Hörgeschädigte Mädchen werden unterschätzt

Autor:in - René J. Müller
Themenbereiche: Geschlechterdifferenz
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Entnommen aus: Geschlechterdifferenz in der Sonderpädagogik. Eine erste Annäherung - Hrsg. Birgit v. Warzecha, (Wissenschaftliche Reihe, 00085) - Kleine Verlag; 1996; Bielefeld; ISBN 3-89370-237-7;
Copyright: © René J. Müller 1996

1. Mädchen und Jungen sind verschieden

In der deutschsprachigen Schweiz wurde 1994 eine breitangelegte Untersuchung über die schulische Leistungsfähigkeit und die psychosoziale Situation hörgeschädigter Mädchen und Jungen in Regelschulen durchgeführt.[1] Dabei wurde insbesondere auch der Frage nachgegangen, ob und falls ja, inwiefern hörgeschädigte Mädchen in Regelschulen andere Lernbedingungen haben als hörgeschädigte Jungen. Der folgende Beitrag setzt sich mit diesen Aspekten auseinander. Die Fragestellung war und ist insofern von Interesse, weil heute in praktisch sämtlichen Ländern Europas die Koedukation weitgehend verwirklicht ist, die Wissenschaft sich bis Mitte der achtziger Jahre jedoch kaum mehr mit ihr als Untersuchungsgegenstand befaßte. Statt dessen gab es zunehmend Forschungen, die das Geschlechterverhältnis innerhalb der gegebenen koedukativen Schulsituation beleuchteten und genauer unter die Lupe nahmen.

Dabei traten nicht selten Benachteiligungen von Mädchen zutage, die erneut Koedukationsuntersuchungen entstehen ließen. Deshalb erscheinen in letzter Zeit in Tageszeitungen und Fachbüchern vermehrt Artikel, aus denen hervorgeht, daß Mädchen in der Schule benachteiligt werden, indem sie beispielsweise weniger oft aufgerufen werden, strengere Noten erhalten und ihnen allgemein weniger zugetraut wird (Frasch and Wagner 1982). Das geht so weit, daß einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heute sogar die Aufhebung der koedukativen Schulen in Erwägung ziehen oder eine neue Form von Koedukation befürworten: die reflexive Koedukation[2] (Faulstich-Wieland 1991).

Bei den erwähnten Untersuchungen wurde bisher der speziellen Frage nicht nachgegangen, ob solche Benachteiligungstendenzen auch bei integrativ unterrichteten behinderten Mädchen auftreten und falls ja, wie sie sich dort manifestieren. Eine der wenigen Ausnahmen stellt die 'Untersuchung über die soziale Distanz' von (WOCKEN 1992) dar, in der eine nach Mädchen- und Jungenfragebogen getrennte Auswertung vorgenommen wurde. Da hörgeschädigte Mädchen vorallem Mädchen sind wie alle Mädchen, wurde die Hypothese aufgestellt, daß sie wie normalhörende Mädchen im Schulalltag in der Regelschule nicht die gleichen Voraussetzungen haben wie Jungen. Nicht untersucht wurde die Situation innerhalb von Sonderschulen für Hörgeschädigte.



[1] Eine ausführliche Darstellung dieser Untersuchung erschien bei Edition Schindele, Heidelberg, unter dem Titel "... ich höre - nicht alles! Hörgeschädigte Mädchen und Jungen in Regelschulen" (Müller 1994).

[2] Reflexive Koedukation: Zeitweise Trennung von Mädchen und Jungen, die stets rückbezogen werden muß auf koedukative Kontexte. Dabei geht es darum, daß das Geschlechterverhältnis und seine Konstitutionsbedingungen - sowohl im getrennten als auch im gemeinsamen Unterricht - reflektiert werden.

2. Hörgeschädigte Mädchen und Jungen zwischen zehn und sechzehn Jahren

Bei der Untersuchung beschränkte ich mich auf die Altersgruppe der Zehn- bis 16jährigen mit einem durchschnittlichen Hörverlust[3] von rund 65 dB. Ich beschränke mich deshalb auf diese Altersgruppe, weil es das Alter der Pubertät ist und sich Jugendliche ab dieser Phase ihrer Entwicklung zusehends ausgeprägter geschlechtsspezifisch verhalten. Obwohl dieser Umstand eigentlich als Tatsache angesehen werden kann, haben sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schon vor Jahrzehnten bemüht, diesen Sachverhalt auch zu belegen. So erwähnt beispielsweise Hannelore Faulstich-Wieland (1991) in ihrem Buch 'Koedukation - enttäuschte Hoffnungen?' eine Untersuchung aus den zwanziger Jahren, die von A. Lehmann in Dänemark an über 4000 Kindern verschiedenen Alters durchgeführt wurde. In dieser Untersuchung zeigte sich eine Verwischung der geschlechtsspezifischen Unterschiede vor der Pubertät, dagegen eine Verstärkung der geschlechtsspezifischen Eigentümlichkeiten während und nach der Pubertät.

Renate Valtin und Richard Kopffleisch führten 1985 eine Untersuchung mit Schülerinnen und Schülern von fünften Klassen durch. Die Kinder hatten die Aufgabe, Aufsätze zum Thema 'Warum ich kein Mädchen/Junge sein möchte, bzw. warum ich gern ein Mädchen/Junge sein möchte' zu schreiben. Die Auswertung der Aufsätze führte zum Ergebnis,

"daß die Einstellungen zum eigenen und zum anderen Geschlecht bei etwa 10jährigen Mädchen und Jungen der heutigen Generation stark differieren und schon auf jene Faktoren zentriert sind, die auch bei den stereotypen Einstellungen von Erwachsenen in bezug auf Männlichkeit und Weiblichkeit eine Rolle spielen ... "

(Valtin and Kopffleisch 1985)

Die im folgenden vorgestellte Untersuchung basiert auf der Auswertung von 123 beantworteten Fragebogen, die über die Situation von integrativ beschulten hörgeschädigten Kindern im Alter von zehn bis 16 Jahren Auskunft geben. Von den 123 Fragebogen wurden 73 von Eltern und 50 von Lehrerinnen oder Lehrern beantwortet. Dabei war in über einhundert Fragen zur schulischen, sozialen und medizinischen Situation des Kindes eine Beurteilung abzugeben. Für die Frage, ob geschlechtsspezifische Aspekte einen Einfluss auf die schulische Alltagssituation bei der Integration haben, waren längst nicht alle relevant. Die untersuchte Gruppe bestand aus 43 hörgeschädigten Mädchen (35%) und 80 hörgeschädigten Jungen (65%). Daß mehr hörgeschädigte Jungen berücksichtigt sein würden als hörgeschädigte Mädchen, war zu erwarten, da der Anteil hörgeschädigter Jungen statistisch gesehen tatsächlich größer ist; im Kanton Zürich, dem hauptsächlichen Untersuchungsgebiet, betragen die Werte 56 Prozent für Jungen und 44 Prozent für Mädchen.[4] Die Tatsache, daß von den untersuchten Kindern und Jugendlichen 65 Prozent Jungen sind, wirft die Frage auf, ob es Eltern und LehrerInnen bei einem hörgeschädigten Jungen als wichtiger erachten, an einer wissenschaftlichen Untersuchung teilzunehmen als bei einem hörgeschädigten Mädchen? Interessant ist weiter, daß sich mehr Lehrer (30) als Lehrerinnen (20) an der Befragung beteiligten, obwohl insgesamt mehr hörgeschädigte Kinder von Lehrerinnen unterrichtet werden.



[3] Der durchschnittliche oder mittlere Hörverlust wird durch das arithmetische Mittel aus den Reintonaudiogrammwerten bei den Frequenzen 500 Hz, 1 kHz und 2 kHz auf dem besseren Ohr angegeben.

[4] Für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland wird ein Jungenanteil von 57% angegeben (Schnack and Neutzling 1990).

3. Psychosomatische Aspekte

"Eine der wichtigsten und schwierigsten Aufgaben von Eltern besteht darin, den Kindern zur rechten Zeit den jeweils nächsten Ablösungsschritt zu ermöglichen. Vom Gelingen dieser 'Individuationsprozesse' hängt auch die körperliche und seelische Gesundheit der Kinder ab. Viele psychosomatische Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen treten gehäuft zu Zeiten dieser inneren Ablösungsvorgänge auf." (Dieter Schnack und Rainer Neutzling 1990, S. 113)

Es ist daher nicht erstaunlich, daß Antworten zu Fragen, die den Bereich psychosomatischer Symptome erkunden, mit dem Alter der untersuchten Gruppe korrelieren. Mit anderen Worten: Je älter die hörgeschädigten Mädchen und Jungen bzw. Jugendlichen sind, desto häufiger leiden sie nach der Einschätzung von Eltern und LehrerInnen beispielsweise unter Kopfschmerzen. Wie die folgenden Tabellen zeigen, decken sich die Angaben von Eltern und Lehrkräften nicht ganz: Nach Einschätzung der Eltern klagen 34,4% der hörgeschädigten Mädchen, aber nur 24,4% der hörgeschädigten Jungen manchmal bis häufig über Kopfschmerzen.

