Neue Bilder in die Köpfe bringen

Autor:in - Jutta Schöler
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: erschienen in: Zusammen: Heft 1 /Januar 1995 Sonderdruck
Copyright: © Jutta Schöler 1995

Einleitung

Die Integration von Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft muß in den Köpfen der Menschen beginnen. Nur das öffentliche Zusammenleben von behinderten und nicht behinderten Menschen entspricht der wahren sozialen Realität. Wer es sich nicht vorstellen kann, weicht dieser Realität aus - zum Schaden seines Kindes. Welche Bilder vom Zusammenleben behinderter und nicht behinderter Menschen können wir entwickeln?

Die heutige Generation der Erwachsenen hat keine konkreten Bilder in den Köpfen über einen normalen Umgang mit behinderten Menschen. Viele Eltern, Schulverwaltungsbeamte oder Schulpolitiker können sich das einfach nicht vorstellen: "Wie ist das überhaupt möglich, daß ...?" Was kann getan werden, um viele konkrete Bilder in die Köpfe der Menschen zu bringen? Konkrete Vorstellungen fehlen darüber, daß allein das Zusammenleben von behinderten und nicht behinderten Menschen Normalität ist.

Kinder brauchen Hoffnung

Es gibt nur sehr wenige Bilder in den Köpfen der Menschen, welche Zukunft möglich wäre, wenn eine Mutter oder ein Vater mit der Diagnose konfrontiert wird: "Ihr Kind ist behindert!" Vorstellungen über die Zukunft macht sich jeder Mensch. Keine Zukunftsvorstellungen zu haben, bedeutet Stillstand. Wenn das Kind mit der Behinderung nicht mehr als Kind mit einer Zukunft in dieser Gesellschaft gesehen werden kann, sondern nur noch als "Das Problem", dann werden diesem Kind Entwicklungschancen genommen, die keine spezielle Therapie ersetzen kann.

Wenn die Mutter oder der Vater selbst davon überzeugt sind, ein Kind mit einem DownSyndrom werde niemals ein gemeinsames Leben mit den nicht behinderten Kindern und den Heranwachsenden leben können, wenn für dieses Kind sogar Lesen- und Schreibenlernenkönnen als unmöglich angesehen werden, dann hat diese Erwartungshaltung der Eltern bis zum Beginn der Schulzeit die tatsächlichen Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes schon entscheidend bestimmt. Wenn andererseits Eltern, welche mit derselben Diagnose konfrontiert werden, eine Familie kennen, deren zwanzigjährige Tochter mit DownSyndrom ausschließlich mit nicht behinderten Kindern gelernt hat, angefangen vom gemeinsamen Kindergartenbesuch, über eine gemeinsame Grundschul- und Gesamtschulzeit bis hin zu einer beruflichen Eingliederung, dann wird dies den Eltern des zwanzig Jahre jüngeren Kindes eine konkrete Vorstellung von einer annähernd normalen Zukunft geben.

Die Behinderung und die Entwicklung des Kindes können dann verglichen werden mit den Hoffnungen, die uns für eine konkrete Zukunft vorstellbar erscheinen. Die einzige Zukunft für dieses Kind ist dann nicht mehr die Versorgung in einem Behindertenheim, sondern die ganze Familie kann einbezogen werden in neue Überlegungen und Planungen, welche Anforderungen im normalen Lebensbereich dieser konkreten Familie auch ein Kind und später ein Erwachsener mit dieser bestimmten Behinderung wird bewältigen können.

Ein gemeinsamer Ausflug mit behinderten Kindern auf dem Rummelplatz. Der von den Betreuern allein nicht zu bewältigen ist, bringt einen größeren Gewinn, als die Einzahlung von Bargeld auf das Konto der Einrichtung.

