichkeiten bis hin zur völligen Unterwürfigkeit. Sie traut sich überhaupt nichts zu, bittet dauernd um Hilfe bei Dingen, die sie selber kann und ist oft weinerlich. Zunächst beteiligt sie sich kaum am Alltagsgeschehen, sondern klagt vorwiegend darüber, daß sie häßlich und dumm sei. Sie erzählt immer wieder, daß ihre Schwester viel klüger und hübscher sei und deshalb nicht in die Sonderschule mußte. Körperpflege und die Pflege ihres Äußeren lehnt sie völlig ab.

Mit der Zeit lebt sie sich in die Gruppe gut ein, wird aktiver, kocht z.B. gerne und wird lebenslustiger. Johanna betont immer wieder, daß sie gerne in dieser Gruppe ist. Es scheint sich alles recht gut zu entwickeln und die BegleiterInnen haben das angenehme Gefühl Johanna das "Richtige" zu bieten.

Nachdem sie ungefähr ein Jahr in dieser Gruppe verbracht hat, wird sie "unausstehlich". Sie schimpft über alles und jeden, ist ständig unzufrieden und wegen jeder Kleinigkeit beleidigt, nimmt kein Angebot wahr, zeigt keinerlei Freude. Die BegleiterInnen versuchen alles mögliche, die Situation wird aber immer noch schlimmer und für alle Beteiligten unaushaltbar. Die Situation eskaliert als Johanna nur mehr in den höchsten Tönen schreien kann und immer aggressiver wird. Nur mehr Medikamenten können sie beruhigen. In dieser Phase erzählt sie zum ersten Mal von ihrem grenzenlosen Zorn und Schmerz darüber, daß die BegleiterInnen all das hätten, was sie sich immer gewünscht hat. Nämlich Partnerschaften und Kinder und daß sie über ihre Lebensweise frei entscheiden durften. Genau diese Wünsche würden ihr aber mit dem Angebot in der Wohngruppe nicht erfüllt ....

Nach diesem Ausbruch ist klar, daß das Lebensthema Sexualität/ Partnerschaft/ Liebe/ Kinder usw. von den BegleiterInnen und in ihrer gesamten 25-jährigen Psychiatrie-Karriere bisher aktiv verdrängt worden ist.

Gemeinsam mit Johanna wird nun die Kranken- und Aufnahmegeschichte gelesen und diskutiert. Es stellt sich heraus, daß Johanna wegen Männerbekanntschaften von ihrer Mutter gemeinsam mit dem damaligen Fürsorgesystem beim Amtsarzt als sexuell auffällig angezeigt wurde und wegen Wiederholungsgefahr in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung untergebracht und gegen ihren Willen sterilisiert wurde.

Johanna selbst erzählt, daß sie Spaß daran hatte von Männern begehrt zu werden, daß sie "gern Liebe machte", daß sie aber auch wußte, etwas Verbotenes zu tun und deshalb immer wieder von zu Hause davonlief. Gleichzeitig reflektiert sie, wie sehr sie diskriminiert und entrechtet wurde. Ihre Schwester durfte Freunde haben, heiratete, hat Kinder bekommen - sie war ja nicht so dumm und häßlich und mußte nicht die Sonderschule besuchen. Und sie leide sehr darunter, daß sie nie ein Kind bekommen könne.

Die gemeinsame Trauerarbeit, zu der, wie sich zeigte, Johanna durchaus fähig war, führte dazu, daß sie mit ihrer Lebensgeschichte als Frau endlich ernst genommen wurde. Es zeigte sich deutlich, daß sie ähnliche bis gleiche Wünsche, Bedürfnisse und Erwartungen wie die BegleiterInnen hat, allerdings mit dem gravierenden Unterschied, daß sie den BegleiterInnen gesellschaftlich selbstverständlich zugestanden werden, ihr hingegen selbstverständlich abgesprochen.

Es kommt mit Johanna zu einem intensiven Austausch über unterschiedliche persönliche Geschichten und Erfahrungen - auch der BegleiterInnen - bezüglich Partnerschaften und Sexualität.

Gleichzeitig wünscht und fordert Johanna, daß die BegleiterInnen ihr endlich auch einen Mann suchen, der mit ihr schlafen will. Mit der Zeit dreht sich fast jedes Gespräch nur mehr darum.

Mit Johanna wird geklärt, daß die BegleiterInnen dafür wirklich nicht zuständig sind, sie aber gerne unterstützen. Johann wünscht sich einen nichtbehinderten Partner, der gut verdient und sie nicht mit anderen Frauen betrügt. Sie will die Wohngruppe aber kaum verlassen, sondern lieber warten bis ihr jemand diesen Traummann bringt. Zunächst scheitern die Versuche Johanna zu motivieren, die Gruppe zu verlassen, an Aktivitäten mit anderen Menschen außerhalb teilzunehmen usw. Alle Angebote an Begegnungsmöglichkeiten meidet Johanna. Sie beginnt auch eine Psychotherapie, bricht diese aber ab, als klar wird, daß die Therapeutin keinen Mann für sie suchen wird.

