Behindert - Sexuell - Selbstbestimmt

Wie das Unmögliche langsam sogar bei uns möglich wird

Autor:in - Dieter Schmutzer
Themenbereiche: Sexualität
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Stimme. Zeitschrift der Initiative Minderheiten. Nr. 80, Herbst 2011. Thema: Nichts über uns - ohne uns! Selbstbestimmt Leben mit Behinderung, S. 10-11. Online verfügbar unter: http://minderheiten.at/images/stimme_cover/stimme_80_ganz.pdf
Copyright: © Stimme 2011

BEHINDERT - SEXUELL - SELBSTBESTIMMT

Etwas später dann, in der Zeit meiner Ausbildung zum Sexualberater, traf ich künftige KollegInnen, die ebenfalls Interesse am Thema hatten. Eine Arbeitsgruppe (was sonst) wurde gegründet - die aber nicht von allzu langem Bestand war. Sie zerbrach an ein paar ganz grundsätzlichen Fragen. Zum Beispiel, ob Sex, nämlich einfach Sex, für Menschen mit Behinderungen zumutbar sei (ohne philosophischen Hintergrund und ohne langsames Herantasten an sinnliche Wahrnehmungen ganz allgemein); oder ob das Modell der niederländischen "Sex Helper" (sexuelle Dienstleistungen für behinderte Männer und Frauen gegen Entgelt) auch bei uns vorstellbar sei. Vorweg: Ich war und bin der Meinung, es ist vorstell- und zumutbar. Ganz pragmatisch und fernab von moralischen Diskussionen, die man durchaus auch führen kann und soll.

Die große öffentliche Aktion dieser Arbeitsgruppe war eine Pressekonferenz in Wien. Presse war also geladen und VertreterInnen unterschiedlicher Organisationen im Bereich der Behindertenbetreuung und -arbeit. Wir stellten uns vor, unsere Ideen, die Notwendigkeit, das Thema öffentlich zu machen, Überlegungen zur Sexualassistenz (die damals noch lang nicht so hieß). Viele Leute da, einige Zeitungsberichte gab es am nächsten Tag und sonst - Schweigen. Na ja, nicht ganz, ich bekam tatsächlich etliche Anrufe von Männern (ausschließlich Männern), die in der Zeitung davon gelesen hatten und die beteuerten, durchaus bereit zu sein, ihre sexuellen Erfahrungen Frauen - und auch behinderten - gerne zukommen zu lassen; Tabus kennen sie nicht und Vorurteile selbstverständlich auch nicht. Altruismus pur also! Ich habe damals all diese Angebote dankend abgelehnt.

Am Ende meiner Ausbildungszeit erstellte ich gemeinsam mit meiner Kollegin Ulrike Hifinger eine Angebotsbroschüre. Aufklärung, Workshops, Seminare. Für "Betroffene", Betreuungs- und Begleitpersonen, Angehörige. Zwei Jahre lang passierte gar nichts. Aber dann (die Broschüre lag wohl als gut behüteter Schatz in etlichen Schreibtisch-Schubladen), kamen sie, die Anfragen. Ob wir einmal zu einer Supervision ins Team XY kommen könnten, da sei nämlich etwas vorgefallen. Oder einen Abend für die BewohnerInnen der Jugend-WG gestalten könnten, weil da nämlich der Verdacht besteht, es könnte ... Und auch Elternvereine traten an uns heran: Bestimmendes Thema war so gut wie immer Verhütung und Sterilisation der Tochter. Allenfalls: Können wir bzw. wie können wir verhindern, dass unsere Kinder den Sex für sich entdecken. Das heißt: Verhütung oder sexuelle Übergriffe bestimmten die Auseinandersetzung.

Weder Tabu noch Muss

Ich erinnere mich nur allzu gut an hitzige Diskussionen mit aufgebrachten Eltern, die glaubten, sich verteidigen (bzw. mich angreifen - Angriff ist ja angeblich die beste Verteidigung) zu müssen, weil ich dafür eintrat, sich Alternativen zur (Zwangs) Sterilisation zu überlegen. Oder auch damals gar nichts davon hielt, sexuelle Gefühle und Lust durch eine erhöhte Dosis von Psychopharmaka einzudämmen.