Begegnungen sind notwendig

Viel zu selten gibt es Gelegenheiten für alltägliche Begegnungen zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen. Wie selten erleben wir es, daß Menschen im Restaurant sind, die sich füttern lassen. Zahlreiche Menschen könnten (fast) selbständig einkaufen, wenn es selbstverständlicher wäre, andere Kunden zu bitten, die Informationen auf den Verpackungen oder die Preise vorzulesen. Unterstützung bei der Benutzung in öffentlichen Verkehrsmitteln oder am Arbeitsplatz ist nicht üblich. Daß Menschen mit ihren vorhandenen Fähigkeiten und Interessen auch dann in der Öffentlichkeit leben, wenn sie von den engen Vorstellungen über "Normalität" abweichen, ist die Ursache dafür, daß Nichtbehinderte unsicher und ängstlich sind: Wie sollen sie den Menschen mit einer Behinderung begegnen? Wann sollen sie Hilfestellung anbieten? Sind sie mit ungefragten Hilfeleistungen aufdringlich? Wer auf seinen zwei Beinen gesund durch die Welt läuft, traut sich oft nicht, einer Rollstuhlfahrerin in die Augen zu sehen. Wie soll er ihr ausweichen, wenn sie ihn um Begleitung und Unterstützung bitten würde? Aus Angst davor, eventuell eine körperliche Anstrengung auf sich nehmen zu müssen oder sich selbst begründet und klar gegenüber einer Forderung abgrenzen zu müssen, der man sich gleichzeitig aus moralischen Gründen nicht glaubt entziehen zu können, findet bereits der Blickkontakt nicht statt. Die Isolation ist perfekt!

Bei größerer Selbstverständlichkeit derartiger Begegnungen, in denen Menschen um Unterstützung, Hilfestellung, den Ausgleich von Defiziten bitten, könnte auch eindeutiger die Abgrenzung erfolgen. Beides muß in einem langen Sozialisationsprozeß gelernt werden: Die angemessene Frage nach Hilfe und die angemessene Form, diese Hilfe zu gewähren oder sich auch persönlich abzugrenzen, eventuell Hinweise zu geben für andere Formen der Problemlösung.

Auch Schulstrukturen müssen sich ändern, wenn sich behinderte Menschen in Regelschulen angenommen und wohlfühlen sollen

Das Miteinander muß gelernt werden

Für den selbstverständlichen Umgang zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen gibt es letztlich nur die eine Möglichkeit des Lernens, nämlich der alltägliche Lernprozeß in der Kindheit und Jugend. Keine Sondereinrichtung und keine sonderpädagogische Therapie kann den behinderten Kindern die nicht behinderten Spielpartner ersetzen. In keiner Regelschule, die behinderte Kinder aussondert, haben die nicht behinderten Heranwachsenden die Gelegenheit, das Zusammenleben mit Menschen zu erlernen, die eine Unterstützung oder auch nur eine besonderes Verständnis benötigen oder Toleranz gegenüber den Abweichungen von den üblichen ästhetischen Normvorstellungen.

In unserer Gesellschaft Verantwortung zu tragen für (schul-)politische Entscheidungen bedeutet auch, sich darüber Rechenschaft abzulegen, inwieweit die vorgegebenen Schulstrukturen zu dem erschreckenden Verhalten mancher Jugendlicher gegenüber Menschen mit Behinderungen beitragen. Wo wird diesen Jugendlichen die Gelegenheit gegeben, Toleranz und Hilfsbereitschaft zu praktizieren? Erleben es nicht viele dieser Jugendlichen selbst, daß sie mit Aussonderungen bedroht werden oder bereits von ihr betroffen sind, wenn sie den Vorstellungen und den Leistungsnormen, die die Mehrheit in der Gesellschaft setzt, nicht gewachsen sind?

