Inklusion im musikalischen Bildungsbereich

Dargestellt am Beispiel der Musikschulsysteme von Deutschland und Venezuela

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Diplomarbeit
Releaseinfo: Diplomarbeit ingereicht am 15. August 2012. An der Philosophischen Faklutät III - Erziehungswissenschaften am Institut für Rehabilitationspädagogik
Copyright: © Linda Josephine Reiche 2012

1. Einleitung

"If there is something to be changed in this world it can only happen through music"

Jimi Hendrix

Auf einer nicht ganz so stringent gefassten Grundlage soll im Folgenden herausgestellt wer-den, wie sich Entwicklungsprozesse im Bereich der Musik - und ganz besonders in den Sys-temen musikalischer Bildung - auf die individuelle Persönlichkeitsentwicklung, die Gemein-schaftsbildung und letztlich auch auf die Gesamtverfasstheit einer Gesellschaft auswirken. Dabei sollen vor allem Aspekte der Förderung inklusiver Bildungsstrukturen im Mittelpunkt stehen.

Dafür erfolgt im ersten Teil zunächst eine begriffliche Grundlegung von `Inklusion´ und `Mu-sik´ im Zusammenhang mit ihren jeweiligen Bildungsbezügen.

Der zweite Teil beleuchtet dann das deutsche Musikschulsystem auf der Basis seiner histori-schen Entwicklungsbezüge und gegenwärtigen Rahmenbedingungen. Dabei werden, mit Blick auf die Herausarbeitung von Perspektiven für inklusive Entwicklungsprozesse, die Zu-gangsvoraussetzungen für Menschen mit Beeinträchtigungen gesondert betrachtet.

Im dritten Teil wird das venezolanische Musikschulsystem `El Sistema´ vorgestellt, welches in zunehmendem Maße sowohl hinsichtlich seiner musikalischen Qualität als auch seiner sozialen Gestaltungskräfte weltweit gewürdigt und als Vorbild angesehen wird.

Der vierte Teil widmet sich dann einer (kritisch) vergleichenden Gegenüberstellung der musi-kalischen Bildungssysteme Deutschlands und Venezuelas. Dabei kommt der Herausarbeitung der Erfolgs- und Wirkfaktoren in `El Sistema´ besondere Bedeutung zu. Darauf aufbauend soll der Frage nachgegangen werden, wie sich die Erkenntnisse bezüglich der individuellen und gesellschaftlichen Gestaltungskräfte von Musik für die Weiterentwicklung musikalischer Bildungssysteme in Deutschland und international nutzen lassen und welche Voraussetzungen hierfür geschaffen werden müss(t)en.

Der besondere Bezug zu dieser Thematik ergibt sich für mich aus den eigenen Erfahrungen als Musikpädagogin im Bereich Elementarer Musikpädagogik. In der Gruppenarbeit konnte ich hier in vielfältigen Situationen die gemeinschaftsbildenden Kräfte musikalischer Tätigkeit beobachten und selbst miterleben. Mit Blick auf die Erarbeitung und Gestaltung eines ge-meinsamen musikalischen `Ergebnisses´ konnten dabei unter den Kindern oft ausgrenzende Tendenzen aufgehoben oder gänzlich neue Qualitäten aneinander entdeckt werden. Auch das Hinauswachsen über eigene vermeintliche Schwächen in der Entwicklung eines persönlichen Qualitätsanspruchs konnte ich bei vielen Kindern beobachten.

Neben diesen musikimmanenten Entwicklungsprozessen konnte (und kann) ich aber auch die Auswirkungen der systemsteuernden Rahmenbedingungen im Bereich musikalischer Bildung erfahren. Der sich aus diesen Erfahrungen entwickelnde kritische Blick auf die Grundlagen des etablierten traditionellen und auf Einzelleistung gerichteten musikalischen Bildungssys-tems ließ mich im Rahmen dieser Arbeit nach Perspektiven und Alternativen suchen, welche ich in der Begegnung mit `El Sistema´ durch die gleichnamige Dokumentation von Smaczny und Stodtmeier in Venezuela fand. Die Kraft, die in der Gesellschaft dieses Landes durch die Musik und ein nahezu ganzheitlich ausgerichtetes musikalisches Bildungssystem freigesetzt wurde, ist beeindruckend und bei Konzerten der Kinder- und Jugendorchester in jedem Bo-genstrich und jedem Paukenschlag zu spüren.

Ob und wie diese umfassenden Entwicklungskräfte von Musik auch anderen Kindern und Menschen zugänglich gemacht werden können, soll sich aus dem Folgenden ergeben.

Allgemeiner Hinweis: Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass im Folgenden auf die explizite Ausweisung weiblicher Begriffserweiterungen zugunsten des Leseflusses verzichtet wurde. Wenn nicht ausdrücklich auf eine Geschlechtsspezifik verwiesen wird, beziehen die allgemeinen/männlichen Begriffsversionen beide Geschlechter ein.

TEIL I: ALLGEMEINE THEORETISCHE GRUNDLAGEN

2.Inklusion und Musik - Annäherung an zwei komplexe Konstrukte

Im Folgenden sollen die begrifflichen Phänomene `Inklusion´ und `Musik´, die sich als grundlegende Elemente durch diese Arbeit ziehen, sowohl im definitorischen Sinne als auch in ihren Bildungszusammenhängen näher erläutert werden. Da aus diesem Grund beide Begriffe mit dem Begriff `Bildung´ verknüpft wurden, scheint es an dieser Stelle sinnvoll, das hier zugrundeliegende Verständnis dieses, eigentlich dritten, komplexen Konstrukts etwas näher zu erläutern. `Bildung´ wird im Sinne von (schulischer) Allgemeinbildung alltagssprachlich oft verstanden als ein Kanon mehr oder weniger festgelegten, vermittelbaren abfragbaren Wissens und bestimmter technischer Fertigkeiten.[1] Eine solche Auffassung erscheint, besonders in Verbindung mit den Additiven `inklusiv´ und `musikalisch´, unzureichend, zeichnen sich doch gerade die wesentlichen Elemente von `Inklusion´ und `Musikalität´ dadurch aus, dass sie eben nicht auf rein kognitiver Ebene und auf der Grundlage festgelegter Inhalte vermittelbar sind. `Bildung´ konstituiert sich in diesem Sinne sowohl inner- als auch intersubjektiv nur durch die Möglichkeiten vielfältiger Selbsterfahrung und Reflexion. Aus diesem Grund muss `Bildung´ in diesem Zusammenhang als Persönlichkeitsbildung verstanden werden. KAISER, der in seinen musikpädagogischen Auseinandersetzungen der Frage nachging, inwiefern es eine `Allgemeinbildung´ im musikalischen Kontext geben kann, fasst Bildung in diesem Sinne "als zunehmende Selbstkonstitution eines Subjekts, das sich hinsichtlich der Form dieses Prozesses anderen Subjekten gegenüber - falls erforderlich - zu rechtfertigen in der Lage ist und sich dazu auch verpflichtet weiß."[2] Diese Auslegung des Bildungsbegriffs sieht sich in der Tradition der klassischen Bildungstheorien (um Kant, Goethe, Pestalozzi, Fröbel, Diesterweg, Schleiermacher, Humboldt, Fichte und Hegel, ...), denen, trotz aller partieller Unterschiede, ein Verständnis von `Bildung´ als `allgemeiner Menschenbildung´ zugrunde liegt. Diese gründet, ungeachtet der bestehenden und sich weiterentwickelnden gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse, auf dem Grundprinzip "des Allgemeinen als des uns alle Angehenden"[3] und umfasst die drei Hauptdimensionen des Moralischen, des Erkennens und Denkens (also der Reflexion) und des Ästhetischen.[4] Somit schließen die (sog.) klassischen Bildungstheorien neben dem Erwerb kognitiven, wissenschaftsorientierten Wissens auch die Entwicklung einer kritischen Umwelt- und Selbstreflexion sowie die Förderung von Fähigkeiten zum sinn- und freiheitsstiftenden Selbstausdruck in ästhetischen Dimensionen mit ein. KLAFKI beruft sich in der Herausarbeitung seines "neuen Allgemeinbildungskonzepts"[5] auf die klassischen Bildungstheorien und entwickelte diese, in kritischer Auseinandersetzung mit `epochaltypischen Schlüsselproblemen´[6], für aktuelle Auseinandersetzungen mit dem Bildungsbegriff weiter. Wesentlich ist hierbei ein Verständnis von `Bildung´ als Prozess der Aneignung und Verknüpfung der Grundfähigkeiten `Selbstbestimmung´, `Mitbestimmung´ und `Solidarität´[7] mit einem grundsätzlichen Anspruch für jeden Menschen unter Berücksichtigung individueller Fähigkeiten und Interessen. Diesem Grundverständnis soll in dieser Arbeit gefolgt werden und in seinem grundlegenden Zusammenhang mit den Dimensionen der inklusiven und musikalischen Bildung Verwendung finden.

Obwohl `Musik´ den Menschen und auch das gesellschaftliche Zusammenleben nahezu seit Menschengedenken `beschäftigt´, während sich die begriffliche Konstitution und die inhaltlichen Zielsetzungen von `Inklusion´ erst im Zuge schulischer und gesellschaftlicher Umstrukturierungsprozesse zu Beginn des 21. Jhd. etablieren konnten, sollen anhand der im Folgenden aufgezeigten individuellen Entwicklungslinien der beiden Phänomene die gemeinsamen Bezugs- und Ergänzungslinien deutlich gemacht werden. Besonders in Bezug auf persönlichkeits- und allgemeinbildende Elemente lassen sich hier deutliche Verknüpfungs- und gegenseitige Befruchtungspunkte ausmachen.

2.1.Inklusion/Inklusive Bildung

Der Begriff der `Inklusion´ stellt ein gesamtgesellschaftliches Konzept zum Umgang mit Vielfalt und Heterogenität dar, welches sich aus der wissenschaftlich-kritischen Auseinandersetzung mit dem Konzept der `Integration´ heraus entwickelte. Die Schnittpunkte und vor allem die Divergenzen beider Konzepte sowie die Problematik der oft noch synonymen Verwendung beider Begriffe, sollen hier auf der Grundlage des Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention als Basis für das grundlegende Verständnis von `Inklusion´ näher erläutert werden:

Convention on the Rights of Persons with Disabilities

"Article 24 - Education

1. States Parties recognize the right of persons with disabilities to education. With a view to realizing this right without discrimination and on the basis of equal opportunity, States Parties shall ensure an inclusive education system at all levels and life long learning directed to:

  1. The full development of human potential and sense of dignity and self-worth, and the strengthening of respect for human rights, fundamental freedoms and human diversity;

  2. The development by persons with disabilities of their personality, talents and creativity, as well as their mental and physical abilities, to their fullest potential;

  3. Enabling persons with disabilities to participate effectively in a free society.

2. In realizing this right, States Parties shall ensure that:

  1. Persons with disabilities are not excluded from the general education system on the basis of disability, and that children with disabilities are not excluded from free and compulsory primary education, or from secondary education, on the basis of disability;

  2. Persons with disabilities can access an inclusive, quality and free primary education and secondary education on an equal basis with others in the communities in which they live;

  3. Reasonable accommodation of the individual's requirements is provided;

  4. Persons with disabilities receive the support required, within the general education system, to facilitate their effective education;

  5. Effective individualized support measures are provided in environments that maximize academic and social development, consistent with the goal of full inclusion.

3. States Parties shall enable persons with disabilities to learn life and social development skills to facilitate their full and equal participation in education and as members of the community. To this end, States Parties shall take appropriate measures, including:

  1. Facilitating the learning of Braille, alternative script, augmentative and alternative modes, means and formats of communication and orientation and mobility skills, and facilitating peer support and mentoring;

  2. Facilitating the learning of sign language and the promotion of the linguistic identity of the deaf com-munity;

  3. Ensuring that the education of persons, and in particular children, who are blind, deaf or deafblind, is delivered in the most appropriate languages and modes and means of communication for the individual, and in environments which maximize academic and social development.

4. In order to help ensure the realization of this right, States Parties shall take appropriate measures to employ teachers, including teachers with disabilities, who are qualified in sign language and/or Braille, and to train pro-fessionals and staff who work at all levels of education. Such training shall incorporate disability awareness and the use of appropriate augmentative and alternative modes, means and formats of communication, educational techniques and materials to support persons with disabilities.

5. States Parties shall ensure that persons with disabilities are able to access general tertiary education, vocation-al training, adult education and lifelong learning without discrimination and on an equal basis with others. To this end, States Parties shall ensure that reasonable accommodation is provided to persons with disabilities." [8]

Der hier zitierte Artikel zum Thema Bildung aus dem `Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen´ (erstellt 13. Dezember 2006 in New York und in Kraft getreten am 3. Mai 2008) erhebt die inklusive Bildung und Gleichberechtigung von Menschen mit Beeinträchtigungen und anderen in der Gemeinschaft lebenden Menschen zu einem Grundrecht, welches, in jedem Falle für die (mittlerweile 153[9]) Unterzeichnerstaaten, verbindlich ist. Nicht ohne Grund wurde als Zitat-Vorlage hier die englische Originalfassung gewählt, obgleich eine offizielle deutsche Übersetzung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales[10] vorliegt. Denn die offizielle deutsche Übersetzung sieht (u. a.) die Begriffe `inclusion´ und `inclusive education´ mit `Integration´ und `integrativer Bildung´ als hinreichend übersetzt an, was vor dem Hintergrund der inhaltlichen Begriffsbestimmungen und sich im wissenschaftlichen Kontext immer stärker differenzierenden Verständnis von Integration und Inklusion bzw. integrativer Bildung und inklusiver Bildung stark umstritten ist und nicht unwidersprochen bleiben darf.[11] Man kann in der wissenschaftlich-fachlichen Auseinandersetzung mit dem Begriff `Integration´ zwar in allen Grundkonzeptionen durchaus Standpunkte ausmachen, die eine Gleichsetzung von `Integration´ und `Inklusion´, zumindest in Teilbereichen, rechtfertigen könnten (z. B. bei Feuser, Reiser, Sander[12], Haeberlin[13]), es zeigt sich aber, dass für eine reflexive Erweiterung der bestehenden Praxis und eine begriffliche Anschlussfähigkeit an die internationale Diskussion neue Ansatzpunkte, klare Maßstäbe für Qualität und Evaluation und somit auch eine begriffliche Neuorientierung unerlässlich sind und eine reflektierte Verwendung des Begriffs `Inklusion´ sinnvoll erscheint.[14]

Worin bestehen nun aber die sich differenzierenden Begriffsverständnisse?

Einen wesentlichen Hinweis kann hier bereits ein etymologischer Blick auf die Begriffe geben: zu `Integration´ findet man im Fremdwörterbuch die Bedeutungen "1.Herstellen eines Ganzen aus Einzelteilen, Vereinigung, ↔ Desintegration 2. Zustand nach der (Wieder)Herstellung einer Einheit, Vereinigung, ↔ Desintegration 3. Eingliederung in eine gesellschaftliche oder soziale Ordnung, ↔ Desintegration[...]", während dem Begriff `Inklusion´ hier die Bedeutungen "1.GEOLOGIE Einschluss, Einschließung 2. MATHEMATIK Enthaltensein einer Menge in einer anderen"[15] zugeschrieben werden. Bezieht man die Bedeutungen neben den geologischen und mathematischen Bezügen auch auf eine soziale Komponente, wird deutlich, dass `Inklusion´ quasi eine Fortführung oder Weiterentwicklung des Begriffes `Integration´ darstellt. `Integration´ setzt den Zustand einer `Desintegration´ voraus und setzt Einzelteile zu einem Ganzen zusammen, bzw. gliedert desintegrierte Teile oder Gruppen in eine bestehende gesellschaftliche oder soziale Ordnung ein[16], während die `Inklusion´ von vornherein verschieden(st)e Gruppen (oder `Mengen´) in der bestehenden Ordnung einschließt bzw. enthält. Der Gegenpol einer `Desinklusion´ ist hier also nicht (mehr) gegeben.

Bezogen auf den aktuellen Inklusionspädagogischen Diskurs und v. a. mit Blick auf die Entwicklungen in der Praxis bedeutet dies:

In der integrativen Praxis und Fachdiskussion ging es bisher meist darum, `desintegrierte´ Menschen (oder im Feld der schulischen Auseinandersetzung `desintegrierte´ Kinder), die aufgrund einer bestehenden körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigung oder auch wegen ethnischer, bzw. sprachlicher `Andersartigkeit´ der bestehenden gesellschaftlichen, sozialen Ordnung (bzw. dem Schulsystem) gegenüberstehen, durch geeignete (sonder-pädagogische oder auch strukturelle) Maßnahmen in die bestehenden Strukturen `einzupassen´ und somit zu integrieren. Als `Einzelteil´ im Ganzen bleiben sie dabei aber dennoch `die Integrierten´ und abhängig von Integrationswillen und -bemühungen der "Normalen"[17] . Nicht zu leugnen ist dabei, dass die fachlichen und didaktischen Ansätze der `Integration´ in jedem Falle als eine notwendige (zwischenstufige) Weiterentwicklung im Umgang mit `Andersartigkeit´ auf dem Weg von der Ausgrenzung/Aussonderung zur Inklusion anzusehen sind.[18]

Die folgende Grafik (gestützt auf Begrifflichkeiten und Ausführungen BÜRLIS[19]) kann dies verdeutlichen (die einzelnen Phasen lösen sich dabei nicht als in sich geschlossene Stufen ab, sondern treten z. T. auch in Überschneidungen auf):

Die Phase der `Exklusion´ schließt einzelne Personengruppen (blaue, grüne gelbe Punkte) aus einem bestehenden sozialen System - z.B. Schulsystem - (rote Punkte) gänzlich aus.

In der Phase der Separation wird die bestehende soziale Ordnung um Ein-richtungen und somit gesonderte soziale Systeme - z.B. Sonderschulsystem (Kreis um blaue, grüne und gelbe Punkte) - für die vorher ausgeschlossenen Personengruppen ergänzt. (Innerhalb dieses Sondersystems werden dann die einzelnen Gruppen nochmal spezifischen Institutionen zugewiesen, es müssten also in der Grafik eigentlich noch die jeweils blauen, grünen und gelben Punkte für sich zusammengefasst werden).

Die Phase der Integration versucht die vorher separierten Personengruppen in das soziale `Grundsystem´ - z.B. Allgemeine Schule - hinein zu holen und durch spezifische Fördermaßnahmen an die bestehenden Voraussetzungen anzupassen. Dabei bleibt jedoch die Etikettierung einer besonderen Förder-bedürftigkeit und somit quasi ein Sondersystem (der blauen, grünen und gelben Punkte) im System (der roten Punkte) erhalten.

Die Phase der Inklusion ist dann erreicht, wenn die soziale Ordnung alle in ihr lebenden Personen und Personengruppen auf gleicher Rechtsgrundlage und in Akzeptanz menschlicher Vielfalt und Heterogenität einschließt (alle Punkte sind gemischt, keine Farbe dominiert) und jedem zur persönlichen Entfaltung auf der Basis der individuellen Möglichkeiten verhilft. Ziel ist dabei die Etablierung einer Allgemeinen Pädagogik für alle, in der auf jedwede Form von Marginalisierung und Aussonderung verzichtet werden kann. [20]

Betrachtet man diese schematische Darstellung der einzelnen Phasen, wird schnell deutlich, dass die Phase der Inklusion weder in Deutschland noch international bereits irgendwo in ih-rer ganzen Dimension erreicht ist. Vielmehr `stecken´ die meisten Systeme (zumindest in Eu-ropa und den USA) in der Phase der Integration, Deutschland als eins der Schlusslichter im (europäischen) Vergleich sogar noch zu einem Großteil in der Phase der Separation[21]. Dennoch hat die UN-Konvention den Blick ganz massiv in die Richtung einer inklusiven Entwicklung gelenkt und damit ganz wesentlich die Auseinandersetzungen mit dem Thema Inklusion und Vielfalt, inklusiver Bildung und Teilhabe angeregt. Inklusion, in einem reflektierten Verständnis, muss also, gewissermaßen als ein "Nordstern"[22], den weiteren Entwicklungen auf den Ebenen gesellschaftlichen und sozialen Zusammenlebens und in den Bereichen Erziehung und Bildung voranstehen. Dass ein vollständiges Erreichen von Inklusion dabei wohl immer eine Vision bleiben wird, macht die Formulierung "Inklusion kann überall anfangen, hört aber nie auf"[23] aus dem KOMMUNALEN INDEX FÜR INKLUSION der MONTAG STIFTUNG deutlich.