Um nicht missverstanden zu werden: Es war großartig, dass überhaupt das Thema langsam präsent wurde. Nach so langer Zeit des Schweigens, Versteckens, Ignorierens. Und Ängste bzw. Unsicherheiten von Eltern oder BetreuerInnen waren und sind mir allemal verständlich und nachvollziehbar. Aber ... das alles ist gut 15 Jahre her.

Seither hat sich etwas verändert. Und verändert sich weiter. Zunehmend kamen Einrichtungen auf uns zu (im Bereich der Beratung oder Therapie, aber auch der Pädagogik, sind die KollegInnen, die sich mit Sexualität und Behinderung befassen, eine winzige Minderheit). Fortbildung für MitarbeiterInnen. Workshops für behinderte Menschen. Beratung von Eltern und Angehörige, die ihre Töchter und Söhne dabei unterstützen wollen, Sexualität leben zu können, die selbst damit umgehen lernen wollen.

Und immer mehr wird dabei nicht über die behinderten Menschen und ihre Sexualität gesprochen, sondern mit ihnen über ihre Sexualität. Manche von ihnen zeigen sich auch, treten öffentlich auf - das erfordert immer noch viel Mut!

Nach langen Jahren des Unterdrückens und Verleugnens kam - so jedenfalls stellte sich das mir im beruflichen Kontext dar - eine Episode, in der wohlmeinende und hoch motivierte Eltern und BetreuerInnen ihre behinderten Angehörigen bzw. KlientInnen fast zwanghaft beglückten: Die müssen Sex haben, so wie wir alle, ganz normal (was mich jeweils zu der Frage veranlasste, wie denn der normale Sex ausschaut, den wir alle haben). Heute scheint mir, als setzte sich langsam die Erkenntnis durch: Sex ist kein No-Go. Aber auch kein Muss, keine Verpflichtung. Sondern ein Recht, das jede/r für sich in Anspruch nehmen kann; nach seiner/ihrer Fasson; wann und wenn er/sie will - einverständlich und freiwillig von allen Beteiligten natürlich.

Sexualität wird auch heute noch als Thema präsent, wenn "etwas vorgefallen" ist - das sind dann oft die Situationen, in denen behinderte Menschen zu mir in die Praxis in die Beratung bzw. sexualpädagogische Begleitung kommen. Häufig aber ist Sexualität einfach Thema, weil es eben Thema ist. Weil - und ich überblicke vor allem den Bereich, in dem Menschen in Organisationen bzw. Institutionen leben und arbeiten, also "betreut" werden - in diesen professionellen Einrichtungen auch gesehen und respektiert wird, wie sinnvoll es ist, Angebote und Möglichkeiten zum Aus- bzw. Er-Leben von Sexualität zu haben.

Berührend erlebe ich solche Geschichten: Ein Mann ruft mich an; sein Sohn ist Spastiker, lebt im Rollstuhl und wünscht sich nichts sehnlicher als einmal mit einer Frau zu schlafen. Der Vater, hoch betagt und streng katholisch, macht sich auf die Suche, durchkämmt alle einschlägigen Etablissements in Praternähe - und findet keine Dame, die ins Haus kommen will. Da springt einer über alle seine Schatten und bleibt erfolglos. Es ist ja auch gut, wenn die Frauen im Gewerbe nicht gezwungen werden und sich entscheiden können, aber ...

Oder: Die Eltern sorgen sich. Der Sohn liegt nach einem schweren Unfall seit längerem im Wachkoma. Wie kommt er zu seiner Sexualität? Ich weiß es nicht. Wobei wohl zunächst die Frage geklärt werden müsste, was ist der Wunsch der Eltern und was der des Sohnes. Dennoch ...

