Einschätzungen zur Forschung als Entwicklungsförderung im Bereich der Lebensverhältnisse behinderter Menschen

Autor:in - Volker Schönwiese
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Vortrag
Releaseinfo: Referat für das "Seminar zum Forschungsbereich behinderte Menschen in der Schweiz", organisiert durch die NFP-Projektgruppe, Schweizerische Vereinigung PRO INFIRMIS, Bern 16.11.1998
Copyright: © Volker Schönwiese 1998

Einschätzungen zur Forschung als Entwicklungsförderung im Bereich der Lebensverhältnisse behinderter Menschen

Soll Forschung irgend eine reformerische Relevanz für die Lebenssituation behinderter Menschen haben, muß zuerst einmal gefragt werden, welches Bild von Behinderung hinter dem Forschungsansatz steht. Meist wird "Behinderung" heute immer noch - jenseits aller systemtheoretischer Relativierungen (vgl. z.B. LÜPKE/VOSS 1994) - mehr einer traditionellen Heil- und Sonderpädagogik entsprechend praktisch als medizinisch-naturwissenschaftliches Faktum gesehen. Physische und /oder psychische Eigenschaften werden für sich gesehen, oder bestimmte Merkmale von behinderten Personen als personale Qualitäten im Sinne eines Ursache-Wirkung-Schemas als Auslöser für soziale Reaktionen betrachtet, die im Rahmen einer "Verganzheitlichung" behoben werden müssen (wie es KOBI 19983 verlangt und von EGGLI 1993 kritisiert wird). Auch die bekannte WHO- Definition (vgl. CLOERKES 1997, S. 5) bleibt in den drei Abfolge-Schritten: Schädigung (Impairment), Behinderung (Disability), Benachteiligung (Handicap) einem linearen Denken verhaftet. In allen genannten Fällen wird im Kern unverrückt Behinderung als ein für sich existierendes Faktum gesehen und damit eine Außensicht von Behinderung unterstützt, eine Nicht-Annäherung des Forschers an den Untersuchungsgegenstand, der zum Objekt wird. Zwischen die Forschungspartner Untersucher-Untersuchter wird als Mittel zur Distanz wie eine Mauer, oder besser wie ein Einwegspiegel, das scheinbar Objektivität erzeugende Forschungs-Instrumentarium gerückt. Es fehlt der üblichen empirischen Forschung wahrlich nicht an Methoden, Distanz herzustellen, es fehlen ihr aber die Ansätze, Nähe herzustellen und zu reflektieren. Es könnte gesagt werden, so wird die Geschichte von Behinderung, die (Lebens-) Geschichte von Behinderung, vernichtet. Der Verlust an Biographie und Historie geht einher mit Verlust an Zukunft. Anders ausgedrückt: Aus Lebensgeschichten werden Fallgeschichten, aus Menschen werden Fälle, die in verschiedenen Arten von Käfigen (Sonderschulen, Heime, Psychiatrie ...) gesperrt werden; man nimmt den Behinderten die Zeit - die sonst beim "normalen" betriebsamen Menschen so kostbar ist - sie wird in Anstalten zu unendlicher machtloser Langeweile und Melancholie, vielleicht etwas gefüllt mit dem "Supermarkt" der verschiedenen Therapien. Aber in der institutionellen Zeitlosigkeit endet die geschichtliche Existenz der Behinderten. Die vielfach vorhandene individuelle Gegenwehr von behinderten Personen wird in diesem Zusammenhang als Ausdruck von Behinderung gewertet und dementsprechend mißachtet (vgl ELBERT 1982).

Die übliche empirische Rehabilitations-Forschung bewegt sich ungebrochen in diesem System, solange sie versucht, objektive Distanz herzustellen. Ein Schritt näher zur Betroffenheit und gesellschaftlichen Reform ist es, Behinderung als sozial konstituiertes Phänomen zu begreifen, wobei behinderte Menschen als

  • auf dem Hintergrund historisch-gesellschaftlicher Wertvorstellungen und Werthierarchien

  • durch individuelle und gesellschaftliche Handlungs- und Aushandlungsprozesse stigmatisierte Personen begriffen werden.