Frage 11b) (Eltern)

Kopfschmerzen; n=73

nie

selten

manchmal

häufig

Mädchen-Eltern; n=28

42,9%

22,9%

22,9%

11,5%

Jungen-Eltern; n=45

36,6%

39,0%

22,0%

2,4%

Nach Angaben der Lehrkräfte klagen 36% der hörgeschädigten Mädchen manchmal bis häufig (Spalten drei und vier) über Kopfschmerzen, während bei den Jungen dieser Wert nur 8% beträgt. Mädchen bleiben auch häufiger aus Krankheitsgründen dem Unterricht fern (vgl. Frage 11i).

Frage 11b) (LehrerIn)

Kopfschmerzen; n=50

nie

selten

manchmal

häufig

Mädchen-LehrerIn

50%

14%

21%

15%

Jungen-LehrerIn

68%

24%

5%

3%

Zwei Feststellungen lassen sich aus diesen Zahlenwerten ableiten:

  • Rund ein Drittel (Elternantworten haben hier Priorität, da sie ihr Kind besser kennen als die Lehrkräfte) aller hörgeschädigten Mädchen und ein Viertel aller hörgeschädigten Jungen im Alter von 10 bis 16 Jahren klagen nach Einschätzung der Eltern manchmal bis häufig über Kopfschmerzen.

  • Hörgeschädigte Jungen haben nach Einschätzung der Lehrkräfte viel seltener Kopfschmerzen als Mädchen.

Welches mögen die Hintergründe für die unterschiedlichen Antworten von LehrerInnen und Eltern bezüglich des 'Klage-Verhaltens' bei hörgeschädigten Mädchen und Jungen sein? Vermutlich gilt es hier, verschiedene Aspekte zu bedenken: Offensichtlich erleben Jungen und Mädchen nach wie vor bereits von früher Kindheit an, daß von ihnen ein bestimmtes Rollenverhalten erwartet wird. Weiter sollte nicht übersehen werden, daß bei den in der Untersuchung antwortenden Lehrpersonen der Anteil der Männer überwiegt. Das bedeutet, daß in den subjektiven Einschätzungen das Rollenverständnis erwachsener Männer stärker zum Ausdruck kommt als jenes erwachsener Frauen. Das mögen Gründe sein für das Klischeebild vom kernigen und gesunden Jungen, den so schnell nichts umhaut. Natürlich 'wissen' alle, Lehrerinnen und Lehrer, daß Kranksein und Kopfschmerzen als unmännlich gelten. Wir alle haben unsere Lernvergangenheiten, und so haben wir alle auch eine jeweils individuell klare Vorstellung davon, wie ein 'richtiger' Junge gemeinhin zu sein hat. "Es entsteht der Eindruck, die Erwachsenen wollten gerade an Söhnen, an kleinen Männern, Schwäche nicht sehen, seelischen Schmerz nicht fühlen." (Schmauch 1987)

Fehlt das Kind überdurchschnittlich oft infolge Krankheit?

Die Frage, ob die Kinder dem Unterricht infolge Krankheit überdurchschnittlich oft fernbleiben, kann ebenfalls etwas über die psychosomatische Situation aussagen. Sie wurde nur den Lehrerinnen und Lehrern gestellt. Die Werte betragen 14,3% für die Mädchen und 0% für die Jungen.

Frage 11i) (LehrerIn)

Fehlen im Unterricht; n=50

ja

nein

Mädchen-LehrerIn

14,3%

85,7%

Jungen-LehrerIn

0,0%

100,0%

Diese Ergebnisse sind unabhängig von den mittleren Hörverlusten, vom Alter der untersuchten Kinder und auch von Zusatzbehinderungen. Zusammengefaßt läßt sich in bezug auf psychosomatische Symptome damit sagen:

  • Es gibt geschlechtsspezifische Unterschiede insbesondere bei Kopfschmerzen und überdurchschnittlichem Fernbleiben vom Unterricht infolge Krankheit.

4. Apparative Hörversorgung

Als durchwegs gut oder meistens gut wird der Nutzen der Hörgeräte bei rund 95% der hörgeschädigten Mädchen und Jungen beurteilt. Dieses gute Resultat ist für Mädchen und Jungen gleichermaßen zutreffend. Etwas anders sieht das Resultat aus, wenn danach gefragt wird, wie regelmäßig die Hörgeräte während des Unterrichts getragen werden. Die Antworten auf diese Frage erlauben Rückschlüsse auf die Akzeptanz der Hörgeräte. Diese ist insbesondere während der Pubertät von großer Wichtigkeit. Die Zahlenwerte in der nachstehenden Tabelle geben darüber Aufschluß.

Frage 19

... tragen immer Hörgeräte im Unterricht

Mädchen

Jungen

Eltern; n=73

100,0%

84,7%

LehrerIn; n=50

84,7%

96,1%

Betrachtet man nur die LehrerInnenaussagen, so scheinen die Jungen mit 96,1% die Hörgeräte regelmäßiger zu tragen als die Mädchen mit 84,7%. Wessen Angaben sind hier zuverlässiger, die der Eltern oder jene der Lehrer und Lehrerinnen?

Vermutlich jene der Eltern. Möglich wäre folgende Interpretation: Da die Jungen im allgemeinen kurze Haare haben, sieht man die Hörgeräte sofort, während sie bei den Mädchen oftmals unter den Haaren verborgen bleiben. Daher entsteht bei den Lehrerinnen und Lehrern in bezug auf die hörgeschädigten Jungen der Eindruck, sie würden die Hörgeräte öfter tragen als die Mädchen. Bei den Jungen ist somit wohl nur der von den Eltern genannte Wert brauchbar, also etwa 85%. Insgesamt läßt sich sagen, daß die Hörgeräte gut akzeptiert werden.

Aus Sicht der Eltern tragen Mädchen die Hörgeräte allerdings etwas regelmäßiger als Jungen. Anläßlich einer Feedback-Runde, an der durch qualitatives Nachfragen die Interpretationen der Ergebnisse überprüft wurden, bestätigten Eltern, daß Mädchen die Hörgeräte oftmals ohne großen Widerwillen tragen würden solange sie diese unter ihren Haaren verstecken könnten. Anderseits scheinen sich Jungen zumindest in einzelnen Fällen vehement dafür einzusetzen, daß die Eltern glauben, das Hörgerät bringe ihnen keinen besonderen Hörgewinn, stelle beim Fußballspiel jedoch eine ernsthafte Verletzungsgefahr dar.

Lehrerinnen und Lehrer äußerten die Vermutung, Jungen würden die Hörgeräte unregelmäßig tragen, um so - wenn sie sagen können: 'Ich verstehe nicht recht!' ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Beispiele aus den gemeinsamen Sommerferien, zu denen hörgeschädigte Kinder aus der ganzen deutschsprachigen Schweiz eingeladen werden, zeigen, daß die Kinder mit einem verstärkten Selbstbewußtsein nach Hause zurückkehren. Nach einem solchen Zusammensein sagte ein Mädchen zu mir: "Das Schönste finde ich, daß ich jetzt endlich auch einen Pferdeschwanz tragen kann. Ich habe es viel lieber, wenn viel Luft an meine Ohren kommt."

Dieses Mädchen zeigte damit, daß sein Selbstwertgefühl gewachsen ist und daß es nun zu seiner Hörbehinderung stehen kann. Die sichtbaren Hörgeräte weisen den Gesprächspartner unmißverständlich darauf hin, daß Hörprobleme vorhanden sind, und das kann in der Folge die Kommunikation erleichtern. Eine weitere Frage bezog sich auf die Verwendung einer FM-Anlage im Unterricht.

'FM' ist vielen Leserinnen und Lesern vom Radiogerät bekannt. FM ist die Abkürzung für Frequenzmodulation; im deutschen Sprachraum ist die Bezeichnung UKW (Ultrakurzwelle) gebräuchlicher. Eine FM-Anlage (manchmal wird sie auch 'Mikroport-Anlage' genannt) ist eine Sendeanlage, die die Stimme der Lehrperson ins Hörgerät des Kindes überträgt. Das geschieht so: Der Lehrer oder die Lehrerin hat ein Mikrophon um den Hals hängen, das durch ein Kabel mit einem Sender verbunden ist, der z. B. am Gürtel der Lehrperson befestigt ist. Das hörgeschädigte Kind hat als Gegenstück einen Empfänger an seinem Gürtel. Der Empfänger ist durch ein Kabel (oder über Funk) mit den Hörgeräten des Kindes verbunden. Der Sinn der FM-Anlage besteht darin, den Sprachschall der Lehrperson in optimaler Qualität - ohne störende Nebengeräusche - ins Ohr des Kindes zu übermitteln. Bei einigen Fabrikaten (z. B. Phonak) bleiben die Hörgerätemikrophone beim Kind auch während des Sprechens der Lehrperson offen, so daß die Umgebungsgeräusche und Äußerungen der MitschülerInnen ebenfalls - etwas gedämpft - gehört werden können. Bei anderen Fabrikaten (z. B. Sennheiser) hat die Stimme der Lehrerin oder des Lehrers in dem Sinne Priorität, daß die in den Hörgeräten eingebauten Mikrophone, sobald die LehrerInnenstimme übertragen wird, ausgeschaltet werden. Danach blenden sich die eingebauten Mikrophone automatisch wieder ein. Dadurch wird erreicht, daß sämtliche Nebengeräusche (Störgeräusche, aber auch Äußerungen der MitschülerInnen) unterdrückt werden und die Sprechstimme technisch wirklich sauber übertragen wird. Die Auswertung ergab, daß acht (53%) der 15 Mädchen, jedoch nur zehn (28,5%) der 35 Jungen eine FM-Anlage verwenden.