Für die Etablierung eines inklusiven Gesellschaftsverständnisses ist die Schaffung inklusiver Bildungsstrukturen unerlässlich. Denn besonders die frühen Bildungsprozesse in Kindergarten, Schule und außerschulischen Einrichtungen wirken sich prägend auf soziale Einstellungen, Werte und Verhaltensweisen aus. Wenn Kinder also bereits in diesen Bildungszusamenhängen die Erfahrung machen können, in ihrer ganzen Persönlichkeit, mit allen individuellen Stärken und Schwächen, angenommen und akzeptiert zu sein und lernen, auf der Basis von Heterogenität auf einander zuzugehen, miteinander zu lernen und voneinander zu profi-tieren, werden sie (mit hoher Wahrscheinlichkeit) ein inklusives Gesellschaftsverständnis entwickeln und dieses in ihre weiteren Lebensbezüge integrieren. Besonders vor dem Hinter-grund der Ausgangslage eines (noch) mehrgliedrigen Schulsystems in Deutschland kann die Realisierung dieses sehr komplexen Anspruchs von inklusiver Bildung mitunter wie ein un-bezwingbarer Berg erscheinen. Ein gangbarer Weg, der (mit gutem Willen) gewissermaßen von jedem Ausgangspunkt aus gegangen werden kann, wird mit dem INDEX FÜR INKLU-SION[24] (im englischen Original von Tony Booth und Mel Ainscow, übersetzt in zahlreiche Sprachen, für Deutschland adaptiert von INES BOBAN und ANDREAS HINZ) aufgezeigt. Dieses Instrument zur Selbstevaluation wurde ursprünglich für Schulen entwickelt, kann aber auch Kindertagesstätten und anderen Bildungseinrichtungen dazu dienen, ein inklusives Selbstverständnis und entsprechende Strukturen zu entwickeln. Sofern der Wille zur Etablierung inklusiver Strukturen gegeben ist, kann unter der Prämisse der aktiven Beteiligung aller Bezugsgruppen (Lehrer, Schüler, Eltern, Verwaltung, ...) im Index-Team mithilfe dieses Instrumentes eine qualitative, evaluierbare Einrichtungsentwicklung unter inklusiven Gesichts-punkten vorangetrieben werden.

Dabei werden im Rahmen der drei Dimensionen "Inklusive Kulturen schaffen (A)", "Inklusive Strukturen etablieren (B)" und "Inklusive Praktiken entwickeln (C)" jeweils zwei Bereiche dargestellt, denen dann entsprechende Indikatoren zugeordnet sind. Anhand von Fragen können sowohl die bestehende Situation als auch Ziele für den entsprechenden Bereich erarbeitet werden. So findet sich beispielsweise unter der Dimension A ("Inklusive Kulturen schaffen") im Bereich A.1 ("Gemeinschaft bilden") unter dem Indikator "A 1.1- Jede(r) fühlt sich will-kommen" die Frage: "2. Heißt die Schule alle SchülerInnen willkommen, z. B. Kinder von MigrantInnen, Fahrenden oder AsylbewerberInnen, Kinder mit Beeinträchtigungen und aus verschiedenen sozialen Milieus?"[25]). Trotz einer vorgegebenen strukturellen Gliederung in Form der Bezeichnungen A, B, C oder 1, 2, 3, ... steht die Reihenfolge der Bearbeitung der einzelnen Bereiche frei und kann den gegebenen Notwendigkeiten und Bedingungen angepasst werden. So wird auch in der Einführung des INDEX´ FÜR INKLUSION zum Thema `Nutzungsmöglichkeiten´ darauf verwiesen, dass "jede Nutzung, die die Reflexion über Inklusion fördert und zur Verbesserung der Teilhabe aller SchülerInnen an Kulturen, Unterrichtsgegenständen und Gemeinschaften ihrer Schulen führt [...], legitim und willkommen"[26] ist. Ein wesentliches Element der Etablierung inklusiver Einrichtungsstrukturen stellt die Prozesshaftigkeit dar, die eine regelmäßige reflexive Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten bedingt, und somit eine kreislaufartige Auseinandersetzung mit den einzelnen, im INDEX dargestellten, Bereichen möglich, bzw. notwendig macht.

In Erweiterung dieses, auf einzelne (Bildungs-)Einrichtungen ausgelegten Entwicklungsmaterials, wurde 2011 von der MONTAG STIFTUNG der KOMMUNALE INDEX FÜR IN-KLUSION[27] herausgegeben. Dieser hat sich zum Ziel gesetzt, auch jenseits von Bildungseinrichtungen mit inklusionspädagogischem Programm ein inklusives Gesellschaftsverständnis anzuregen und zu etablieren. Denn Inklusion soll eben nicht als ein spezieller pädagogischer Ansatz verstanden werden, sondern einen grundlegenden paradigmatischen gesellschaftlichen Wandel im Umgang mit Vielfalt und Heterogenität nach sich ziehen. Der KOMMUNALE INDEX will vor diesem Hintergrund eine Reflexions- und Handlungsgrundlage für die kommunale Ebene bereitstellen, welche unter dem Begriff `Kommune´ fünf verschiedene Ebenen zusammenfasst:

  1. Die Ebene der einzelnen Person

  2. Die Ebene Mensch-zu-Mensch (d.h. Partnerschaft, Freundschaft, Nachbarschaft, ...)

  3. Die Ebene Öffentlicher Organisation (d.h. Organisationen, Institutionen, Behörden,Vereine, Unternehmen, Verbände, Gemeinden, ...)

  4. Die Ebene der Vernetzung (d.h. Zusammenarbeit und Austausch verschiedener Organisationen)

  5. Die Kommune als Ganzes (d.h. Strukturen und Strategien zur Ermöglichung inklusiver Prozesse und Praktiken in der Gemeinschaft).[28]

Ähnlich dem INDEX FÜR INKLUSION sind diesen fünf Ebenen der Kommune im Hauptteil des KOMMUNALEN INDEX Fragen-Bereiche zugeordnet, die den jeweiligen Beziehungsstrukturen innerhalb der jeweiligen Ebene entsprechen. Die Spannweite der Auseinandersetzungsmöglichkeiten umfasst hierbei jedoch alle Ebenen gemeinschaftlichen Zusammenlebens, von individuellen Wahrnehmungen und Einstellungen einzelner Personen oder Gruppen, über strukturelle Gegebenheiten in Einrichtungen oder Unternehmen unter Einbezug grundlegender Aspekte von Organisationsentwicklung bis hin zu kommunalpolitischen und wirtschaftlichen Fragestellungen.

Die Anwendung des KOMMUNALEN INDEX und Möglichkeiten eines sinnvollen Umgangs mit dem Material werden in einem Methodenteil[29] und einem Praxisteil[30] anhand verschiedener Beispiele und mit hilfreichen Erläuterungen dargestellt.

Der Aufbau und die dargestellten Methoden in den beiden erläuterten Materialien zur Anregung einer inklusiven Entwicklung von Bildungssystem und Gesellschaft machen deutlich, dass Inklusion ein sehr komplexer Prozess ist, der weder verordnet noch stur nach Anleitung implementiert werden kann. Inklusive Prozesse und inklusive Bildung setzen vielmehr die Bereitschaft zur Veränderung, aktives Engagement und Partizipation möglichst Vieler voraus, um eine gesellschaftliche Weiterentwicklung im Umgang mit Vielfalt und Heterogenität zu bewirken. In inklusiven Bildungszusammenhängen wird Lernen als ein eigenaktiver Prozess verstanden, der auf der Grundlage von individualisierenden und differenzierenden Lehrprinzipien jedem Kind eine Entfaltung in der Gemeinschaft ermöglicht. Besonders das gemeinsame Lernen in heterogenen Gruppen kann so zum Gewinn für den Einzelnen und Basis für eine gesunde gesellschaftliche Entwicklung werden.

Mit Blick auf die bestehenden Verhältnisse in der deutschen Gesellschaft und die Grundlagen ihrer Bildungsstrukturen kann in diesem Sinne abschließend aus dem KOMMUNALEN IN-DEX zitiert werden: "Inklusion heißt: Veränderung in einem kontinuierlichen Prozess mit dem Ziel, Teilhabe und Vielfalt zu ermöglichen. Bestehende Umgangs- und Verhaltensweisen werden hinterfragt, neue Wege des Miteinanders gesucht und gefunden. Je mehr Menschen sich inklusiv engagieren, desto vielfältiger sind die Veränderungsprozesse, die eine Gemein-schaft bewirken und gestalten kann."[31]

2.2. Musik/Musikalische Bildung

Versucht man, sich dem Phänomen `Musik´ auf einer definitorischen Ebene zu nähern, wird man schnell feststellen, dass sich kaum eine Definition finden lässt, die allen Aspekten dieses Begriffes gerecht werden kann. DANIEL BARENBOIM ist sogar "der festen Überzeugung, dass man über Musik nicht sprechen kann."[32] Als einzige objektiv gültige Definition lässt er Ferruccio Busonis´ Aussage gelten, nach der Musik `klingende Luft´ ist.[33] Diese Definition weist in eine Richtung, die auch Grundlage anderer Definitionsversuche ist - nämlich Musik allein durch ihre physikalischen Grundlagen zu beschreiben. Demnach ist Musik eine dynamische Aneinanderreihung von Schallwellen unterschiedlicher Schwingungsstärken, welche unterschiedliche Tonhöhen hervorbringen. Verschiedene Klangfarben erklären sich durch die Verhältnisse der (unhörbar mitklingenden) Obertöne.[34] Durch eine rhythmische, harmonische und melodische Strukturierung entstehenden aus Geräuschen Klänge bzw. Töne.[35]/[36] Da Klänge aber eine ephemerische Gestalt in der Zeit darstellen, sich also verflüchtigen, sobald sie verklungen sind, setzt die Folge von Klangereignissen unter diesen Bedingungen einen, die Klänge mehr oder weniger bewusst steuernden, Initiator voraus.[37] Obwohl nicht unumstritten ist, ob auch Tiere über die Möglichkeiten der gezielten Hervorbringung bestimmter Tonfolgen verfügen[38], wird die Fähigkeit zur bewussten Gestaltung akustischer Ereignisse im Sinne von Musik vielfach als spezifisch menschliche Eigenschaft (oder mit den Worten von LANDMANN als "Anthropinon"[39]) beschrieben. Vor dem Hintergrund neurologischer Forschung kann dies vor allem mit der sehr komplexen Verarbeitung akustischer Informationen im zentralnervösen System des menschlichen Gehirns begründet werden.[40] Die besondere Wirkung, die Musik auf den Menschen hat, ergibt sich nicht allein aufgrund der Wahrnehmung akustisch physikalischer Ereignisse über die Sinnesorgane (Ohr und Haut), sondern vor allem durch die neuroplastische Verarbeitung dieser Ereignisse im Gehirn. Das bedeutet, dass an der Verarbeitung von Musik eine große Vielzahl von Hirnarealen beteiligt ist und im Laufe der menschlichen Entwicklung beständig neue neuronale Verknüpfungen zur Verarbeitung musikalischer Eindrücke entstehen. So wer-den beispielsweise mit der Aufnahme oder auch bei der Erzeugung akustischer Klangereignis-se nicht nur sensorische und motorische Zentren aktiviert, z. B. für die rhythmische Umsetzung in Tanz bzw. das rhythmische Wippen mit dem Fuß, die Koordination der Kehlkopf-muskulatur beim Singen oder anderer Muskelgruppen beim Spielen eines Instrumentes, sondern es kommen gleichzeitig auch emotionale Verarbeitungszentren und verschiedenste Gedächtnissysteme zum Tragen, in denen sich sowohl musikalische Entwicklungsprozesse der Menschheit als auch des einzelnen Menschen widerspiegeln.[41] SPITZER konstatiert sogar, dass "praktisch das gesamte Gehirn"[42] zur Verarbeitung von Musik beiträgt.

Obwohl diese neurobiologischen Erkenntnisse zu den verarbeitenden und aktivierenden Prozessen von Musik im Gehirn erst in die jüngste Vergangenheit zurückreichen, wurde die Wirkung von musikalischen und rhythmischen Klangereignissen bereits seit der frühen Menschheitsgeschichte erkannt und genutzt. Funde von Knochenflöten, die sich auf eine Zeit von vor ca. 50.000 Jahren datieren lassen, belegen, dass bereits frühe Menschengattungen Instrumente genutzt haben. Differenzierte Abbildungen verschiedener Saiten- und Blasinstrumente von vor ca. 5000 Jahren belegen lebendige musikalische Kulturen im chinesischen, babylonischen und ägyptischen Reich.[43] Während Klang und Rhythmus zu diesen frühen Zeiten vornehmlich kultischen Zwecken dienten und als `Sprachrohr` zu höheren Mächten genutzt wurden, rückte mit der mathematischen Grundlegung musikalischer Strukturen durch Pythagoras (570 - 497 v. Chr.) und die Aufstellung verschiedener Tonleitern mit unterschiedlich verteilten Halbton-schritten im antiken Griechenland die Musik auch in ein pädagogisches Interesse. Besonders PLATON wies in seinen Ausführungen zur Bildung in `Der Staat´ der musikalischen Bildung einen wesentlichen und grundlegenden Status zu. Dabei entwickelte er differenzierte Einteilungen der Tonarten, Rhythmen und Instrumente in tugendhafte und zur Erziehung geeignete und unbrauchbare wegen ihrer verweichlichenden, sentimentalen und klagenden Eigenschaf-ten. Ihm ging es hierbei vor allem um die Herausbildung eines ästhetischen Grundverständnisses von Musik, welches sich am Schönen und in seinem Sinne Vollkommenen in der Natur zu orientieren hatte. So lässt PLATON Sokrates in einem Zwiegespräch mit Glaukon formulieren: "Das Fehlerhafte und Schlechte am Kunstwerk wie in der Natur [erkennt] am schärfsten der [...], der in der Musik richtig erzogen ist. [...] Deshalb ruht, wie ich glaube, die Erziehung vor allem in der Musik."[44]

Wenn auch nicht mit gleicher Stringenz und selektivem Pragmatismus teilten auch andere große Philosophen der Antike, wie beispielsweise ARISTOTELES[45], diese Ansicht einer enormen charakterbildenden Kraft musikalischer Ausbildung, welcher durchaus auch ein grundlegender Einfluss auf die politische Zukunft des Staates bzw. der Gesellschaft zugesprochen wurde. So verwundert es nicht, dass auf der Grundlage dieser Anschauungen Musik in der abendländischen Kultur noch bis weit ins Mittelalter zum Quadrivium der höheren Künste (mit Arithmetik, Geometrie, Astronomie) gezählt wurde, welches von den rein sprachorientierten niederen Künsten, dem Trivium aus Grammatik, Rhetorik und Logik, ergänzt wurde.[46]

BASTIAN konnte die damals schon grundlegend erkannten Transfereffekte von Musik in seiner vielbeachteten Langzeitstudie "Musik(erziehung) und ihre Wirkung"[47] von 1992-1998 auch für unsere heutige Zeit belegen und das besondere (sozial-)pädagogische Potenzial musikalischer Bildung herausstellen. `Musikalische Bildung´ bedeutete im Sinne der Studie zwei Stunden Musikunterricht pro Woche plus Instrumentalunterricht und Ensemblearbeit für Berliner Grundschulkinder aus " sozial eher unterprivilegierten Einzugsbereichen"[48] vom 1. bis zum 6. Schuljahr. In vielen Bereichen der differential- und sozialpsychologisch erhobenen Merkmale (z. B. Kreativität, Lern- und Leistungsmotivation, Intelligenz, musikalische Begabung, soziale Kompetenz, Selbsteinschätzung, ...) konnte die Studie positive Effekte der musikalischen Bildung feststellen und die von Hirnforschern vertretene These einer persönlichkeitsbildenden Wirkung von Musik durch fundierte Ergebnisse untermauern. Intention der Studie war die Lieferung einer (schul-)politisch relevanten Argumentation für die Bedeutung musikalischer Bildung in Zeiten, in denen vor allem die kognitive Bildung im Mittelpunkt des Interesses steht[49] - ganz im Sinne von KANT, der zum Verhältnis von Mathematik und Musik sagt: "Wenn man den Wert der schönen Künste [...] schätzt, so hat die Musik unter den schönen Künsten insofern den untersten [...] Platz, weil sie bloß mit Empfindungen spielt."[50] Der Nachweis einer kognitiven Förderung durch Musik in den Ergebnissen der Studie soll dazu dienen, den Stellenwert der Musik im (schulischen) Bildungskanon wieder zu heben, "darf [aber, d.V.] niemals für außermusikalische Zwecke `vernutzt´ werden, um Kinder in ihren Persönlichkeitsmerkmalen effizienter zu machen"[51], hebt BASTIAN ausdrücklich hervor. Ähnlich stellt es auch RIBKE in ihren Grundlegungen der elementaren Musikpädagogik dar, welche sich an den richtungsweisenden pädagogischen Grundprinzipien von Rousseau, Comenius, Pestalozzi und Fröbel hinsichtlich einer kindzentrierten Pädagogik orientiert und das Kind in seinen jeweiligen Alltags- und Umweltbezügen in den Mittelpunkt (auch) einer musikalischen Bildung stellt. Sie betont (auf einer anthropologisch orientierten Argumentationslinie) die persönlichkeitsbildenden Potenziale einer frühen elementaren Auseinandersetzung mit Musik, jenseits von Leistungsorientierung und Fertigkeitstraining[52] und untermauert die psychologisch und emotional ausgleichenden Fähigkeiten von Musik in ihrer Bedeutung für unsere Gesellschaft mit einem Zitat von GOETHE, der über die Pädagogik Pestalozzis sagt: "Deshalb haben wir denn unter allem Denkbaren die Musik zum Element unserer Erziehung gewählt, denn von ihr laufen gleichgebahnte Wege nach allen Seiten."[53] Als Ziel musikalischer Bildung sieht RIBKE, ähnlich wie Bastian, in erster Linie eine Sensibilisierung für die Wirkkraft von Musik, die Erfahrung von Körper, Sinnen und Phantasie durch Musik als ein mögliches Ausdrucksmedium mit allen dem Individuum zur Verfügung stehenden Mitteln und die Entwicklung einer Fähigkeit zur Gemeinsamkeit durch die vielfältige Ausgestaltung musikalischer Interaktionsprozesse.[54]

Eine solche Auffassung, die Musik quasi als ein `Mittel´ zur Förderung sozialer und persönlichkeitsbildender Prozesse ansieht, ist in der musikwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Musikbegriff keineswegs unumstritten. Die rein ästhetische Betrachtung von Musik als einer "L´art pour l´art", wie sie von bedeutenden Vertretern (Schönberg, Adorno, Dahl-haus) v. a. im 20. Jhd.[55] angestrebt wurde und zu einer zunehmenden `Verkopfung´ in der Vermittlung von Musik im Schulunterricht geführt hat, verliert (in pädagogischen Bezügen) aber zunehmend an Bedeutung - nicht zuletzt durch die studiengestützten Ausführungen Bastians und die neuesten Erkenntnisse aus der Hirnforschung (z. B. von Spitzer, Hüther, Dama-sio). Musik ist eben in erster Linie ein Energieträger, der in der Lage ist etwas zu bewegen und so formuliert die Rehabilitations- und Musikwissenschaftlerin Irmgard MERKT, gewissermaßen stellvertretend für viele Musikpädagogen (und -therapeuten):

"Die Idee von der Zweckfreiheit der Künste, die Idee l `art pour l `art, hat mich nie überzeugt. Musik ist immer Ausdruck der Gesellschaft, die sie hervorbringt, sie wird in Dienst genommen, wird von jemandem benutzt. Wofür sie benutzt wird, das ist entscheidend. Musik als `Mittel´ - diese Vorstellung hat mich nie erschreckt. Musik fördert Sozial- und Sprachkompetenz, Wahrnehmung und Bewegung. [...] Musik soll etwas für die Menschen bewirken, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen."[56]

Neben der Hervorhebung der positiven Transfereffekte musikalischer Bildung, die vor allem dazu dienen soll, die Bedeutung scheinbar `zweckloser´[57] Fächer wie Musik (sowie Tanz und auch Kunsterziehung) für Persönlichkeits- und Gesellschaftsentwicklung zu legitimieren, soll an dieser Stelle auch auf die Gefahren hingewiesen werden, die gerade den Transfereffekten und unbewussten Wirkungszusammenhängen von Musik innewohnen. So ist durch die nahezu grenzenlose Verfügbarkeit und Präsenz von Musik als Geräuschkulisse des Alltags die zweckfremde `Vernutzung´ von Musik heutzutage fast allgegenwärtig: als Kaufkraft animierender Impuls in Einkaufszentren und Supermärkten, die musikbusinessgelenkte und umsatz-orientierte Auswahl der meisten Radioprogramme, psychologisch geschickt manipulierte Werbespotmusiken etc. und nicht zuletzt als Transportmittel rechtsextremer oder anderweitig meinungsbildender Ideologien.