Behinderung existiert im diesem Sinne nur im Zusammenhang individuell vermittelter sozialer und historischer Konstruktionen.

Es ist die Frage, wieweit Forschung hier

  • an der Perfektionierung der Definitionsmächte zur Durchsetzung abstrakter Heilungsvorstellungen mitarbeitet (konventionelle Forschung, Mitarbeit und Legitimierung von Aussonderung),

oder

  • sich gar zur Aufgabe macht, entsprechend utilitaristisch formulierten Glücksvorstellungen einen objektiven Lebenswert von behinderten Menschen zu bestimmen (bio-ethische Forschung), was in neuen Euthanasievorstellungen mündet,

oder

  • an den Menschenrechten orientiert, behinderten Personen unabhängig von ihren individuellen Merkmalen ein Recht auf Aufnahme in die Gesellschaft zugesteht (Integration, "inclusion", Selbstbestimmung usw.) und damit Forschung als Entwicklungsaufgabe im Dienste der Integration und Wahrung von Selbstbestimmung und Menschenrechten sieht.

Eine zu stellende Frage ist, ob bei konventionellen Untersuchungen auszuschließen ist, daß sie durch Legitimation von Aussonderung oder immanenter Beteiligung an Vorurteilsproduktionen behinderten Menschen Schaden zufügen können.

Als Beispiel für eine der erfolgreichsten rein legitimatorischen Untersuchungen in Österreich, die über ganz viele Jahre (fast Jahrzehnte) in allen politischen Sonntagsreden benutzt wurde, ist die sog. "Seifert-Studie" über die Einstellung von Arbeitnehmern und Arbeitsvorgesetzten zu Körperbehinderten und ihrer beruflich-sozialen Integration (SEIFERT/ STANGL 1981). Daß Vorurteile der Bevölkerung gegenüber Behinderten existieren, ist seit langem durch viele Untersuchungen und Alltagserfahrungen bestätigt und bekannt. Solange allerdings nicht die Bedingungen genannt werden, unter denen Vorurteile unterstützt werden oder entstehen, und damit Vorurteile als isolierte Phänomene gesehen werden, unterstützt wissenschaftliche Konstatierung von Vorurteilen deren scheinbar unauflöslichen Charakter in Zusammenhang mit Behinderung und hat bestenfalls zur Folge, daß sinnlose moralische Appelle und abstrakte Aufklärungskampagnen durchgeführt werden (wie z.B. in Österreich "Licht ins Dunkel"). Im schlechteren Fall wird solche Forschung zur reinen Legitimation herrschender Zustände der Ausschließung und unterstützt eine Verschiebung von "Schuld" auf die Bevölkerung. Die "Seifert-Studie" konstatiert neben einer großen Fülle von einzelnen Einstellungsfakten z.B. auch das Ergebnis, daß nur 35% der Befragten die Einweisung von Körperbehinderten in spezielle Behinderteneinrichtungen (Heime, Behinderten-Dörfer usw.) eindeutig abgelehnt hatten, d.h. nur 35% der Bevölkerung für Integration sind. Aus einer Anmerkung erfährt man, daß zum Untersuchungszeitpunkt im Befragungsbereich gerade ein Behinderten-Dorf (Altenhof/ Oberösterreich) gebaut wurde. Dazu muß klar gemacht werden, daß dabei - wie so oft bei der Einrichtung von Sonderanstalten - in den Medien massiv für das Behinderten-Dorf bzw. für Spenden zur Finanzierung der Einrichtung geworben wurde. Und damit zeigt sich ein Stück der Bedingungen unter denen der angeblich so eigenständige, vorurteilsbehaftete Wunsch der Bevölkerung nach Isolierung der Behinderten zustande kommt. Solange das mit dem So-Sein der Behinderten begründete Isolieren, Bewahren und Aussondern tägliche und öffentlichkeitswirksam verkaufte P r a x i s unserer Sonderinstitutionen ist - wen wundert da die entsprechende Einstellung der Bevölkerung oder macht sie ihr zum Vorwurf? Ein zweites Beispiel: In der "Seifert-Studie" wird festgestellt, daß sich 60-80% der Befragten gegen Sonderrechte von Behinderten am Arbeitsplatz (mehr Arbeitspausen, kürzere Arbeitszeit, längerer Urlaub) aussprachen. Was bedeutet denn nun diese Feststellung unter dem Aspekt, daß genau solche Forderungen von je her Teil des Kampfes der ArbeitnehmerInnenvertretungen waren? Heißt dies nicht u.U. auch, daß Arbeitskollegen nicht gegen die Forderungen an sich sind, sondern lieber auf gemeinsame Rechte pochen wollen? Dies müßte in einem Ansatz, der die Rahmenbedingungen von Arbeit und damit die allgemeinen ökonomischen Bedingungen einbezieht, diskutiert werden. Dies macht die "Seifert-Studie" jedoch keineswegs, übrig bleibt immer wieder die bloße Konstatierung von isolierten Vorurteilen. Dies auch hier im Namen des empirischen Methodenkanons, der verlangt, von Einzelfakten zu komplexen Zusammenhängen fortzuschreiten - nur daß der Methodenkanon so angelegt ist, daß eine ganzheitliche Sicht eigentlich nicht erreicht werden kann. Der als offen angelegte empirische Methodenkanon erweist sich als einschränkend und selektiv und wird leicht im Zusammenhang "selbsterfüllender Prophezeiungen" praktisch wirksam.