Die Auseinandersetzung mit Johanna ändert sich. Die BegleiterInnen sind bereit mit ihr über jedes Thema zu sprechen, außer über die Suche nach einem Mann für sie. Als dieser Konflikt deutlich benannt wird, beginnt Johanna die Gruppe zu verlassen. Sie geht alleine einkaufen, setzt sich hin und wieder ins Kaffeehaus und spricht sogar fremde Menschen an. Ihre Frisur wird auf einmal wichtig, sie will neue Kleidung haben, ihr Auftreten verändert sich. Sie versucht männliche Begleiter für sich zu gewinnen, ist zwar enttäuscht, wenn diese nicht zu haben sind, kann aber gut damit umgehen. Sie erzählt auch immer wieder kokettierend, welche Männer ihr gefallen. Oft ist Johanna aber auch deprimiert und enttäuscht. Ihr wird immer mehr bewußt, daß es in der Realität kaum potentielle Partner für sie gibt, vor allem nicht aus dem so erwünschten Kreis der nichtbehinderten Männer. Auch für die BegleiterInnen werden diesbezüglich die Grenzen immer deutlicher und schärfer. Die BegleiterInnen können Johanna nur darin unterstützen für sich einen Weg zu finden mit dieser Realität zu leben.

Johanna hat ihren Weg dazu mittlerweile gefunden. Sie hat ihren Wunsch nach einem Mann, nach Kindern, nach Liebe ins Paradies gedacht. Es ist dabei unklar, ob damit ein paradiesischer Zustand oder das Jenseits gemeint ist. Sie ist überzeugt in ihrem nächsten Leben im Paradies all das zu haben, was sie im Moment nicht haben kann. Johanna hat sich ihr Leben im Paradies in allen Details ausgemalt und weiß, daß das auch genau so sein wird. Gleichzeitig hat sie aber auch ihre Fähigkeit zu tanzen entdeckt und besucht mittlerweile eine Tanzgruppe mit vielen Kontaktmöglichkeiten.

Der beschriebene Entwicklungs- Prozeß hat insgesamt fünf Jahre gedauert. Johanna lebt mittlerweile in einer anderen Wohngemeinschaft und es geht ihr gut.

In diesem Beispiel zeigen sich sowohl in Johannas Vorgeschichte, als auch im Umgang der Begleiterinnen die gängigsten Vorurteile gegenüber der Sexualität geistigbehinderter Menschen.

Diese Vorurteile lassen sich (nach Walter) auf drei Grundmuster reduzieren:

Leugnung und Verdrängung der Sexualität von Menschen mit geistiger Behinderung:

Menschen mit Behinderung sollten naive, unschuldige, geschlechtslose Kinder bleiben und die ungeliebte Auseinandersetzung mit Sexualität bleibt allen erspart.

Zurück zu Johannas Geschichte:

Johannas Geschichte verläuft in ihrer Kindheit ohne besondere Vorkommnisse. Als sich zeigt, daß sie eine Frau mit entsprechenden Wünschen und Bedürfnissen ist, die sich nicht mehr verdrängen lassen, wird sie psychiatrisiert.

In der begleiteten Wohngruppe passiert etwas ähnliches. Die BegleiterInnen machen Johanna alle möglichen Alltagsangbote, vermeiden es aber tunlichst sie als erwachsene Frau mit ganz anderen Wünschen und Bedürfnissen anzusprechen. Erst als Johanna soviel Sicherheit gewinnt, daß sie sich traut aggressiv zu werden bzw. über Aggression unklare Wünsche zu bedeuten, wird den BegleiterInnen bewußt, was sie versucht haben zu übersehen.

Dramatisierung und Überbetonung der Sexualität von Menschen mit geistiger Behinderung:

In diesem Muster hält sich das Vorurteil, geistigbehinderte Menschen würden ihre Triebe hemmungslos und unkontrolliert ausleben und wären nicht in der Lage Sexualität in ihre eigene Person zu integrieren.

In ihrer Vergangenheit mußte Johanna schmerzhaft erleben wie ihre Sexualität dramatisiert wurde und zu einer physischen Verstümmelung einer Zwangssterilisation führte. Wegen Männerbekanntschaften wird sie als sexuell auffällig mit Wiederholungsgefahr diagnostiziert und eingesperrt bzw. mit der Perspektive "lebenslänglich" hospitalisiert.

Die BegleiterInnen benötigten eine lange und oft dramatische Auseinandersetzung, um Johannas Sexualität nicht zum endgültigen Drama und Anlaß für einen edgültigen Rückzug von Johanna in die geistige Behinderung werden zu lassen. Zu diesem Zusammenhang hat Valerie Sinason (2000) eine bedeutende Analyse vorgelegt, die noch nicht entsprechend beachtet ist.

Fehlinterpretation nonverbaler Kommunikation von Menschen mit geistiger Behinderung:

Nichtsprachliche Äußerungen von geistig behinderten Personen werden oft über Körperausdruck und "abweichende" Verhaltensweisen symbolisiert. Körperliche Mitteilungen von Menschen mit Behinderung werden oft zu Unrecht als "unbeherrscht", "distanzlos" oder gar "triebhaft" gedeutet. Aggression wird traditionell in der Heil- und Sonderpädagogik bzw. Psychiatrie als Teil von geistiger Behinderung klassifiziert.

Dieser Punkt ist auch in Johannas Geschichte relevant, obwohl sie relativ gut sprachlich kommuniziert.

Schlussfolgerungen

"Verstehen" als grundsätzliche Dimension psychosozialen Handelns ist in der Begleitung und Therapie bei geistig behinderter Personen (vgl. Niedecken 1998) wie im gesamten Bereich der Psychosomatik und der Sexualwissenschaften entscheidend. Multidisziplinäres Denken und Handeln ist aber gerade im Bereich der Hilfe, Unterstützung, Begleitung und Therapie im Zusammenhang mit der Sexualität von geistig behinderten Personen unabdingbare Voraussetzung. Die Beobachtungen verschiedenster Professionen können zur Klärung von Problemlagen nicht nur erhellend sein, sondern können in der Unterschiedlichkeit der Perspektive meist auch mehr Aspekte ansprechen, als es in einem klar hierarchischen Zuweisungs-, Diagnose- und Behandlungsmodell möglich ist.

Literaturempfehlungen

BIDOK - Internet-Volltext-Bibliothek mit einer größeren Anzahl von Texten zum Thema "Sexualität und Behinderung" - URL: http://bidok.uibk.ac.at/library/q?subject=1;subject_id=23

Bundesvereinigung Lebenshilfe (Hg.): Sexualpädagogische Materialien für die Arbeit mit geistige Behinderten Menschen. Weinheim (Beltz Verlag) 1995

Friske, Andrea: Als Frau geistig behindert sein. Ansätze zu frauenorientiertem heilpädagogischen Handeln, München (Reinhard Verlag) 1995

Hoyler-Herrmann, Annerose; Walter, Joachim (Hg.) Sexualpädagogische Arbeitshilfe für geistigbehinderte Erwachsene. Heidelberg (Edition Schindele) (1983).

Köbsell, Swantje: Eingriffe.Zwangssterilisation geistig behinderter Frauen. München (Verlag der AG SPAK) 1987.

Lauschmann, Irene: Verhinderte Sexualität. In: Fetka-Einsiedler, Gerhard/ Förster, Gerfried (Hg.), Diskriminiert? Zur Situation der Behinderten in unserer Gesellschaft, Graz (Leykam Verlag) 1994, Seite93-102.

Niedecken, Dietmut: Namenlos. Geistig Behinderte verstehen. Neuwied (Luchterhand) 1998.

Pixa-Kettner, Ursula; Bargfrede, Stefanie; Blanken, Ingrid: Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung. - In: Joachim Walter (Hrsg.): Sexualität und geistige Behinderung, Heidelberg (Edition Schindele) 1996, 4., erw. Aufl, S. 305 - 317

Pixa-Kettner; Ursula; Bargfrede; Stefanie; Blanken, Ingrid: 'Dann waren sie sauer auf mich, daß ich das Kind haben wollte . Eine Untersuchung zur Lebenssituation geistigbehinderter Menschen mit Kindern in der BRD. Baden Baden (Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit Bd.75) 1996

Römer, Bernhard: Streicheln ist schön. Sexuelle Erziehung von geistig behinderten Menschen. Mainz (Matthias-Grünewald-Verlag) 1995.

Sinason, Valerie: Geistige Behinderung und die Grundlagen menschlichen Seins. Neuwied (Luchterhand) 2000.

Walter, Joachim; Hoyler-Herrmann, Annerose: Erwachsensein und Sexualität in der Lebenswirklichkeit geistigbehinderter Menschen. Biographische Interviews. Heidelberg (Edition Schindele) 1987.

Walter, Joachim (Hg.): Sexualität und geistige Behinderung. Heidelberg (Edition Schindele) 1992 (1996, 4., erw. Aufl.)

Walter, Joachim: Sexualität und Geistige Behinderung. Referat beim Seminar "Sexualität und geistige Behinderung" an der Lehranstalt für heilpädagogische Berufe, Götzis (Vorarlberg/ Österreich) April 1994, im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/walter-sexualitaet.html (Link aktualisiert durch bidok, am 22.08.205)

Kontaktadressen der AutorInnen:

Irene Sailer-Lauschmann, pädagogische Mitarbeiterin im Verein WIR (Ausgliederung geistig behinderter Personen aus der Psychiatrie), Privatadresse: Friedhofsweg 7, A-6063 Rum, Tel.: 0512-269728, E-mail: irene.lau@tirol.com

Volker Schönwiese, a.o.Univ.Prof. am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck, Liebeneggstr. 8, A-6020 Innsbruck, Tel.: 0512-507-4049, Fax: 0512-507-2880, e-mail: Volker.Schoenwiese@uibk.ac.at

Quelle:

Irene Sailer-Lauschmann, Volker Schönwiese: Sexualität und geistige Behinderung

Erschienen in: Sexuologie - Zeitschrift für sexualmedizinische Fortbildung und Forschung, Nr. 2/2001, Seite 94-100

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

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