Die Funktionalisierung der irrationalen (im Sinne von unbewussten bzw. unreflektierten) Wirkkräfte von Musik in der Zeit des Nationalsozialismus, der durch die vorangegangenen Entwicklungen der Musischen Bewegung Tor und Tür geöffnet war, kann hier beispielhaft Zeugnis geben über das Manipulationspotenzial fehlgeleiteten musikerzieherischen Tuns. AFFEMANN begründet die Gefahr negativer Wirkmechanismen für die heutige Gesellschaft mit den vorherrschenden (Bildungs-)Bedingungen unseres rational-technischen Zeitalters: "Viele der Gefühle, die in jedem Menschen angelegt sind, werden nicht in die Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit hineingenommen. Durch eine einseitige Identifizierung mit dem Intellekt tritt eine Abspaltung der emotionalen Realitäten ein. Das nicht Integrierte verbleibt also im Zustand des Unreifen, Primitiven, Dumpfen."[58] Und er prognostiziert daraus: "Die unterdrückten, unpersönlich gebliebenen und ungeistig gewordenen Affekte stellen jedoch auch eine politische Gefahr dar. [...] Der Rationalismus der letzten Jahrzehnte hat durch das Überziehen des rationalen Prinzips eine Gegenbewegung in Gestalt eines neuen Irrationalismus eingeleitet. Diese irrationale Unterströmung ist stärker, als vielen von uns bewusst ist. Bei schweren und länger anhaltenden wirtschaftlichen und sozialen Belastungen kann sie zum Ausbruch kommen und unser Zusammenleben nachhaltig stören."[59] Obwohl dieses Zitat aus dem Jahr 1978 stammt, kann es auch heute durchaus noch Gültigkeit beanspruchen. Diesen, nicht musikimmanenten, aber dennoch genutzten, negativen Wirkeffekten von Musik kann nach Auffassung vieler Autoren, die sich mit den Wirkkräften musikalischer und künstlerischer Bildung auseinandergesetzt haben[60] mit einer quantitativen und qualitativen, multikulturellen und lebensweltbezogenen, ästhetisch ausgerichteten musikalischen Bildung vorgebeugt bzw. entgegengearbeitet werden. Ganz im Sinne des oben bereits erwähnten Zitats von PLA-TON: "Das Fehlerhafte und Schlechte am Kunstwerk wie in der Natur [erkennt] am schärfsten der [...], der in der Musik richtig erzogen ist."

2.3. Zusammenfassung und Verknüpfung

Die Zusammenhänge von `Inklusion´ und `Musik´ werden aus ihrem jeweiligen direkten Bezugsrahmen und der definitorischen Begriffsbestimmung heraus vielleicht nicht auf den ersten Blick sichtbar. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass die musikimmanenten Wirkstrukturen eben jene Kompetenzen und Fähigkeiten fördern, die auch grundlegend inklusive Bildungs- und Interaktionsprozesse mitbestimmen. Denn zu anderen Menschen in eine positive Beziehung treten kann nur, wer zu sich selbst in einer positiven Beziehung steht. Die aktive und reflexive Auseinandersetzung mit Musik kann diese Beziehungsfähigkeit, vorerst zu sich selbst und im weiteren Prozess auch zu anderen Menschen, der Natur, der Kultur, der Gesellschaft etc. maßgeblich beeinflussen.[61] "Musik gehört als Kulturgut zu den stärksten Bildungs- und Bindungskräften einer Gesellschaft. Dies gilt überall auf der Welt, für Menschen jeden Alters und jeder Herkunft, heute und morgen[62]", konstatiert BASTIAN und betont die humanisierenden Wirkkräfte von Musik, v. a. beim gemeinschaftlichen Musizieren. Denn ihrem grundlegenden Wesen nach ist Musik auf Gemeinschaft ausgerichtet. Die `Viel-falt´ als gleichberechtigter Teil innerhalb eines `großen Ganzen´ ist ein ihr immanentes Wirk-prinzip, welches bei KAUFMANN und PIENDL als "sinfonisch"[63] bezeichnet wird. Die Viel-falt der Harmonien, Klänge, Rhythmen, Stimmen und Instrumente macht den Gesamtklang aus - die Ausgewogenheit und individuelle Struktur der einzelnen Aspekte bestimmen die ästhetische Qualität. Dieses Bild ließe sich auch auf grundlegende Wirkprinzipien in einer `inklusiven Gesellschaft´ anwenden, die sich in ihrer Gesamtheit aus der Vielfalt der sie aus-machenden Menschen bestimmt und in der Ausgewogenheit ihrer Strukturen allen eine individuelle Lebensqualität ermöglicht.

Die Erkenntnis dieser Wirkmechanismen bedarf jedoch der Schaffung entsprechender Bildungsstrukturen. Denn sowohl musikalische als auch inklusive Bildungsprozesse bedürfen entsprechender Voraussetzungen. Wo kein Musikunterricht stattfindet und keine adäquaten musikalischen Erfahrungsräume geschaffen werden, können die Wirkkräfte von Musik sich nicht entfalten. Wo aufgrund fehlender Mittel, mangelnder Kompetenzen oder bürokratischer Hindernisse Menschen wesentliche Bildungserfahrungen vorenthalten werden, kann sich keine inklusive Gesellschaft entwickeln.

Die Prozesse zur Schaffung eben jener inklusionsfördernden Bildungsstrukturen, welche durch die UN-Behindertenrechtskonvention einen wesentlichen Entwicklungsschub erhalten haben, könnten durch den konzeptionellen Einbezug der musikimmanenten Transfereffekte[64] und gemeinschaftsbildenden Aspekte von Musik positive Impulse bekommen. Auch der Ein-bezug der oben beschriebenen Indices für Inklusion[65] kann maßgeblich zur Entwicklung entsprechender Strukturen, Kommunikations- und Kooperationsformen führen - sowohl in Bezug auf das allgemeine als auch das musikalische Bildungssystem.



[1] vgl. Niessen 2002, S.1

[2] Kaiser 1998, S.6

[3] Klafki 1994, S.40

[4] vgl. Klafki 1994, S.30; 45

[5] ebd., S.43

[6] epochaltypische Schlüsselprobleme´ ergeben sich für Klafki in der Auseinandersetzung mit den Bedingungen unseres gegenwärtigen Zeitalters in Hinblick auf Auswirkungen, Potenziale und Risiken für die Zukunft. Als Beispiele nennt er die Friedensfrage, die Umweltfrage und gesellschaftliche Ungleichheit

[7] vgl. ebd., S.52

[8] Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2011a S.36f.

[9] Quelle: http://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-15&chapter=4&lang=en

[10] Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2011a

[11] Siehe Schattenübersetzung durch die Allianz der Nichtregierungsorganisationen (BRK-Allianz):

http://www.kompre.de/brk/attachments/article/72/NW3%20-%20Schattenuebersetzung.pdf

[12] vgl. hierzu: Hinz in: Schnell/Sander 2004, S. 53ff.

[13] vgl. hierzu: Heimlich 2003, S. 165ff.

[14] vgl. ebd., S. 69

[15] Langenscheidt Fremdwörterbuch: http://services.langenscheidt.de/fremdwb/fremdwb.html

[16] vgl. Deppe-Wolfinger 2004, S.30

[17] vgl. Hinz in: Schnell/ Sander 2004, S. 49

[18] vgl. Sander In: Schnell/ Sander 2004, S. 12f.

[19] vgl. ebd.

[20] vgl. hierzu auch: Hinz in: Schnell/Sander 2004, S. 47ff.

[21] vgl. Sander in: Schnell/ Sander 2004, S. 14; Wernstedt 201, S.14

[22] Hinz 2008, S.34

[23] Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft 2011, S. 19

[24] Boban/ Hinz (Hrsg.) 2003

[25] Boban/Hinz (Hrsg.) 2003, S.53

[26] ebd. S. 9

[27] Montag Stiftung 2011

[28] ebd. S. 25f.

[29] vgl. ebd., S. 125-181

[30] vgl. ebd., S.183-212

[31] vgl. ebd. S. 126

[32] Barenboim 2008, S.11

[33] vgl. ebd.

[34] vgl. Online-Musiklexikon http://www.musik.org/was-ist-musik.html

[35] vgl. Spitzer 2002, S.17

[36] Sehr detailliert werden diese akustisch-physikalischen Grundlagen der Musik bei Spitzer 2002, S. 23-48, beschrieben.

[37] vgl. ebd. S.18; Barenboim 2008, S.13

[38] vgl. Spitzer 2002, S.361-366

[39] vgl. Landmann zitiert aus: Bastian 2012, S.22

[40] vgl. Spitzer 2002, S.19

[41] vgl. Spitzer 2002, S. 174f.; S. 208f.; S. 212f.

[42] vgl. ebd. S. 212

[43] vgl. ebd. S. 1f.

[44] Platon zit. aus: von Ammon/Böhm 2011, S. 24

[45] vgl. Aristoteles in von Ammon/ Böhm 2011, S. 27-40

[46] vgl. Spitzer 2002, S. 8

[47] Bastian 2000

[48] Bastian 2001, S.102

[49] vgl. Robinson in Rittelmeyer 2010, S.10

[50] Kant zitiert aus Spitzer 2002, S.11

[51] Bastian 2001, S.104

[52] vgl. Ribke 1995, S.24ff.

[53] Goethe zit. aus Ribke 1995, S. 19

[54] vgl. ebd., S. 31ff.

[55] gewissermaßen als Gegenreaktion auf die Musische Bewegung der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus

[56] Merkt in Willers 2010, S.72

[57] In Anlehnung an das Zitat von Oscar Wilde: "Alle Kunst ist ganz zwecklos und das macht sie so wertvoll." zitiert aus Bastian 2001, S.40

[58] Affemann 1978, S.13ff.

[59] ebd.

[60] z.B. Bastian, Ribke, Affemann, Rittelmeyer, Niessen

[61] vgl. Hüther in Kreusch-Jacob 2009 S.34

[62] Bastian ebd. S.62

[63] Kaufmann/Piendl 2011 S.46

[64] wie sie u.a. bei Hüther, Bastian und Spitzer beschrieben werden

[65] Index für Inklusion (Boban/Hinz 2003) und Kommunaler Index für Inklusion (Montag Stiftung 2011)

TEIL II: DAS MUSIKSCHULSYSTEM IN DEUTSCHLAND

3.Historische, gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen

Historische Rahmenbedingungen

Die Anfänge des Musikschulwesens in Deutschland gehen auf die Bemühungen des Pianisten und Musikpädagogen Leo Kestenberg zurück. Dieser hatte es sich zu Beginn des 20. Jhd. als Referent für musikalische Angelegenheiten des Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung zum Ziel gesetzt, durch strukturelle Änderungen in Inhalt und Organisation das musikalische Bildungswesen Deutschlands von Grund auf zu reformieren. Außerdem wollte er eine fundierte Aneignung musikalischer Grundfertigkeiten für alle sozialen Schichten ermöglichen und die große Vielfalt qualitativ ungeprüften privaten Musikunterrichts durch eine staatliche Prüfungspflicht für Musikerzieher und die Förderung von Jugend - und Volksmusikschulen strukturieren.[66] Er setzte sich dafür ein, die musikalische Bildung in ihrer ganzheitlichen (`musischen´) Dimension zum Grundrecht eines jeden Individuums und zu einer wichtigen kulturpolitischen Aufgabe des Staates zu machen. Grundlage seiner Reformen, die unter dem Terminus "Kestenberg-Reformen" in die musikpädagogische Geschichte eingingen, war die Intention zur Förderung lebendigen, gemeinschaftlichen Musizierens und die Aufhebung standesbegrenzter Zugangsmöglichkeiten zu ästhetisch-ganzheitlichen musikalischen Bildungsangeboten. So postuliert KESTENBERG selbst: "Nicht länger sollten die Gebildeten entscheiden, welche niederen Regionen der Musik dem Volk zur Benutzung freigegeben werden könnten, ohne ernsthaft ästhetische Standesgrenzen zu gefährden."[67] Als überzeugter Sozialdemokrat sah er Musik als ideales Mittel zur Gesellschaftsbildung an und hatte (vorerst) keine Bedenken, sie für seine politischen, demokratisch ausgerichteten Zwecke zu funktionalisieren.[68] Mit diesen Ansichten und Ideen entsprach Kestenberg ganz dem Geiste seiner Zeit, dem auch die Bewegungen der Reformpädagogik, der Rhythmik, der Tanz- und Sportpädagogik sowie die Kunsterziehungsbewegung entsprangen. 1923 wurde die erste Jugendmusikschule in Berlin (unter Leitung von Fritz Jöde) eröffnet, der weitere `Musikschulen für Jugend und Volk´ im ganzen Land folgten.[69] Die im Zuge dieser Reformbestrebungen erarbeiteten Lehrplanstrukturen reichten vom Kindergarten bis zur Hochschule und orientierten sich an einem musisch (im Sinne von ganzheitlich-ästhetisch) ausgerichteten Bildungsverständnis.[70]

Es ist an dieser Stelle allerdings kritisch zu erwähnen, dass trotz allem Engagement für die Breitenöffnung musikalischer Bildung unter der Prämisse Musik für alle Menschen zugänglich zu machen, Menschen mit Beeinträchtigungen, gemäß dem allgemeinen Behinderungs-verständnis zu Beginn des 20. Jhd. in der Konzeption der Musikschularbeit nicht berücksichtigt wurden.[71]

Im Zuge der Zeit des Nationalsozialismus wurden die gerade geschaffenen Strukturen des musikalischen Bildungswesens und besonders die Grundidee der `Musischen Erziehung´ für ideologische Zwecke missbraucht und Kestenberg, der "als Jude, Künstler und Intellektueller, als Sozialdemokrat und Förderer der Moderne"[72] gleich mehrere nationalsozialistische Feind-bilder verkörperte, zur Emigration gezwungen. Die Umsetzung seiner Reformbestrebungen geriet damit in Deutschland[73] ins Stocken.

Im Nachkriegsdeutschland (ab 1945) versuchte man, im Bereich der Musikerziehung vorerst an die Ideen und Entwicklungen Kestenbergs wieder anzuknüpfen. Gleichzeitig setzte aber eine zunehmend kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit den Grundlagen der `Musischen´ Bildungskonzeption (unter Federführung von Adorno) ein, die zu einer stärkeren Betonung der wissenschaftlichen und technischen Aspekte im musikalischen Bildungsbereich führte. Im Bereich der Schulmusik führte dies dazu, dass der Aspekt des aktiven, gemeinschaftlichen Musizierens - und besonders der bis dahin praktizierte Klasseninstrumentalunterricht mit der Blockflöte - von einem werksanalytischen, musiklehregeleiteten Unterricht abgelöst wurde. Die instrumentale Ausbildung verlagerte sich nun verstärkt in den Bereich der Musikschulen, die seit der Zeit des Nationalsozialismus ausnahmslos in öffentlicher Trägerschaft standen. Diesen wurden vornehmlich die Kinder zugewiesen, die aus dem schulischen Musikunterricht "als besonders dafür [d.h. den Instrumentalunterricht, d. V.] begabt"[74] hervorgingen. (Auch hier waren Menschen mit Beeinträchtigungen per se nicht als Adressaten der Musikschulbildung vorgesehen.) Im geteilten Deutschland entwickelten sich auf den so geschaffenen Grundlagen zwei unterschiedlich ausgerichtete Musikschulsysteme weiter:

In der BRD entstand, auf der Basis einer föderativen Grundstruktur mit Kulturhoheit der einzelnen Bundesländer[75], erst nur partiell, dann aber in rasch wachsender Zahl, ein vielfältiges Spektrum an Musikschulen, Singschulen, Konservatorien und vereinzelt auch privaten Anbietern[76] musikalischer Bildung. Anfangs war die musikalische Ausbildung vor allem auf die Bereiche Gesang/Chorarbeit und traditionelle Musikinstrumente wie Akkordeon, Gitarre und Blockflöte ausgerichtet. In den 1960-er Jahren rückten dann verstärkt die `klassischen´ Orchesterinstrumente und Klavier in den Mittelpunkt. Obwohl die Musikschulen (gewissermaßen als Erbe der NS-Zeit) vielerorts in die öffentlichen Organisations- und Verwaltungsstrukturen integriert waren, galt die außerschulische musikalische Bildung als ein zahlungspflichtiges Angebot. So liegt die Vermutung nahe, dass vorwiegend Kinder (und auch Erwachsene) aus höheren Bildungsschichten von den Musikschulen profitierten. Ein gesetzlich verankerter oder inhaltlich vorgegebener Bildungsauftrag existierte nicht, was den einzelnen Musikschulen eine gewisse Freiheit in ihrer Konzeptionierung ließ. Zur Sicherung von Qualitätsstandards und zur Legitimierung eines öffentlichen Bildungsauftrags schlossen sich deshalb viele Musikschulen dem 1952 gegründeten `Verband der Jugend- und Volksmusikschulen e.V. ´ an, der sich 1966 in `Verband deutscher Musikschulen e.V. (VdM)´ umbenannte. Dieser gab regelmäßig Richtlinien zur Mitgliedschaft, Lehrplanwerke und Strukturberichte heraus und trug maßgeblich zur Strukturierung und Weiterentwicklung des Musikschulwesens bei.[77]

In der DDR waren Musikschulen als Teil des Bildungssystems den allgemeinbildenden Schulen gleichgestellt und Arbeitsrichtlinien und Lehrpläne gesetzlich verankert. Die Finanzierung erfolgte durch den Staat.[78] Hauptaufgabe der Musikschulen war es, vor allem besonders begabten Kindern und Jugendlichen, mit Vorrang für Arbeiter- und Bauernkinder, eine fundierte und leistungsorientierte Ausbildung zu ermöglichen und den Nachwuchs für die zahlreichen Orchester des Landes zu sichern (in den 1980-er Jahren war die DDR das orchesterreichste Land Europas[79]). Um die vergleichsweise wenigen Musikschulplätze vornehmlich dieser berufsorientierten musikalischen Ausbildung vorzubehalten, wurden in den 1980er Jahren sog. `Musikunterrichtskabinette´ eingerichtet, die sich der musikalischen Breitenbildung widmen sollten. Auch vielfältige musikalische Formationen wie Kinder- und Jugendchöre oder Folklore-Ensembles und die sog. Singe-Klub-Bewegung, die der FDJ-Organisation entsprangen, machten sich auf einem leistungsorientierten Niveau in der musikalischen Bildung verdient. In allen Bildungseinrichtungen, vom Kindergarten bis zur Hochschule, spielte Musik als Vermittlungsinstrument der sozialistischen Ideologie, v. a. in Form von Liedern, eine tragende Rolle. Für die leistungsorientierte Ausbildung in den Instrumentalfächern an den Musikschulen und in der Chorarbeit entstand eine Vielzahl spezieller Unterrichtswerke und anderer musikpädagogischer Literatur, die z. T. noch heute Verwendung findet. 1989 wurde dann der `Verband der Musikschulen der DDR´ gegründet, der bereits ein Jahr später im Zuge der Wiedervereinigung 1990 wieder aufgelöst und in den VdM überführt wurde.[80] Seitdem sind in diesem Dachverband der Musikschulen ca. 1000 Mitgliedsschulen organisiert, die ca. 1 Mio. Kinder unterrichten[81]. Neben der Bundesgeschäftsstelle wird er durch jeweilige Landesverbände vertreten und organisiert zahlreiche Symposien und Kongresse zu inhaltlichen und politischen Fragestellungen der Musikschularbeit. Seit den 1990-er Jahren setzt sich der VdM verstärkt für eine Neustrukturierung kultureller Bildungsarbeit, die Breitenöffnung der Musik-schulen und die Kooperation mit Allgemeinbildenden Schulen ein[82].

Neben den öffentlichen Musikschulen existiert seit den 1980-er Jahren (in den neuen Bundes-ländern erst seit den 1990-er Jahren) auch eine Vielzahl privater Musikschulen. Diese sind meist als gemeinnütziger e.V. oder gGmbH anerkannt und können zum großen Teil in Qualität und Schülerzahlen mit den kommunalen Musikschulen Schritt halten. Einige bieten auch ein ähnlich breites Spektrum wie diese an, andere sind auf bestimmte Instrumente(ngruppen)[83], Genres[84] oder auch die Verknüpfung mit anderen Kunstrichtungen[85] spezialisiert. Gründe für ihre Entstehung liegen zum einen darin, dass es die kommunalen Musikschulen lange Zeit versäumt haben, neuere Entwicklungen in der Musikgeschichte (z.B. Jazz/Rock/Pop) in ihre Strukturen und Konzepte zu integrieren und zum anderen in der Suche nach Möglichkeiten auch unkonventionelle Konzepte (z.B. Musikschulen mit eigenem, offenerem Lehrplanprofil oder in Kooperation mit Tanz-, Kunst- und musiktherapeutischen Angeboten[86]) sowie unternehmerisch ausgerichtete Profile (z.B. Yamaha-Musikschulen) zu etablieren.[87]

Gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen

Musikschulen in Deutschland, ob öffentlich oder privat organisiert, sind Einrichtungen, die sich der kulturellen bzw. musikalischen Bildung (vor allem) der nachwachsenden Generationen verschrieben haben und erfüllen damit einen ganz wesentlichen Bildungsauftrag unserer Gesellschaft. Denn "ohne Kultur gibt es auch kein gesellschaftliches Leben"[88]. Das Bewusst-sein für diese Zusammenhänge und die Würdigung und Förderung entsprechender Bemühungen in Politik und Gesellschaft lassen allerdings an vielen Stellen zu wünschen übrig[89] und führen zu erschwerten Bedingungen für die jeweiligen Einrichtungen. So wird, u. a. durch die mediale Präsenz der Studien von Bastian die Bedeutung musikalischer Bildung für die persönliche und soziale Entwicklung zwar zunehmend erkannt, gleichzeitig werden aber die Ausgangsbedingungen für einen derartigen Anspruch erschwert (oder zumindest nicht verbessert). So zählt die Unterhaltung von Musikschulen, obwohl sie ganz wesentlich zur Erfüllung des gesellschaftlichen kulturellen Bildungsauftrages beitragen, in Deutschland zum Bereich der freiwilligen Leistungen der Kommunen[90] und führt vielerorts angesichts von Haushaltsdefiziten zu Gebührenerhöhungen und qualitativ untragbaren Bedingungen, z. B. bei der Bezahlung der Lehrkräfte und ihren Arbeitsbedingungen[91]. ZACH konnte in einer Studie zur Situation der öffentlichen und freien Musikschulen in Deutschland[92] anhand von Zahlen belegen, dass vom überwiegenden Teil der deutschen Musikschulen die Richtlinien des VdM bezüglich der Qualifizierung und Anstellungsverhältnisse der Lehrkräfte nicht erfüllt werden (können).[93] Lediglich vier der sechzehn deutschen Bundesländer haben zur Sicherung des Bildungsauftrages von Musikschulen entsprechende Ländergesetze verankert (Bayern, Brandenburg, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt). Hauptanliegen dieser Gesetze ist die Regelung von Voraussetzungen bezüglich Organisationsstruktur und Ausrichtung, die eine Förderungswürdigkeit bedingen. Die konkrete Auslegung der einzelnen Gesetze reicht dabei von der Deckungsgleichheit mit den VdM-Richtlinien (Brandenburg) bis zu schwammigen Formulierungen, in denen es (nach ZACH) scheinbar nur "um Elite, um direkten Profit und Aushängeschild für das Bundesland"[94] (Sachsen-Anhalt) geht. Inhaltliche Vorgaben bleiben dabei außen vor. Sie sollen dem kommunalen Anspruch zur Sicherung von Lebendigkeit und Vielfalt vorbehalten bleiben.[95] Durch das Fehlen bundeseinheitlicher Regelungen und Zuständigkeiten befinden sich die deutschen Musikschulen in einem politischen und gesellschaftlichen `Schwebezustand´ zwischen außerschulischem, musikalisch ausgerichtetem Bildungsauftrag, einem Kulturauftrag im Sinne der Weitergabe, Entwicklung und Pflege eines kulturellen Erbes und einem gesellschaftlichen Erziehungsauftrag durch die Vermittlung sozialer und emotionaler Werte.[96]/[97] Sie sollen Begabung entwickeln, Leistung fördern und gleichzeitig für alle Menschen und Altersgruppen offen sein. Eine konsequente Verknüpfung und gesetzliche Würdigung dieser einzelnen Aspekte findet bislang nicht statt, obwohl dies in Anbetracht der hohen Ausfallquoten und dem schwindenden Ansehen des schulischen Musikunterrichts von vielen Gremien (Verband deutscher Musikschulen, Verband deutscher Schulmusiker, Arbeits-kreis für Schulmusik, Rektorenkonferenz der Musikhochschulen) und Persönlichkeiten (z.B. Bastian) vehement gefordert wird.

Auch vom Standpunkt gesellschaftlicher Entwicklung aus betrachtet, befinden sich Musik und Musikpädagogik in einem paradox anmutenden Spannungsgefüge aus extremem wirtschaftlichen, kommerziellen und medialen Interesse im Sinne der Vermarktung und Konsumierung von Musik als Produkt[98] und gesellschaftlichem wie auch politischem Desinteresse an kulturellem Bewusstsein und kreativer Entwicklung durch gemeinsames musikalisches Schaffen. Dass dies vor allem im sozialen Wandel zu einer Dienstleistungsgesellschaft mit starken Individualisierungstendenzen und der zentralen Stellung der Medien im Lebensalltag (v. a. von Kindern) begründet liegt, stellt FUNK-HENNIGS im Rahmen einer Untersuchung zu `Musik unter den Bedingungen des Medienzeitalters´ heraus.[99] Demnach steht (in Deutschland) dem stetig ansteigenden Konsum neuer Medien (Fernsehen, Radio, CD/MP3, DVD, Computer, ...) ein eher geringes Potenzial an verfügbaren Möglichkeiten zur musikalischen/künstlerischen Entwicklung gegenüber. Wie es im Besonderen um eine politische Fundierung und Förderung von kulturellen Angeboten für Kinder in Deutschland bestellt ist, zeigt die Studie `Kulturpolitik für Kinder´ von SCHNEIDER[100], aus der der Musikschulbereich insgesamt immerhin als der am höchsten unterstützte Bereich hervorgeht. Dass dies nicht zwangsläufig auf eine positive Entwicklung hinweist, muss allerdings deutlich werden, wenn man diesem Ergebnis die bei ZACH[101] geschilderten Existenzprobleme und -bedingungen an den Musikschulen gegenüberstellt. Vielmehr zeigt sich hier anhand von Zahlen und politischen bzw. gesellschaftlichen Realitäten der Schatten des kulturellen Untergangs einer (noch) selbstbewussten Kulturnation.

Unabhängig von dieser fehlenden politischen Förderung und öffentlichen finanziellen Sicherung setzen sich die führenden musikpädagogischen Verbände (Verband Deutscher Schulmusiker - VDS, Arbeitskreis für Schulmusik und allgemeine Musikpädagogik - AfS und Verband deutscher Musikschulen - VdM) für eine nachhaltige Etablierung musikalischer Bildung für alle Menschen durch erweiterte Kooperationsstrukturen und die Erweiterung der bestehenden Angebote (z. B. um integrative/inklusive Angebote und Musiktherapie[102]) ein. Die Ziele und Möglichkeiten einer Zusammenarbeit und Kooperation von Musikschulen und allgemeinbildenden Schulen wurden im Mai 2012 im Rahmen der `Lübecker Erklärung´[103] zusammengetragen und verankert. Darin wird dem "Stellenwert der Musikerziehung für die allgemeine Bildung und für eine humane Gesellschaft"[104] besondere Bedeutung zugemessen. Besonders vor dem Hintergrund der Ganztagsschulentwicklung und der Schulzeitverkürzung (G8) wird auf die dringende Notwendigkeit einer kollegialen und konstruktiven Zusammen-arbeit von Schul- und Musikschulpädagogen, die Sicherung von Strukturen und Ressourcen durch eine Vernetzung der Verbände und die Offenheit für Kooperationen mit anderen lokalen Bildungseinrichtungen verwiesen. Durch gemeinsame Initiative soll die Stärkung musikalischer Bildung auf politischer Ebene angestrebt werden.



[66] vgl. Gruhn 1993, S.233ff.

[67] Kestenberg zit. aus Batel 1989, S.58

[68] vgl. Batel 1989, S. 49ff.

[69] vgl. Gruhn 1993, S. 224ff.

[70] vgl. ebd., S. 226f.

[71] vgl. Probst 2002, Abs.3

[72] http://www.leo-kestenberg.com/musikpaedagogen-kulturpolitiker/info.cfm?cfgSection=leokestenberg&cfgSousSection=leben-und-werk&noPageSiteInternet=198

[73] In der Emigration konnte Kestenberg mit seinen musikerzieherischen Ideen in Prag und Palästina weiterwirken.

[74] Jöde in Probst 2002, Abs.3

[76] z.B. die 1958 von Rudolf Wenzel gegründete private (Blas-)Musikschule `Concordia´ in Kiel: http://www.concordia-kiel.de/index.php/concordia/geschichte

[77] vgl. http://www.musikschulen.de/vdm/chronik/index.html

[78] vgl. Zach 2006, S.11

[79] Loeckle/ Schreiber 1995, S.46

[80] vgl. Kilian 2004, S.7

[81] vgl. VdM Chronik: http://www.musikschulen.de/vdm/chronik/index.html (Stand: 05/2012)

[82] vgl. ebd.

[83] z.B. Franchise-Musikschulen von Yamaha und Fröhlich

[84] z.B. MusicArtSchool Erfurt: http://www.musicartschool.de/

[85] Z.B. musikKUNSTschule Hamburg: http://www.musikkunstschule.de/

[86] eine Übersicht der Motivationen zur Gründung privater Musikschulen gibt die Fragebogenerhebung im Anhang bei Zach 2006

[87] vgl. Zach 2006, S.38ff.

[88] Dr. Gerd Eicker (Vorsitzender des VdM) in der Expertenanhörung der Enquete-Kommission "Kultur in Deutschland" 2004 , S.1

[89] "Die Bedeutung von Kultur für unsere Gesellschaft und gerade die Bedeutung von Kultur für

unsere Kinder wird systematisch vernachlässigt." (Stellungnahme der Kinderkommission des Deutschen

Bundestages zum Thema `Kinder und Kultur´. Zit. aus: Schneider 2010)

[90] vgl. Zach 2006, S.11

[91] vgl. Eicker in der Expertenanhörung der Enquete-Kommission "Kultur in

Deutschland" 2004 , S.1

[92] vgl. Zach 2006

[93] vgl. ebd., S.21-25

[94] Zach 2006, S.19

[95] vgl. ebd. S.16

[96] s. Kapitel 2

[97] vgl. Zach 2006, S.11

[98] die Musikindustrie gehört, trotz Einbußen durch illegale Internetportale und Raubkopien, nach wie vor zu den stärksten Wirtschaftszweigen in Deutschland

[99] vgl. Kleinen 2003, S.6; Funk-Hennigs in: Kleinen 2003, S.260ff.

[100] Schneider 2010

[101] Zach 2006

[102] vgl. Kapitel 5

[103] http://www.musikschulen.de/medien/doks/vdm/Luebecker%20_Erklaerung.pdf

[104] ebd. S. 1

4. Strukturen, Zielsetzungen und Praxis - im Spannungsfeld von inklusivem Bildungsanspruch und Leistungsorientierung

Die UN-Behindertenrechtskonvention, die kritische Reflexion des deutschen Bildungswesens im Zuge der PISA-Studie und das Spannungsverhältnis zwischen den daraus erwachsenden Ansprüchen an Bildungseinrichtungen (auch im außerschulischen Bereich) und die zugleich immer deutlicher zutage tretenden Einsparungstendenzen im Bereich kultureller/musikalischer Bildungsarbeit, haben auch das Musikschulsystem in Deutschland nicht unberührt gelassen. So wurde im Jahr 2009 ein neuer Strukturplan des Verbandes deutscher Musikschulen, dem sich auch viele private Musikschulen verpflichtet sehen, aufgestellt, der die Musikschule in den Kontext einer kommunalen Bildungslandschaft mit vielfältigen Bezugs- und Vernetzungsebenen stellt:

Abbildung 2

Die (öffentliche) Musikschule wird hier definiert als

"das Kompetenzzentrum für musikalische Bildung und Erziehung der Kommunalen Bildungslandschaft. Dabei können die Lernorte ihres musikalischen Bildungsangebots sowohl innerhalb der Musikschule als auch bei anderen Einrichtungen im kommunalen Kontext angesiedelt sein. Hier kommt den Kooperationen mit Kindertagesstätten, Schulen, Laienmusikvereinigungen und vielfältigen weiteren Einrichtungen und Akteuren in der Kommune besondere Bedeutung zu."[105]

Als ihre Aufgaben werden beschrieben:

"die musikalische Grundbildung, die Breitenförderung, die Begabtenfindung und Begabten-förderung sowie ggf. die Vorbereitung auf ein Musikstudium. [...]

Bestimmten Zielgruppen wendet sich die Musikschule z. T. mit speziellen Angeboten zu, z.B. Erwachsenen, Menschen mit Behinderung, Mitbürgern mit Migrationshintergrund, sozial Benachteiligten. Sie kommt unterschiedlichen Musikinteressen und Lernwünschen entgegen. Die Musikschule schlägt - besonders im Bereich der Ensemble- und Ergänzungsfächer und in Form von Projekten - Brücken zu anderen Künsten und kulturellen Aktivitäten. Durch ihre Kooperationsbereitschaft mit anderen Einrichtungen am Ort schafft sie für ihre Schüler Kontakte und bereichert das musikalische Leben des Gemeinwesens."[106]

Diese Selbstdarstellung der Musikschulen zeichnet ein sehr fortschrittliches und nach vielen Seiten geöffnetes Profil, welches in seiner Gesamtheit durchaus einem inklusiven Bildungs-anspruch gerecht werden kann. So wird auch in den Neufassungen der Rahmenlehr- bzw. Bildungspläne[107] der Aspekt eines individualisierten Unterrichts, der eigene Impulse durch die Musikschüler aufgreift und einen ganz persönlichen Bezug zur Musik ermöglicht, verstärkt in den Mittelpunkt gerückt und dem gemeinsamen Musizieren von Anfang an besondere Bedeutung zugemessen.[108] In der Praxis sieht dies allerdings oft anders aus. Vielerorts steht im Mittelpunkt der Musikschularbeit der instrumentale Einzel- oder Kleingruppenunterricht mit bis zu vier Schülern. Lediglich im Bereich der Musikalischen Früherziehung oder Grundausbildung werden größere Gruppen angeboten. Das Musizieren in Ensembles oder Orchestern ist in der Regel ein freiwilliges Zusatzangebot, für das ein bestimmtes spieltechnisches Niveau und die Teilnahme an weiteren musiktheoretischen Zusatzangeboten oft Voraussetzung ist.[109] Als ein übergeordnetes Ziel für den Unterricht scheint vielen Lehrenden die Teilnahme ihrer Schüler an dem Wettbewerbszyklus "Jugend musiziert" auf Regional-, Landes- oder gar Bundesebene zu gelten - auch hier überwiegen solistische Einzeldarbietungen und kleine (kammermusikalische) Besetzungen. Mitunter scheinen diese "Jugend musiziert"-Wettbewerbe nicht mehr nur in ihrem eigentlichen Sinne - dem Einzelnen Motivation, Orientierung und Erfahrungen in Aufführungspraxis zu bieten[110] - zu fungieren, sondern vor allem einem Leistungsvergleich der einzelnen Einrichtungen und auch Lehrenden untereinander zu dienen. Die starke Reglementierung der Mittel im Bereich musikalischer Bildung in Deutschland führt gewissermaßen zu einem Legitimierungs- und Darstellungszwang der musikalischen Arbeit und erhebt damit die Fokussierung auf wettbewerbstaugliche Leistungen für einige Lehrkräfte zu einer Arbeitsplatz (und Existenz) sichernden Maßnahme.

Trotz dieses oft noch vordergründig leistungsorientierten Blickwinkels existieren an den meisten Einrichtungen Angebote mit breitenorientierter Ausrichtung, vermehrt in Kooperation mit Kindertagesstätten und Grundschulen. Aber gerade in diesen Kooperationsbeziehungen treten z. T. die Verstrickungen von tradierten, leistungs- und begabungsorientierten Vorstellungen von Musikausbildung und einem ganzheitlich ausgerichteten Breitenförderungsanspruch zu Tage. Dies kann sich auf der einen Seite in unzureichender Befriedigung der persönlichen Ansprüche der Lehrkraft als auch in unrealistischen Zielvorstellungen der Kooperationseinrichtungen niederschlagen oder durch ungleichgewichtete Kompetenzzuschreibungen zu einer generellen Berufsunzufriedenheit von Musikschullehrkräften führen.[111] Die Arbeit innerhalb der Strukturen allgemeinbildender Einrichtungen, z. T. in sozialen `Brennpunktgebieten´ oder auch integrativen Einrichtungen, stellt an die jeweiligen Lehrkräfte aus der Musikschule Kompetenzansprüche, denen auf der Basis eines (vorwiegend künstlerisch ausgerichteten) Musikstudiums kaum entsprochen werden kann.[112] So ergibt sich für Musikschul-lehrer unter Berücksichtigung aller Faktoren, die, laut Strukturplan, die musikalische Bildungsarbeit ausmachen, ein Berufsprofil, dass die Arbeit mit verschiedensten Altersgruppen (von Kindern bis zu Senioren), verschiedenen Gruppengrößen (vom Einzelunterricht bis zum Orchester), mit unterschiedlichen Leistungsanforderungen (vom Elementarunterricht bis zur Studienvorbereitung) sowie Fähigkeiten im kooperativen Umgang mit anderen Einrichtungen inklusive deren Teamstrukturen sowie sozialpädagogische Kompetenzen beinhaltet.[113] Diesen Ansprüchen kann auf der Basis der derzeitigen Ausbildungsstrukturen im Musikstudium nicht mit der Forderung nach ausschließlicher Anstellung von Musikhochschulabsolventen an den deutschen Musikschulen entsprochen werden. Vielmehr wird so fast zwangsläufig die künstlerisch leistungsorientierte Ausrichtung des Musikstudiums in das Musikschulsystem weitergetragen - solange keine entsprechende Vermittlung sozial-kommunikativer, (sonder-) pädagogischer, psychologischer und u. U. auch therapeutischer Kompetenzen in Studium und Weiterbildungsprogramme integriert wird.[114] Vor diesem Hintergrund muss die Erfüllung und Ausgestaltung des Strukturplans als Zielsetzung angesehen werden, die den Weg zukünftiger Entwicklung weisen kann. Besonders das übergeordnete Ziel, "musikalische Bildung über strukturell-organisatorische Grenzen hinweg für alle Kinder zugänglich zu machen"[115], mag mit Blick auf die Realität in Deutschland vielerorts eher als Utopie erscheinen. Kooperations-beziehungen zwischen allgemeinbildenden Einrichtungen und Musikschulen sowie die Zusammenarbeit von Musikschul-, Elementar-/(Grund)Schul-, Sozial- und Sonderpädagogen, die in den einzelnen Bundesländern durch die Verschiedenheit der Rahmenbedingungen in unterschiedlicher Intensität vorangetrieben werden, können hier eine Richtung weisen. In je-dem Falle wird sich das Musikschulsystem in Deutschland zunehmend vor der Aufgabe einer grundsätzlichen Um- und Neustrukturierung sehen, wenn es den sich verändernden Anforderungen aus Politik und Gesellschaft (z. B. finanzielle Ressourcenverteilung, UN-Behindertenrechtskonvention und Nationaler Aktionsplan der Bundesregierung, Umstrukturierungen im Schulsystem) gerecht werden will. Eine Richtung der Entwicklung ist durch den Strukturplan von 2009 bereits vorgegeben. Für diesen Weg konstatiert PFAFF im `Bildungs-plan Musik für die Elementar-/Grundstufe´: "Es braucht also vor allem Zeit, um die richtigen Fragen zu stellen, jeweils stimmige Lösungen zu finden und klare Vereinbarungen zu treffen."[116]



[106] ebd.

[107] z.B. VdM: Bildungsplan Musik für die Elementar- und Grundstufe 2010

[108] vgl. ebd. S.11

[109] vgl. Elstner 2011 S.96

[111] vgl. Bastian 2012 S.143f.

[112] vgl. Kilian 2004 S.27ff.

[113] vgl. Kilian 2004 S. 27f.

[114] vgl. ebd. S.29ff.

[115] Pfaff 2010 S.95

[116] ebd.

5. Initiativen, Konzepte und Projekte im integrativen/inklusiven Kontext

Menschen, die aufgrund körperlicher, geistiger oder anderer Beeinträchtigungen zur gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft (in bestimmten Bereichen) einer besonderen Unter-stützung bedürfen, wurden in den Entwicklungen des musikalischen Bildungssystems lange Zeit nicht explizit berücksichtigt. Das elementar-musikalische Konzept von Carl Orff, welches nach Ende des Zweiten Weltkrieges weltweite Beachtung und Verbreitung fand und vor allem die kreativen Selbstäußerungen des Menschen in Musik und Bewegung in den Mittel-punkt stellte, bot erstmals einen pädagogischen Ansatz, der sich prinzipiell auch auf die sonderpädagogische Arbeit ausweiten ließ. GERTRUD ORFF überführte die Grundlagen dieses Konzeptes in die von ihr begründete Orff-Musiktherapie[117] und konnte damit im musiktherapeutischen Bereich wichtige Impulse setzen. Das Musikschulwesen blieb von diesen Entwicklungen und neuen didaktischen Prinzipien jedoch lange Zeit unberührt. Erst Ende der 1960-er Jahre wurden mit dem Unterrichtsmodell der `Musikalischen Früherziehung´ auch elementare musikdidaktische Konzepte in die Musikschularbeit integriert. In enger Verknüpfung mit der schulischen Integrationsbewegung wurden ab 1979 im Rahmen des Modellversuchs `Instrumentalspiel mit Behinderten und von Behinderung Bedrohten´ an der Musikschule Bochum erste Überlegungen zu Möglichkeiten und Voraussetzungen der Integration dieser "Rand-gruppen"[118] in die Arbeit der Musikschulen angestellt. Dabei standen ganz explizit nicht musiktherapeutische Aspekte im Vordergrund, sondern die Eruierung pädagogischer und didaktischer Notwendigkeiten und Prinzipien für das individuelle und gemeinschaftliche Musizieren von behinderten und nichtbehinderten Musikschülern.[119] Die Erkenntnis, dass für eine solche Ausweitung des Profils der Musikschulen entsprechend ausgebildete Musikpädagogen not-wendig sind, führte zur Einrichtung des `Berufsbegleitenden Lehrgangs Instrumentalspiel mit Behinderten an Musikschulen´ 1981. Dieser ermöglicht es seitdem Musikschulpädagogen, innerhalb von zwei Jahren eine spezielle Qualifikation auf der Basis allgemein- und sonder-pädagogischer Theorie und Praxis für die integrative Arbeit an Musikschulen zu erwerben. Durch die Einrichtung dieses Fortbildungsprogramms, die Konstitution eines Fachausschusses für Menschen mit Behinderungen an Musikschulen im VdM und die Thematisierung der Notwendigkeit von sonderpädagogischen, integrativen und musiktherapeutischen Angeboten an deutschen Musikschulen im Rahmen von Fachkongressen[120], konnte die Etablierung entsprechender Angebote an vielen Musikschulen vorangetrieben werden (laut RASCHER an knapp der Hälfte aller Mitgliedsschulen im VdM[121]). Wie es genau um die Möglichkeiten für Menschen mit Beeinträchtigungen an Musikschulen in Deutschland bestellt ist, lässt sich an-hand der Literatur nur schwer ausmachen. Die wenigsten Musikschulen werben hier mit gezielten Angeboten. So stellt sich, auch aufgrund der sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen, ein sehr schwer zu differenzierendes Bild dar. Die Verunsicherung bei den Lehrkräften bezüglich einer Unterrichtung von Kindern mit Besonderheiten ist, oft auch aufgrund fehlen-den sonderpädagogischen Grundwissens, an vielen Musikschulstandorten noch groß und nicht selten werden unzureichende bauliche Gegebenheiten oder organisatorische Probleme als Gründe für eine Ablehnung von integrativen oder behinderungsspezifischen Angeboten angeführt.[122] In steigendem Maße kann sich aber die Zusammenarbeit mit integrativen Einrichtungen oder Sonder- bzw. Förderschulen etablieren. An einigen Musikschulen werden auch besondere Projekte mit integrativem (oder gar inklusivem) Fokus ausgerichtet und gefördert. (So existiert beispielsweise an der `Städtischen Musikschule Paderborn´ seit Mitte der 1990-er Jahre eine Projektgruppe "Musikunterricht mit blinden und sehbehinderten Kindern"[123], die sich der Entwicklung von Materialien zur gemeinsamen musikalischen Unterrichtung von sehenden und nichtsehenden Kindern verschrieben hat.)

Der `Weg in eine inklusive Gesellschaft´, wie er im Rahmen des `Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention´[124] angedacht und gefordert wird, führt aber auch im Bereich des musikalischen Bildungssystems nicht an einem grundsätzlichen Wandel im Bewusstsein für die Notwendigkeiten eines selbstverständlichen Umgangs mit Vielfalt und Heterogenität vorbei. Wie sich ein solches Selbstverständnis auf allen Ebenen einer Musikschule widerspiegeln sollte, wird beispielhaft in Konzeption und Organisation der `Musikschule Fürth´[125] deutlich, deren Schulleiter Robert Wagner auch federführender Dozent des `Berufsbegleitenden Lehrgangs Instrumentalspiel mit Behinderten an Musikschulen´ ist. `Vielfalt und Heterogenität´ sind hier grundlegende Bausteine des Gesamtkonzeptes, sowohl in Bezug auf die angebotenen Fächer (von der Integrativen Samba-band über Elementare Musikpädagogik und Afrikanisch Trommeln bis zur berufsorientierten

Ausbildung auf den sog. `klassischen Orchesterinstrumenten´), als auch bei der Auswahl der Lehrkräfte und innerhalb der Schülerschaft.

Das angestrebte inklusive Selbstverständnis spiegelt sich auch in der Philosophie der Einrichtung wider:

Die Musikschule Fürth ...

  1. ... setzt beim Können der Schüler an, gemäß dem Wissen: Können verursacht Lernen verursacht Können.

  2. ... bemüht sich, die elementaren Grundregeln und Gesetzmäßigkeiten der Musik, gleich welchen musikalischen Niveaus, offen zu legen und bietet dem Schüler Möglichkeiten und Bausteine an, Musik Stück für Stück zu be"greifen" und in Besitz zu nehmen.

  3. ... hält das "selbstverständliche Musizieren" des Schülers für ein vorrangiges Lernziel.

  4. ... weiß, dass langfristig nur selbstbestimmtes Können Spaß macht und legt demgemäß Wert auf selbstbestimmte Zielauswahl der Schüler.

  5. ... hält es für entscheidend, Werte des Schülers zu kennen und zu respektieren - aber auch neue Werte erfahrbar zu machen. Für das selbstbestimmte Lernen ist es von entscheidender Bedeutung, dass der Schüler Lerninhalte an eigene Werte binden kann.

  6. ... erkennt die Neugier und den Gestaltungswillen als die menschlichen Antriebe an, die wesentlich für die Entwicklung mitverantwortlich sind. Sie stellen im Lernprozess ein unermesslich wertvolles Potential dar und sind keineswegs nur auf kindliches Lernen beschränkt.

  7. ... bietet bei vielen Gelegenheiten (Schülervorspielen, Konzerten, Ensemblemusizieren, im Gruppenunterricht, im Spiel mit dem Lehrer als Musizierpartner usw.) Möglichkeiten der Anwendung des "Gelernten". "Spaß" macht Können nur, wenn man mit diesem Können etwas anfangen kann.

  8. ... lädt zu diesen Gelegenheiten Gäste aus den Familien und dem Umfeld ihrer Schüler ein, weil sie weiß, dass Können noch mehr "Spaß" macht, wenn Menschen, die man schätzt, dieses Können auch würdigen "können".

  9. ... empfiehlt den Gruppenunterricht als die dem Menschen angemessene Sozialform des Unterrichts; erkennt aber ausdrücklich auch die Berechtigung des Einzelunterrichts in bestimmten Fällen an.

  10. ... lernt selbst ständig dazu, im steten Bemühen, jedem Schüler in seiner Einzigartigkeit gerecht zu werden.

Die Umsetzung einer solchen Philosophie erfordert eine hohe Reflexionsbereitschaft, gefestigte, von gegenseitigem Respekt getragene Teamstrukturen und ein Selbstverständnis der musikalischen Bildungsarbeit, das jenseits althergebrachter Leistungsvorstellungen liegt. So verwundert es nicht, dass hier ca. ein Viertel der beschäftigten Lehrkräfte eine spezielle Qualifikation im Bereich `Instrumentalspiel mit Behinderten´ aufweisen kann.[126]

Dem bereits 25-jährigen Bemühen der Musikschule Fürth, den Weg der musikalischen Bildung ganz selbstverständlich auch `besonderen´ Menschen zu öffnen, entsprang im Jahr 2009 auch die wegweisende Initiative "Berufung Musiker". In ihrem Rahmen wird an der Musik-schule Fürth ein berufsqualifizierender Ausbildungsgang im Bereich `Musik´ für Menschen mit Beeinträchtigungen angeboten. Diese lernen innerhalb von zwei Jahren ein Instrument und erwerben grundlegende Fähigkeiten in Rhythmik und Notenlehre. Die erworbenen Fähigkeiten werden in einer Band gefestigt und erweitert, die auch über den Ausbildungsgang hin-aus fachlich begleitet wird und zum gemeinsamen Musizieren - auch mit anderen Bands - Möglichkeiten bietet. Zur finanziellen Absicherung der Initiative konnte die Stiftung eines Hotelunternehmens (die Accor Foundation) gewonnen werden.[127] Durch die Einbindung einer Ausbildung für Menschen mit Beeinträchtigungen[128] in eine bereits bestehende (allgemeine) Ausbildungsstätte zeigt sich hier richtungsweisend eine konsequente Umsetzung des Inklusionsgedankens und auch die mögliche Bedeutung gesellschaftlichen Engagements von Unter-nehmen für die Weiterentwicklung kürzungsbedrohter Bildungsbereiche. Eine wichtige Station der `Berufung Musiker´-Ausbildung ist die Mitgestaltung des `Fürther Integrativen Sound-festivals FIS#´[129], bei dem an zwei Tagen verschiedenste Bands (im Jahr 2011 waren es elf) aus Musikern mit und ohne Beeinträchtigungen in Festivalambiente mit großem Publikum ihre Darbietungen präsentieren. Auch dieses Festival wird von der Musikschule Fürth initiiert und organisiert und trägt dazu bei, das Motto "Es ist normal anders zu sein" in die Gesellschaft zu tragen.[130]



[117] vgl. Orff 1974

[118] Probst 2002 S.10

[119] vgl. ebd. S.11f.

[120] vgl. Rascher 2002 S.2-4

[121] ebd. S.2

[122] vgl. Probst 2002, S.6

[123] http://www.blindenprojekt.de/Konzept.htm

[124] Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2011b

[126] vgl. http://www.musikschule-fuerth.de/Instrumental-und-Vokalunterricht/m112l1/Instrumental-und-Vokalunterricht.html

[127] vgl. http://www.musikschule-fuerth.de/Berufung-Musiker/m223l1/Berufung-Musiker.html

[128] die sonst als Angestellte einer Behindertenwerkstatt quasi in `exklusiver Gesellschaft´ leben und arbeiten

[129] http://www.musikschule-fuerth.de/FIS/m139l1/-.html

[130] vgl. ebd.

6. Zusammenfassung

Das deutsche Musikschulsystem galt auf der Basis der historischen und kulturellen Entwicklung lange Zeit als Ausbildungssystem für einen besonders begabten Musikernachwuchs, der sich durchaus an professionellen Maßstäben messen lassen musste. Obwohl die ursprüngliche Idee der Begründer der Musikschulen, Leo Kestenberg und Fritz Jöde, auf eine musikalische Breitenbildung aller Menschen im Sinne einer `Musischen Bildung´ gerichtet war, etablierte sich nach Ende des Zweiten Weltkrieges, in kritischer Auseinandersetzung mit dem musischen Bildungskonzept, ein musikalisches Bildungsverständnis, bei dem spieltechnische, interpretatorische, musiktheoretische und analytische Aspekte im Mittelpunkt standen. Zum vorherrschenden Unterrichtsmodell wurde der instrumentale Einzelunterricht. Als zahlungs-pflichtiges außerschulisches Angebot wurde der Besuch der Musikschule somit vielfach zu einem Privileg der entsprechend verdienenden Bildungsschicht.

Mit dem beginnenden Wandel im schulischen Bildungssystem hin zu Ganztagsschulen und größerer Chancengerechtigkeit konnte auch im Musikschulwesen ein Umdenkprozess in Gang gesetzt werden mit der Forderung nach weiterreichender Öffnung der Angebote. Dem Problem der gleichzeitigen verstärkten Kürzung der Mittel für die kulturelle Bildung in vielen Kommunen soll dabei, im Sinne des Strukturplans des VdM von 2009, vor allem durch intensive Kooperationen mit allgemeinbildenden Einrichtungen, also Kindertagesstätten und Schulen, und die Zusammenarbeit der jeweiligen Lehrkräfte begegnet werden. Im Sinne der Um-setzung der UN-Behindertenrechtskonvention und der Bestrebungen der Bundesregierung zur Etablierung einer `inklusiven Gesellschaft´, müssen Strukturen geschaffen werden, die auch den individuellen Bedürfnissen bisheriger sog. `Randgruppen´ - also in erster Linie `Menschen mit Behinderungen´, `Menschen mit Migrationshintergrund´, `Menschen aus bildungs-fernen Schichten´ - gerecht werden können und eine selbstverständliche Teilhabe an musikalischen Bildungsangeboten ermöglichen. Dabei müssen vor allem eine weitreichendere Ausbildung der Lehrkräfte und die Sicherung ihrer Existenz durch qualitativ vertretbare Anstellungsverhältnisse angestrebt werden. Der `berufsbegleitende Lehrgang Instrumentalspiel mit Behinderten an Musikschulen´ sowie die Vorschläge der Expertenanhörung im Rahmen der Enquete-Kommission "Kultur in Deutschland"[131] zeigen hier bereits Möglichkeiten auf, die in größerem Umfang zu etablieren und durchzusetzen wären, wenn dem umfassenden Anspruch des Strukturplans von 2009, der die Musikschule als einen zentralen kulturellen Bildungs- und Begegnungsort für alle Bevölkerungsschichten und Generationen einer Kommune beschreibt, entsprochen werden soll. Eine beispielhafte Entwicklung inklusiver Musikschularbeit zeigt sich an der Musikschule Fürth, die nicht nur seit 25 Jahren für alle Menschen, musikalischen Genres und Unterrichtsformen offen ist und den respektvollen und reflektierten Umgang mit Vielfalt und Heterogenität fest in ihrer Einrichtungskonzeption verankert hat, sondern auch zukunftsweisend das Modell des gesellschaftlichen Engagements von Unternehmen zur Umsetzung und Weiterentwicklung inklusionsfördernder Initiativen nutzt. Dieses Einzelbeispiel mit Vorbildfunktion zeigt auf, wohin der Strukturplan weisen will. Auf politischer Ebene müssen hierfür die notwendigen finanziellen und strukturellen Bedingungen geschaffen werden. Einen Weg zur effektiven Vernetzung einzelner Ebenen und Organisationen innerhalb der Kommunen kann dabei der `KOMMUNALE INDEX FÜR INKLUSION´[132] aufzeigen.

Abbildung 4



[131] vgl. Eicker 2004

[132] Montag Stiftung 2011

TEIL III: DAS MUSIKSCHULSYSTEM VENEZUELAS

7. Historische, gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen

Venezuela ist ein Land mit sehr heterogenen kulturellen Einflüssen. In die Kultur der ursprünglich indigenen Bevölkerung mischen sich hier afrikanische Einflüsse der Sklaven aus der Kolonialzeit und eine übermächtige Präsenz spanischer Einflüsse, die in der Eroberungs- und Besatzungszeit ganz maßgeblich prägend auf die kulturelle Entwicklung des Landes gewirkt haben. So hat sich Spanisch als Landessprache etabliert und auch in Architektur und Religion ist die spanische Herrschaftszeit noch allgegenwärtig.[133] Auch in der traditionellen Musikkultur mischen sich diese vielfältigen Einflüsse. Sie ist geprägt von traditionellen Instrumenten, wie der Cuatro[134] und den Maracas[135], afrikanischen und indianischen Rhythmen und Klängen sowie den ursprünglich von den spanischen Eroberern eingeführten und regional weiterentwickelten Harfen, deren spezielle Form der Llanero-Harfe (arpa llanera) den Status eines `Nationalinstruments´ erworben hat. In den größeren Städten wie der Hauptstadt Caracas und Barquisimeto konnte sich durch europäische Einwanderer auch die klassische Musik etablieren und es entstanden erste Musikschulen und Konservatorien nach europäischem Vor-bild.

In diese kulturelle Vielfalt wurde im Mai 1937 José Antonio Abreu hineingeboren, der Begründer des heute weltweit beachteten Musikschul- und Orchestersystems Venezuelas. Als Enkel italienischer Einwanderer wuchs er vor allem unter dem Einfluss klassischer Orchester- und Opernliteratur auf und konnte nach einem Umzug seiner Familie nach Barquisimeto Unterricht an einer Musikschule erhalten. Sein großes musikalisches Talent wurde hier entdeckt und gefördert, und mit zwanzig Jahren entschied er sich dazu, am Konservatorium in Caracas Orgel, Klavier, Cembalo und Dirigieren zu studieren.[136] Im politisch hochgradig instabilen Venezuela, das auch nach Einführung der ersten Demokratie (1958) noch beständigen Machtwechseln und Putschversuchen ausgesetzt war, bot ein solches Studium allerdings keinerlei Perspektive. Die wenigen bestehenden Orchester rekrutierten ihre Instrumentalisten überwiegend aus dem Ausland. Und auch in den führenden Orchestern auf dem internationalen Musikmarkt hatten die Absolventen der Konservatorien Venezuelas keine Chance.[137] Die-se Erkenntnis und die Begegnung mit den existenziell von Armut bedrohten Menschen in den Barrios, die sich, auch heute noch, an den Hügeln um Caracas herum erstrecken, erweckten in Abreu den tiefgreifenden Wunsch, zu einer positiven Veränderung dieser Verhältnisse beizutragen.[138] Die schrittweise Umsetzung dieses Plans begann zunächst mit der Aufnahme eines Ökonomiestudiums und einer anschließenden politischen Karriere im Parlament, die ihm letztendlich die Position des Direktors des Nationalen Instituts für Kunst und Kultur einbrachte und somit eine hervorragende Ausgangsposition für die Umsetzung seines Vorhabens bot: sowohl die musikalische Ausbildung zu reformieren als auch der durch Armut verursachten wachsenden Resignation und Gewalt Einhalt zu gebieten. Denn trotz eines enormen wirtschaftlichen Aufschwungs durch Erdölfunde und die Einführung der Demokratie waren die sozialen Probleme des Landes nahezu allgegenwärtig.[139] Da er im Laufe seiner eigenen musikalischen Ausbildung zu der Erkenntnis gekommen war, dass der eigentliche Erfahrungsraum musikalischer Bildung die Gemeinschaft und das gemeinsame Musizieren im Orchester ist, gründete José Antonio Abreu am 12. Februar 1975 sein erstes Jugendsinfonieorchester `Orquesta Sinfónica Juvenil Juan José Landaeta´. Ursprünglich wollte er damit vor allem jungen Musikstudenten die dringend benötigte Perspektive bieten. Als sich aber zu den ersten offenen Proben in einer Tiefgarage von Caracas immer mehr Jugendliche und teilweise auch Kinder von gerade einmal zehn Jahren einfanden und mit Begeisterung versuchten, dem qualitativen Anspruch Abreus und der ausgebildeten Musiker gerecht zu werden, wurde ihm klar, dass dies der Weg sei, den die Kinder der resignierten und vom wachsenden Wohlstand ausgeschlossenen Menschen in den Barrios Venezuelas brauchten.[140] Auf fachlicher und politischer Ebene standen Abreu in dieser Anfangszeit viele Kritiker entgegen. Kaum jemand hielt es für möglich und notwendig, das bestehende, in aller Welt profilierte, musikalische Ausbildungssystem zu verändern. Nicht so die Mitglieder seines ersten Orchesters, die in den täglich stattfindenden Proben nicht nur innerhalb kürzester Zeit Konzertreife erlangten, sondern auch zu Mitstreitern und Mitgestaltern von Abreus Idee wurden. In dem, der Orchestergründung bald folgenden, Aufbau eines Konservatoriums (`Conservatorio de Música Simon Bólivar´), in dem Musiker und Musiklehrende im Sinne Abreus´ pädagogischer Prinzipien ausgebildet werden sollten, fungierten sie als erste Professoren mit.[141] Durch das stete Bemühen, sein Orchester und damit seine Reformideen auch in der internationalen Musikwelt bekannt zu machen, was mit der bravourösen Teilnahme an einem Jugendorchesterfestival in Schottland auch gelang, konnte Abreu nach und nach wichtige Förderer für seine Pläne gewinnen. Forciert durch seine geschickten, ökonomisch-fundierten Argumentationen, die vor allem die sozialen Entwicklungsaspekte für die venezolanische Gesellschaft in den Mittelpunkt stellten, gelang es ihm, eine Förderung für den landesweiten Aufbau eines Musikschulsystems für minderprivilegierte Kinder durch das Sozial- und Gesundheitsministerium zu erwirken. Der Startschuss für eine rasante Entwicklung des venezolanischen Musikschulsystems war damit gegeben.[142]

Die Aufmerksamkeit Abreus wandte sich nun insbesondere den Barrios zu, illegal erbauten Hüttensiedlungen, die sich ghettoartig um die Städte ausbreiteten und durch steten Zuzug der armen Landbevölkerung in Folge des Öl-Booms ständig wuchsen. Das Leben hier war und ist nach wie vor geprägt von Arbeitslosigkeit, Resignation, Gewalt und Drogen. Für viele Kinder war selbst der Weg zur Schule zu gefährlich. Die Nachmittage mussten sie in den halbwegs schützenden Behausungen verbringen, um nicht in eine der Schießereien auf den Straßen zu geraten. Viele von ihnen rutschten früher oder später selbst in diesen Strudel aus Kriminalität und Existenzkampf ab. Dem wollte Abreu mit einem umfassenden System musikalischer Bildung begegnen und so entstanden seine ersten Musikschulen direkt in den Barrios und armen Randgebieten Venezuelas. Als Grundlage für dieses System standen vor allem zwei Aspekte im Mittelpunkt: Jedes Kind, egal welcher Herkunft und mit welchen Voraussetzungen, mit dem Willen, sich durch Musik in einer Gemeinschaft zu bilden, sollte kostenlos die Möglichkeit dazu erhalten. Außerdem sollte das maßgebliche pädagogische Prinzip darin bestehen, alle Kinder von Anfang an in eine Orchestergemeinschaft zu integrieren und somit auch das Lernen voneinander anzuregen.[143] Alle weiteren Aspekte des sehr komplexen Systems, das bis heute die Kultur- und musikalische Bildungslandschaft Venezuelas grundlegend verändert hat, ergaben und ergeben sich durch vielfältige Anpassungs- und Entwicklungsprozesse innerhalb der Verwirklichung dieser Grundsätze unter den gegebenen politischen und gesellschaftlichen Umständen.[144]



[134] kleines 4-saitiges gitarrenähnliches Instrument, ähnlich der Ukulele

[135] indianisches Kalebasseninstrument

[136] vgl. Kaufmann/Piendl 2011 S.27

[137] vgl. Erkelenz 2010 S.6f.

[138] vgl. Kaufmann/ Piendl 2011 S.28

[139] vgl. Erkelenz 2010 S.6

[140] vgl. Kaufmann/ Piendl 2011 S.41ff.

[141] vgl. ebd. S.46ff.

[142] vgl. ebd. S.66ff.

[143] vgl. Erkelenz 2010 S.8f.

[144] Die gesamte Entwicklung des Systems ist detailliert nachgezeichnet bei Kaufmann/ Piendl 2011.

8. Philosophie, Methoden, Aufbau und Sicherung des Systems - vom sozialen Hilfsprojekt zum angesehenen Bildungskosmos

Spätestens mit der Veröffentlichung des dokumentarischen Kinofilms "El Sistema" von Paul SMACZNY und Maria STODTMEIER[145] im Jahr 2009 wurde die internationale Musikwelt auf das revolutionäre Musikausbildungssystem in Venezuela aufmerksam, das so ganz anders funktioniert als die etablierten Strukturen der musikalischen Bildung in den großen klassischen Musiknationen. War vielen bis dahin nur das qualitativ herausragende Nationale Jugendsinfonieorchester Venezuelas bekannt, welches, abgesehen von seiner Größe und Qualität, im Sinne einer Zusammenstellung der besonders musikalischen jungen Talente des Landes nichts grundlegend Außergewöhnliches darstellte, wurde mit dieser Dokumentation die gesamte soziale Tragweite des musikalischen Ausbildungssystems für die Gesellschaft Venezuelas offensichtlich. Die von JOSÉ ANTONIO ABREU erdachte Vision "Freier Zugang zur Kunst für alle Kinder Venezuelas, Lateinamerikas und der Karibik [...] und eine große humanistische und kreative Revolution durch die Kunst"[146], die anfangs von Vielen als verrückte Träumerei belächelt worden war, hat hier eine ganz konkrete und bis heute weit entwickelte Gestalt angenommen.

Getragen wird das System, nach einer managementorientierten Analyse von ERKELENZ, durch drei Grundsäulen:

  1. das musikpädagogische Modell

  2. die gezielte Motivation und Koordination der maßgeblichen Leute und

  3. die Beschaffung der notwendigen materiellen und finanziellen Ressourcen[147].

Hinzuzufügen wäre noch eine wesentliche vierte Säule:

  1. die soziale Dimension.

Das musikpädagogische Modell basiert auf der Annahme, dass jedes Kind bzw. jeder Mensch eine musikalische Grundbegabung besitzt, die es ihm ermöglicht, auf der Basis seiner individuellen Erfahrungen in einer musikalischen Gemeinschaft zu agieren und dabei wesentliche Impulse für die weitere Persönlichkeitsentwicklung zu empfangen. So erhält jedes Kind, das in eine Musikschule des Systems, genannt `núcleo´, aufgenommen wird[148], nach einer kurzen elementar-musikalisch ausgerichteten Orientierungsphase, kostenlos ein Instrument seiner Wahl und wird in die Gemeinschaft eines Kinderorchesters der jeweiligen Musikschule integriert. Einem Mangel an Lehrkräften wird dabei dadurch vorgebeugt, dass erfahrenere Orchestermitglieder ihr Können und Wissen an die Neuen und weniger Erfahrenen weitergeben. Dadurch werden in erster Linie Selbstbewusstsein, Reflexion und Vertiefung des selbst Gelernten, Gemeinschaft und Verantwortungsgefühl gefördert.[149] Zudem steigert es die intrinsische Motivation und führt bei vielen zu schnellen Fortschritten, da das Level des lehrenden Schülers sich auf einem erreichbaren Niveau darstellt. Prinzipiell ist das System auf Leistung ausgerichtet. Diese soll jedoch nicht auf der Basis von Druck, sondern in erster Linie durch die grundlegende Förderung der Eigenmotivation erreicht werden.[150] Somit existieren neben den Orchestern auch Angebote in weiterführendem Einzel-bzw. Kleingruppenunterricht, kammermusikalische Ensembles, die nicht selten aus Initiativen der Schüler selbst erwachsen, und Möglichkeiten des Unterrichts in Dirigieren und Komposition. Gerade den letztgenannten Angeboten wird besondere Bedeutung zugemessen, denn die ständig wachsende Zahl an Kinderorchestern bedarf auch eines entsprechenden Bestandes an ausgebildeten Dirigenten. Im Umkehrschluss stellt die große Zahl an Orchestern für die Dirigier-Schüler ein `Eldorado´ an Erfahrungsmöglichkeiten dar. Die musikalische Arbeit in den Musikschulen bindet die Kinder an sechs Tagen in der Woche ein (Montag bis Freitag von 14.00 Uhr bis 18.00 Uhr und samstagvormittags). Zwei Stunden davon dienen täglich der Orchesterarbeit. Dies fördert nicht nur die Gemeinschaft durch das tägliche Miteinander und die Entstehung enger Freundschaften, sondern in entscheidendem Maße auch die Organisations- und Konzentrationsfähigkeit der Kinder. Vor dem Hintergrund der Lebensbedingungen, denen viele der Kinder in den Barrios ausgesetzt sind, stellt dies einen wichtigen Aspekt für die positive persönliche Weiterentwicklung dar. Nicht zuletzt bietet der tägliche Aufenthalt in den Núcleos auch einen Schutzraum vor den Gefahren auf den Straßen der Barrios.[151]

Entsprechend den wachsenden spieltechnischen Fähigkeiten der Kinder existieren Aufstiegs-möglichkeiten in weiterführende Auswahlorchester, für die eine entsprechende Aufnahmeprüfung Voraussetzung ist. Ob und wann ein Kind sich einer solchen Prüfung stellt, ist ihm selbst überlassen. Die Vorbildwirkung der angesehenen und professionell arbeitenden Jugendsinfonieorchester `Simón Bolívar´ und `Teresa Carreño´ ist aber so enorm, dass die meisten Kinder einen schnellen Aufstieg anstreben.[152] Die erreichte Qualität bei den Vorspielen ist dabei so hoch, dass auch bei den höher gestellten Orchestern Besetzungen mit 200-300 Instrumentalisten keine Besonderheit mehr darstellen. (Zum Vergleich: Die meisten herkömmlichen Sinfonieorchester arbeiten mit Besetzungen von 90-110 Musikern[153].)

Um auch im Rahmen der Aufstiegsmöglichkeiten soziale Benachteiligungen zu vermeiden, werden Fahrtkosten zu den Vorspielen und den Proben der höheren Orchester, die zumeist in Caracas, Maracay oder Barquisimeto angesiedelt sind, vom System bezuschusst oder übernommen. Für das Nationale Jugendsinfonieorchester `Simón Bolívar` werden in Caracas eigene Wohnheime unterhalten.

Parallel zu den Orchestern besteht auch eine große Zahl an Chören, die teilweise an die Núcleos angeschlossen sind, zu einem großen Teil aber von der Stiftung `Schola Cantorum´[154] von Alberto Grau und Marie Guinand unterhalten werden, die eng mit den Kinder- und Jugendorchestern zusammenarbeitet.[155]

Ein allen pädagogischen und musikalischen Aktivitäten zugrunde liegendes Leitprinzip ist der Grundsatz "passion first - refinement second"[156] (`zuerst die Leidenschaft - dann die Feinarbeit´), welcher dafür verantwortlich ist, dass das musikalische Schaffen der Kinder von einer fast unbändigen Spielfreude geprägt ist und eine überwältigende Energie ausstrahlt. Dies wird besonders in den vielfältigen Musikschulalltags- und Arbeitsszenen im Rahmen der Dokumentation `El Sistema´ deutlich. HENRI CRESPO, Direktor von El Sistema in der Region Agua, formuliert die Bedeutung dieser Methodik im Film `El Sistema´ folgendermaßen: "Uns ist es bei unserer Methode sehr wichtig, dass die Kinder die Musik ausleben, dass sie sie beim Spielen wirklich empfinden. Es geht nicht um Perfektion; wenn sie den Bogen falsch halten - kein Problem. Wir sagen ihnen: Fühle die Musik, achte darauf, was du tust! Und dabei verbesserst du nach und nach die Technik, aber lebe die Musik!"[157]

In der Dokumentation `Mata Tigre´ erläutert er außerdem, weshalb ausgerechnet die Klassische Orchestermusik als Hauptmedium in El Sistema fungiert:

"Classical Music is not the music of Venezuela, nor of Latin America. Actually it is European music, at least it was developed there. But the arts, especially music, fortunately belong to the whole world. They belong to all humanity. And music, for the sake of being music, belongs to all human beings. We all love popular music and dance to it, but nobody puts attention to the music itself. Nobody is aware of what the group is playing. [...] In classical music it is different. In classical music you have to think about which strings, woodwinds, percussions are playing. This forces the kids to think and challenges their intellect. As a consequence, they start to think about other things in life as well." [158]

Die gezielte Motivation und Koordination der maßgeblichen Leute stellte im Laufe der Jahre immer wieder eine große Herausforderung für die Realisierung der `Vision´ von Abreu dar. Als Kulturpolitiker, der gewissermaßen nebenbei eine Reformierung des musikalischen Bildungswesens plante, bot er vor allem in der Anfangszeit vielen Skeptikern und Kritikern eine Angriffsfläche.[159] Seine strategisch durchdachten Argumentationen und die herausragende Fähigkeit, Menschen von seiner Idee zu begeistern und sie zur Mitgestaltung des Systems zu motivieren, führten aber zu einer kettenreaktionsartigen Verbreitung seiner Idee.[160] Wesentliche Grundlage für diesen Erfolg ist das bei allen Involvierten entstehende Gefühl, eine positive gesellschaftliche Veränderung mitzugestalten. Abreu wendet dafür "ein im Grunde sinfonisches Prinzip auf die Entwicklung des Projekts und auf das Management an, indem er jeder Stimme seine unbedingte Berechtigung und Notwendigkeit einräumt. Die Vielstimmigkeit in der Harmonie ist für Abreu der Schlüssel zu allen Erfolgen, nicht nur auf der Bühne beim Musizieren. Sie ist Teil seiner grundsätzlichen Überzeugung, wie eine Gesellschaft so-wohl die Kraft ihrer Individuen nutzen wie auch an einem übergeordneten Gemeinsamen arbeiten kann."[161] Bis heute trägt sich diese Grundüberzeugung durch alle Ebenen des Systems. In allen Dokumentationen, filmischer und schriftlicher Art, in denen Schüler, Unterrichtende, Eltern oder anderweitig involvierte Personen des Systems zu Wort kommen, schwingt eine nahezu energetisierende Verwurzelung in den grundlegenden Ideen des Systems mit. So erklärt JOSBEL PUCHE, Lehrerin des Elementarzweig der Musikschule `La Rinconada´ aus Caracas voller Begeisterung in `El Sistema´: "Im Orchestersystem zu unterrichten ist wunder-voll. Man kann seine eigenen Ideen verwirklichen. Das kreative Engagement der Lehrer ist dabei sehr wichtig."[162] Das gezielte Bemühen Abreus, auch international angesehene Musiker auf die Ideen und Grundlagen seines Systems aufmerksam zu machen, ist einerseits darauf gerichtet, wichtige Förderer und Impulsgeber für die qualitative Weiterentwicklung zu gewinnen und dient andererseits als wichtige Grundlage für die dritte Säule seines Projekts:

Die Beschaffung der notwendigen materiellen und finanziellen Ressourcen. Dieser Aspekt lässt sich, mit entsprechendem Verhandlungsgeschick und durch die Position Abreus als Direktor des Instituts für Kunst und Kultur, in der Anfangszeit noch recht gut bewerkstelligen - geht es doch `nur´ um die Unterstützung eines Jugendorchesters (noch dazu in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs). Mit der Eröffnung der ersten Musikschulen in den Barrios und der schnellen quantitativen und qualitativen Weiterentwicklung des Systems stellen sich hier aber ganz besondere Herausforderungen für Abreu und seine Mitstreiter dar. Mit schlag-kräftigen Argumenten und einer sich immer deutlicher abzeichnenden Erfolgsbilanz bezüglich der sozialen und präventiven Wirkkraft seines Konzeptes musikalischer Bildung kann Abreu, über alle amtierenden Regierungen hinweg[163], eine Bezuschussung seiner Stiftung FESNOJIV (Fundación del Estado para el Sistema Nacional des las Orquestas Juveniles e Infantiles de Venezuela) aus Mitteln des Sozialministeriums sicherstellen. Der amtierende Staatspräsident Hugo Chávez Frías, der seit 1998 die Geschicke des demokratischen Bundesstaates Venezuela in sozialistischer (und durchaus umstrittener) Grundorientierung lenkt, hat die Übernahme von 90 % der laufenden Kosten des Systems durch staatliche Investitionen zugesichert. Zu-dem hat er die Stiftung im Jahre 2011 unter dem geänderten Namen `Fundación Musical Simón Bolívar´ direkt dem Ministerium des Präsidenten unterstellt.[164] Eine weitere Förderung konnte durch internationale Organisationen (UNESCO, OAS[165]) sowie privatwirtschaftliche Initiativen erreicht werden.[166] Um ausufernde Kosten im Bereich der Anschaffung und Reparatur der Instrumente zu vermeiden, wurden eigene Instrumentenbauwerkstätten innerhalb des Systems eingerichtet. Diese wurden mit Unterstützung anerkannter europäischer Instrumentenbauer aufgebaut und bieten heute als `Centro Académico de Luthería´ vielen venezolanichen Jugendlichen durch eine fundierte Ausbildung eine Zukunftsperspektive.[167] Nur auf der Basis einer solchen zielgerichteten ökonomischen Strategie kann die vierte Säule in ihrem ganzen Ausmaß zum Tragen kommen, denn:

Die soziale Dimension geht weit über das kostenlose musikalische Bildungsangebot für die Kinder aus minderprivilegierten Verhältnissen in den Barrios hinaus. Unter dem absoluten Grundsatz, Ausgrenzung jeder Art innerhalb des Systems zu vermeiden, steht es natürlich auch Kindern aus gesicherten sozialen Verhältnissen offen.[168] Damit in voller Konsequenz dieses Grundsatzes keine Benachteiligungen für einzelne Kinder aufgrund ihrer Herkunfts-verhältnisse entstehen, wird auch die Erfüllung wichtiger Grundbedürfnisse durch das System gewährleistet. Die Kinder erhalten deshalb neben kostenlosen Mahlzeiten auch Kleidung (zumeist mit dem Logo des Núcleos versehen).[169] Zum Schutz vor der allgegenwärtigen Gewalt[170] werden die Kinder in den gefährlichsten Gebieten[171] durch ein Schulbussystem zu ihren Musikschulen und wieder nach Hause gebracht. Da die regelmäßige Teilnahme am all-gemeinen Schulunterricht grundlegende Voraussetzung für die Aufnahme in das Projekt ist, werden diese zum Teil auch für den sicheren Transport zu den Schulen bereitgestellt. Die Musikschulen selbst sind, als Notwendigkeit unter den gegebenen Bedingungen in vielen Gebieten Venezuelas, durch verschiedene Sicherheitsvorkehrungen und Wachpersonal geschützt.[172] Durch diese geschaffenen Grundvoraussetzungen konnte sich das Musikschulsystem vor allem auch zu einem angesehenen Partner der Eltern entwickeln, die ihre Kinder in Anbetracht der Gefahren und fehlenden Beschäftigungsmöglichkeiten nur zu gern in der sicheren Obhut eines Núcleos wissen. Durch die regelmäßig stattfindenden Aufführungen und Konzerte werden auch sie in die musikalische Gemeinschaft integriert, begleiten mit Stolz die Entwicklung und Leistung ihrer Kinder und knüpfen Kontakte zu anderen Familien, was wiederum den Ausgrenzungstendenzen durch Armut entgegenwirkt.[173] In einigen Núcleos haben sich auch Elternchöre etabliert.[174]

Nicht zuletzt erstreckt sich die soziale Dimension auch auf die Lehrkräfte innerhalb `El Sistemas´. Diese entstammen zumeist selbst dem systematischen Ausbildungssystem und erhalten, im Rahmen von Stipendien während der Studienzeit und einer Festanstellung innerhalb des Lehrbetriebs, eine gute existenzsichernde Perspektive.

Viele Absolventen der Musikschulen, die nicht beruflich den musikalischen Weg weiterverfolgen, können auf der Grundlage der erworbenen Fähigkeiten (Disziplin, Konzentrations-vermögen, Teamfähigkeit, ...) ein Studium aufnehmen und setzen sich nicht selten auch in ihren späteren beruflichen Positionen für eine Unterstützung des Systems ein.[175]

Viele Kinder Venezuelas leben in solchen Barrios am Rande der großen Städte.Abbildung 5

Die Núcleos bieten ihnen Schutz und Entwicklungsmöglichkeiten in einer sozialen Gemeinschaft.Abbildung 6



[145] Euroarts Music International 2009

[146] Abreu zitiert aus Rietschel in nmz 5/09 58. Jahrgang

[147] Erkelenz 2010 S.10

[148] Voraussetzung hierfür ist die Motivation des Kindes zu täglicher Probenarbeit neben dem Besuch einer allgemeinbildenden Schule.

[149] vgl. Rietschel in nmz 5/09

[150] vgl. Erkelenz 2010 S.11

[151] vgl. ebd.

[152] vgl. Elstner 2011 S. 53f.

[153] vgl. ebd. S.54

[154] Auch die Gründung dieser Stiftung wurde von Abreu in seiner Funktion als Direktor des Instituts für Kunst und Kultur mit initiiert und maßgeblich unterstützt.

[155] vgl. Kaufmann/ Piendl 2011 S.52f.

[156] http://www.fesnojiv.gob.ve/en/el-sistema-methodology.html

[157] Crespo in Smaczny/ Stodtmeier 2009 00:25:52 - 00:26:15

[158] Crespo in Bohun 2008 00:40:08 - 00:41:39

[159] vgl. Kaufmann/ Piendl S.50ff.; S.63

[160] vgl. Erkelenz 2010 S.12f.

[161] Kaufmann/ Piendl 2011 S.46

[162] Puche in Smaczna/ Stodtmeier 00:21:46 - 00:21:57

[163] Bis heute sind es acht seit der Gründung des Systems.

[164] vgl. http://www.fesnojiv.gob.ve/en/history.html

[165] Organization of American States

[166] vgl. Erkelenz 2010 S.13f.

[167] vgl. Koch in nmz Ausgabe 4/11, 60. Jahrgang

[168] vgl. Wakin in New York Times 15.02.2012

[169] vgl. Elstner 2011, S.18

[170] vgl. Kolbe in Zeit-Online, Ausgabe 16.4.2009

[171] Vor allem die Region um Caracas zählt zu den gefährlichsten Gebieten der Welt.

[172] vgl. Elstner 2011, S.16ff.; S.32f.

[173] vgl. Erkelenz 2010, S.17

[174] vgl. Koch in nmz 4/11, 60.Jahrgang

[175] vgl. Erkelenz 2010, S.16f.

9. Die ganzheitliche Dimension des Systems - von weißen Händen, Orchestern im Gefängnis und Flöten auf der Müllkippe

"Ausgrenzung ist die Wurzel allen Übels in der Gesellschaft. Ausgrenzung in jeglicher Form ist weltweit verantwortlich für die zunehmende Eskalation sozialer Probleme. Darum müssen wir kämpfen, um möglichst viele einzubinden - alle, wenn möglich - in unsere wundervolle Welt: in die Welt der Musik, der Orchester, des Gesangs - der Kunst eben."[176]So lautet das Schlusswort des `Maestro´ ABREU in der Dokumentation `El Sistema´. Damit fasst er gewissermaßen seine Motivation - und die seiner vielen Mitstreiter - zur unermüdlichen Weiter-entwicklung seines Projektes zusammen, welches im Laufe der Jahre zu einem ausgefeilten System herangewachsen ist, in dem viele Aspekte gewinnbringend ineinander greifen. Ein Aspekt davon ist der, dass besonders den Kindern, bzw. Menschen, besondere Beachtung zu kommt, denen sonst grundlegende und wichtige Entwicklungsmöglichkeiten verwehrt geblieben sind. So existieren in vielen Núcleos auch Angebote für Kinder mit Beeinträchtigungen, für die im `Pilotzentrum der sonderpädagogischen musikalischen Arbeit´ in Barquisimeto eigene Unterrichtsmethoden entwickelt wurden. JHONNY GÓMEZ, Direktor dieses Núcleo, fasst das Spektrum der hier besonders angesprochenen Kinder so zusammen: "Wir kümmern uns um Kinder mit geistigen Behinderungen, mit Sehbehinderungen, Hörschwächen, mit motorischen Schwächen, um Autisten und Lernbehinderte"[177]. Für viele dieser Kinder stellt das Spielen der klassischen Orchesterinstrumente eine zu hohe physiologische oder spieltechnische Anforderung dar. Deshalb arbeiten sie in erster Linie mit der Stimme (in Chören) und dem Instrumentarium aus der elementaren Musikpädagogik, also Stabspielen (Xylophonen, Metallophonen, ...), Percussions-Instrumenten, Glocken und auch Melodikas. Auch hier ist das Prinzip des gemeinschaftlichen Musizierens oberstes Gebot und es werden auch mit diesen `einfachen´ Instrumenten durchaus anspruchsvolle und komplexe Stücke erarbeitet.[178] (Welch beeindruckende musikalische Qualität dabei im Ergebnis möglich wird, ist in `EL SISTEMA´ zu hören und zu sehen[179].) Als besondere Herausforderung bei der didaktischen Konzeption des Programms wurde die musikalische Arbeit mit den hörbeeinträchtigten Kindern angesehen. In diesem Bereich musste auch am stärksten gegen Ressentiments angekämpft werden, da Menschen mit eingeschränkter oder nicht vorhandener Hörfähigkeit Musikalität im Allgemeinen abgesprochen wird. Entstanden ist dabei das Konzept des `Coro de Manos Blancas´ (Chor der weißen Hände). "Der `Chor der weißen Hände´ wurde für gehör-geschädigte Kinder gegründet. Wir begannen mit Gebärdensprache und verbanden diese mit Musik. Wir sagten uns: Es muss einen anderen Weg geben zu singen!"[180] So entstand das Konzept eines Chores, der durch gestische Ausgestaltung in Anlehnung an die Gebärdensprache die gesangliche Darbietung eines (integrativen) Chores bereichert. Dabei tragen die gebärdenden Kinder und Jugendlichen zumeist weiße, manchmal auch bunte Handschuhe, was die eindrucksvolle Wirkung der Darbietung unterstützt. Die Kinder selbst können durch die musikalische Arbeit ihr Rhythmusgefühl und das taktile Gespür für Musik z. T. soweit verbessern, dass sie auch in anderen musikalischen Zusammenhängen unterrichtet werden können, z. B. in Percussion und Bodypercussion.[181] Die Dokumentation `Amo Beethoven´ von BOHUN zeigt sogar das beeindruckende Beispiel eines Mädchens, das trotz ihrer Hörbeeinträchtigung Dirigentin werden möchte. Durch das Ineinandergreifen der verschiedenen Ebenen des Systems stehen ihr dabei viele Erfahrungsmöglichkeiten offen - ein Orchester zum Ausprobieren ihrer Fähigkeiten ist innerhalb ihres Núcleo schnell gefunden.[182] Übergeordnetes Ziel der Arbeit innerhalb des sonderpädagogischen Programms ist es, den Kindern zu Fähigkeiten zu verhelfen, die es ihnen ermöglichen, gemeinsam mit den Orchestern und Chören zu arbeiten und aufzutreten. Das dabei steigende Selbstwertgefühl und der wachsende Stolz der Eltern werden als wichtige Motivatoren für weitere individuelle Entwicklungsprozesse, z. B. die berufliche Perspektive angesehen. Innerhalb ´El Sistemas´ steht ihnen beispielsweise, bei entsprechender Eignung, die Möglichkeit einer Ausbildung im `Centro Académico de Luthería´ offen.[183]

Abbildung 7

Neben diesem Programm zur Förderung von Kindern mit Beeinträchtigungen durch Musik, wurde ein weiteres Programm initiiert, welches explizit darauf gerichtet ist, die Kinder von den großen Mülldeponien des Landes durch (musikalische) Bildung in die Gesellschaft zu integrieren. Da sich die Bevölkerung Venezuelas überwiegend in den großen Städten im Nor-den des Landes konzentriert, sind dort in den Vorortregionen riesige Müllhalden entstanden, auf deren Territorien Menschen in größter Armut leben. Gestartet wurde das Projekt in San Vicente, wo ab dem Jahr 2007 ein Núcleo geplant wurde. HENRI CRESPO, der als Leiter des Projektes den Aufbau betreute, beschreibt die Hintergründe und Pläne folgendermaßen: "In San Vicente befindet sich die Deponie, wo der gesamte Müll von Maracay gesammelt wird. Unsere Kinder arbeiten auf dieser Müllhalde und wühlen nach Sachen, die sie auf der Straße verkaufen können. Das ist ihr Leben. Dort ist ihr Zuhause, und deshalb gehen wir dort hin. Wir holen sie nicht ins Stadtzentrum, wir gehen zu ihnen. Dort geben wir ihnen ein Orchester, ein Gebäude, Instrumente, Lehrer und eine Verwaltung, die vor Ort arbeiten kann."[184] Die Herausforderungen, die sich den Lehrkräften in der Arbeit mit diesen Kindern stellen, sind vielfältig und erfordern ein besonderes Geschick, denn die Probleme, die das Alltagsleben der Kinder bestimmen und begleiten, erscheinen durch die Folgen der massiven sozialen Deprivation durch die Armut noch um einiges größer als bei den meisten Kindern aus den Barrios. In der Aufbauphase wurde allen Kindern auf der Deponie eine Blockflöte geschenkt, in deren Spielweise sie nach und nach, gekoppelt mit rhythmischen Unterweisungen, eingeführt wurden. Mit der Aussicht, bald auch andere Instrumente zur Verfügung zu haben, wuchs die Motivation der Kinder, sich an den täglichen Proben zu beteiligen. Bis zum Jahr 2012 konnte hier ein kulturelles Bildungszentrum mit einem Kinder- und Jugendorchester, verschiedenen Ensembles und einem Chor etabliert werden. Die engagierte Arbeit der Lehrkräfte und Sozialarbeiter konnte zu verbesserten Lebensbedingungen der ganzen Gemeinde beitragen. Gewürdigt wurde dieses Bemühen durch ein großes Festkonzert am 11. Juli 2012 mit dem Jugendsinfonieorchester `Simón Bolívar´ unter dem mittlerweile weltberühmten Dirigenten Gustavo Dudamel, der ebenfalls in `El Sistema´ aufgewachsen ist, und dem Gründer des Systems José Antonio Abreu.[185] Für die eltern- und obdachlosen Straßenkinder des Landes wurden in einigen Núcleos (z. B. dem `Núcleo Chorro´ in Caracas) Heimstrukturen geschaffen, sodass diese Kinder in ihren Musikschulen ein betreutes sicheres Zuhause erhalten.[186]

Ein weiterer Bereich, in dem die Wirkkräfte musikalischer Bildung im Sinne positiver gesellschaftlicher Entwicklungsförderung eingesetzt werden, ist die Arbeit von `El Sistema´ in den vier größten Gefängnissen des Landes, die durch die Unterstützung der Inter-American Development Bank im Jahr 2007 aufgenommen wurde. Besonders die vielen jugendlichen Insassen sollen durch dieses Programm ihre Chancen auf eine gelingende soziale Reintegration verbessern können, indem sie auch nach ihrer Entlassung durch die Einbindung in das Orchestersystem eine Zukunfts- und Beschäftigungsperspektive haben. Zudem hilft die musikalische Arbeit im Rahmen des Gefängnisalltags, die Gewalt unter den Häftlingen zu verringern. Die Besonderheit innerhalb dieses Programms liegt vor allem darin, dass hier die Jugendlichen nicht vorrangig selbst entscheiden, welches Instrument sie erlernen. Nach der Bereiterklärung zur Teilnahme an dem Programm finden intensive Gespräche mit Pädagogen und Psychologen statt, aus denen Informationen zu wichtigen Persönlichkeitseigenschaften

(z. B. Temperament, Bildungshintergrund, kriminelle Vorgeschichte, besondere Vorlieben, etc.) gewonnen werden sollen. Auf der Basis dieser Informationen wird dann versucht, ein Instrument zu finden, das u. U. durch kanalisierende oder ausgleichende Eigenschaften eine positive Persönlichkeitsentwicklung fördern kann.[187] Da auch die Arbeit der Gefängnisorchester auf öffentliche Präsentation der Ergebnisse ausgerichtet ist, machen viele der sich hier beteiligenden Jugendlichen teilweise zum ersten Mal die Erfahrung positiver öffentlicher Aufmerksamkeit. Zudem erfahren sie die Bedeutung von respektgetragener, gemeinschaftlicher Interaktion. Auf diese Weise konnten bis 2012 über tausend junge Häftlinge eine verbesserte Zukunftsperspektive erhalten.[188]

Abbildung 8



[176] Abreu in Smaczny/Stodtmeier 2009 1:35:18 - 1:35:45

[177] Gómez in Smaczny/Stodtmeier 1:19:45 - 1:20:00

[178] vgl. Elstner 2011 S.67f.

[179] Smaczny/ Stodtmeier 2009 1:19:10- 1:19:44

[180] Gómez in Bohun 2007 01:28 - 01:55

[181] vgl. Elstner 2011, S.66f.

[182] Bohun 2007 26:10 - 28:14

[183] vgl. Elstner 2011, S.85

[184] Crespo in Smaczny/Stodtmeier 2009 1:13:55 - 1:15:37

[186] vgl. Elstner 2011 S.77ff.

[188] vgl. ebd.

10. Zusammenfassung

Das `El Sistema Venezuela´ ist ein unter der Stiftung FESNOJIV gewachsenes System von Musikschulen mit dem Ziel, musikalische Bildung als Grundrecht für alle Menschen zu etablieren und damit einen positiven gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben. Besonders die sozialen und ethischen Werte, die sich den Kindern durch die aktive musikalische Interaktion in großen Gemeinschaften wie Orchestern und Chören eröffnen, stehen dabei im Mittelpunkt - ebenso der Grundsatz, wirklich jedem, unabhängig von den individuellen Voraussetzungen, die Teilhabe an der musikalischen Gemeinschaft zu ermöglichen. Auf der Basis dieser Grundorientierungen wurde ein Netzwerk aus Musikschulen geschaffen, welches im Jahr 2012 bereits 350.000 Kinder[189] aus ganz Venezuela in Chöre, Kinder- und Jugendorchester sowie zahlreiche weitere Ensembles einbindet. Die vielfältigen Ebenen des Systems, die aus der Verwirklichung dieser Leitprinzipien erwachsen sind, wirken nicht nur im Sinne musikalischer Bildung, sondern ganz besonders durch die sozialen Transfereffekte von Musik, weit in die gesellschaftlichen Verhältnisse hinein. So ergeben sich aus dem Programm nicht nur steigende Zukunftsperspektiven für die musizierenden Kinder, sondern ebenso neue Erfahrungsräume, Beschäftigungsperspektiven und sozialer Ansehenszuwachs für die Familien und das gesamte Umfeld der Orchester- und Chorgemeinschaft. Die Wirkkraft dieser Aspekte ist für ein Land wie Venezuela, dessen Bevölkerung zu 88 % in den nördlichen Großstadtregionen und zu 75 % am oder unter dem Existenzminimum lebt[190], zudem mit einem Anteil von 30 % an Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren[191], von unschätzbarem Wert. Von den Erfolgen, die das System sowohl im sozialen als auch im musikalisch-qualitativen Bereich[192] verzeichnen kann, profitiert nicht zuletzt auch die derzeitige Regierung unter Hugo Chávez Frías, die es sich zum Ziel gesetzt hat, einen `Sozialismus des 21. Jahrhunderts´ nach kubanischem Vorbild zu etablieren[193]. Die weltweit umstrittenen machtzentralisierenden Tendenzen dieser Regierung haben zwar einerseits zu einer enormen finanziellen Förderung zugunsten `El Sistemas´ (v. a. in den letzten Jahren) geführt, stellen aber durch den wachsenden Verlust an Unabhängigkeit durch die immer stärkere Abhängigkeit vom Wohlwollen des Präsidenten auch die Gefahr einer sozialistisch-ideologischen `Vernutzung´ der ethisch und ästhetisch ausgerichteten Grundprinzipien `El Sistemas´ dar. Dieser Aspekt bedarf in jedem Falle einer weiteren kritischen Beobachtung (ganz besonders im Falle der Wiederwahl des amtierenden Präsidenten im Oktober 2012).

Unabhängig von diesen Gefahren konnte mit der systematischen Verwirklichung der Vision von José Antonio Abreu am Beispiel Venezuelas gezeigt werden, welche Wirkkräfte musikalischer Bildung innewohnen, wenn sie auf der Basis individueller Förderung und gegenseitigen Respekts in gemeinschaftsbildenden Zusammenhängen umgesetzt wird. Die Idee seiner Reform des weltweit tradierten musikalischen Bildungssystems hat im wachsenden weltweiten Ansehen und der bemerkenswerten Qualität seiner Orchester ihre Bestätigung gefunden. Das didaktische Prinzip der `Musikvermittlung auf Augenhöhe´ wird durch GUSTAVO DU-DAMEL[194], den, aufgrund seines herausragenden Talentes zum Idol erwachsenen jungen Dirigenten aus Venezuela, auch in die internationale Musikwelt getragen. Er beschreibt die Bedeutung von `El Sistema´ für sein Herkunftsland durchaus etwas pathetisch: "El Sistema ist eine riesige Familie. An ihrer Spitze steht als Vater Maestro José Antonio Abreu. Er hat uns sein Leben gewidmet. Er hatte diese Idee, die Venezuela verändert hat. El Sistema ist zu einer Art Nationalsymbol geworden."[195] Und nicht minder pathetisch formuliert der Visionär und Sozialunternehmer ABREU selbst seine Zukunftsvorstellungen für das System: "Unser Ziel ist es, einen Kontinent zu schaffen, wie ihn sich Simón Bolívar vorstellte, als Quelle der Hoffnung für die Welt. Und für all das steht die Musik: Frieden, Freude, Hoffnung, Integration, Stärke und unerschöpfliche Kraft."[196]

Abbildung 9



[189] vgl. http://www.fesnojiv.gob.ve/en/nucleos.html (Stand: August 2012)

[190] vgl. Kaufmann/ Piendl 2011 S.217

[191] vgl. Stiftung Weltbevölkerung

[192] Dieser hat die Stiftung FESNOJIV im Jahre 2011 verstaatlicht und unter dem Namen `Fundacion Musical Simón Bolívar´ direkt in sein Ministerium überführt.

[193] vgl. Werz 2008

[194] seit 2009 Chefdirigent des `Los Angeles Philharmonic Orchestra´

[195] Dudamel in Smaczny/Stodtmeier 2009 00:04:58 - 00:05:23

[196] Abreu ebd. 00:04:31 - 00:04:49

Teil IV: Schlussfolgerungen und Perspektiven

11. Versuch eines Vergleichs

Die grundsätzliche Unterschiedlichkeit der Länder Deutschland und Venezuela, sowohl in ihren historischen und politischen Entwicklungsbezügen als auch der gegenwärtigen politi-schen und gesellschaftlichen Konstitution, lässt einen direkten Vergleich prinzipiell kaum sinnvoll erscheinen. Der gezielte Blick auf die musikalischen Bildungssysteme macht eine Gegenüberstellung jedoch möglich und kann, hinsichtlich der gegebenen Rahmenbedingungen und Methoden, durchaus Perspektiven für Weiterentwicklungsprozesse aufzeigen.

Ein grundsätzlicher Unterschied der beiden Musikschulsysteme liegt in ihrer vordergründigen Ausrichtung:

In Deutschland zielt die musikalische Bildung vor allem auf die Förderung der individuellen Entwicklung des Menschen als Einzelwesen in der Gesellschaft und gegebenenfalls auf die Herausbildung besonderer künstlerischer Gestaltungsfähigkeiten mit berufsorientierender Perspektive. Zudem wird sie als leistungsförderndes Element auf verschiedenen kognitiven Ebenen betrachtet. In Venezuela hingegen stehen vor allem die sozialisationsfördernden Aspekte musikalischer Bildung und die Leistungsförderung auf der Basis von Interaktion, Ko-operation und Teamgeist in größeren Gemeinschaftszusammenhängen im Mittelpunkt.[197]

Darauf aufbauend ergeben sich auch hinsichtlich der Methoden signifikante Unterschiede:

In Deutschland dominiert die individuelle Förderung in Einzel- oder Kleingruppenunterricht das methodische Feld. Zudem findet der Unterricht üblicherweise nur einmal wöchentlich mit einer Stundendauer von 45 Minuten statt. Darüber hinausgehende Angebote der Musikschulen wie Orchester- oder Ensemblespiel sind meist fakultativ und setzen bestimmte spieltechnische Fähigkeiten voraus.

In Venezuela hingegen bietet sich ein komplett umgekehrtes methodisches Vorgehen. Hier bestimmt die musikalische Arbeit in Großgruppen wie Orchestern und Chören, das Unterrichtsgeschehen. Im Mittelpunkt steht dabei, neben der musikalisch-ästhetischen Persönlichkeitsentwicklung, die Entwicklung gemeinschaftsfördernder Fähigkeiten wie Disziplin, Aus-dauer und Hilfsbereitschaft. Diese Form des Unterrichts ist ein verbindliches, täglich zwei Stunden beanspruchendes Angebot. Darüber hinaus können spieltechnische Fähigkeiten in Einzel- oder Kleingruppenunterweisungen, u. U. auch durch erfahrenere Schüler erworben und verbessert werden. Die, außerhalb der Orchesterproben, relativ offene Struktur der Musikschulen bietet den Schülern immer wieder neue Erfahrungsfelder in Ensemblearbeit, Dirigieren und workshop-artig organisierten Meisterkursen.[198]

Zudem findet die öffentliche musikalische `Leistungspräsentation´ in Deutschland überwiegend auf einer Wettbewerbsbasis (`Jugend Musiziert´, `Envia M-Musikwettbewerb´) oder im Rahmen der Präsentation besonderer Talente (`Podium junger Talente´) statt, während in Venezuela in der Regel zweiwöchentlich, mindestens aber aller vier Wochen, kostenlose öffentliche Auftritte aller Ebenen des Musikschulsystems, von den elementaren Vorbereitungsgruppen bis zu den Kinder- und Jugendorchestern, im Einzugsbereich der jeweiligen Núcleos statt-finden. Die Präsentation in Großgruppen reduziert dabei den Leistungsdruck für den Einzelnen und stärkt das Gemeinschaftsgefühl sowie das individuelle Selbstbewusstsein der Teil-nehmer.

Der wesentlichste Unterschied besteht wohl aber in den finanziellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen:

In Deutschland zählt die finanzielle Förderung der Musikschularbeit zu den freiwilligen Leistungen der Kommunen im Bereich Kulturförderung. Die zur Verfügung stehenden Mittel sind hier sehr begrenzt und regelmäßig Kürzungstendenzen ausgesetzt. Eine Gebührenerhebung von nicht unbeträchtlicher Höhe[199] ist deshalb für die meisten Angebote der Musikschulen erforderlich. Infolge der fehlenden finanziellen Sicherung sind die Anstellungsverhältnisse der Lehrkräfte zunehmend in Form von Honorarverträgen ausgeschrieben. Dies führt zu Defiziten in der Unterrichtsorganisation und eingeschränkten Möglichkeiten in der Team- und Konzeptentwicklung für einzelne Musikschulen oder Fachbereiche. Auch wenn in zunehmen-dem Maße Konzepte entwickelt werden, durch die auch Menschen aus bildungsfernen oder finanziell minderprivilegierten Schichten sowie Menschen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen der Zugang zu musikalischen Bildungsangeboten ermöglicht werden soll, werden an deutschen Musikschulen in überproportionalen Anteilen Kinder der mittleren und höheren Bildungsschichten unterrichtet. Sowohl im gesellschaftlichen Ansehen als auch hin-sichtlich staatlicher finanzieller Zuwendungen stehen musikalische (bzw. generell kulturelle) Bildungsangebote in einem starken Konkurrenzverhältnis sowohl zu medialen als auch zu sportlich ausgerichteten Angeboten.[200]

In Venezuela konnte durch die Vorrangstellung der sozialen, gesellschaftsbildenden Grund-ausrichtung und die, sich bereits in den Anfängen abzeichnenden, Erfolge eine zunehmende finanzielle Grundsicherung durch den Staat erreicht werden. Zur Gewährleistung der ständig steigenden benötigten Fördersummen, konnte durch das Verhandlungsgeschick des Ökonomen, Politikers und Gründers von `El Sistema´ Abreu eine Zusammenarbeit zwischen dem venezolanischen Staat und der Banco Interamericano de Desarollo[201] ins Leben gerufen wer-den. Diese stufte das Projekt Abreus nach eingehender Prüfung als das wirksamste und nach-haltigste soziale Projekt in ganz Lateinamerika und der Karibik ein, welches eine Dividende von 1,68 US-Dollar pro investiertem US-Dollar zurückwirft. Auf der Grundlage dieser Ein-schätzung stellt die Bank der Regierung zinsgünstige Kredite zur weiteren Förderung des Musikschulsystems zur Verfügung.[202] Damit können bis heute 90 % der laufenden Kosten an Lehrergehältern, Bau- und Verwaltungskosten sowie die Anschaffung von Instrumenten ab-gedeckt werden. Ein solches finanzielles Engagement einer Regierung für die musikalische Bildung ist auf der ganzen Welt einzigartig. Hinsichtlich der gesellschaftlichen Ausgangssituation des Landes macht sich dieses signifikant bemerkbar: Durch weniger Schulabbrüche steigen die Berufschancen, die Kriminalität in den Einzugsbereichen der Musikschulen ist markant zurückgegangen.[203] Auf dieser Basis konnte sich auch ein enormes Ansehen musikalischer Aktivitäten in allen gesellschaftlichen Schichten etablieren. Einen dabei wirksamen Aspekt, der tatsächlich als großer Unterschied zu den meisten hochentwickelten Ländern der Welt gesehen werden muss, stellt ELSTNER in ihren Beobachtungen heraus: "In Venezuela betrachten die Kinder es als `cool´, klassische Musik in einem Orchester zu spielen."[204]

Eventuelle Gründe für das unterschiedliche gesellschaftliche Ansehen (klassischer) musikalischer Betätigung formuliert Abreu in der Dokumentation `El Sistema´:

"Vielleicht führt in den hochentwickelten Ländern der Überfluss zu einer Art Überdruss oder Langeweile. Das Leben scheint leer und sinnlos und für nichts lohnt es sich zu kämpfen, keine Werte sind zu verteidigen. Extremer Überfluss kann demnach ebenso schlimm sein, wie extreme Armut."[205]



[197] vgl. Elstner 2011 S.101ff.

[198] vgl. Elstner 2011; Kaufmann/Piendl 2011

[199] nach Zach 2006 im Durchschnitt 760€/Jahr für 45min. Einzelunterricht/Woche und 220€/Jahr für 45min. Großgruppenunterricht in Musikalischer Früherziehung /Woche

[200] vgl. Elstner 2011 S.106f.; Kleinen 2003 S.209ff.; Schläbitz 2003 S.282ff.; Schneider 2010

[201] Interamerikanische Entwicklungsbank

[202] vgl. Kaufmann/Piendl 2011 S. 217/ S.222

[203] vgl. Presseerklärung der Banco Interamericano de Desarollo in: ebd. S.222

[204] Elstner 2011 S.106

[205] Abreu in Smaczny/Stodtmeier 2009 1:18:28 - 1:18:50

12. Die Strahlkraft einer Vision - Ansätze zur Erklärung des Erfolgs von El Sistema

Eine wesentliche Frage, die sich aus der vergleichenden Betrachtung der beiden Musikschul-systeme und ihren zugrundeliegenden Rahmenbedingungen ergibt, ist die:

Welche Faktoren waren maßgeblich für die konstante Weiterentwicklung und kontinuierliche staatliche `Subventionierung´ des Musikschulsystems in Venezuela verantwortlich, sodass es, in den Augen von Sir Simon Rattle[206] und vielen anderen Größen der internationalen Musik-welt, den Status des weltweit wichtigsten Entwicklungsfeldes in der musikalischen Bildung erringen konnte? (Noch dazu unter Anbetracht des relativ geringen weltwirtschaftlichen Status Venezuelas und seiner vielfältigen sozialen, gesellschaftlichen und politischen Probleme.) Ansätze zur Klärung dieser Frage lassen sich auf der Grundlage verschiedener, sich aber durchaus bedingender oder gegenseitig einschließender, theoretischer Konzepte gewinnen.

ERKELENZ kann in ihrer Analyse der Erfolgsfaktoren für die langfristige Etablierung und Sicherung von `El Sistema´ herausarbeiten, dass, besonders für die Gewinnung der Förderer und Mitträger des Systems, das unternehmerische Handeln Abreus im Sinne eines `Social Entrepreneurs´ und eine Strategie nach den Prinzipien der `Engpasskonzentrierten Manage-mentstrategie´ von Mewes (EKS) maßgeblich waren und bis heute sind. Im Mittelpunkt dieser beiden Konzepte steht "die nachhaltige Lösung eines gesellschaftlichen Problems mit innovativen Mitteln"[207]. Ein `Social Entrepreneur´ verfügt über die dafür nötigen Persönlichkeitseigenschaften:

  • Brennende Motivation für eine visionäre Idee mit dem Ziel einer ganzheitlichen Ver-besserung der gesellschaftlichen Umstände

  • Kreativität und innovative Ideen zur gewinnbringenden Einbindung verschiedenster Menschen und Bereiche

  • Unternehmergeist und Durchsetzungskraft mit dem Willen zum Wachsen an Rück-schlägen

  • eine ethische Grundmotivation und integrative Eigenschaften, wie überdurchschnittliches Kommunikationstalent, Überzeugungskraft und Bescheidenheit.[208]

Mit der EKS-Strategie werden die Energien, Mittel und Kooperationspartner gezielt auf einen Punkt hin gebündelt, der sich als ein Engpass aus dem gesellschaftlichen Gesamtgefüge her-auskristallisiert hat - im Falle von `El Sistema´ die musikalische Bildung. Die erfolgreiche Lösung dieses Problems zieht in der Folge weitere positive Veränderungsprozesse mit sich.

Abbildung 10

Die beiden sich ergänzenden Konzepte ergeben in ihrer Zusammenwirkung eine kettenreaktionsartige Verknüpfung positiver Entwicklungsaspekte für alle Beteiligten im System. Wenig Beachtung finden in diesen beiden Konzepten allerdings die innerhalb des Systems wirkenden Prozesse im Sinne sich gegenseitig befruchtender kreativer Impulse und Kooperationen. Diese können in einer ergänzenden Verknüpfung mit der `Theorie der Kreativen Felder´ von Burow näher beleuchtet werden:

Dieser Theorie liegt die Annahme zugrunde, dass die visionäre Idee eines Einzelnen nicht allein als ausschlaggebender Impuls für nachhaltige kreative Entwicklungsprozesse verantwortlich sein kann, sondern nur in kooperativer und synergetischer Verknüpfung mit Anderen ihre wahre Tragweite entfaltet. Dabei wird dem Moment der Vielfalt der eingebrachten Aspekte besondere Bedeutung zugemessen. Erst die Motivation und das Einbeziehen verschiedenster Personen mit verschiedensten Eigenschaften in die Prozesse zur Realisierung einer Vision, können dieser zur Umsetzung verhelfen und dazu beitragen, dass Unmögliches möglich wird. Wesentlich ist dabei, dass im Endeffekt alle Beteiligten einen Gewinn aus den synergetischen Kooperationen ziehen können und etwas qualitätvolles Neues entsteht.[209]

Im Falle von `El Sistema´ wirkte demnach Abreu, mit seiner Vision des sozialen Wandels durch Musik und `gesegnet´ mit den Persönlichkeitseigenschaften eines `Social Entrepreneurs´, gewissermaßen als ein "Kristallisationskern"[210]. Als solcher zog er die in vielfältiger Weise entsprechend befähigten Personen zur Realisierung dieser Vision an. Dies waren zu Beginn die resignierten Musiker seines ersten Orchesters, die den revolutionären und gewinn-bringenden Geist von Abreus Idee, aus ihrer eigenen Situation heraus, intuitiv erkannten und sich auf der Basis ihrer Fähigkeiten als Lehrkräfte und methodische Mitgestalter in die Realisierungsprozesse einbrachten.[211] Später und bis heute sind es die vielen (ehemaligen) Mitglieder der Orchester und Chöre, die sich als Projektinitiatoren und Lehrer innerhalb des Systems engagieren und sich oft auch in nicht-musikalischer beruflicher Perspektive für die Weiter-entwicklung und Sicherung `El Sistemas´ einsetzen. Dabei entstehen auf allen Ebenen Möglichkeiten des Gewinns: Für die Gesellschaft und die einzelnen Personen innerhalb des Systems wurden sie im Rahmen der EKS von Mewes bereits beschrieben[212]. Für das Gesamtsystem liegen sie in qualitativem sowie quantitativem Wachstum und dem daraus erwachsenden internationalen Ansehen. Darauf aufbauend können auch weltweite Entwicklungsprozesse im Bereich musikalischer Bildung vorangetrieben und mitgestaltet werden.



[206] "I would say in my experience there is no more important work being done in music now, than it´s being done in Venezuela." Rattle in Elstner 2011 S. 11

[207] Erkelenz 2010 S.31

[208] vgl. ebd. S. 34ff.

[209] vgl. Universität Kassel: http://www.olaf-axel-burow.de/index.php/forschung/kreative-felder

[210] Burow 1999 S. 13

[211] Als über alle Jahre konstanter und auf vielen Ebenen wirkender Mitgestalter und enger Freund Abreus sei hier Frank di Polo genannt. Sein Wirken im System wird bei Kaufmann/Piendl 2011 und Smaczny/Stodtmeier 2009 näher beschrieben.

[212] s. S. 57

13. Perspektiven für die Umsetzung eines inklusiven (musikalischen) Bildungsverständnisses in Deutschland und international - Zusammenfassender Ausblick

In der Zusammenschau der hier dargestellten vielfältigen Aspekte von inklusiver und musikalischer Bildung lässt sich erkennen, dass im Musikschulsystem `El Sistema´ in Venezuela auf der Basis einer ethisch-ästhetischen Grundorientierung die Ansätze eines erfolgreich funktionierenden inklusiven Bildungssystems auszumachen sind. Es ist zwar davon auszugehen, dass dies in den Grundlegungen des Systems nicht explizit intendiert war, da sich Venezuela per se bisher nicht maßgeblich an der internationalen Debatte um `Inklusion´ und `inklusive Entwicklungsprozesse´ beteiligt hat und bis heute nicht zu den Unterzeichnerstaaten der UN-Behindertenrechtskonvention[213] gehört. Auch erschweren fehlende transparente Curricula für die Organisationsprozesse und grundlegenden Methoden innerhalb `El Sistemas´ eine fundierte wissenschaftliche Analyse[214]. Wendet man aber in der Rückschau wesentliche Theorien[215] aus dem Bereich der inklusiven Gesellschaftsentwicklung in Bildungssystemen und Organisationen auf `El Sistema´ an, können - ähnlich wie beim Rückblick Burows[216] auf die Wirkzusammenhänge bei den `Comedian Harmonists´ zur Grundlegung seiner `Theorie der Kreativen Felder´ - wichtige Erkenntnisse zur Weiterentwicklung und Etablierung inklusiver Bildungssysteme gewonnen werden.

So zeigt das Beispiel Abreus, welch durchschlagende und nachhaltige Wirkkraft Visionen entwickeln können, wenn sie auf not-wendende gesellschaftliche Veränderungs- und Entwicklungsprozesse zielen. Auch die Bedeutung, die dabei der Motivation entscheidender Mit-gestalter aus verschiedensten Bereichen durch einen `Visionsträger´ mit den Persönlichkeits-eigenschaften eines `Social Entrepreneurs´[217] zukommt, wird hier beispielhaft deutlich. Wesentlichstes Element ist aber der konsequente Blick auf den Menschen als Individuum mit dem uneingeschränkten Recht auf kulturelle und kreative[218] Bildung.

Besonders dieser Aspekt gewinnt, nicht nur für die vielen Schwellenländer[219], die Initiativen nach dem Vorbild `El Sistemas´ ins Leben gerufen haben, sondern auch für die meisten Industrienationen wachsende Bedeutung. Denn hier zeichnet sich durch die weitverbreitete Leistungsorientierung, die zunehmenden Individualisierungstendenzen und den rasant ansteigenden Einfluss medialer Entwicklungen eine neue Form der gesellschaftlichen Armut ab - einer Armut an lebenssinnstiftenden Perspektiven und kreativitätsfördernden Impulsen. Die daraus erwachsenden Konsequenzen können ganz ähnliche Auswirkungen haben, wie die Folgen tiefgreifender materieller Armut: Aggression, Ausgrenzung, Drogenmissbrauch, etc.

Hier könnten die Erkenntnisse, die aus den Entwicklungen `El Sistemas´ gezogen werden können, gewinnbringend ansetzen. In den USA und Großbritannien wurden in Verbindung mit dem `Abreu Fellows Programm´ schon erste Schritte in diese Richtung unternommen[220].

In Deutschland laufen die Versuche einer Adaption des venezolanischen Systems[221] jedoch häufig noch an den grundlegenden Zielsetzungen der Nachhaltigkeit und uneingeschränkten Zugangsmöglichkeit vorbei. Auch in den Schulen werden musikalische, und kulturell-ästhetische Fächer eher eingeschränkt als ausgebaut, obwohl viele Persönlichkeiten aus Wissenschaft, (Kultur-)Politik und Gesellschaft vehement auf die Bedeutung `umfassend sinnes-bildender Erfahrungen´[222] für individuelle und gesellschaftliche Entwicklungsprozesse verweisen. Viele Forschungsarbeiten widmeten und widmen sich der Begründung dieser Zusammenhänge[223]. Mit Blick auf die herausgearbeiteten Erfolgsfaktoren in der Entwicklung und Etablierung `El Sistemas´ auf der Grundlage der Theorien von ERKELENZ[224] und BUROW[225]ließe sich hier die These aufstellen, dass die starke Vereinzelung der Wissenschaftsbereiche, die sich auf verschiedenen Ebenen mit inklusiven, künstlerischen und kulturellen Bildungszusammenhängen beschäftigen, einer gewinnbringenden Bündelung der Potenziale in Richtung system- und gesellschaftsverändernder Prozesse (noch) im Wege steht. Eine Annäherung der verschiedenen, aber letztlich auf dasselbe Ziel hinarbeitenden, Forschungs- und Praxisinitiativen im Sinne eines `Kreativen Feldes´ könnte, nach der Theorie von Burow, entscheidende Entwicklungsprozesse, nicht nur im Bereich des musikalischen Bildungssystems, in Gang setzen. Vielleicht braucht es dafür aber auch erst einen `Social Entrepreneur´ wie Abreu als "Kristallisationskern" - ganz im Sinne eines Zitats von BLOMSTEDT[226]: "José Antonio Abreu haben wir alle unendlich viel zu verdanken. Jedes Land - auch in Europa - hätte so einen Mann nötig. Nur taugt es nicht mit einem `Geklonten´. Jedes Land braucht ein neues Original. Wo sind sie?"[227]



[213] vgl. UNTC: http://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-15&chapter=4&lang=en

[214] vgl. Elstner 2011 S.91f.

[215] s. Kap. 12

[216] Burow 1999 S.7-12

[217] im Sinne der Konzeptionierung dieses Begriffes nach Erkelenz 2010; s. Kap.12

[218] `kreativ´ im Sinne von: nicht an starre Vorgaben geknüpft und auf individuelle Entfaltungsmöglichkeiten gerichtet

[219] fast alle Länder Lateinamerikas und der Karibik, sowie Indien und Südafrika

[220] vgl. Erkelenz 2010 S.20; Kaufmann/Piendl 2011 S.197

[221] z.B. das Projekt JEKI (Jedem Kind ein Instrument) in NRW; die Initiative MÄBI (Musikalisch-Ästhetische Bildung) in Sachsen-Anhalt

[222] nach Rittelmeyer 2010 S.15

[223] Als Beispiele seien hier Bastian 2000, Spitzer 2002, Kleinen 2003, Hüther 2009 und Rittelmeyer 2010 genannt.

[224] Erkelenz 2010

[225] Burow 1999

[226] Herbert Blomstedt ist ein schwedisch-amerikanischer Dirigent und leitete von 1998-2005 das Leipziger Gewandthaus-Orchester

[227] Blomstedt in Erkelenz 2010 S.46

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Abbildung 7 (S. 47): Chor der weißen Hände. Quelle: http://documentary.net/?s=amo+beethoven (aufgerufen: 29.06.2012)

Abbildung 8 (S. 49): Ensembleprobe in einem Gefängnis Venezuelas. Quelle: Amilciár Gualdrón in: http://www.fesnojiv.gob.ve/en/penitentiary-symphony-orchestras.html (aufgerufen 06.08.2012)

Abbildung 9 (S. 52): Maestro Abreu, Gründer von El Sistema mit Dudamel und Musikschülern. Quelle: http://www.guardian.co.uk (aufgerufen: 08.08.2012)

Abbildung 10 (S. 57): eigene Darstellung nach Erkelenz 2010

Selbständigkeitserklärung

Die Unterzeichnende, Linda Josephine Reiche, geboren am 31.10.1980, versichert

hiermit an Eides Statt, dass sie die selbständige Verfasserin der hier vorgelegten

Diplomarbeit:

"Inklusion im musikalischen Bildungsbereich-Dargestellt am Beispiel der Musikschulsysteme von Deutschland und Venezuela"

ist und dass sie diese nicht bereits für ein anderes Diplomverfahren oder für

ähnliche Zwecke eingereicht hat.

Alle hierzu benutzten wissenschaftlichen Arbeiten sind genau und vollständig

angegeben worden.

Linda Josephine Reiche Halle/S., den 15.08.2012

Quelle:

Linda Josephine Reiche: Inklusion im musikalischen Bildungsbereich - Dargestellt am Beispiel der Musikschulsysteme von Deutschland und Venezuela", Diplomarbeit: Eingereicht am 15. August 2012. An der Philosophischen Faklutät III - Erziehungswissenschaften am Institut für Rehabilitationspädagogik

bidok - Volltextbibliothek: Erstveröffentlichung im Internet

Stand: 29.05.2013

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