Freiwillig und selbstbestimmt

Von selbstbestimmt kann in den meisten Fällen noch lange nicht die Rede sein. Dazu gehörte zum Beispiel auch, dass behinderte Menschen - etwa wenn sie in Einrichtungen leben - auch selbst über ihr Geld bestimmen können. Realiter ist es aber doch so, dass SachwalterInnen oft noch darüber befinden, wofür das verwaltete Geld ausgegeben werden darf. (Ja dürfen s' denn das?, könnte man fragen - aber wer wollte diese Frage beantworten!)

Wiewohl: Auch hier erlebe ich Veränderung in meiner Praxis. Männliche Klienten äußern z. B. den Wunsch, in die Peepshow zu gehen - und sie gehen immer öfter, weil BetreuerInnen oder Eltern es unterstützen, das Geld selbstverständlich zur Verfügung steht. Die Bewohnerin einer Wohngemeinschaft würde gern einmal in einen Sexshop gehen, ein bissl was einkaufen, einen erotischen Film wenigstens. Und weil sie in ihrer Mobilität eingeschränkt ist, geht eine Betreuerin mit ihr hin (zumindest in Wien gibt es nicht nur schmierige und billige Sexschuppen).

Ja, und seit wenigen Jahren ist auch bei uns Sexualbegleitung bzw. Sexualassistenz Wirklichkeit geworden. Es gibt sie, die geschulten Frauen (einige) und Männer (vereinzelte), die ihre Dienste offiziell anbieten. Natürlich nur solche, womit man nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommt, was hierzulande halt möglich ist. Aber es gibt was. Und es wird in Anspruch genommen.

Ich kenne die Diskussionen, moralische, ethische, politische. Behinderung ist zudem nicht nur / nicht vor allem ein individuelles "Problem". Aber falls wir uns einfach darauf einigen können, dass behinderte Menschen nicht auf Grund ihrer Behinderung von bestimmten Dingen ausgeschlossen bleiben dürfen, müssen wir zur Kenntnis nehmen: Man muss sich Sexualität - in welcher Form auch immer - kaufen dürfen. Es sollte vielleicht nicht die einzige Möglichkeit sein, aber doch wenigstens eine.

Es bleibt schwer genug, zu den Formen von Sexualität (von Erotik, von Beziehung, von PartnerInnenschaft ...) zu kommen, die man sich wünscht; und auch dann, wann man sich's wünscht; freiwillig und selbstbestimmt. Und: für Männer und für Frauen gleich.

Auch für nicht behinderte Menschen ist es natürlich nicht immer möglich. Aber öfter. Dass es für Menschen mit Behinderungen aber immer öfter möglich wird, stimmt (mich) zuversichtlich.

Literaturempfehlungen:

Schmutzer, Dieter (2009): Selbst bestimmt Sex kaufen? Überlegungen zum Erwerb sexueller Dienstleistungen im Rahmen des persönlichen Budgets. In: Kaiser, Herbert/Kocnik, Ernst/ Sigot, Marion (Hg): Selbst in der Hand! Persönliches Budget und selbstbestimmtes Leben. Verlag Hermagoras/Mohorjeva: Klagenfurt/ Celovec - Ljubljana/Laibach - Wien/Dunaj: 121 - 132.

Sandfort, Lothar (2003): Hautnah. Neue Wege der Sexualität behinderter Menschen. AG Spak-Bücher: Neu-Ulm.

Walter, Joachim (Hg.) (2004): Sexualbegleitung und Sexualassistenz bei Menschen mit Behinderungen. Edition S, Winter Verlag: Heidelberg.

Dieter Schmutzer ist Lebens- und Sozialberater, Sexualberater und -pädagoge, Kommunikationstrainer; Institut für Lebensgestaltung, Wien

www.dieter-schmutzer.at

Quelle:

Dieter Schmutzer: Behindert - Sexuell - Selbstbestimmt: Wie das Unmögliche langsam sogar bei uns möglich wird.

Erschienen in: Stimme. Zeitschrift der Initiative Minderheiten. Nr. 80, Herbst 2011. Thema: Nichts über uns - ohne uns! Selbstbestimmt Leben mit Behinderung, S. 10-11.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 15.07.2012

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