Ähnlich sind wohl die zum Teil sehr aufwendig durchgeführten empirischen Vergleichsstudien zu bewerten, die schulische Integration durch Vergleich von Integrationsklassen und Regelschulklassen nach Leistung und sozialer Akzeptanz evaluieren wollen (z.B. HÄBERLIN 1991). Hier sollen empirische Argumente für und gegen Integration gefunden werden, die aber in einem derartigen Vergleich nicht seriös findbar sind. Integration hängt nämlich vorrangig von einer politischen Entscheidung ab, Wissenschaft kann nie entscheiden, OB Integration sinnvoll ist, sondern immer nur WIE.

Ein ähnlich typisches Beispiel, wie Integration nicht erforscht werden sollte, stammt von Hans WOCKEN u.a. (nach einem Bericht und Kritik bei der Tagung der IntegrationsforscherInnen, Mainz 1997, vgl. HINZ u.a. 1998), der die Integration von lernbehinderten Kindern in "sozialen Brennpunkten" erforscht hat. Er ermittelte gegenüber HÄBERLIN zum Teil gegenteilig Ergebnisse, nämlich daß die Integration von lernbehinderten Kindern in sozial problematisch strukturierten Stadtteilen - in "sozialen Brennpunkten" - zu schlechteren Leistungen, aber zu einem besseren sozialen Klima als in Vergleichsgruppen führt. Gegen diese höchst umfangreiche und in jeder Hinsicht empirisch aufwendig gestaltete Studie gibt es allerdings viele Einwände: Bei den durchschnittlich "negativen" Leistungswerten bei Integrationsklassen in sozialen Brennpunkten ist im Gegensatz zu den Vergleichs-Klassen mit "positiven" Leistungswerten die Streuung extrem hoch. Also, es gibt Klassen in den sozialen Brennpunkten, die sehr wohl überdurchschnittliche Leistung zeigen, aber auch andere, die total versagt haben. WOCKEN u.a. haben verabsäumt zu klären, unter welchen Bedingungen positive und negative Werte herauskommen, also WIE Integration machbar ist. Allein eine solche Studie könnte brauchbare Ergebnisse bringen. Alles andere ist eine praktisch irrelevante Bezugnahme auf ihren Inhalt kaum nachvollziehbare und unzulässig verallgemeinernde Mittelwerte. Die ganze Studie ist eine typische "black-box"-Studie. Sie beinhaltet keine Klassenbesuche, keine klärenden Interviews mit LehrerInnen, DirektorInnen, SchülerInnen, Eltern usw., beruht also auf einer extremen Trennung zwischen WissenschaftlerInnen und untersuchten Personen. Es gibt damit aus der Untersuchung selbst kaum Anhaltspunkte, wie die Daten zu interpretieren sind. Eine unabhängige Kontrollgruppe, die auch noch eingeführt wurde, hat keine behinderten Kinder (die sind in die Sonderschule abgeschoben worden)- also ist es ja klar, daß die untersuchten Klassen mit lernbehinderten Kindern schlechter sein müssen. Vieles wäre ohne Untersuchung leicht vorhersagbar gewesen, was als Ergebnis präsentiert wird, ist mehr als fraglich in seinem Aussagewert. Soweit eine Zusammenfassung von Kritik, die auf der Tagung der IntegrationsforscherInnen des deutschsprachigem Raumes in Mainz 1997 geübt wurde.

