Wege der Integration -

Zusammenarbeit von Schule, Elternhaus und Fachleuten bei hörgeschädigten Kindern

Autor:in - René J. Müller
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Vortrag
Releaseinfo: Vortrag am Klinikum der Albert-Ludwigs-Universität, Killianstraße 5, D-79106 Freiburg. 1. CI-Forum (Deutsche Cochlear Implant Gesellschaft), Sonntag, 26. Juni 1994
Copyright: © René J. Müller 1994

1. Einleitung

Vielleicht ist das nicht allen bewußt, aber alle Menschen erlebten schon verschiedene Formen von Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule, zwischen Kind, Eltern und Therapeutinnen und Therapeuten. Was ist damit gemeint? Alle waren wir einmal selbst in der Situation, daß wir Schüler oder Schülerin waren. Wir alle hatten Lehrer und Lehrerinnen und Eltern, die über unsere schulische Alltagssituation besorgt und über unsere schulischen Leistungen erfreut oder eben enttäuscht waren. Wie auch immer: Wir alle haben mit Schule einschlägige Erfahrungen gemacht. In dieser einschneidenden und langandauernden Lebensphase haben wir je unterschiedliche Erfahrungen mit Zusammenarbeit gemacht. Häufig ist dabei der Begriff 'Zusammenarbeit' nicht der richtige, da durch ein allzu distanziertes Verhältnis zwischen Schule und Elternhaus eine Zusammenarbeit in Wirklichkeit überhaupt nicht stattfindet oder von anfang an verhindert wird. Ob wir als Kind unter derart ungünstigen Verhältnissen gelitten haben oder nicht, weiß jeder und jede selbst am besten. Aus Elternperspektive wird Zusammenarbeit aus einem neuen Blickwinkel betrachtet. Je nachdem, ob wir Kinder haben, die den Verhaltens- und Leistungsnormen unseres selektiven Schulsystems entsprechen oder dies - aus welchen Gründen auch immer - eben gerade nicht tun, werden wir unter Umständen diametral verschiedene Erfahrungen gemacht haben bzw. noch immer machen.

Da ist aber noch ein weiterer Blickwinkel, aus dem Zusammenarbeit lediglich betrachtet oder aktiv mitgestaltet werden kann, nämlich jener der Pädagogin und des Pädagogen, im weiteren Sinne also jener der Schule; der Regelschule oder der Sonderschule. Diese Sicht ist nicht allen vertraut. Und schließlich kann Zusammenarbeit noch von der Warte der Verwaltung aus beurteilt werden.

2. Phasen der Zusammenarbeit bei hörgeschädigten Kindern

Im folgenden beschränke ich mich auf die Zusammenarbeit im Umfeld von Kindern mit Hörproblemen. Mich selbst begleitet dieses Thema seit mehreren Jahren in konzentrierter Form. Nach einigen Jahren des Unterrichtens an Regelklassen, war ich während sieben Jahren Lehrer an einer Gehörlosenschule. Danach begleitete ich während sieben Jahren hörgeschädigte Kinder in Regelklassen und beriet deren Eltern, Lehrer und Therapeuten. Seit letztem Sommer bin ich selbst Leiter einer Gehörlosenschule. Rückblickend stelle ich fest, daß für mich die Zusammenarbeit als Lehrer in der Sonderschule am einfachsten war. Sowohl Ausmaß als auch Umfang waren dort klar überblickbar. Anders verhielt sich die Sache, als ich hörgeschädigte Kinder in Regelschulen begleitete. Hier galt es plötzlich, Zusammenarbeit mit einer Vielzahl von Lehrerinnen und Lehrern, von Therapeutinnen, Schulbehörden, Ärzten und Psychologen zu initiieren oder einfach aufrechtzuerhalten. Dazu kam, daß Kinder in allen Lebensabschnitten betreut werden sollten. Bald wurde mir klar, daß Zusammenarbeit ein komplexes Interaktionsgeschehen zwischen unterschiedlichsten Personen in unterschiedlichsten Lebenslagen bedeutet. Ich arbeitete in dieser Zeit sehr viel, und ich lernte dabei auch sehr viel. Mir wurde dabei bewußt, daß Arbeit, die nicht im Zusammenspiel mit andern Menschen geschieht, keine wirkliche Zusammenarbeit ist.

Aus jener Zeit stammt die folgende Darstellung: "Chaos" (die auch im Büchlein von der IEhK 'Die Beschulung hörgeschädigter Kinder entsprechend ihren unterschiedlichen Bedürfnissen' (1994) auf Seite 70 abgebildet ist). In dieser chaotisch anmutenden Übersichtsskizze sind Aspekte und Beziehungen innerhalb der Zusammenarbeit zwischen Schule, Eltern und Fachleuten in der unteren rechten Hälfte miteinander verknüpft. Dabei ist ersichtlich ist, daß eine Zusammenarbeit nicht einmal erfunden werden kann und dann für alle Lebensabschnitte Gültigkeit haben kann. In den verschiedenen Phasen der Entwicklung eines Kindes gilt es verschiedene Schwerpunkte zu beachten. Das ist normal auch bei gut hörenden Kindern.

Phasen der Zusammenarbeit im Überblick:

  • Erfassung

  • Frühberatung

  • Früherziehung, Frühförderung

  • Spielgruppe

  • Kindergarten, Einschulung

  • Schule

  • Klassenübertritte

  • Stufenwechsel

  • Selektionsklippen

  • Lehre, Gymnasium

  • Beruf, Studium

3. Ziel des Referates

Die Kunst einer guten Zusammenarbeit beinhaltet sowohl ein kontinuierliches Verbessern und Ausschleifen bestehender Formen der Zusammenarbeit als auch das Erproben und Einführen grundsätzlich neuer Ideen und Ansätze. Wie in anderen Bereichen, in denen es um die rasche Umsetzung neuer Erkenntnisse und Vorstellungen geht, klafft auch innerhalb unserer Schulsysteme zwischen dem Wissen um die Notwendigkeit einer intensiven Zusammenarbeit und dem dafür notwendigen Knowhow eine zeitliche Verzögerung. In der Fachsprache spricht man von einem 'research-to-practice gap'. Dieser Vortrag wurde auch ein wenig in der Absicht geschrieben, diese Kluft (Lücke, Spalt, Gap) zu verkleinern und dazu beizutragen, daß hörgeschädigte Kinder sowie deren Eltern und Lehrkräfte (also alle Bezugspersonen) sowohl von den theoretischen als auch von den praktischen (empirischen) Informationen - unabhängig davon, ob die Kinder nun in Regelschulen oder in Sonderschulen unterrichtet werden - profitieren können (Webster and Ward 1993).

Sie haben mich eigeladen, um einige Aspekte von Zusammenarbeit zwischen Schule, Elternhaus und Fachleuten aus dem Blickwinkel von Schule und Fachleuten zu beleuchten. Auf diese Perspektive werde ich mich auch beschränken. Darum zeigt die folgende Darstellung bewußt einseitig lediglich Hauptaspekte aus dieser Sicht:

Abb.1: Aufgabenfelder eines pädagogisch-psychologischen Förderzentrums für (hör)behinderte Kinder und deren ökosystemisches Umfeld (R. J. Müller)

Bei näherer Betrachtung fällt auf, daß dieser Baum, obwohl er reichhaltige Früchte hervorzubringen verspricht, niemals alle Aspekte darstellt, die es bei der Erziehung und Beschulung eines Kindes mit besonderen Bedürfnissen zu berücksichtigen gilt. Bezeichnen wir ihn der Einfachheit halber einmal als 'Beratungsbaum'. Insbesondere fehlt der pädagogisch-therapeutische Bereich. Im Falle von hörgeschädigten Kindern, bei denen die auditive Wahrnehmung und damit der Input insgesamt stark beeinträchtigt sind, kommt der Therapie mit ihren verschiedenen Ansätzen jedoch eine große Bedeutung zu. Um das breite Spektrum dieses Aufgabenbereichs bildlich darzustellen, ist ein eigener Baum - ein 'Therapiebaum' - notwendig:

Therapiebaum (Handzeichnung - Nicht verfügbar)

Welcher der beiden Bäume nun wichtiger ist, läßt sich nicht immer ohne weiteres bestimmen. Nicht in jeder Entwicklung- und Lernphase bestehen die gleichen Bedürfnisse. So gilt es oftmals abzuwägen, welcher Baum während der 'Zone der nächsten Entwicklung' (Wygotski 1964) im Vordergrund stehen soll. Erst aufgrund der individuellen ökosystemischen Umstände kann beurteilt werden, welche der beiden folgenden Darstellungen die passende ist.

Beratungsbaum vor Therapiebaum

Therapiebaum vor Beratungsbaum

(Handzeichnungen nicht verfügbar)

Daraus wird deutlich: Zusammenarbeit kann und darf nicht einmal überlegt und dann als über Jahre verbindlich festgelegt werden. Sie muß die jeweiligen Umstände berücksichtigen und ist an diese soweit wie möglich immer wieder neu anzupassen. In meinem Referat geht es nicht um die Facetten des Therapiebaumes, diese wurden heute bereits von Frau Marianne Holm eingehend vorgestellt. Es geht auch nicht um Aspekte der Habilitation bzw. der Rehabilitation bei Kindern mit einem Cochlear Implant; diese hat Frau Ulrike Falley geschildert. Und schließlich geht es auch nicht speziell um die mehr oder minder starken Einflüße der anderen 'Pflanzen', die durchaus immer und überall vorhanden sind und die es fallweise und in bestimmten Entwicklungsphasen sogar vordergründig zu berücksichtigen gilt.

Zeichnung mit anderen 'Planzen' (inkl. Therapie- und Beratungsbaum)

(nicht verfügbar)

Mir geht es wirklich um den Beratungsbaum bzw. die Beratung. Und dabei konzentriere ich mich auf jene Bereiche, die einen besonders großen Anteil in der Zusammenarbeit von Schule, Elternhaus und Fachleuten einnehmen. Diese sind hauptsächlich in der linken Hälfte angesiedelt. (Das ist kein Zufall. Aus der Gestaltpsychologie und der Baumdeutung geht hervor, daß eine gesunde, autonome Entwicklung von links unten nach rechts oben verlaufen soll, also vom Wurzelbereich links unten zum Astbereich in der Baumkrone oben rechts.)

4. Vier wesentliche Funktionen (Aspekte) der Zusammenarbeit

Die folgenden vier Bereiche haben insbesondere in der Frühförderung ihre Bedeutung, ihren Ursprung, sind dort begründet (Webster and Wood 1989); sie gelten jedoch ebenso für die auf die Frühförderung folgenden Zonen der Entwicklung.

  • To give information to the parent

  • To obtain parent's information

  • To help parents understand and clarify their own ideas, attitudes, emotions, and behaviors

  • To offer the parent alternatives for changing his or her behavior; or the behavior of others, and to assist the parent in making those changes.

Um in diesen Bereichen erfolgreich zusammenzuarbeiten, gilt es eigentlich nur eine einzige Grundregel zu beachten:

Eltern ernst nehmen durch aktives Zuhören

Zu allererst gilt es, die Eltern mit ihren Bedürfnissen wirklich ernst zu nehmen. Wie läßt sich das erreichen? Es ist wünschenswert, wenn die Fachleute ein Urteil über Eltern, Kind und Situation nicht zu rasch fällen, weil sie dadurch nicht mehr in der Lage sind, neutral, unvorbelastet und vorurteilslos zuzuhören. - Besser ist es, wenn Fachleute quasi Spätzünder sind in ihrem Urteil. Eine Eigenschaft, die mit dem Zurückhalten des eigenen Urteils eng zusammenhängt, ist die Fähigkeit des 'aktiven Zuhörens'. Für viele mag dies als eine Selbstverständlichkeit erscheinen. Das trifft jedoch nicht zu. Anders ist es nicht zu erklären, daß Eltern mit einer Diagnose nach wie vor oft schockiert werden oder daß sie mit ihren Vermutungen, ihr Kind könnte eine Hörschädigung haben, selbst von Fachleuten oftmals nicht ernst genommen werden (Müller 1994). Was unter aktivem Zuhören (active listening) verstanden wird, ist etwa bei (Gordon 1975) oder bei (Webster 1977), die allerdings von 'verstehendem Zuhören' (listening to understand) spricht, nachzulesen. Webster und Ward (1993, 4 f.) beschreiben diesen Prozeß wie folgt:

"It is the process used when one wishes to understand as much as possible about the ideas, emotions, and meanings that make up another person's world. It involves many ways of trying to 'tune in' to what the other person is thinking and feeling at that moment. It includes not only listening to the person's words but also being sensitive to his or her voice, facial expressions, and other body language in an attempt to understand what all the cues may reveal about that person's ideas and emotions." (Webster and Ward 1993)

In dem Bemühen, versuchsweise in die weite Welt der Gedanken und Gefühle einer anderen Person hineinzuschlüpfen (Empathie), muß für den Zuhörer die erste Herausforderung (challenge) darin bestehen, sein eigenes Urteil zurückzuhalten. Das bedeutet, daß der Zuhörer oder die Zuhörerin vorübergehend (temporär) Zustimmung oder Ablehnung, Mißfallen gegenüber dem Gehörten beiseite schiebt, um eben eine neutrale Haltung einzunehmen. Diese Neutralität ermöglicht es, die Aufmerksamkeit so vollständig wie nur möglich auf die Welt - wie immer diese auch gestaltet sein mag - der anderen Person einzuschwingen. Das Ziel dieser Art des Zuhörens besteht darin, die Welt der anderen Person gut genug zu verstehen, um zu deren Zufriedenheit mit ihr kommunizieren zu können.

Obwohl die Beraterin oder der Berater in solchen Situationen Perioden der Ruhe, des Schweigens aushalten muß, darf diese Art des Zuhörens nicht etwa mißverstanden werden als 'passives Zuhören'. Es ist nicht damit getan, von Zeit zu Zeit weise zu nicken und gelegentlich "uh huh" oder was immer zu sagen. Schon gar nicht soll mehr gesprochen werden als dies die Eltern selbst tun. Die Eltern wollen in der Regel nicht hören, daß es andern noch viel schlechter geht. Aktives Zuhören verlangt, Hypothesen und Vermutungen über die Welt der Eltern anzustellen. Diese Hypothesen können verbalisiert werden indem Fragen gestellt werden (z. B. "Meinen Sie ...?" oder "Wie haben Sie das verstanden, als Ihnen das erklärt wurde?"). Hypothesen können auch als Feststellungen (statements) mit fragendem Unterton formuliert werden (z. B. "Ich vermute, daß Sie sich wahrscheinlich ... gefühlt hatten als ..." oder "Als Sie diesen Prozeß verstanden, haben Sie sich bestimmt viel besser gefühlt!"). Aktives Zuhören ist nicht einfach zu erlernen. Wer es jedoch gezielt einsetzt, der wird erleben, daß es eine wertvolle Hilfe ist, um das Vertrauen zu den Eltern aufzubauen, dank dem sonst verschlossene Informationen von den Eltern offenbart werden. Aktives Zuhören hilft auch Eltern, ihre Ideen, Absichten, Gewohnheiten und Gefühle klarer zu erkennen. So werden sie das für die Zusammenarbeit notwendige Verhalten wirklich erlernen und ihr Kind wird daraus vollen Nutzen ziehen können.

Berater und Therapeuten, die in ihrem Urteil zurückhaltend sind (Spätzünder) und aktiv zuhören, lernen Eltern als Personen kennen, die nicht nur Probleme haben. Auch wenn es unangenehme Aspekte für die Eltern gibt, Probleme, auf die wir hinweisen und die wir gemeinsam diskutieren müssen, erkennen wir, daß dies nicht die ganze Welt der Eltern ist. Auch mit ihrem behinderten Kind erleben Eltern das ganze Spektrum von Gefühlen, von Freude und Befriedigung, von Hoffnung und Liebe. Und es ist unbedingt notwendig, daß die Fachleute diese Gefühle akzeptieren und verstehen. Viele Eltern, mit denen ich zusammengearbeitet habe, zeigten viel Freude, und unser gemeinsamer Weg war sowohl von freudigen Höhepunkten als auch von traurigen Tiefschlägen, von Tränen begleitet.

"Professionals who think they will hear only about problems may subtly direct conversation according to this preconceived judgement. These professionals will miss the lighter dimension which ist part of parents, and thus miss some of the enjoyment of working with them." (Webster and Ward 1993)

In der Beratung kann immer beobachtet werden, daß häufig Themen angesprochen werden, die vordergründig keinen Zusammenhang zur Behinderung des betreffenden Kindes erkennen lassen, sich aber doch für die weitere Beratung als von entscheidender Bedeutung erweisen. Wolfgang Drave (1990, 7), der diesen zentralen Aspekt auch in der pädagogisch-psychologischen Zusammenarbeit mit sehbehinderten Kindern und deren Bezugspersonen feststellte, spricht in diesem Zusammenhang von einem sogenannten 'Bandeneffekt':

"Dieser 'Bandeneffekt' - gemeint ist damit, daß wie im Billardspiel die Kugel, die erst mehrere Banden anstößt, bevor sie eine weitere Kugel trifft, Themen angesprochen werden, die ganz andere Wirkungen als erwartet hervorrufen." (Drave 1990):

Für viele Fachleute und auch für Verwaltungsbeamte ist diese Tatsache nicht ohne weiteres plausibel (DRAVE 1990, S. 80):

"Die Hauptschwierigkeit beim Verständnis dieser Zusammenhänge und der Unterschiede einzelner Funktionen der Beratung besteht in einem Paradox. Wer die pädagogische Wirkung der Beratung verstehen will, muß auf die 'unpädagogischen' Anteile der Beratung achten. Er muß es für möglich halten, daß die kürzesten Wege zuweilen Umwege sind und daß Umwege zuweilen die einzigen Wege sind, die zum Ziel führen." (Drave 1990)

5. Stadien und Reaktionen, die Eltern durchlaufen können, wenn sie erfahren, da ihr Kind behindert ist.

Fachleute, die die Eltern als erste mit der Diagnose der Schädigung ihres Kindes konfrontieren müssen, erleben die ersten Reaktionen der Eltern direkt mit. Oftmals machen sie sich jedoch keine Vorstellung davon, was sie mit ihrer Diagnose in den Eltern auslösen. Fachleute, die später während der Therapiephase mit den Eltern darüber reden, hören die ersten Empfindungen und deren Wirkungen auf ihr späteres Verhalten aus der Retrospektive.

Es scheint klar, daß selbst viele Jahre später die Emotionen, die bei der Diagnosemitteilung ausgelöst wurden, noch genauso lebendig sind wie am ersten Tag. Sonst wäre es nicht zu erklären, daß Eltern so detailliert beschreiben können, was sie fühlten und was sie in der Folge taten bzw. zu tun unterließen. Webster und Ward haben viele Fallbeispiele in ihrem Buch 'Working with Parents' beschrieben (Webster and Ward 1993).

Wichtig ist, daß wir uns bewußt sind, daß der Moment der Diagnose für Eltern eine Krisensituation schafft. Alle Menschen durchleben Krisen, das ist normal. Aber einige von uns können damit besser umgehen als andere. Fachleute (Berater, Therapeuten, Lehrer, Ärzte) müssen auf Krisenphasen vorbereitet sein. Sie müssen wissen, in welcher Zone der Entwicklung Krisen gehäuft auftreten können, denn eine Krise kann dramatische Auswirkungen auf das Verhalten der Eltern und Kind und in der Folge auch auf die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Fachleuten haben.

Den meisten von Ihnen sind die verschiedenen Stadien, die Eltern nach der Konfrontation mit der Diagnose durchmachen, vertraut. Ausführlichere Beschreibung der einzelnen Phasen sind in vielen Büchern nachzulesen z. B. Webster (1993, 17 ff.). Ich beschränke mich hier auf Stichworte:

  • Schock

  • Realisierung

  • Rückzug

  • Akzeptanz

  • Individuell verschiedene Reaktionen auf Krisen

  • Andere Eltern können behilflich sein!

  • empfehlenswerte Literatur, Adressen

6. Die Krisen der Eltern dauern an

Es wäre angenehm für Eltern und Therapeutin, wenn - nachdem Eltern die Krise nach der Diagnose erst einmal überstanden haben -dies auch die letzte Krise gewesen wäre. Das ist jedoch nicht der Fall. Eltern eines behinderten Kindes zu sein bedeutet, sich immer und immer wieder mit neuen Krisensituationen auseinanderzusetzen.

Mit jeder neuen Krise werden Eltern einige bereits überwunden geglaubte Stadien neu durchleben müssen. Sie müssen aber auch bereit sein, erneut Frustrationen auszuhalten und für ihr Kind und dessen Bedürfnisse zu kämpfen. Fachleute, die mit den Eltern und deren Kind während dieser Phase zusammenarbeiten, müssen ein Sensorium entwickeln, um Begleitzeichen solcher Krisen wahrzunehmen. Nur so können sie helfend beistehen.

7. Shoppers

Elizabeth Webster und Louise Ward (1993, 49 ff.) beschreiben, was unter 'Shoppers' verstanden wird.

"When we discuss parents who search for a cure for their children's disabilities, we do not mean parents who carefully select from possible treatment plans or sites of treatment. It ist appropriate and desirable, of course, for parents to choose the treatment that best suits their child, their familiy, and their current life situation. Often, indeed, a professional will suggest to parents that they find a service that is closer to home, uses different equipment, or is in some way better suited to their needs than what the professional can offer.

However, some parents engage in a desperate effort to find someone or something that will alleviate their problems, or at least improve their situations, and become what professionals sometimes call 'shoppers'. Such searching may be part of the stage of retreat, or it may be a result of denial because it often happens early in the period after confirmation of a child's disability. Most professionals have known some parents who were shoppers, and have been frustrated by their behavior." (Webster and Ward 1993)

Verschiedene Ursachen können Eltern zu Shoppers werden lassen:

  1. Unsicherheit aufgrund mangelnder Information

  2. Phase des Suchens, des Hoffens, daß es irgendwo eine bessere Methode gibt. Verständlich. Hart für die Experten, aber Umwege sind manchmal notwendig, unvermeidbar - auch wenn sie unter Umständen schmerzhaft sind und für das Kind sogar eine Verschlechterung der Startbedingungen für die therapeutische Arbeit bedeuten.

  3. Mangelndes Vertrauen in die Fachleute vor Ort. Gefahr der Schuldzuweisung. Schwarz-Weiß-Denken bzw. Denken in Gegensätzen. So ist die Wirklichkeit jedoch nicht. Gefordert ist in diesem Fall vor allem die Sonderschule; es liegt an ihr, das Vertrauen der Eltern z. B. durch durch konsequentes Handeln, durch Ernstnehmen der Eltern als Experten ihres Kindes, durch Öffentlichkeitsarbeit usw. zu gewinnen.

Ein Resultat von Shopping kann ein zerstörtes Familienleben sein. Von einer Krise wird in die nächste gehetzt. (Krisenintervention ist notwendig). Wechsel des Wohnortes, Aufgabe der Arbeit, Aufbau neuer sozialer Beziehungsnetze.

8. Special School Reengineering

Sonderschulen können aufgrund ihrer personellen und pädagogischen Ressourcen hier echte Hilfe anbieten.

Ziel für die Sonderschule muß sein, daß die bei den Eltern vorhandenen Energien in eine Zusammenarbeit (statt des meistens vergeblichen Shoppings) einfließen zu lassen.

Die Sonderschule muß sich für eine Verbesserungen der integrationserleichternden Rahmenbedingungen in der Regelschule einsetzen, selbst dann, wenn dadurch unter Umständen ihre eigene Position geschwächt werden könnte.

Diese Ideen sind nicht revolutionär. Es gibt heute Sonderschulen, die diesen gemeinsamen Weg zusammen mit Eltern und anderen Fachleuten bereits eingeschlagen haben. Dennoch ist dieser Weg bemerkenswert, denn er bedeutet eine Abkehr vom traditionellen (und noch überwiegend vorherrschenden) Selbstverständnis vieler Sonderschulen. Sonderschulen müssen ihre Existenz legitimieren. Gelingt ihnen das nicht, laufen sie Gefahr, daß sie aufgelöst werden (Löwe 1994). Das wäre zumindest im gegenwärtigen Zeitpunkt, in dem durch die Rezession und die übertriebenen Sparbemühungen die Integrationsvoraussetzungen in den Regelschulen zusehends schlechter werden, nicht gut. (Es ist allerdings anscheinend ein unheilvoller Kreislauf: Sind die Rahmenbedingungen in der Regelschule schlecht, erhält die Sonderschule bereits durch die kleineren Klassen eine beschränkte Legitimation.)

Analogie zum 'Business Reengineering'. Wir brauchen gegenwärtig sowohl Sonderschulen als auch Regelschulen (Integration). Individuelle Plazierungen sind notwendig.

9. Schlussbemerkung

Damit ich nach dieser Tagung nicht falsch interpretiert werde, halte ich fest: Verbesserung in der Zusammenarbeit ist auch dort, wo ich im Alltag wirke noch nicht in allen Bereichen befriedigend. Noch vieles ist zu tun, und bei allen Anstrengungen sind wir stets nur ein Teil aus einem größeren System, dem Schul- und Gesellschaftssystem, und von dort werden unseren Bestrebungen ganz klar Grenzen gesetzt. In einzelnen Regionen mögen diese Grenzen etwas weiter oder teilweise weggeräumt sein. In anderen Gebieten sind sie jedoch auch heute noch recht eng und starr. Ob daran in Deutschland - und insbesondere in den eher konservativen Bundesländern - die neusten Beschlüße der KMK etwas bewirken können, wird die Zukunft zeigen.

10. Literatur

Drave, W. (1990). Lehrer beraten Lehrer. Würzburg, Edition Bentheim.

Gordon, T. (1975). P.E.T.: Parent effectiveness training. The New American Library. New York,

Löwe, A. (1994). "Gründungsjahre der Gehörlosenschulen mit deutscher Unterrichtssprache." Hörgeschädigtenpädagogik 48(2): 119-123.

Müller, R. J. (1994). Ich höre ... nicht alles! Hörgeschädigte Mädchen und Jungen in Regelschulen. Heidelberg, Universitätsverlag C. Winter.

Webster, A. and D. Wood (1989). Children with hearing difficulties. London, Cassell Educational Ltd.

Webster, E. J. (1977). Counceling with parents of handicapped children: Guidelines fpr improving communication. New York, Grune & Stratton.

Webster, E. J. and L. M. Ward (1993). Working with Parents of Young Children with Disabilities. San Diego, CA., Singular Publishing Group, Inc.

Wygotski, L. S. (1964). Denken und Sprechen. Berlin, Akademie-Verlag.

Quelle:

René J. Müller: Wege der Integration - Zusammenarbeit von Schule, Elternhaus und Fachleuten bei hörgeschädigten Kindern

Vortrag am Klinikum der Albert-Ludwigs-Universität, 1. CI-Forum (Deutsche Cochlear Implant Gesellschaft), 26. Juni 1994

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 23.11.2005

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