Jeder kann etwas tun

Jeder von uns kann versuchen, mit dazu beizutragen, diese - wie oben beschriebene - gesellschaftliche Realität im Kleinen zu verändern. z. B.:

- Wenn der Vater oder die Großmutter aufgrund einer Erkrankung nicht mehr allein essen kann, wir aber wissen, daß er oder sie früher gern in einem Restaurant essen ging, warum isoliert sich dann die ganze Verwandtschaft und feiert die Geburtstage nur noch zu Hause oder im Hinterzimmer eines Restaurants? Warum verabredet sich diese Familie nicht - wie zuvor üblich - weiterhin in aller Öffentlichkeit, und einer der Familienangehörigen übernimmt es, den Vater oder die Großmutter zu füttern?

- Wenn es am eigenen Wohnort noch üblich ist, daß Kinder mit Behinderungen in gesonderten Einrichtungen betreut werden, weshalb kaufen sich dann immer noch so viele Menschen von ihrem schlechten Gewissen frei und schicken Geschenke in die Einrichtung? Ein gemeinsamer Ausflug, den die Betreuer allein nicht bewältigen könnten, z. B. auf einen Rummelplatz, kann auch ein Beitrag zum Abbau von Vorurteilen sein, oder dauerhafte und regelmäßige Begegnungen zwischen einer Gruppe behinderter und einer Gruppe nicht behinderter Kinder finanziell und vor allem durch die eigene Beteiligung zu unterstützen.

- Bei einer Tagung in Italien habe ich im Frühjahr 1994 erlebt, wie mit aller Selbstverständlichkeit eine Gruppe junger Erwachsener mit und ohne Behinderungen einen Foto-Service übernommen hat. Junge Erwachsene mit Down-Syndrom bewegten sich sehr sicher zwischen den Tagungsteilnehmern, machten Schnappschüsse und Gruppenaufnahmen. Die Fotos wurden von einem professionellen Fotolabor entwickelt und vergrößert, am zweiten Tag der Veranstaltung auf großen Schautafeln ausgestellt und von den behinderten Jugendlichen verkauft. Ähnlich waren Erwachsene mit Behinderungen in den Verpflegungs-Service einbezogen.

Menschen mit derselben Behinderung sind untereinander in dem Maße verschieden, wie es nicht behinderte Menschen sind.

Die Medien prägen Normen

Ein sehr großer Teil unserer Vorstellungen von Normalität wird durch die Massenmedien geprägt. Viel zu selten treten in Spielfilmen oder Fernsehserien Menschen mit Behinderungen auf. Seit Mitte der 80er Jahre gelangten einige Spielfilme - vor allem aus US-amerikanischer Produktion - auch in unsere Kinos, in deren Mittelpunkt Menschen mit Behinderungen stehen. Diese Filme sind allerdings noch so selten, daß eine neue Gefahr entsteht: Mit der Typisierung einer Behinderung in einem Film kann das Bild in den Köpfen der Mehrheit der "Normalen" auf diese Figur reduziert werden. Beispiele für diese verkürzte Wahrnehmung sind die Darstellung des Autisten im Film "Rainman" oder der Spastikerin in dem Film "Gaby - eine wahre Geschichte" oder einer gehörlosen Frau in dem Film "Gottes vergessene Kinder". Am Beispiel der amerikanischen Fernseh-Familienserie "Alles o. k. Corky" wurde einer breiteren Öffentlichkeit ein Bild über einen jungen Mann mit Down-Syndrom vermittelt. Gleichzeitig konnte an der Diskussion über diesen Film in Deutschland auch bewußt werden: die Tatsache, daß Menschen mit dieser Behinderung so selten als Akteure im (Medien-)Alltag erscheinen, führte auch zu unzulässigen Verallgemeinerungen. Eltern von Kindern mit Down- Syndrom sagten mir, sie fühlten sich durch die Darstellung der Figur des Corky auch unter einen gewissen Druck gesetzt. Die Menschen in ihrer Umgebung würden jetzt erwarten, daß ihr eigenes Kind auch "so normal" würde wie Corky.