Eindeutig besser als Vergleichsstudien der genannten Art sind Forschungsvorhaben, die zu zeigen versuchen, WIE Reformvorhaben gestaltet werden können, damit sie ihrem Ziel gerecht werden können. Ein gutes Beispiel für diesen Typ Forschung ist z.B. die Schulbegleitforschung zur schulischen Integration in Österreich des Schulversuchzentrums in Graz (SPECHT 1993, a). Hier wurden mit verschiedensten Methoden Lehrpersonen, die in Intergationsklassen arbeiteten, nach ihren Erfahrungen befragt und für die integrative Arbeit fördernde oder hemmende Faktoren herausgearbeitet. Wichtige Ergebnisse dieser Studie waren z.B., daß entgegen ersten Befürchtungen, geistig behinderte Kinder im integrativen Unterricht kein besonderes Problem darstellen. Wichtiges Ergebnis war z.B. auch, daß die von vielen Politikern befürwortete Teilintegration durch zeitweisen gemeinsamen Unterricht in sog. Kooperationsklassen, die schlechtesten Ergebnisse in der Integration auswiesen (SPECHT 1993 b).

Dazu folgendes Zitat:

"Kooperative Klasse"

Die globalen Ergebnisse zur kooperativen Klasse zeigen, daß die im Rahmen dieses

Versuchsmodells unterrichtenden LeherInnen

-- die Fördermöglichkeiten für die behinderten Kinder in ihrem eigenen Modell am kritischsten beurteilen, und

-- am häufigsten über Schwierigkeiten berichten, in ihren Klassen ein befriedigendes und motivierendes Lern- und Interaktionsklima herzustellen.

Über die Ursachen dieser Problematik macht eine ganze Reihe von LehrerInnen weitgehend gleichlautende Aussagen:

-- In den Kooperationsphasen kommt es häufig zu unzumutbaren Klassengrößen;

-- die räumliche und personelle Fluktuation und Instabilität sei insbesondere für jüngere Kinder erzieherisch eher schädlich;

-- die soziale Stigmatisierung als SonderschülerIn werde durch die nur partielle Integration in "nichtleistungsbezogene Gegenstände" eher verstärkt als abgeschwächt.

Die Konsequenzen aus diesen für viele LehrerInnen eher frustrierenden Erfahrungen ist oft, daß sich die Lehrkräfte entweder eine volle integrative Erziehung wünschen, oder aber sich ganz vom gedanken der integrativen Erziehung abwenden.

Da es anscheinen nur wenige Standorte gibt, in denen sich aus dem Modell der Kooperativen Klasse ein für alle Beteiligten befriedigendes Miteinander-leben-und-Lernen entwickelt hat, sind erfolgreiche Weiterentwicklungen im Rahmen dieser Variante eher pessimistisch einzuschätzen".

Die Ergebnisse dieser Studie wurden bei der gesetzlichen Umsetzung der schulischen Integration in Österreich zwar kaum berücksichtigt, haben aber sehr gut aufgezeigt, WIE Bedingungen für erfolgreiche Integration gestaltet werden können.

Als Beispiel für eine Untersuchung mit ähnlicher Funktion aber auf einem anderen Inhaltsgebiet, kann die Studie von BADELT zur Evaluation der Auswirkung des österreichischen Pflegegeldgesetzes genannt werden. Diese Untersuchung konnte zeigen, daß die Befürchtung des inadäquaten Einsatzes bzw. Mißbrauchs des Pflegegeldes, das pauschalliert den betroffenen Personen überwiesen wird, keine Berechtigung hat. Die an der Autonomie der betroffenen Personen orientierten Transferleistungen konnten als sinnvolle sozialpolitische Maßnahmen unterstützt werden.

Ich plädiere dafür, engagierte auf Reformen zielende Forschungsvorhaben im Bereich der Lebenssituation von behinderten Menschen vor konventioneller Sozialforschung zu bevorzugen. Es ist dabei ein Methodenpluralismus zu akzeptieren, der die traditionelle Auseinandersetzung zwischen quantitativen und qualitativen Methoden aufhebt. Die vielfältigen qualitativen Elemente in der derzeit immer noch bevorzugten quantitativ orientierten Forschungspraxis, bei Entstehung, Durchführung und Verwertung von Forschung, dürfen nicht geleugnet werden - Forschung lebt von Interpretation in allen Forschungsstadien. Dies zwingt zur gleichberechtigten Auseinandersetzung mit quantitativer und qualitativer Methodik. Es soll dabei nicht für einen Rückfall in einfache Hermeneutik plädiert werden. An dieser Stelle kann nur als Anhaltspunkt für mögliche Wege der Hinweis auf einige sozialwissenschaftliche Theorietraditionen erfolgen, deren Methodik vielleicht neue (bzw. sowieso schon alte) Anhaltspunkte liefern könnten: Psychoanalyse, Interaktionismus, historische Anthropologie, Systemtheorie, Konstruktivismus - Theorieansätze mit der Entwicklung von Methoden (-elementen), die imstande sind, biographisch/ ontogenetische aber auch historische und systemische Rekonstruktionen zum Verständnis des zu untersuchenden Gegenstandes zu fördern. Quantifizierende Forschung hat in diesem Sinne innerhalb von Erkenntnisprozessen erst relativ spät berechtigte Funktion und kann sich nur auf vorher schon extensiv qualitativ interpretierte und abgeklärte Inhalte beziehen. Oder sie sollte sich auf klar überprüfbare Datenerhebungen beschränken - und aufhören standardisierte Einschätzungs-Fragen in einer Art zu stellen, die total reduktiv ("sind Sie zufrieden ...") oder indirekt und damit entmündigend ("man sagt...") sind. Fraglos wichtig ist die quantitative Analyse im Rahmen von Sozialforschung bei relativ klar erfassbaren sozialen Gegebenheiten, wie z.B. Höhe des Einkommens, verfügbare Wohnfläche, Schulbildung, Verhältnisse der Geschlechter usw. (BERGER 1974).

ForscherInnen müssen also die Trennung zwischen ForscherInnen und Erforschten aufheben und beginnen, ihre Angst vor der Nähe zu reflektieren (DEVEREAUX 1976), sowie das in der helfenden oder therapeutischen Begleitung von behinderten Menschen unabdingbarer Standard werden muß (vgl. NIEDECKEN 1998 und HÄHNER u.a. 1997). Unter solchen Bedingungen sich dann solche Beschreibungen aus dem psychosozialem Handlungfeld durch teilnehmende Beobachtung möglich, wie sie uns Erving GOFFMAN (1973) in seiner Analyse von "Asylen" so klassisch vorgezeigt hat.

Die direkte Beteiligung von Betroffenen an Forschung erscheint als das nächst logische und sicher schwierigste Kapitel innerhalb der jetzigen sehr stark institutionalisierten Forschungspraxis, ist aber als eine der wichtigsten Ansprüche für die Zukunft zu stellen. Diese Beteiligung erfordert zuerst einmal eine durchschaubare Forschungssituation, dann eine verständliche Formulierung von Forschungsinhalten und Forschungsergebnissen, und zuletzt als entscheidendes Kriterium die Information und Diskussion von Forschungsergebnissen zusammen mit den Betroffenen zu bestimmten Forschungszeitpunkten, zumindest aber im Endstadium des Forschungsvorhabens.

Ich habe unlängst erfahren, daß an Universitäten in den USA in vielen Projekten Behinderte direkt als "participant conceptualicers" zur Projektentwicklung miteinbezogen werden. Eine Universität hat geistig behinderte Personen angestellt, die als Experten zur Kontrolle und Begleitung von Projekten für geistig behinderte Personen mitarbeiten. Durch die Einbeziehung von geistig Behinderten ist es dann z.B. klar, daß alle Projektteile so gestaltet sein müssen, daß sie für geistig Behinderte verständlich sind.

Die Intensität der Beteiligung ist bei einem solchen Konzept variabel und führt konsequenterweise zu den seit vielen Jahren diskutierten Formen der Handlungs- oder Aktionsforschung. Sie stellt jedoch praktisch höchste Ansprüche, soweit ihre Forderungen forschungsstrategisch wirklich ernst genommen werden. Mit einer neuen Etikettierung der jetzt schon üblichen Praxisforschung in gesellschaftlich isolierten Bereichen (die ja für die jetzige Rehabilitation typisch ist) als Aktionsforschung, ist es nicht getan. Anders ausgedrückt: Aktionsforschung kann nicht innerhalb der Regeln von kontrollierten Institutionen (totalen Institutionen) bleiben, sowenig sie unter kontrollierten Laborbedingungen möglich ist. Das Beteiligungsprinzip geht ja hier nicht nur in die Richtung, daß die erforschten Personen direkt einbezogen werden, sondern auch der Forscher muß sich an der Welt der Erforschten beteiligen und damit auch sich selbst als Subjekt mit seiner eigenen Geschichte miteinbeziehen. Das führt in der Tendenz zur Auflösung der institutionalisierten Forscherrolle und noch nicht völlig geklärten methodischen Konsequenzen. Aber eines erscheint sicher: Die Erfolge der Aktionsforschung werden sich in Zukunft weniger an der Präsentation geschliffen formulierter Forschungsergebnisse messen, sondern an der praktischen Emanzipation der am Forschungsprozess Beteiligten. Dadurch wird solche Forschung u.U. viel an herkömmlicher Forschungslegitimation verlieren, aber an Authentizität und Wirksamkeit gewinnen.

Eine Entwicklung in diesem Sinne zeichnet sich in den letzten Jahren z.B. in der Schul-Aktionsforschung im Sinne von "LehrerInnen erforschen ihren Unterricht" ab (ALTRICHTER/ POSCH 1990, EBERWEIN/ MAND 1995) und ein hervorragendes Beispiel dafür ist die Unterrichtsanalyse von BEWS (1996).

Behinderte Personen selbst bekommen aber weiterhin noch kaum eine aktive Rolle in der Forschung zur Lebenssituation von Behinderten Personen, wenn auch die Selbstvertretung beginnt ein Thema zu werden (MÜRNER/ SCHRIBER 1993). Eine Studie, die den Weg in die Zukunft zeigen kann und in der u.a. behinderte Frauen behinderte Frauen zu dem äußert wichtigen Thema der sexuellen Gewalt befragten, ist die Studie von ZEMP/ PIRCHER (1996), die im Auftrag des österreichischen Bundesministeriums für Frauenangelegenheiten erstellt wurde.

Forschung im Behindertenbereich wird sich also in Zukunft daran messen lassen, wieweit darin den direkt Betroffenen das Wort gegeben wird.

Literatur:

ALTRICHTER, Herbert / POSCH, Peter: Lehrer erforschen ihren Unterricht: eine Einführung in die Methoden der Aktionsforschung. Bad Heilbrunn (Klinkhardt) 1990

BADELT, Christoph/ HOLZMANN, Andrea/ MATUL, Christian/ ÖSTERLE, August: Kosten der Pflegesicherung. Strukturen und Entwicklungstrends der Altenbetreuung

Wien (Böhlau) 1996

BERGER, Hartwig: Untersuchungsmethode und soziale Wirklichkeit. Eine Kritik an Interview und Einstellungsmessung in der Sozialforschung. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1974

CLOERKES, Günther: Soziologie der Behinderten - Eine Einführung. Mit Beitr. v. Markowetz, Reinhard, Edition Schindele, 1997

EBERWEIN, Hans/ MAND, Johannes (Hrsg.): Forschen für die Schulpraxis. Was Lehrer über Erkenntnisse qualitativer Sozialforschung wissen sollten. Deutscher Studien Verlag 1995

DEVEREAUX, Georges: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften Frankfurt a.M. (Ullstein) 1976

EGGLI, Christoph: Sonderpädagogik: Die professionelle Sinnstifterin. In: MÜRNER/ SCHRIBER 1993, Seite 131-136

ELBERT, Johannes: Geistige Behinderung - Formierungsprozesse und Akte der Gegenwehr. In: Ulrich Kasztantowicz: Wege aus der Isolation - Konzepte und Analysen der Integration Behinderter in Dänemark, Norwegen, Italien und Frankreich. Heidelberg (Schindele Verlag) 1982. Im Internet zu finden unter BIDOK "http://bidok.uibk.ac.at/"

GOFFMAN, Erving: Asyle.Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt (Suhrkamp) 1973

HAEBERLIN, Urs; BLESS, Gérard; MOSER, Urs; KLAGSHOFER, Richard: .Die Integration von Lernbehinderten - Versuche, Theorien, Forschungen, Enttäuschungen, Hoffnungen. Haupt Verlag. 1991

HÄHNER, Uli/ NIEHOFF, Rudi/ SACK, Helmut Walther: Vom Betreuer zum Begleiter. Verlag der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung, Marburg a.d. Lahn, 1997

HINZ, A. /KATZENBACH, D./ RAUER, W. / SCHUCK, K.D. / WOCKEN, H. / WUDTKE, H.: Die Integrative Grundschule im sozialen Brennpunkt. Ergebnisse eines Hamburger Schulversuchs. (Lebenswelten und Behinderung, Band 8) Hamburg (Hamburger Buchwerkstatt) 1998

KOBI, Emil E.: Grundfragen der Heilpädagogik. Bern/Stuttgart (Haupt) 1983

LÜPKE, Hans von/VOSS, Reinhard (Hg.): Entwicklung im Netzwerk. Systemisches Denken und professionsübergreifendes Handeln in der Entwicklungsförderung, Centaurus Verlag, 1994

MÜRNER, Christian, SCHRIBER, Susanne: Selbstkritik der Sonderpädagogik? Stellvertretung und Selbstbestimmung. Luzern (Edition SZH/SPC) 1993

NIEDECKEN, Dietmut: Namenlos. Geistig Behinderte verstehen, München (Piper) 1989, überarbeitete Nauauflage 1998 bei Luchterhand

SEIFERT, Karl Heinz/ STANGL, Werner: Einstellungen zu Körperbehinderten und ihrer beruflich-sozialen Integration. Bern (Verlag Hans Huber) 1981

SPECHT, Werner: Evaluation der Schulversuche zum gemeinsamen Unterricht behinderter und nichtbehinderter Kinder. Ergebnisse einer bundesweiten Befragung von Lehrerinnen und Lehrern im Schulversuch, Graz (Bundesministerium für Unterricht und Kunst) 1993a

SPECHT, Werner: Evaluation der Schulversuche durch das Zentrum für Schulentwicklung, Abt.II des BMUK. In: Behindertenintegration, Schulheft 70/1993 b, Seite 169 ff

ZEMP, Aiha/ PIRCHER, Erika: Weil das alles weh tut mit Gewalt. Sexuelle Ausbeutung von Mädchen und Frauen mit Behinderung. Wien (Veröffentlichung des Bundeskanzleramts Abt. 1/10) 1996

Quelle:

Volker Schönwiese: Einschätzungen zur Forschung als Entwicklungsförderung im Bereich der Lebensverhältnisse behinderter Menschen

Referat für das "Seminar zum Forschungsbereich behinderte Menschen in der Schweiz", organisiert durch die NFP-Projektgruppe, Schweizerische Vereinigung PRO INFIRMIS,

Bern 16.11.1998

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 06.02.2006

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