5. Input-Fähigkeiten

Bei den Fragen dieses Bereiches ging es darum, herauszufinden, wie gut die Input-Fähigkeiten (Hörvermögen, Lippenlesen, Rückfragen stellen, andere Personen dem Sinn nach verstehen) beim hörgeschädigten Mädchen bzw. Jungen ausgebildet sind.

Wie schätzen Sie das Hörvermögen des Kindes ein?

Frage 39 (Eltern und LehrerIn)

Hörvermögen

n=123

Sprache wird ausschließlich über das Ohr aufgenommen

Sprache wird vorwiegend über das Ohr aufgenommen

Hören ist lediglich eine Zusatzhilfe, sonst Lippenlesen

Höranteil ist zu gering; fast nur Lippenlesen

Mädchen; n=42

33,3% (14)

45,4% (19)

21,3% (9)

0,0%

Jungen; n=80

35,0% (28)

40,0% (32)

20,0% (16)

5,0% (4)

Von Lehrerinnen, Lehrern und Eltern wird gleichermaßen vermutet, daß die Sprache von rund 80% aller hörgeschädigten Kindern vorwiegend oder ausschließlich (Spalten eins und zwei) übers Ohr aufgenommen werden kann. Interessant ist auch wieFähigkeit des Kindes, von den Lippen zu lesen, allgemein eingeschätzt wird. Da diese Frage eng mit der vorigen Frage 39 gekoppelt ist, wäre anzunehmen, daß eine reziproke Korrelation zwischen der Fähigkeit, Sprache übers Ohr aufzunehmen und der Fähigkeit, Sprache von den Lippen zu lesen, besteht, daß also etwa 20% aller hörgeschädigten Jungen und Mädchen ziemlich gut von den Lippen lesen können. Nach übereinstimmender Meinung von Eltern, Lehrerinnen und Lehrern (siehe unten) ist diese Fähigkeit jedoch sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen erheblich besser ausgebildet als zu erwarten wäre.

Frage 39a (Eltern)

Lippenlesen; n=73

liest sehr gut von den Lippen ab

liest recht gut von den Lippen ab

liest nicht gut von den Lippen ab

liest sehr schlecht von den Lippen ab

Mädchen Eltern; n=28

21,7% (6)

53,5% (15)

14,1% (4)

10,7% (3)

Jungen Eltern; n=45

8,9% (4)

44,4% (20)

28,9% (13)

17,8% (8)

Frage 39a (LehrerIn)

Lippenlesen; n=50

liest sehr gut von den Lippen ab

liest recht gut von den Lippen ab

liest nicht gut von den Lippen ab

liest sehr schlecht von den Lippen ab

Mädchen LehrerIn; n=15

6,7% (1)

53,3% (8)

33,3% (5)

6,7% (1)

Jungen LehrerIn; n=35

25,8% (9)

25,8% (9)

28,4% (10)

20,0% (7)

  • Den Mädchen wird eher zugetraut, daß sie Sprache von den Lippen lesen können. Vielleicht, weil das eher als Intuition angesehen wird. Wie ist dann aber zu verstehen, daß die hohe Kunst des Ablesens wieder viel eher Jungen zugetraut wird? Offenbar wird hinter dieser Fähigkeit schon wieder so viel Systematik vermutet, wie man sie nur von Jungen erwartet.

  • Wer tatsächlich besser von den Lippen lesen kann, läßt sich mit meiner Untersuchung nicht sagen.

Wie verhält sich das Kind in der Regel, wenn es nicht versteht?

Frage 40 (Eltern)

Rückfragen

das Kind stellt Rückfragen

das Kind gibt den Anschein, als habe es verstanden

das Kind stellt keine Rückfragen, obwohl es nicht versteht

das Kind resigniert

Mädchen Eltern; n=28

50% (14)

25,0% (7)

3,6% (1)

21,4% (6)

Jungen Eltern; n=45

60% (27)

33,3% (15)

0,0%

6,7% (3)

Auffallend ist, daß nach Einschätzung der Eltern 25% der Mädchen entweder keine Rückfragen stellen oder sogar resignieren; bei den Jungen schätzen die Eltern die Situation wesentlich besser ein.

Frage 40 (LehrerIn)

Rückfragen

das Kind stellt Rückfragen

das Kind gibt den Anschein, als habe es verstanden

das Kind stellt keine Rückfragen, obwohl es nicht versteht

das Kind resigniert

Mädchen LehrerIn; n=15

46,7% (7)

40,0% (6)

6,7% (1)

6,7% (1)

Jungen LehrerIn; n=35

57,3% (20)

34,2% (12)

5,7% (2)

2,8% (1)

Sowohl bei den Eltern- als auch bei den Lehrerinnen- und Lehrerantworten weist nur die erste Spalte (das Kind stellt Rückfragen) darauf hin, daß hörgeschädigte Jungen und Mädchen ein hohes Selbstbewußtsein entwickelt haben. Während diese Eigenschaft 46,7% aller hörgeschädigten Mädchen zugesprochen wird, beträgt der entsprechende Wert bei den Jungen 57,3%. Diese Ergebnisse lassen zwei Interpretationen zu:

  • Positiv gedeutet: Mädchen stellen weniger Rückfragen, weil sie besser ablesen können. Die Mädchen stellen weniger Rückfragen als die Jungen, weil sie dem Unterricht besser zu folgen vermögen.

  • Negativ gedeutet: Mädchen stellen weniger häufig Rückfragen, weil sie angepaßter sind, weil sie weniger auffallen möchten. Entspricht das der Wirklichkeit oder empfinden Eltern, Lehrerinnen und Lehrer Mädchen so, weil ihnen gar nicht auffällt, daß Mädchen Rückfragen stellen?

Daß diese Vermutung durchaus berechtigt ist, geht aus einem Untersuchungsprojekt aus dem Jahre 1976 von Angelika Wagner (Frasch und Wagner 1982, S. 262 ) mit der Bezeichnung 'Unterrichtsstrategien und ihre Auswirkungen auf Schülerverhalten' hervor. Ein zentrales Ergebnis dieses Projektes war, daß Mädchen und Jungen in der Grundschule unterschiedliche Aufmerksamkeit von den Lehrkräften erhalten:

"Die Rolle des Jungen wird von LehrerInnen positiver gewertet und eingeschätzt als die des Mädchens.

  • LehrerInnen stellen an Jungen somit höhere Erwartungen hinsichtlich des Verhaltens und der Leistung.

  • Deswegen wenden LehrerInnen Jungen mehr Aufmerksamkeit zu als Mädchen.

  • Diese unterschiedliche Aufmerksamkeit läßt sich in unterschiedlichem Zuwendungsverhalten beobachten und messen.

  • Dieses Zuwendungsverhalten läßt sich bei in der Schule gerade sehr häufigen Verhaltenseinheiten konkretisieren, z. B. Aufrufen bei Melden oder Nichtmelden, bei Lob und Tadel.

  • Die geschlechtsspezifische Zuwendung zu Jungen und Mädchen ist in verschiedenen Schulfächern (Mathematik, Deutsch, Sachkunde) unterschiedlich stark ausgeprägt, je nachdem, ob es sich um traditionell eher 'weibliche' (Deutsch) Fächer handelt." (Frasch and Wagner 1982)

Wenn die Mädchen offensichtlich weniger Rückfragen stellen und weniger Aufmerksamkeit erhalten, wäre es besonders wichtig, daß sie wenigstens das, was gesagt wird, möglichst gut verstehen. Aus diesem Grund ist die Frage, 'Wie gut können hörgeschädigte Mädchen und Jungen andere verstehen?' von besonderem Interesse. Wie die folgenden Ergebnisse zeigen, sind sowohl Eltern als auch Lehrkräfte der Ansicht, daß ihre hörgeschädigten Kinder andere mühelos verstehen können, dies zumindest bei deutlicher Aussprache.

Frage 59 (Eltern)

Mitmenschen verstehen

das Kind versteht praktisch alle Leute mühelos

das Kind versteht praktisch alle Leute mühelos, wenn sie deutlich sprechen

das Kind versteht nur Leute, die es gut kennt

das Kind versteht nur Familienmitglieder

Mädchen-Eltern; n=28

25,0% (7)

75,0% (21)

0%

0%

Jungen-Eltern; n=45

35,7% (16)

64,3% (29)

0%

0%

Frage 59 (LehrerIn)

Mitmenschen verstehen

das Kind versteht praktisch alle Leute mühelos

das Kind versteht praktisch alle Leute mühelos, wenn sie deutlich sprechen

das Kind versteht nur Leute, die es gut kennt

das Kind versteht nur Familienmitglieder

Mädchen-LehrerIn; n=15

20,0% (3)

73,0% (11)

7,0% (1)

0%

Jungen-LehrerIn; n=35

14,3% (5)

82,9% (29)

2,9% (1)

0%

6. Output-Fähigkeiten

Unter Output versteht man die Sprachproduktion. Output-Fähigkeit bedeutet demnach das Vermögen, mit anderen Menschen kommunikativ in Kontakt zu treten. In unserer normalhörenden Gesellschaft ist für eine gute Kommunikation zwischen Menschen eine möglichst unauffällige, prosodisch korrekte und gut akzentuierte Lautsprache erforderlich. In diesem Zusammenhang ist daher die Frage, wie stark hörgeschädigte Mädchen und Jungen in ihrer Aussprache auffallen, von besonderem Interesse. Diese Frage wurde Eltern und Lehrkräften gestellt, um die je verschiedenen Alltagssituationen berücksichtigen zu können.