Erst dann, wenn es selbstverständlich ist, daß Menschen, "die anders sind", sowohl in Haupt- wie in Nebenrollen in Kinofilmen und Fernsehserien konkrete Bilder vermitteln, kann die Tatsache einer größeren Zahl von Menschen bewußt werden: Die Menschen mit derselben Behinderung sind untereinander im selben Maße unterschiedliche Persönlichkeiten, wie dies bei Menschen ohne Behinderungen auch üblich ist.

Behinderung ist Ausgeschlossensein

Die unzulässigen Verallgemeinerungen, daß Menschen mit einer Behinderung auf ihr Defizit beschränkt werden, sind ebenfalls eine Folge der Tatsache, daß es zu wenige alltägliche Erfahrungen gibt, z. B. eine Petra, eine Gaby, einen Thomas, einen Dirk und aus dem Fernsehen einen Herrn Schäuble zu kennen, die zwar alle auf den Rollstuhl angewiesen sind, die aber untereinander kaum Gemeinsamkeiten haben.

Wenn es selbstverständlicher wäre, daß auch Menschen mit einer Behinderung in den Medien und in der realen Öffentlichkeit die Bilder von Normalität prägen, dann könnte auch deutlich werden, daß der verallgemeinernde Begriff "Behinderung" letztlich zur Diskriminierung beiträgt.

Es gibt Kinder, die benötigen eine besondere pädagogische Unterstützung, um Lernschwierigkeiten zu überwinden, wir müssen sie deshalb nicht zu "Lernbehinderten" erklären.

Es gibt Menschen, die bauliche Bedingungen in ihrem Wohn- und Arbeitsumfeld benötigen, welche zur Zeit noch zumeist die Ausnahme darstellen. Es gibt Menschen, die nur erheblich langsamer oder in einem eingeschränkten Tätigkeitsfeld arbeiten können, dies aber gern in der Gemeinschaft mit anderen Menschen täten. Der Begriff "Behinderung" verallgemeinert unzulässig und diskriminiert. Über die gesetzlichen Regelungen des Bundessozialhilfegesetzes erhalten einige der so Gekennzeichneten zwar einen finanziellen Ausgleich. Aber: An die Stelle dieser - häufig auch nur widerstrebend - wie Almosen vergebenen Ausgleichszahlungen sollten Bestimmungen treten, die den Staat verpflichten, die Mehrkosten zu übernehmen, die dadurch entstehen, daß ein Mensch trotz einem Defizit am normalen gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann:

Behindert ist letztlich nur derjenige, der wegen seines Defizites aus seiner sozialen Umgebung ausgeschlossen wird: aus dem Kindergarten oder der Schule, welche die Nachbarskinder besuchen, aus dem Restaurant oder dem Einkaufszentrum, ausgeschlossen aus normalen Arbeitsplätzen oder aus öffentlichen Verkehrsmitteln.

Anzustreben ist eine gesellschaftliche Situation, in der es alltäglich und selbstverständlich ist, Menschen mit all ihren Verschiedenheiten zu begegnen und sie in ihrem Anders-Sein zu akzeptieren.

Erst wenn eine größere Zahl von Menschen dies verstanden hat, wird es keine Ausgrenzung behinderter Menschen mehr geben.

Anmerkung der Herausgeber der Zeitschrift:

Jutta Schöler ist Professorin am Fachbereich Erziehungs- und Unterrichtswissenschaften der Technischen Universität Berlin. Sie ist Autorin des Buches "Integrative Schule - Integrativer Unterricht, Ratgeber für Eltern und Lehrer" das wir in "zusammen:" Heft 3/94, S. 10 kurz vorgestellt haben.

Quelle:

Jutta Schöler: Neue Bilder in die Köpfe bringen

Erschienen in: Zusammen: Heft 1/Januar 1995

Friedrich Verlag, 1995

Sonderdruck anläßlich des 10. Bundeselterntreffens der Bundesarbeitsgemeinschaft GEMEINSAM LEBEN-GEMEINSAM LERNEN Eltern gegen Aussonderung am 29./30. April 1995 in München

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 03.05.2005

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation