Eine neue Form Professioneller Behindertenarbeit im Team

Das Ambulatorium in der Wiener Märzstraße

Textsorte: Artikel
Releaseinfo: erschienen in: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 245 - 252
Copyright: © Jugend und Volk 1982

Einleitung (Überschrift von bidok)

Der folgende Beitrag ist als exemplarische Darstellung einer Institution gedacht, die aus den Bedürfnissen der Betroffenen und den Ideen der Fachleute entstanden ist. Dabei ist uns die Feststellung wichtig, daß die "Märzstraße" nicht als Modell verstanden wird, sondern als konkretes Beispiel für die Entwicklung eines persönlichen Stils im Umgang mit behinderten Kindern. Wir vermuten und hoffen, daß die "Märzstraße" in der Erfassung der erkennbaren Bedürfnisse von Familien mit behinderten Kindern modellhaft (und nachahmenswert) arbeitet, doch ist diese Arbeit im Rahmen der konkreten Entstehungsgeschichte, der Einbettung in die lokalen Verhältnisse und damit im Rahmen der derzeitigen Gestalt der Institution zu sehen, und kann also kein Modell sein. Wir möchten daher nach einer Darstellung des jetzigen Behandlungsangebots der "Märzstraße" vor allem die folgenden drei Punkte genauer beschreiben:

  • Die Entstehung der "Märzstraße"

  • die Erfahrungen und die gegenwärtige Situation in der "Märzstraße"

  • die Reaktion der Öffentlichkeit und die offenen Fragen, vor denen wir stehen.

Das Ambulatorium für körper- und mehrfachbehinderte Kinder und Jugendliche in der Märzstraße in Wien kann zur Zeit folgende Behandlungsmöglichkeiten anbieten: Ärztliche und psychologische Diagnostik, Begutachtung und Beratung, Heilgymnastik (Physiotherapie nach dem Bobathkonzept), Beschäftigungstherapie, Logopädie und Hörtests, Musiktherapie, Malen und Töpfern, Rhythmik, Spieltherapie; weiters Schwimmen und Reiten für behinderte Kinder, Beratung durch eine Sozialarbeiterin und Begutachtung durch den Orthopäden. Die Eltern, die das Haus ambulant aufsuchen - es gibt keine Bettenstation, auch keine Tagesbetreuung - werden mit ihrem Kind von einem Arzt überwiesen oder kommen aus eigener Initiative. Im Regelfall wird das Kind nach einer ersten Untersuchung und einem Gespräch der Eltern mit dem Arzt etwa einmal pro Woche eine Stunde behandelt; ein Konzept, das schon von der Frequenz her die Mitarbeit der Eltern zu Hause mit einschließt. Dieser Regelfall wird, soweit das die Kapazität der therapeutischen Mitarbeiter zuläßt, natürlich nach den individuellen Bedürfnissen variiert. Statistisch liest sich das so: Etwa 30% der (zur Zeit etwa 550 im Vierteljahr) behandelten Kinder sind entwicklungsdiagnostische Begutachtungsfälle, weitere 40% werden kurzfristig (einige Wochen bis zu einem Jahr) behandelt, die restlichen 30% langfristig, manche von ihnen mehrmals pro Woche. Bei kurzfristigen Betreuungen steht oft ein Ziel im Vordergrund, z.B. das Erreichen der Kindergarten- oder Schulreife, bei langfristigen Betreuungen wandelt sich die Therapie meist in die umfassendere Begleitung der Familie mit ihrem behinderten Kind. Die Behandlung erfolgt auf Krankenschein und ist, sofern nicht eine Ausnahmegenehmigung vorliegt, auf das Kindes- und Jugendalter (0-18 Jahre) beschränkt. Wie ist es nun zu diesem Ambulatorium gekommen, wie zu diesem, in Österreich sonst kaum verfügbaren, breiten Behandlungsspektrum und welchen Bedarf deckt diese Institution?

Die Entstehung der "Märzstraße"

Die Idee der "Märzstraße" ist zugleich mit der Gründung des Vereins der Eltern behinderter Kinder im Jahr 1975 anzusetzen; damals fanden sich Eltern zusammen, deren Kinder an der Wiener Universitätskinderklinik betreut wurden. Die Plattform für diesen Verein, eine Ebene, auf der sich die Eltern zur Diskussion der Situation ihrer Kinder treffen konnten, war einige Monate zuvor im Rahmen von Vorträgen und Gesprächen mit dem Arzt und den Heilgymnastinnen, die die Kinder behandelten, zustande gekommen.

Geht man davon aus, daß ein Zusammenschluß der Eltern behinderter Kinder auf eine Mangelsituation hinweist, auf ein Betreuungsdefizit, so ist die Gründung des Vereins soziologisch noch näher zu untersuchen. Vermutlich waren dabei zwei Faktoren ausschlaggebend:

  • Die Gründungsmitglieder waren insgesamt Eltern, deren Kinder - soweit die Möglichkeiten der Kinderklinik reichten - zufriedenstellend behandelt wurden. Ihre Unzufriedenheit hatte einen anderen Grund: Die Kontakte mit Ärzten und anderen Professionisten waren in der ersten Zeit, da man Unterstützung und Verständnis gebraucht hätte, oft frustrierend und demütigend gewesen - so hatten die Eltern darunter gelitten, daß der lange Weg bis zur richtigen Stelle oft eine verspätete Erkennung der Behinderung zur Folge hatte, die auch die Chancen der Behandlung verminderte. Außerdem gab es wenig Einrichtungen zur Begutachtung von Kindern, an die man sich wenden konnte.

  • Eine wesentliche Unterstützung des Zusammenschlusses kam aber auch vom Arzt und den behandelnden Heilgymnastinnen. Sie hatten aus der quantitativen und qualitativen Einschränkung ihrer Arbeit - es mußten wegen Platzmangels immer wieder Kinder von der Therapie zurückgestellt werden; psychologische oder beschäftigungstherapeutische/logopädische Betreuung war nur in seltenen Fällen verfügbar - Vorstellungen über eine weiterführende und umfassendere Betreuung entwickelt: Zudem teilten sie die Unzufriedenheit der Eltern mit den Einrichtungen für behinderte Kinder.

Der entscheidende Punkt dabei ist, daß dieser Verein zunächst aus Eltern bestand, deren Kinder, soweit möglich, gut betreut wurden. Es ist zu vermuten, daß gerade diese Eltern mit dem Arzt und den Therapeutinnen weitere Probleme in Angriff nehmen konnten, weil sie ihre Energie nicht in der Suche nach entsprechenden Behandlungsmöglichkeiten erschöpfen mußten, und weil trotz der unterschiedlichen Betroffenheit durch die Behinderung des Kindes eine Art Solidarität und ein gemeinsames Engagement in der Frage des Lebens mit der Behinderung spürbar war. Die daraus entstandene Zusammenarbeit zwischen Eltern und Arzt/Therapeutinnen ist daher ein Kennzeichen dieses Vereins geblieben (doch davon ist später noch zu reden). Die Errichtung einer Behandlungseinrichtung war nicht das erste Ziel des Elternvereins; sie kristallisierte sich in den Gesprächen nach der Vereinsgründung heraus. Wir meinen, daß dafür auch der Hintergrund von Bedeutung war. Die Behandlung behinderter Kinder standan der Kinderklinik - wie in den letzten drei Jahrzehnten überall in Europa - vorallem unter dem Gesichtspunkt der Früherkennung und Frühbehandlung; für die in diesem Raster früh erfaßten behinderter Kinder standenaber oft keine ausreichenden Behandlungsangebote zu Verfügung: Die Kinderklinik und ihre (geringe) Behandlungskapazität waren auch von besonderer Bedeutung, weil es keine alternativen oder ergänzenden Einrichtungen dazu gab. So war die Situation für die betroffenen Eltern und die behandelnden Therapeutinnen doppelt unbefriedigend: Sie kannten weitere Behandlungsformen, hatten sie aber nicht zur Verfügung, sie wußten aus dem Konzept der Frühbehandlung, wie entscheidend rasche Behandlung sein konnte, trotzdem konnten Kinder nicht oder nur in großen Abständen in Behandlung genommen werden.

Außerdem wurde zu dieser Zeit (nach einem Wechsel in der Leitung der Kinderklinik) deutlicher, daß die notwendige Ausweitung der Betreuungskapazität nicht in Aussicht stand, daß im Gegenteil eine Einschränkung dieser Abteilung zu erwarten war. Es mag sein, daß einer der Gründe für diese Maßnahme die Schwierigkeit war, langfristige Behandlungen von Behinderungen im Rahmen der Kinderklinik, die meist mit akuten Erkrankungen befaßt ist, in erweitertem Ausmaß durchzuführen. Dennoch konzentrierten sich die Ideen des Elternvereins zunächst auf eine die Wiener Kinderklinik ergänzende Behandlungseinrichtung, erst später wurde daraus eine eigenständige Organisation. Immerhin wurde in der "Märzstraße" dann 1978 bereits mit einem mehrfachen Behandlungsangebot begonnen, wie es das an der Klinik noch nicht gegeben hatte: Im Team arbeiteten damals zwei Ärzte, ein Psychologe, zwei Heilgymnastinnen, eine Beschäftigungstherapeutin und eine Logopädin zusammen.

Inzwischen hat sich die Zusammenarbeit der Eltern und der Fachleute sowie das Behandlungskonzept bewährt: In den drei Jahren seit der Eröffnung kam es in der "Märzstraße" zu einer stetigen personellen funktionellen und zuletzt auch räumlichen Erweiterung, die direkt dem Bedarf von Seiten der Eltern und ihrer behinderten Kinder entspricht. Es scheint, als ob das Ambulatorium damit eine doppelte Lücke füllt: Es konnte einerseits ein Teil des Bedarfes auch an kurzfristigen Behandlungen decken - etwa an weniger behinderten Kindern, bei denen ein Rückstand aufgeholt werden kann, wenn die Behandlung im richtigen Zeitpunkt einsetzt; und anderseits ist die "Märzstraße" eine der wichtigsten Einrichtungen zur Betreuung behinderter oder in ihrer Entwicklung gefährdeter Kinder im Vor-Kindergarten-Alter geworden, weil es für diese Alterstufe wenig andere Einrichtungen gibt.

Die bisherigen Erfahrungen und die gegenwärtige Situation

Zu den wesentlichen Erfahrungen in der "Märzstraße" zählt die konstruktive Zusammenarbeit von Fachleuten und Eltern (soll heißen: von angestellten Mitarbeitern und Eltern, die den Verein vertreten), und die Teamarbeit unter den Mitarbeitern selbst.

Der Verein besteht aus Eltern behinderter Kinder, sein Vorstand ist ehrenamtlich tätig. Der Arzt, die Therapeutinnen oder andere (fördernde) Mitglieder haben nur beratende Stimme. Das verdeutlicht eine klare Trennung der Kompetenzen auch im Ambulatorium: Das wirtschaftliche Management liegt bei den Vertretern des Elternvereins, die Entscheidungen im Zusammenhang mit Diagnose und Therapie werden ausschließlich vom professionellen Personal getroffen. Wir glauben, daß diese Struktur - die enge Zusammenarbeit bei klarer Trennung der Aufgabenbereiche sowie der Entscheidungs- und Beratungsfunktionen und die aus dieser Zusammengehörigkeit bereits gemeinsam erarbeitete Betriebsvereinbarung - das tragfähige Skelett des Ambulatoriums sind, eine Basis, auf der weitere gemeinsame Initiativen entstehen können.

Auch die Zusammenarbeit der Mitarbeiter geht, meinen wir, über die herkömmliche Teamarbeit therapeutischer Professionen hinaus. Wir sind dabei von verschiedenen fachlichen Kompetenzen ausgegangen, und haben versucht, gemeinsam Familien mit einem behinderten Kind zu betreuen. Das hat recht konkrete Formen angenommen: Zwei oder mehrere Mitarbeiter, die mit einem Kind arbeiten, sehen einander bei der Arbeit zu, begutachten oder behandeln manchmal gemeinsam, stimmen ihre Vorgangsweise aufeinander ab (auch wenn die Tendenz besteht, daß eine Therapeutin das Kind vorrangig betreut); es gehört zur täglichen Arbeit, daß einer auch die Hilfe des anderen in Anspruch nimmt, wenn er Probleme hat - so bringen wir faktisch etwa 20% unserer Arbeitszeit gemeinsam zu. Daneben gibt es Treffen und Strategiebesprechungen abends und auch Zeiten, in denen wir mit den behinderten Kindern gemeinsam leben: Während eines Sommerlagers oder Schikurses versuchen wir, bei manchen Kindern einen Ansatz für die weitere Entwicklung zu finden, und erleben ein Stück davon, was das Zusammenleben mit einem behinderten Kind auch für die Eltern bedeutet. Es ist klar, daß in dieser Form der Teamarbeit der Beitrag jeder Profession genauer überprüft wird, daß zugleich aber auch eine ganzheitliche Sicht des Kindes/der Familie gefördert wird. Was wir dabei noch lernen? Wir lernen - professionell und menschlich - etwas besser die Sprache des anderen zu verstehen und sie zu sprechen.

Aus dieser Erfahrung der Zusammenarbeit (die ihren Ursprung schon in der Arbeit und der Begegnung mit den Eltern an der Kinderklinik und in den ersten Sommerlagern seit 1975 hatte) führt ein roter Faden zu den folgenden Aspekten, die vermutlich den Stil unseres Behandlungskonzepts entscheidend prägen:

  • Wir versuchen, eine für Kinder adäquate Atmosphäre zu schaffen; das betrifft die architektonische Gestaltung und Einrichtung, die in den notwendigen Anforderungen "behindertengerecht" ist, aber mehr an einen Kindergarten als an ein Krankenhaus erinnert, wie auch den Umgang mit den behinderten Kindern, ihren Geschwistern und Eltern wer immer es auch ist, der mit zur Therapie kommt.

  • Wir sehen verschiedene Schwerpunkte in der Realisierung des Behandlungsangebots: Bei kleinen Kindern im Vorschulalter soll die funktionelle Therapie hauptsächlich von den Eltern selbst gemacht werden - sie erhalten dafür Hilfen, Anleitungen und Ratschläge von den Therapeutinnen. Behinderte Kinder und Jugendliche im Schulalter sollen langsam die Verantwortung für das Inanspruchnehmen der therapeutischen Hilfe und das, was sie damit für sich erreichen wollen, selbst übernehmen - deshalb versuchen wir, zu dieser Zeit die Eltern eher von der Therapie zu entlasten. Auch für die Eltern ist es dann - oft nach vielen Jahren sehr enger (und durch die Therapie noch verstärkter) Bindung an das Kind - manchmal schwierig, sich von ihrem Kind abzulösen, und die Versuchung ist groß, sich auf die Therapeutin und die Therapiestunde zu verlassen, in der Hoffnung, sie könnte alle Probleme lösen. Wo das möglich ist, versuchen wir auch auf diese Schwierigkeiten der Eltern zu reagieren.

  • In der Therapie tritt damit eine ganzheitlichere Sicht der Behinderung hervor. Die Entwicklung des Kindes und die funktionelle Therapie können nicht mehr getrennt verfolgt werden. Physiotherapie, Beschäftigungstherapie oder Logopädie ist für behinderte Kinder oft ein einschränkender Eingriff in für sie "normale" Bewegung, Beschäftigung, Sprache - die Kinder fühlen sich dann bedrängt und gestört. Wir gehen nun davon aus, daß ein Kind, das in der Therapie weint oder abwehrt, dabei nicht mehr lernen kann, und glauben, daß die Therapeutin daher im Einklang mit der Persönlichkeit des Kindes arbeiten muß. So sind uns die gesamtpersönlichen Aspekte der Therapie wichtiger geworden: die Ausdrucksform, das Spiel, die Entwicklung des Kindes. Man könnte sagen, der Focus der therapeutischen Aufmerksamkeit verschiebt sich unmerklich vom Verhalten des Kindes - in motorischer, sprachlicher, psychologischer Hinsicht - auf die Entwicklung, auf das Wachstum der Gesamtpersönlichkeit des Kindes. Die Funktion der Therapie ist es dann, die optimale Situation für die Entwicklung des Kindes zur Verfügung zu stellen, der Therapeut hat die Aufgabe der Begleitung und Unterstützung dieses Entwicklungsprozesses.

  • Auch die organisatorischen Lösungen werden breiter gefächert. Wir versuchen, die Familie mit ihrem behinderten Kind zu sehen: Schwerpunkt, Frequenz und Art des Therapieangebots werden, soweit möglich, an die Wünsche und Bedürfnisse der Eltern und Kinder und unsere Sicht einer optimalen Unterstützung der Familie angepaßt. Das schließt mit ein, daß es Hausbesuche gibt, um die wirkliche Lebenssituation der Eltern mit ihrem Kind kennenzulernen, spieltherapeutische Gruppen für Kinder, Gespräche und Runden mit Eltern.

Vor allem der letzte Gesichtspunkt wird dadurch erleichtert, daß das Team insgesamt viel Freiheit im Behandlungsplan hat, und daß Gespräche über die Betreuung zwischen zwei oder mehreren Mitarbeitern, wie gesagt, zum Stil der täglichen Arbeit in der "Märzstraße" gehören. Als Hintergrund dafür ist aber auch die Form der finanziellen Sicherstellung des Ambulatoriums durch die Verträge mit den Krankenkassen (und im Gefolge mit dem Sozialamt) zu nennen, die es der fachlichen Leitung des Ambulatoriums allein überläßt, entsprechend der Behinderung zu entscheiden, welche Art, Frequenz usw. der Behandlung angeboten/empfohlen wird.

In der Vielfalt des Behandlungsangebots in der "Märzstraße" steckt auch das Bestreben, für behinderte Kinder "alles in einem Haus" zu haben; die Idee, etwas von der Partialbehandlung der Kinder, etwas von der Zersplitterung der Betreuung für die Eltern aufzuheben, für Eltern, die ohnedies meist durch das behinderte Kind stark belastet sind. In diesem Zusammenhang haben wir beim Aufbau des breiten Behandlungsangebots in den ersten beiden Jahren aber auch eine weitere Erfahrung gemacht, die uns in ihrer Bedeutung klarer wird. Es scheint so etwas wie eine optimale Größe einer derartigen Institution zu geben, die einen Sinn für Gemeinschaft zuläßt und fördert. In Zahlen beschrieben, läßt sich diese Größe ungefähr eingrenzen:

  • es gibt eine Grenze von der Zahl der Mitarbeiter her: Sind es mehr als 15 Mitarbeiter, so können nicht mehr alle um einen Tisch sitzen, die Kommunikation wird unübersehbar und eine Art Gemeinschaft aller Mitarbeiter geht verloren;

  • es gibt vermutlich auch eine Grenze vom räumlichen Einzugsgebiet her: Wird der Aufwand (durch die Entfernung oder die Verkehrsmittel) zu einem regelmäßigen Besuch des Ambulatoriums zu groß, so hebt das alle Vorzüge der Institution wieder auf, weil sie nicht in das Alltagsleben integrierbar ist (die konsequente Fortsetzung des Gedankens des räumlichen Einzugsgebietes ist der Anstoß für andere eigenständige Behandlungsinstitutionen, die den regionalen Erfordernissen Rechnung tragen können - was zur Errichtung des selbständigen Ambulatoriums in Wr.Neustadt im Jahr 1980 geführt hat);

  • nicht zuletzt gibt es eine Grenze von der Finanzplanung und der Wirtschaftlichkeit her: Jenseits dieser Grenze sind zusätzlich ganz neue Faktoren zu berücksichtigen.

Es geht dabei darum, die Überschaubarkeit der Institution zu wahren und damit auch den Einfluß der beteiligten Eltern, die Stimme jedes Mitarbeiters, also auch die Flexibilität und Veränderbarkeit der Gestalt der Institution. Das bedeutet in der Konsequenz auch den Entschluß, daß die "Märzstraße" nicht mehr viel weiterwachsen soll - ein, wie wir glauben, für unsere gegenwärtige Situation sehr entscheidender Entschluß.

Die Reaktion der Öffentlichkeit und die offenen Fragen, vor denen wir stehen

Bei der Gründung des Elternvereins hofften die Eltern, daß die öffentlichen Stellen auf die Anliegen der behinderten Kinder rasch eingehen würden; es zeigte sich jedoch, daß die öffentliche Hand nicht so flexibel wie man es sich gewünscht hatte. Vermutlich wurde gerade dadurch Entschluß bestärkt, eine Behandlungseinrichtung nach eigenen Vorstellungen zu bauen. Die erste finanzielle Unterstützung für die Planung und Errichtung des Ambulatoriums kam daher auch von privater Seite; als das Projekt Gestalt annahm, zeigten sich jedoch auch die Krankenkassen und die Sozialamtsabteilungen der Länder Wien und Niederösterreich in den Verhandlungen zur Deckung der Betriebskosten sehr kooperativ. (Es besteht dabei kein Zweifel, daß die mehrfache Unterstützung des Bundespräsidenten Dr. Kirchschläger, der das Ambulatorium auch eröffnete, von großer Bedeutung war.) Die Reaktion anderer Teile der Öffentlichkeit war, meinen wir, überwiegend positiv: Unter den Fachleuten und im Bereich einschlägiger Institutionen ist die "Märzstraße" bekannt geworden; die Medien haben zumeist unter dem Aufhänger der selbständigen Initiative der Eltern freundlich darüber berichtet; die betroffenen Eltern haben reagiert, indem sie das Ambulatorium mehr und mehr in Anspruch genommen haben. Alle Reaktionen haben wir - vorzüglich als Starthilfe - geschätzt. Zugleich ist die (vielleicht etwas unpräzise) Vorstellung, daß Probleme von der Öffentlichkeit allein gelöst werden könnten, zurückgetreten.

Für uns, die Mitarbeiter, sind im Lauf der Zeit einige offene Fragen aufgetaucht, auf die wir während der Behandlung und in der Auseinandersetzung mit den Familien mit ihrem behinderten Kind gestoßen sind. Es sind Fragen, die keineswegs neu sind, die auch den Elternverein seit der Gründung begleitet haben. Sie treten vielleicht deshalb heute wieder stärker hervor, weil man nicht mehr so mit dem Aufbau des Ambulatoriums beschäftigt ist, zum anderen auch, weil man eben bei diesen Fragen auch auf die öffentlichen Institutionen stößt. Wir können diese Fragen nur formulieren, nicht beantworten. Wir sehen vor allem drei Komplexe:

  • "Neue" Eltern benützen die "Märzstraße" wie ein anderes Kassenambulatorium, als Nutznießer; die Vertreter des Elternvereins sind ihrerseits die Manager der Institution. Die "Märzstraße" ist aber als Einrichtung der Eltern behinderter Kinder projektiert worden, und wir meinen, daß der ursprüngliche Ausgangspunkt der Selbsthilfe der Eltern nicht durch ein gut funktionierendes (und gemanagtes) Ambulatorium verloren gehen darf. Es ist nicht leicht zu sehen, wie das Management (das ein solches Haus braucht) und die Offenheit für andere Anliegen der Eltern unter einen Hut zu bringen sind und wie neue Selbsthilfe Initiativen entstehen können. Es scheint, als ob zur Zeit jene wichtige Funktion des Elternvereins, ein Forum für die Eltern zu bieten, in dem sie nachdenken können, was mit ihren heranwachsenden Kindern geschehen soll, hinter der sehr kräfteraubenden Aufgabe, das Ambulatorium zu leiten, zurücktreten mußte.

  • Bei genauem Zusehen wird deutlich, daß die Förderungsmöglichkeiten für erheblich behinderte Kinder sogar in der bestehenden Sonderschulstruktur eingeengt sind. Trotzdem eine Verschiebung von der Auffassung der Schulpflicht zur Auffassung vom Recht auf entsprechende Bildung für jedes Kind deutlicher wird, sind da Engpässe für behinderte Kinder. Es kann im jetzigen System kaum genug Rücksicht auf die individuelle Förderung des Kindes genommen werden, auch ist der Lehrplan mehr am Ablauf der Normalschule orientiert und für eine Strukturierung entsprechend der Begabungsstruktur behinderter Kinder kaum flexibel genug, so daß vom Schulaufbau her nicht immer optimale Lernsituationen bestehen. Erst recht ist die Frage nach der Schule, in der behinderte und unbehinderte Kinder keine Nachteile durch ihre körperlichen oder begabungsmäßigen Grenzen haben, unbeantwortet.

  • Der größte und schwierigste Bereich ist der der nachschulischen Bildung und Ausbildung bzw. der Berufswahl und der Berufsmöglichkeiten für behinderte Jugendliche. Das ist nur am Rande ein Problem der Zahl der Plätze, es ist vor allem ein Problem der Qualität dieser Ausbildung und der Berufsmöglichkeiten und der Mitsprache der Betroffenen und deren Eltern. Gesucht wird also in Ausbildung und Arbeit eine humane und auf den Einzelnen hin flexible Arbeitsform und eine für alle tragbare Wirtschaftlichkeit - den Weg dorthin sehen wir noch nicht vor uns.

Beim Niederschreiben der offenen Fragen fällt uns auf, daß darin doch so etwas wie ein roter Faden, der uns zu beschäftigen scheint, zu finden ist: Die Frage nach der Integration, die für uns vor allem eine Frage nach der Art des Umgangs mit den Kindern und den Familien, sozusagen nach der "Qualität der Beziehungen" ist. Anders formuliert, steckt darin vermutlich die Frage, wie man jenseits der Aufgaben professioneller Betreuung, mit Menschen, deren Grenzen durch ihre Behinderung sichtbarer sind, zusammenleben kann. Das klingt abstrakt, doch sind es diese Fragen, die für uns in der Alltagspraxis professioneller Behindertenarbeit anfallen; Fragen, auf die vermutlich nur mit den Betroffenen zusammen erste Antworten zu finden sind.

Kontaktadresse:

Ambulatorium für körper- und mehrfachbehinderte Kinder und Jugendliche, Märzstraße 122, 1150 Wien, Tel.: 92 61 54

Quelle:

Gerhard Pawlowsky, Christoph Lesigang, Johanna Pilgram: Eine neue Form Professioneller Behindertenarbeit im Team.

Erschienen in: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 245 - 252

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 21.08.2006

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