Frage 58 (Eltern)

Aussprache

die Aussprache ist unauffällig

die Aussprache ist auffällig, aber für jedermann gut verständlich

die Aussprache ist sehr auffällig, aber für Mitschüler noch verständlich

Aussprache ist dermaßen auffällig, daß man das Kind nur versteht, wenn man es sehr gut kennt

Mädchen-Eltern; n=25

72,0% (18)

28,0% (7)

0,0%

0%

Jungen-Eltern; n=43

76,7% (33)

21,0% (9)

2,3% (1)

0%

Natürlich sind diese Angaben subjektiv, kennen die Eltern die Aussprache ihrer Kinder doch so gut wie sonst niemand. Deshalb merken sie unter Umständen gar nicht, wenn das Kind eine für andere Menschen nicht einwandfreie Aussprache hat. Vielleicht werten die Eltern auch eher die Sprachentwicklung; sie kennen die Mühen, die sie selbst und das Kind aufgewandt haben, um zu diesem Sprachstand zu gelangen.

Frage 58 (Lehrer)

Aussprache

die Aussprache ist unauffällig

die Aussprache ist auffällig, aber für jedermann gut verständlich

die Aussprache ist sehr auffällig, aber für Mitschüler noch verständlich

Aussprache ist dermaßen auffällig, daß man das Kind nur versteht, wenn man es sehr gut kennt

Mädchen-LehrerIn; n=15

33,3% (5)

40,0% (6)

26,7% (4)

0%

Jungen-LehrerIn; n=35

60,0% (21)

28,6% (10)

11,4% (4)

0%

Lehrerinnen und Lehrern schätzen die Situation im großen und ganzen zwar auch recht positiv ein. Nach ihrem Empfinden verfügen die hörgeschädigten Jungen mit 88,6% jedoch über eine bessere Aussprache (Spalten 1 und 2) als die Mädchen mit 73,3%.

Vielleicht ist es so, daß sich Jungen im Unterricht - als Folge eines größeren Selbstwertgefühls und eines stärkeren Selbstbewußtseins - häufiger äußern und sich Lehrerinnen und Lehrer dadurch eher an ihre nicht ganz unauffällige Aussprache gewöhnt haben.

Generell kann hier festgehalten werden, daß Eltern die Aussprache ihrer hörgeschädigten Kinder viel positiver als die Lehrer und Lehrerinnenbeurteilen. Nach der Einschätzung der Eltern verfügen fast alle hörgeschädigten Jungen und Mädchen über eine verständliche oder gar unauffällige Aussprache. Es gilt zu bedenken, daß in der Klassensituation auch normalhörende Kinder unsicher sind und daher leiser und undeutlicher sprechen als zu Hause.

7. Schulleistungen

Eine detaillierte Abhandlung über die Schulleistung integrativ unterrichteter hörgeschädigter Mädchen und Jungen unter allgemeinen Aspekten findet sich in Kapitel 5 von "... ich höre - nicht alles!" (Müller 1994). Dort wird gezeigt, daß hörgeschädigte Mädchen und Jungen unter den Alltagsvoraussetzungen der Regelschulen schulische Leistungen erbringen, die durchaus vergleichbar sind mit jenen normalhörender gleichaltriger Mädchen und Jungen. Im folgenden Abschnitt geht es einerseits um die Frage, ob Unterschiede in den Schulleistungen zwischen hörgeschädigten Mädchen und Jungen feststellbar sind und andererseits darum, ob hörgeschädigte Mädchen und Jungen ihre schulischen Leistungen unter gleichen Bedingungen unter Beweis stellen können.

Die Anzahl der verwertbaren Fragebogen ist nicht gleich groß wie in den vorausgegangenen Betrachtungen, da sichergestellt sein muß, daß für jedes Kind nur ein einziger Fragebogen verwendet wird. Um das zu erreichen, wurde von jenen Kindern, für die sowohl Eltern als auch Lehrerin oder Lehrer geantwortet hatten, jeweils ein Bogen ausgeschlossen. Für die meisten Fragen beschränkte ich mich jeweils auf den Eltern-Fragebogen und schloß jenen der Lehrerin bzw. des Lehrers aus.

Bemerkung zu den Antwortmöglichkeiten: Mit Absicht wurde keine 'Mittelwertvariante' zur Auswahl angeboten. Dadurch sollte vermieden werden, daß sich Eltern und Lehrkräfte vorschnell auf eine mittelmäßige Leistung festlegen.

Wie beurteilen LehrerInnen und Eltern den Leistungsstand hörgeschädigter Mädchen und Jungen in einer Art "Gesamtbeurteilung"?

Frage 55 (Eltern)

Leistungsstand in Gesamtbeurteilung

erheblich tiefer als der Klassendurchschnitt

eher tiefer als der Klassendurchschnitt

eher höher als der Klassendurchschnitt

erheblich höher als der Klassendurchschnitt

Mädchen-Eltern; n=28

3,5% (1)

35,7% (10)

50,0% (14)

10,8% (3)

Jungen-Eltern; n=45

2,4% (1)

44,5% (20)

42,1% (19)

11,0% (5)

Nach Meinung der Eltern sind 60,8% der hörgeschädigten Mädchen und 53,1% der Jungen in ihrer schulischen Leistung über dem Klassendurchschnitt.

Wenn die Einschätzung der Eltern mit jener der Lehrerinnen und Lehrer verglichen wird, fällt auf, daß hier Meinungsverschiedenheiten vorliegen. Die Eltern kennen die Schulzeugnisse ihres Kindes, und sie wissen aus den Gesprächen mit ihrem Kind, wo es innerhalb der Klasse etwa steht. Insbesondere darf im Falle der an der Befragung teilnehmenden Elterngruppe davon ausgegangen werden, daß sie am schulischen Geschehen rund um ihre Kinder großes Interesse haben. Die Elterneinschätzung darf deshalb jedoch nicht einfach als unrealistisch und als voreingenommen abgetan werden. Vielmehr gilt es, nach einer anderen Interpretation zu suchen. Ist es vielleicht so, daß Eltern und Lehrkräfte einen grundsätzlich unterschiedlichen Leistungsbegriff haben? Werten Eltern, wenn sie nach der Leistung ihres Kindes gefragt werden, in ihrer Wahrnehmung vielleicht die Anstrengungen des Kindes zu Hause als Leistung? Mit anderen Worten: Legen die Eltern bei ihrem Kind einen individuellen Bewertungsmaßstab an, während Lehrkräfte unwillkürlich die Klasse als Bezugsgruppennorm mitberücksichtigen und ständig die Tendenz zur Notengebung haben? Nachstehend die Einschätzung der Lehrerinnen und Lehrer:

Frage 55 (LehrerIn)

Leistungsstand in Gesamtbeurteilung

erheblich tiefer als der Klassendurchschnitt

eher tiefer als der Klassendurchschnitt

eher höher als der Klassendurchschnitt

erheblich höher als der Klassendurchschnitt

Mädchen-LehrerIn; n=15

20,0% (3)

53,3% (8)

20,0% (3)

6,7% (1)

Jungen-LehrerIn; n=35

2,9% (1)

51,7% (18)

45,4% (16)

0,0%

Auffallend ist, daß nach der Meinung der Lehrerinnen und Lehrer der allgemeine Leistungsstand fast der Hälfte (45,4%) aller hörgeschädigten Jungen, jedoch nur bei 26,7% der hörgeschädigten Mädchen eher über dem Klassendurchschnitt liegt. Negativ formuliert: 73,3% der hörgeschädigten Mädchen liegen unter dem Klassendurchschnitt, jedoch nur 54,6% der hörgeschädigten Jungen. So läßt sich die schulische 'Gesamtschau' wie folgt zusammenfassen:

  • Schulische Leistungen hörgeschädigter Kinder in Regelklassen liegen - nach Einschätzung der Lehrer und Lehrerinnen - eher tiefer als der Klassendurchschnitt. Bei hörgeschädigten Mädchen gilt das besonders.

  • Eltern schätzen die schulische Leistung ihres hörgeschädigten Kindes höher ein als der Klassendurchschnitt ist. Bei Mädchen gilt dies besonders.

Um den schulischen Leistungsstand hörgeschädigter Jungen und Mädchenin Regelklassen differenzierter zu untersuchen, wurden Lehrer und Lehrerinnen mit zwei weiteren Fragen zu diesem Thema konfrontiert: Die erste (Frage 91) betrifft die Einschätzung der Leistung ohne Notengebung in einzelnen Fächern, die zweite (Frage 92) die konkrete Benotung durch Ziffern.

Wie schätzen die Lehrkräfte den Leistungsstand hörgeschädigter Mädchen und Jungen in den verschiedenen Schulfächern ein?

Es ist zu beachten, daß die Angaben auf subjektiven Einschätzungen von Lehrerinnen und Lehrern und nicht auf standardisierten Tests beruhen. Von den üblicherweise 14 Schulfächern wurden für die Befragung lediglich die in der Tabelle festgehaltenen berücksichtigt, da sie besonders stark vom sprachlichen Verständnis abhängig sind.

Es fällt auf, daß die Leistung der Mädchen in praktisch allen Bereichen tiefer (zum Teil wesentlich tiefer!) angesetzt wird als jene der Jungen. Im Rechnen, das noch immer von vielen als männliche Domäne angesehen wird, erhalten die hörgeschädigten Jungen in 63% aller Fälle eine eher bessere oder sogar viel bessere Einschätzung als der Klassendurchschnitt. Bei den hörgeschädigten Mädchen liegt der entsprechende Wert lediglich bei 42%. Auch in anderen Fächern sieht es ähnlich aus: Der Wortschatz der hörgeschädigten Mädchen liegt nach Einschätzung der Lehrerinnen und Lehrern nur in 14%, jener der Jungen aber in 39% über dem Klassendurchschnitt. Die Werte für die Einschätzung des funktionalen Lesevermögens liegen bei 28% der Mädchen, aber bei 39% der Jungen über dem Klassendurchschnitt; beim sinnentnehmenden Lesen betragen die entsprechenden Werte 39% für Mädchen bzw. 45% für Jungen.

Frage 91 (Lehrer)

Leistungsvergleich mit hörenden

Mitschülern

viel schlechter

eher schlechter

eher besser

viel besser

n=15 M. / 35 J.

Mädchen / Jungen

Mädchen / Jungen

Mädchen / Jungen

Mädchen / Jungen

Lesen

21% (3) 12% (4)

56% (8) 51% (17)

21% (3) 39% (13)

7% (1) 0%

Leseverständnis

49% (7) 9% (3)

21% (3) 48% (16)

28% (4) 39% (13)

7% (1) 6% (2)

Wortschatz

35% (5) 18% (6)

56% (8) 45% (15)

7% (1) 39% (13)

7% (1) 0%

Dialekt mündlich

56% (8) 15% (5)

21% (3) 60% (20)

21% (3) 24% (13)

7% (1) 3% (1)

Hochdeutsch mündlich

56% (8) 18% (6)

21% (3) 54% (18)

21% (3) 30% (10)

7% (1) 0%

Rechnen

7% (1) 6% (2)

56% (8) 36% (12)

28% (4) 39% (13)

14% (2) 24% (8)

Ø aller 6 Fächer

38% 13%

38% 49%

21% 35%

8% 6%

Eine ähnlich gute Leistung wie sie für die Jungen angegeben wird, wird den Mädchen lediglich in der mündlichen Sprachproduktion attestiert. Dies trifft auf den Dialekt und das Hochdeutsch gleichermaßen zu.

Werden die durchschnittlichen Prozentwerte für eher bessere und viel bessere Schulleistungen in den sechs erfragten Bereichen betrachtet, so ist ersichtlich, daß die Mädchen hier mit 29%, die Jungen jedoch mit 41% vertreten sind. Auch hier wird also die schulische Leistung der hörgeschädigten Jungen gefühlsmäßig höher eingestuft als jene der hörgeschädigten Mädchen.

Bemerkenswert ist jedoch, daß der Leistungsstand hörgeschädigter Mädchen, wenn konkret einzelne Fächer betrachtet werden, höher angesetzt wird (29%) als in der pauschalen Gesamtbeurteilung (23,1%). Bei den hörgeschädigten Jungen ist der umgekehrte Trend feststellbar: hier in 42% über dem Klassendurchschnitt, in der Gesamtbeurteilung jedoch in 44,1%.

Wie sind die Zeugnisnoten hörgeschädigter Mädchen und Jungen in den verschiedenen Schulfächern?

Neben den vorwiegend subjektiv bestimmten Antworten auf die Fragen 55 und 91 zielt diese Frage auf möglichst objektive Zahlenwerte ab. Dabei ist klar, daß bei der Notengebung in begrenztem Maße immer auch wieder Subjektivität einen Einfluß hat. Zu beachten ist, daß in der Schweiz die Notenskala von 1 bis 6 reicht, wobwei 1 die schlechteste, 6 die beste Note ist. Noten 4 bis 6 sind genügend. Der Klassendurchschnitt liegt zwischen 4 und 4,5.

Frage 92 (LehrerIn) n=50

Sprache mündlich

Sprache schriftlich

Rechnen

Französisch

(ab 5. Schuljahr)

Mädchen; n=15

4,1

4,2

4,3

4,5

Jungen; n=35

4,2

4,2

4,4

4,5

Die Auswertung dieser Frage ist äußerst erstaunlich. Die Zeugnisnoten zeigen nicht nur, daß die hörgeschädigten Mädchen und Jungen in Regelklassen schulische Leistungen erbringen, die im Klassendurchschnitt liegen, sondern auch, daß die hörgeschädigten Mädchen und die Jungen praktisch identische Noten bzw. Leistungen erbringen.

Das bedarf einer Erklärung. Heißt das, daß die Lehrerinnen und Lehrer den Mädchen wohlgewogener sind und ihnen eher bessere Noten ins Zeugnis schreiben als den Jungen (Behindertenbonus für die schwachen und erst noch behinderten Mädchen)? Oder verhält sich die Sache vielleicht so, daß die Mädchen generell als schwächer eingestuft werden als die Jungen, obwohl ihre Leistungen oftmals besser sind. Das würde bedeuten, daß Mädchen ihre Leistung anläßlich von Prüfungen immer erst unter Beweis stellen müssen. Die so erworbenen Leistungsausweise können dann nicht einfach negiert werden, müssen also ins Zeugnis geschrieben werden, schlagen sich aber dennoch im subjektiven Urteil der Lehrkräfte über die allgemeine schulische Leistungsfähigkeit der Mädchen nicht nieder.

Vergleicht man die Resultate der drei Fragen zur schulischen Leistung, dann scheint diese Interpretation dem wirklichen Sachverhalt recht nahe zu kommen.

bessere oder viel bessere Leistung als der Klassen-durchschnitt (Lehrer)

Frage 55

Gesamtbeurteilung

Frage 91

einzelne Schulfächer

Frage 92

Zeugnisnoten im Durchschnitt

Mädchen

23,1 %

29%

4,3

Jungen

44,1%

42%

4,3

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen eine interessante Tendenz:

  • Hörgeschädigte Mädchen in Regelklassen werden generell als leistungsschwächer eingeschätzt als hörgeschädigte Jungen.

  • Wird die Leistungseinschätzung anhand konkreter Schulfächer vorgenommen, sind die Unterschiede zwischen hörgeschädigten Mädchen und Jungen kleiner.

  • In den Zeugnissen erreichen integrativ beschulte hörgeschädigte Mädchen und Jungen praktisch gleiche Noten.

Als ich später an Konferenzen mit Lehrerinnen und mit Studentinnen die Frage aufwarf, weshalb Mädchen und Jungen letztlich die gleichen Noten erhalten, erhielt ich zu meiner Überraschung von diesen Frauen Antworten wie die folgende: "Ja, die Mädchen sind eben viel fleißiger als die Jungen! Wenn die Jungen ebenso fleißig wären, würden sie noch viel bessere Leistungen erbringen." Das zeigt aber nur, wie tief solche Vorurteile selbst in Lehrerinnen und Studentinnen drin stecken.

8. Psychosoziale Situation

Wie wurden hörgeschädigte Mädchen und Jungen von ihren Mitschülern und Mitschülerinnen anfangs aufgenommen?

Mit dieser Frage wollte ich herausfinden, wie die Startbedingungen für das hörgeschädigte Kind waren. War von Anfang an eine ablehnende, skeptische Haltung seitens der Mitschülerinnen und Mitschüler vorhanden? Wie beurteilen die Eltern die Situation aus ihrer Sicht?

Frage 60 (Eltern)

Aufnahme in der Klasse

problemlose Aufnahme in der Klasse

eigentlich recht gute Aufnahme

das Kind hatte Schwierigkeiten, Anschluß zu finden

es war in der Klasse von Anfang an Außenseiter

Mädchen-Eltern; n=25

48,0% (12)

40,0% (10)

4,0% (1)

8,0% (2)

Jungen-Eltern; n=43

44,2% (19)

44,2% (19)

9,3% (4)

2,3% (1)

Eltern erlebten die Aufnahme ihres Kindes in der Regel als recht gut bis problemlos. Das gilt für Mädchen und Jungen gleichermaßen. Aber entspricht die Elternsicht auch der Realität? Um das zu beurteilen, ist es bei dieser Frage besonders sinnvoll, die Einschätzung der Lehrerinnen und Lehrer mit jener der Eltern zu vergleichen.

Frage 60 (LehrerIn)

Aufnahme in der Klasse

problemlose Aufnahme in der Klasse

eigentlich recht gute Aufnahme

das Kind hatte Schwierigkeiten, Anschluß zu finden

es war in der Klasse von Anfang an Außenseiter

Mädchen-LehrerIn; n=15

53,3% (8)

20,0% (3)

20,0% (3)

6,7% (1)

Jungen-LehrerIn; n=35

57,1% (20)

28,6% (10)

11,4% (4)

2,9% (1)

Eine recht gute bis problemlose Aufnahme wird von den Lehrkräften für die Mädchen in 73,3%, für die Jungen in 86,7% angegeben. Nachdem aus der Sicht von Lehrerinnen und Lehrern anfangs eine günstigere Aufnahme hörgeschädigter Jungen angegeben wird, interessiert natürlich die Frage 'Wie beschreiben LehrerInnen und Eltern die jetzige soziale Stellung der hörgeschädigten Mädchen und Jungen innerhalb der Klasse?' (Frage 61)

Frage 61 (Eltern)

soziale Stellung in der Klasse

das Kind hat eine sozial gute, angesehene Position

das Kind hat eine unauffällige, ausgeglichene Position

das Kind hat eher eine geringe soziale Stellung

das Kind wird gemieden

Mädchen-Eltern; n=23

34,8% (8)

52,2% (12)

13,0% (3)

0%

Jungen-Eltern; n=42

23,8% (10)

69,1% (29)

7,1% (3)

0%

Eine ausgeglichene bis gute soziale Stellung (Spalten eins und zwei) innerhalb der Klasse nehmen Eltern bei den Mädchen in 87% und bei den Jungen in 92,9% an. Etwas anders beurteilen die Lehrkräfte die Situation:

Frage 61 (LehrerIn)

soziale Stellung in der Klasse

das Kind hat eine sozial gute, angesehene Position

das Kind hat eine unauffällige, ausgeglichene Position

das Kind hat eher eine geringe soziale Stellung

das Kind wird gemieden

Mädchen-LehrerIn; n=15

20,0% (3)

46,7% (7)

33,3% (5)

0%

Jungen-LehrerIn; n=35

22,9% (8)

60,0% (21)

17,0% (6)

0%

Von den Lehrerinnen und Lehrern wird die Situation weniger positiv als von den Eltern (aber insgesamt doch als gut) empfunden: Eine ausgeglichene bis gute soziale Stellung innerhalb der Klasse wird für rund 83% der hörgeschädigten Jungen, aber nur für 67% der hörgeschädigten Mädchen angegeben.

Auffallend ist, daß sowohl auf die Frage nach der Aufnahme des hörgeschädigten Kindes in die Klasse als auch auf jene der jetzigen sozialen Stellung des Kindes, der soziale Status der hörgeschädigten Jungen von den Lehrkräften höher eingestuft wird als jener der hörgeschädigten Mädchen. Möglicherweise hängt dies mit der Bezugsgruppenwahrnehmung zusammen, die nur Lehrerinnen und Lehrern möglich ist. Eltern haben meistens nur ihr eigenes Kind vor Augen; Vergleichsmöglichkeiten fehlen Ihnen in der Regel. Selbst dann, wenn ein Geschwister vorhanden ist, sind sie kaum in der Lage, die Alltagssituation des hörgeschädigten Kindes innerhalb der Klasse realistisch nachzuempfinden.

Wie beschreiben Lehrer und Eltern die soziale Stellung der hörgeschädigten Mädchen und Jungen im Freizeitbereich? (Frage 62)

Der Freizeitbereich beinhaltet den Aktionsraum, in dem sich Kameradschaften und Freundschaften zwischen den Kinder entfalten können. Ob soziale Kontakte überhaupt zustande kommen, hängt weitgehend von den Eigenaktivitäten der Kinder ab.

Frage 62 (Eltern)

soziale Stellung in der Freizeit

das Kind hat keine Probleme, Spielkameraden zu finden

das Kind hat einige Kinder, mit denen es spielen kann

das Kind hat nur selten die Möglichkeit, mit andern Kindern zu spielen

das Kind wird gemieden; Kinder wollen kaum mit ihm spielen

Mädchen-Eltern; n=26

65,4% (17)

15,4% (4)

7,7% (2)

3,8% (1)

Jungen-Eltern; n=42

45,2% (19)

47,6% (20)

4,8% (2)

2,4% (1)

Daß ihr hörgeschädigtes Kind in der Freizeit eine gute soziale Stellung (Spalten eins und zwei) hat, schätzen 80,8% der Mädchen-Eltern und sogar 92,8% der Jungen-Eltern. Keine Probleme (nur Spalte eins) werden bei 65,4% der Mädchen, aber nur bei 45,2% der Jungen angenommen.

In schweizerischen Verhältnissen wissen Lehrerinnen und Lehrer im allgemeinen ziemlich genau darüber Bescheid, was ihre Schüler und Schülerinnen im Freizeitbereich unternehmen. Deshalb ist es sinnvoll, diese Frage auch ihnen zu stellen.

Frage 62 (LehrerIn)

soziale Stellung in der Freizeit

das Kind hat keine Probleme, Spielkameraden zu finden

das Kind hat einige Kinder, mit denen es spielen kann

das Kind hat nur selten die Möglichkeit, mit andern Kindern zu spielen

das Kind wird gemieden; Kinder wollen kaum mit ihm spielen

Mädchen-LehrerIn; n=14

35,7% (5)

57,1% (8)

7,2% (1)

0%

Jungen-LehrerIn; n=40

50,0% (20)

40,0% (16)

10,0% (4)

0%

Lehrkräfte vermuten im Freizeitbereich eine befriedigend gute Situation (Spalten eins und zwei) sowohl für hörgeschädigte Mädchen (92,8%) als auch für hörgeschädigte Jungen (90%). Bei den Jungen wird in 50% angenommen, daß sie keine Probleme haben, bei den Mädchen aber nur in 35,7%. Da die Situation in der Freizeit von den Eltern wahrscheinlich zutreffender beurteilt wird als von den Lehrerinnen und Lehrern, gewichte ich auch deren Aussage stärker. Das bedeutet:

  • Im Vergleich zur Einschätzung der Eltern werden hörgeschädigte Mädchen nicht nur im Erbringen von schulischer Leistung, sondern auch in der Fähigkeit, sozial problemfrei zu interagieren, von ihren Lehrkräften unterschätzt, umgekehrt überschätzen diese die hörgeschädigten Jungen in diesen Bereichen.

Wo sind die Ursachen für diese unterschiedliche Einschätzung durch die Lehrer und Leherinnen zu suchen? Möglicherweise sind sie teilweise in der Art der gemeinsamen Aktivitäten mit Gleichaltrigen zu finden. Jungen- und Mädchenspiele unterscheiden sich ab etwa dem zehnten Lebensjahr immer deutlicher voneinander.

Um sich das vor Augen zu führen, denke man beispielsweise an die Pausenspiele: Mädchen spielen (jetzt beziehe ich mich auf die Situation in der Region Zürich) häufig 'Gummitwist', ein Hüpfspiel. Zwölf- bis dreizehnjährige Mädchen spielen nicht mehr so oft 'Gummitwist', dafür erzählen sie sich sehr viel und lachen miteinander. Jungen spielen im allgemeinen (Ausnahmen gibt es immer) eher Fußball oder stören die Mädchen bei ihren Spielen. Das, worauf es mir ankommt, ist folgendes: Bei Mädchenspielen ist der kommunikative Anteil in der Regel wesentlich größer als bei Jungenspielen.

Für hörgeschädigte Kinder und Jugendliche bedeutet aber Kommunikation immer eine erschwerte Situation.[5] Erschwert ist nicht nur die Wahrnehmung des raschen Gesprächsverlaufs (Input), sondern ebenso die eigene Sprachproduktion (Output) und damit das Teilhabenkönnen an der Situation. Entsprechend ist es verständlich, daß hörgeschädigte Mädchen im Freizeitbereich schon früher unter diesen erschwerten Verhältnissen 'leiden'. Bei den hörgeschädigten Jungen fängt wenige Jahre später aber die gleiche kommunikationsintensive Zeit an, nämlich dann, wenn vertiefte Jungenfreundschaften entstehen, in denen sie sich gegenseitig die ersten Gefühlsregungen gegenüber den Mädchen offenbaren. In dieser Zeit läuft auch bei den Jungen sehr viel über den auditiv-verbalen Kanal. Dies sind Vermutungen, sie zu belegen, wäre Thema für eine andere Arbeit.



[5] Bei anderen Behinderungsarten mag die Situation völlig anders sein, so daß die Argumentation gerade umgekehrt wäre. Beispielsweise kann ich mir ein verhaltensauffälliges Mädchen beim Gummitwisten eher vorstellen als einen verhaltensauffälligen Jungen beim Fußballspielen. Wenn sich das Mädchen beim Gummitwisten nicht nach den Regeln verhält, kommt es beim Hüpfen unweigerlich nicht zu seinen Punkten und muß entsprechend häufiger und länger stehen, um das Gummiband zu spannen. Es wird quasi durch die Spielregeln erzogen. Der verhaltensauffällige Junge, der beim Fußballspiel nicht nach den Regeln spielt, kann nicht toleriert werden, denn es ist ein Mannschaftsspiel.

9. Zum Selbstvertrauen von Mädchen

Von Anfang an sprach ich nicht von behinderten Kindern, sondern von normalenMädchen und Jungen, die sich in einer wichtigen Hinsicht von den meisten anderen unterscheiden: Sie hören nicht so gut. Gerade weil meine zentrale Betrachtungsweise jene der Normalität ist, ist es eine Bestätigung für diese Sichtweise, daß die Untersuchungsergebnisse von der allgemeinen Pädagogik unterstützt werden. Deshalb mache ich im folgenden Abschnitt einen Exkurs zur allgemeinen Pädagogik und beschäftige mich mit jenen Erkenntnissen über das Selbstvertrauen[6] von Mädchen. Die dort gewonnenen Ergebnisse dürfen meiner Meinung nach auf die Gruppe der hörgeschädigten Mädchen übertragen werden. Die bereits in Abschnitt 2 zitierte Untersuchung von Valtin und Kopffleisch zeigt, "daß die Einstellungen zum eigenen und zum anderen Geschlecht bei etwa 10jährigen Mädchen und Jungen der heutigen Generation stark differieren und schon auf jene Faktoren zentriert sind, die auch bei den stereotypen Einstellungen von Erwachsenen in bezug auf Männlichkeit und Weiblichkeit eine Rolle spielen ..." (Valtin und Kopffleisch 1985, S. 109).

In der Untersuchung wurden Geschlechtsstereotypien analysiert und festgestellt, daß Jungen an sich selbst viel mehr positiv finden als Mädchen. Beispielsweise finden die Jungen an sich selbst positiv, daß sie stärker, schneller, größer seien, Fußball spielen, und besser im Sport sind. Als positive Eigenschaften des eigenen Geschlechts nannten die Mädchen: "Mädchen tragen schönere Kleider, können sich schönere Frisuren machen, sie helfen der Mutter im Haushalt, sie spielen mit Puppen." (ebd., S. 105)

Die positiven Eigenschaften der Mädchen bildeten jedoch in vielen Fällen gleichzeitig auch die Kritikpunkte der Mädchen selber, indem sie betonten, daß sie Hausarbeit machen und sich um andere kümmern müßten. Ebenso fanden sie nicht gut, "daß Mädchen ordentlich sein müssen, nicht auf Bäume klettern dürfen, nicht so mutig sind, mehr Angst haben." (ebd.) Jungen äußerten nahezu keine Kritik am eigenen Geschlecht. Die Kritik am jeweils anderen Geschlecht überwog die positiven Seiten, die dort gesehen wurden. Dies war bei den Jungen noch ausgeprägter als bei den Mädchen. "Fast die Hälfte der kritischen Antworten der Jungen bezieht sich auf soziales Verhalten der Mädchen: Die Jungen äußern ihr Mißfallen daran, daß Mädchen petzen, kratzen, beißen und überempfindlich sind, aber auch, daß sie immer so ordentlich und sauber sind." (ebd.) Die Hauptkritik der Mädchen bezog sich darauf, "daß Jungen sich ständig oder häufig prügeln, daß sie andere ärgern, daß sie angeben, frech und brutal sind." (ebd., S. 106)

Valtin und Kopffleisch interpretieren ihre Ergebnisse folgendermaßen:

"Jungen empfinden sich bereits als das starke Geschlecht in bezug auf den körperlichen, technischen und sozialen Bereich und sind offenbar zufrieden mit ihrer Rolle. Mädchen sind eher konzentriert auf Attraktivität, Fürsorglichkeit und Hausfraulichkeit, wobei sie allerdings in starkem Maße auch unzufrieden sind mit den sozialen Beschränkungen, die ihnen ihre Rolle auferlegt." (ebd., S. 109)

Die Ambivalenzen im Selbstkonzept der Mädchen, wie sie in der angeführten Studie zum Ausdruck kommen, veranlaßten Marianne Horstkemper zu einer Untersuchung (Horstkemper 1987), deren Ziel die Beobachtung und Beschreibung der Entwicklung des Selbstvertrauens während der Schulzeit war. Ihre Ergebnisse über den Zusammenhang von Schulerfolg, Selbstvertrauen und Geschlechtszugehörigkeit faßt sie folgendermaßen zusammen:

"Zunächst einmal findet sich kein Hinweis darauf, daß schulischer Erfolg für Mädchen einen grundsätzlich anderen Stellenwert hat als bei Jungen. ... In allen Leistungs- und Geschlechtsgruppen wächst das Selbstvertrauen über die Jahre hinweg an. Je größer dabei der Schulerfolg ist, desto eher sind die Heranwachsenden in der Lage, ein positives Selbstbild auszubilden. Bei gleichem Schulerfolg weisen die Jungen gegenüber den Mädchen stets einen Selbstvertrauensvorsprung auf. ...

Wir können somit feststellen, daß für Mädchen schulische Erfolge in noch ausgeprägterer Weise eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Entwicklung von Selbstvertrauen ist. Die mit der weiblichen Geschlechtsrolle verbundenen Erlebnisse von Nachrangigkeit scheinen die positive Wirkung des Schulerfolgs zumindest teilweise zu unterlaufen. Dagegen können sich bei Jungen gute Leistungserfolge und positive gesellschaftliche Bewertungen der männlichen Rolle gleichgerichtet ergänzen.

Umgekehrt wirken bei Mädchen mit ungünstiger Erfolgsbilanz zwei Negativfaktoren wechselseitig verstärkend, so daß ihr Selbstbild mit Abstand am stärksten negativ getönt ist. Den Jungen in gleicher Lage erlaubt dagegen vermutlich gerade die generelle Höherbewertung der männlichen Rolle eine Kompensation individueller Mißerfolge und Frustrationserlebnisse. Eine Abwertung der Schule als nicht so wichtig und der Rückgriff auf andere Bestätigungsquellen ist ihnen dabei vermutlich behilflich." (Horstkemper 1987, S. 168 f.)

Horstkemper untersuchte auch, welche Zusammenhänge zwischen den Interaktionsbeziehungen - sowohl der Schüler untereinander als auch zwischen Schüler und Lehrern - und der Herausbildung des Selbstvertrauens bestehen. Ihre Analysen dieser Frage sowie die statistische Bearbeitung des Gesamtzusammenhangs führten zu folgenden Ergebnissen:

"Wenn die Heranwachsenden subjektiv den Eindruck haben, gut mit ihnen (den Lehrkräfte, Anm. d. Autors) auszukommen, ... dann ist das für den Aufbau von Selbstvertrauen eine günstige Voraussetzung. Umgekehrt wird eine gestörte Lehrer-Schüler-Beziehung zur erheblichen Belastung für die Entwicklung eines positiven Selbstbildes. ... Allerdings findet sich in der Bedeutung der verschiedenen Kommunikationsvariablen ein wichtiger geschlechtsspezifischer Unterschied: Während bei den Mädchen die Beurteilung der Schüler-Schüler-Beziehung stets nur einen nachrangigen Einfluß ausübt, ist dieser Faktor für die Jungen vor allem in jüngeren Jahren die wichtigste Quelle ihres Selbstvertrauens. Dies relativiert sich gegen Ende der Schulzeit, dennoch bleiben deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede erhalten. ... Neben dem kommunikativen Klima nimmt während der gesamten Sekundarschulzeit der Leistungserfolg der Schüler erheblichen Einfluß auf das Selbstvertrauen: Je besser die Schulzensuren sind, desto eher können Schüler und Schülerinnen ein positives Selbstbild aufbauen. Allerdings finden wir auch hier geschlechtsspezifische Unterschiede. Während bei den Mädchen die Schulzensuren während der gesamten Sekundarschulzeit von hoher Bedeutung für das Selbstvertrauen sind, etabliert sich bei den Jungen dieser Zusammenhang erst in den Abschlußklassen der Sekundarschule; in früheren Jahrgängen leben die Jungen dagegen in relativer Distanz zu den Leistungsrückmeldungen, die sie von der Schule erhalten.

Dies alles zusammengenommen führt zu einem erstaunlichen Ergebnis: Obwohl die Mädchen schulisch deutlich erfolgreicher sind als die Jungen (sie sitzen häufiger im oberen Leistungsniveau und erhalten tendenziell die besseren Noten) und obwohl für die Mädchen dieser Leistungserfolg eine stärkere Quelle des Selbstvertrauens darstellt, vergrößert sich der Selbstvertrauensabstand zwischen den Geschlechtern im Laufe der Sekundarschule sogar noch. Kurz: Trotz Leistungserfolg und Leistungsorientierung können Mädchen ihre Selbstvertrauensnachteile nicht wettmachen. Auch die graduell unterschiedliche Bedeutung der Schüler-Schüler-Beziehung kann diesen Selbstvertrauensunterschied nicht erklären; denn während sich bei diesem Einflußfaktor eine geschlechtsspezifische Angleichung über die Jahre feststellen läßt, nehmen die Unterschiede im Selbstvertrauen zu."

(Horstkemper 1987, S. 215 f.)

In diesen Ergebnissen finden sich für meine eigene Untersuchung über die Situation von hörgeschädigten Mädchen und Jungen Erklärungsansätze. Klar scheint, daß der kleine Macho in vielen Jungen nicht naturgegeben, sondern vielmehr gesellschaftlich-historisch bedingt ist. Daß Nachbarn, Freunde, Großeltern, Tanten und Onkel, Kollegen, Lehrer und Schulbücher, Comics und Fernsehfilme miterziehen, wird heute mehr und mehr auch von vielen Eltern in ihre Überlegungen mit einbezogen. Daß dort gesündigt wird, wo Rollenklischees eher zementiert als hinterfragt werden, ist kaum bestritten. Es gibt aber noch andere heimliche Erzieher: Es sind die Bilder, die wir von unseren Eltern in uns tragen. Erzieherinnen und Erzieher, Lehrer und Lehrerinnen sind selbst ja auch Erzogene. Normen und Werte, die uns anerzogen wurden, können wir zwar verdrängen, aber vorhanden sind sie dennoch.



[6] Aus einem anderen Teil meiner Untersuchung (Müller 1994, S. 121-144) ging hervor, daß das Selbstvertrauen hörgeschädigter Mädchen in Regelklassen weniger stark entwickelt ist als jenes hörgeschädigter Jungen. Dies mag eine direkte Folge der unterschiedlichen Voraussetzungen im Schulalltag sein.

10. Konsequenzen für die Pädagogik

Hörgeschädigte Mädchen in Regelklassen werden von den Lehrerinnen und Lehrern subjektiv als leistungsschwächer und hilfsbedürftiger eingestuft als hörgeschädigte Jungen, obwohl ihre tatsächlichen Leistungen mindestens ebenso gut sind wie jene der Jungen. Das zeigt sich auch in der Tatsache, daß Lehrer oder Lehrerinnen der hörgeschädigten Mädchen viel häufiger der Meinung sind, sie sollten in der Gestaltung ihres Unterrichts noch mehr auf das hörgeschädigte Mädchen eingehen. Ob dieser Wunsch dem unbewußten Bedürfnis des Lehrers oder der Lehrerin, das Mädchen innerhalb der Norm zu erziehen, entspringt, bleibt unbeantwortet. Vielleicht ist es so, daß die Lehrkräfte von Mädchen beim Ausfüllen des Fragebogens das schlechte Gewissen beschleicht. Sie realisieren, daß sie dem hörgeschädigten Mädchen zu wenig Aufmerksamkeit schenken.

Bei den Jungen ist der Sachverhalt anders: Sie machen von sich aus mehr auf sich aufmerksam und werden damit offensichtlich auch eher wahrgenommen als die Mädchen.

Eltern trauen den Mädchen zwar eine höhere Leistung und eine größere Sozialkompetenz zu als die Lehrer oder Lehrerinnen dies tun, bleiben tendenziell aber ebenfalls in der Vorstellung behaftet, daß Jungen dies alles doch besser können als Mädchen.

Aufgrund der Untersuchung komme ich zu zwei wichtigen Ergebnissen bezüglich integrativ beschulten hörgeschädigten Kindern und Jugendlichen:

  • Hörgeschädigte in Regelklassen haben keine kleinere schulische Leistungsfähigkeit und auch keinen tieferen sozialen Status als normalhörende Kinder und Jugendliche.

  • Hörgeschädigte Mädchen in Regelklassen haben keine tiefere schulische Leistungsfähigkeit und auch keinen tieferen sozialen Status als hörgeschädigte Jungen.

Die Frage ist nun, wie sich die Vorurteile seitens der Lehrerinnen und Lehrer aber auch der Eltern, hörgeschädigte Mädchen und Jungen hätten eine tiefere Sozialkompetenz und ein kleineres schulisches Leistungsvermögen als gleichaltrige normalhörende Jungen und Mädchen, auf die Betroffenen selbst und im speziellen auf hörgeschädigte Mädchen auswirken? Welche Möglichkeiten bleiben ihnen zur täglichen Bewältigung ihrer Situation unter gleichzeitiger Erschwerung durch die Hörschädigung? Und damit komme ich zurück zum Ausgangspunkt dieser Untersuchung, nämlich, daß hörgeschädigte Mädchen und Jungen unterschiedliche Voraussetzungen bei der Integration haben.

Aufgrund der Untersuchungsergebnisse stelle ich fest, daß hörgeschädigte Mädchen in Regelklassen und ihre Lehrerin bzw. ihr Lehrer im Laufe der Zeit folgende Phasen durchlaufen:

1. Phase: Das hörgeschädigte Mädchen spürt im Alltag, daß der Lehrer bzw. die Lehrerin (wahrscheinlich nicht nur diese) nicht an seine (schulische) Leistungsfähigkeit und soziale Kompetenz glaubt.

2. Phase: Dies schwächt das Selbstbewußtsein und das Selbstwertgefühl des hörgeschädigten Mädchens.

3. Phase: Dadurch wird (und wirkt) das Mädchen unsicher in seinem Verhalten (nonverbale Bereiche) und in seinen Äußerungen (verbaler Bereich). Dies hat Gültigkeit sowohl für die schulischen Leistungen als auch für das Sozialverhalten.

4. Phase: Der Lehrer spürt diese Unsicherheiten und interpretiert sie (im positiven Fall) als Überforderung, Leistungsschwäche oder Hilfsbedürftigkeit. Auf jeden Fall als Schwäche und als nicht in die Norm passend.

5. Phase: Der Lehrer wird selbst unsicher in seinem Verhalten gegenüber dem Mädchen.

6. Phase: Der Lehrer empfindet seinen Einsatz für das hörgeschädigte Mädchen als zu gering und möchte sich in vermehrtem Maße um das Mädchen bemühen.

7. Phase: Der Lehrer nimmt die Hilfe einer Beratungsstelle in Anspruch.

8. Phase: Die Beziehung zum Mädchen kann sich im Laufe der Zeit verbessern.

Was ist zu erwarten, wenn in Phase 7 keine Hilfe gesucht und oder gefunden wird? Kann man dann davon ausgehen, daß sich die Beziehung im Laufe der Zeit verschlechtern wird?

Wie steht es in bezug auf die Peer-group? Spielen da die gleichen Mechanismen? Vor allem ab Phase 5 wäre dann zu erwarten, daß die soziale Stellung des hörgeschädigten Mädchens in der Klasse geringer wird und bleibt, da die Mitschüler und Mitschülerinnen im allgemeinen keine Hilfen im Umgang mit dem hörgeschädigten Mädchen erhalten.

Ausnahmen stellen jene Fälle dar - und das ist ein weiterer Hinweis für die Richtigkeit ökosystemischen Vorgehens in der Bereitstellung geeigneter Rahmenbedingungen für eine integrative Beschulung - in denen mit der Klasse die Hörschädigung thematisiert und dadurch die Empathie für das hörgeschädigte Mädchen unter den Mitschülern und Mitschülerinnen gefördert wird.

Bei der Frage der Peer-group gilt es, zwischen Mädchen- und Jungengruppen zu unterscheiden, da innerhalb dieser Gruppen zum Teil total verschiedene Normen gelten. Mädchen orientieren sich eher daran, über schulische Leistungen und Kooperation Anerkennung zu erhalten, während Jungen dies eher über sportliche Konkurrenz und 'Mackertum' versuchen.

Die folgende Frage ist durchaus berechtigt: Werden hörgeschädigte Jungen eher als normale Jungen mit einer Hörschädigung angesehen, Mädchen dagegen eher als behinderte Mädchen mit einer Hörschädigung, als Behinderte eben? Es scheint so zu sein. Es war jedoch nicht Aufgabe und Ziel dieser Arbeit zu erklären, weshalb das möglicherweise so ist. Meine Ausgangslage war die Hypothese, daß hörgeschädigte Mädchen und Jungen unterschiedliche Voraussetzungen bei der Integration haben. Die Antwort darauf lautet aufgrund meiner Untersuchungen: Ja, hörgeschädigte Mädchen und Jungen haben unterschiedliche Voraussetzungen bei der Integration.

Literatur

Faulstich-Wieland, H. (1991). Koedukation - enttäuschte Hoffnungen? Darmstadt,

Frasch, H. and A. C. Wagner (1982). Auf Jungen achtet man einfach mehr ... Sexismus in der Schule. Weinheim,

Horstkemper, M. (1987). Schule, Geschlecht und Selbstvertrauen. Weinheim,

Müller, R. J. (1994). Ich höre ... nicht alles! Hörgeschädigte Mädchen und Jungen in Regelschulen. Heidelberg, Edition Schindele.

Schmauch, U. (1987). Anatomie und Schicksal - Zur Psychoanalyse der frühen Geschlechtersozialisation. Frankfurt a. M.,

Schnack, D. and R. Neutzling (1990). Kleine Helden in Not - Jungen auf der Suche nach Männlichkeit. Hamburg,

Valtin, R. and R. Kopffleisch (1985). Mädchen heulen immer gleich - Stereotypen bei Mädchen und Jungen. Frauen machen Schule. Frankfurt a. M.,

Wocken, H. (1992). Bewältigung von Andersartigkeit. Untersuchung zur Sozialen Distanz in verschiedenen Schulen. Behinderte Gesellschaft - Integration statt Aussonderung. Kongressbericht. Graz, 30-52.

Über den Autor

Nach einem medizinisch-naturwissenschaftlichen Studium wandte sich Dr. René J. Müller (geb. 1954 in Zürich) der Pädagogik im Sek II-Bereich zu. Später mehr und mehr auch der Sonderpädagogik, insbesondere der Hörgeschädigten- und Sprachbehindertenpädagogik. Seine konkrete Arbeit mit hörgeschädigten Kindern und Jugendlichen innerhalb der Sonderschule für Hörgeschädigte als auch innerhalb der Regelschule führten bei ihm zur Überzeugung, daß die gemeinsame Schule für alle auch für Hörgeschädigte wenn immer möglich verwirklicht werden sollte. Heute ist René Müller Leiter der Gehörlosen- und Sprachheilschule Riehen, die sich als multiprofessionelles Schulungs-, Beratungs- und Förderzentrum für hör- und sprachbehinderte Kinder und Jugendliche versteht.

Gehörlosen- und Sprachheilschule Riehen,

Inzlingerstraße 51,

Postfach 378,

CH-4125 Riehen 1,

Schweiz

Siehe auch: http://www.gsr.ch

Quelle:

René J. Müller: Hörgeschädigte Mädchen werden unterschätzt

Entnommen aus: Geschlechterdifferenz in der Sonderpädagogik. Eine erste Annäherung - Hrsg. Birgit v. Warzecha, (Wissenschaftliche Reihe, 00085) - Kleine Verlag; 1996; Bielefeld; ISBN 3-89370-237-7;

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 20.02.2006

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation