Ohne Tränen kein Utopia - Schritte zur Änderung des behinderten Daseins

Autor:in - Christa Schlett
Themenbereiche: Selbstbestimmt Leben
Textsorte: Buch
Releaseinfo: Entnommen aus: Sie nennen es Fürsorge: Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand; mit Beiträgen vom Gesundheitstag Hamburg 1981 / hrsg. von Michael Wunder u. Udo Sierck. - 2. Auflage; Frankfurt am Main; Dr. med. Mabuse 1987.
Copyright: © Dr. med. Mabuse 1987

Ohne Tränen kein Utopia - Schritte zur Änderung des behinderten Daseins

1.

Ja, ich sehe es genau, jetzt lächeln schon manche. Phantasie, Utopia, die hier verbraten wird. Aber man soll sie nur lassen, die Behinderten, sie haben ja sonst wenig Erfreuliches vom Leben. Ich glaube, daß viele so denken. Daß sie damit die Ansprüche von Behinderten nicht zur Kenntnis, und selbst wenn, nicht ernst nehmen. Langfristig wird ihnen das sauer aufstoßen, denn wir Behinderten sind dabei, ganz konkrete Vorstellungen für bessere, glücklichere Lebensbedingungen zu erarbeiten und uns unserer selbst bewußt zu werden. Das wird nicht von heute auf morgen gehen. Deshalb erwarten wir die Veränderungen keineswegs von jetzt auf gleich. So dringend wir ihrer auch bedürfen. Unsere Planung von der besseren Welt des Krüppellebens hat System und Realismus trotz aller Utopia. Drum: Nichtbehinderte mit den verschiedensten Einstellungsmustern, Mitleid, Neugier, wahrer und manchmal nur aufgesetzter Menschlichkeit, unterschätzt uns nicht. Ich rate es euch in ehrlicher Freundschaft. Später wird unsere Hilflosigkeit kein Fakt mehr sein, demzufolge ihr uns in die Abhängigkeit zwingt. Denn allein das, so glaube ich, ist die Ursache für die Unmündigkeit vieler Behinderter.

Ihr redet zwar druckfertig in Worten von den Integrationsbemühungen für die Behinderten, doch wenn es ernst wird, dann laßt ihr die Gelder sperren, die Planstellen streichen, die Gesetze einfrieren. So sitzt ihr bald 35 Jahre. Die Grauzeit davor lasse ich mal außer acht, gebe euch die Chance, den bekannten Strich zu ziehen (ob ihr es schafft?). Ihr sitzt am längeren Hebel, brütet über Systemen, wie der Behinderte zu sein hat, damit er in das Mosaik eurer Wunderwelt paßt. Bloß mit einem habt ihr nicht gerechnet: mit der Initiativfähigkeit der euch Anbefohlenen. (Sicher, wer rechnet auch schon mit dem Schlimmsten und - in diesem Fall - so Unwahrscheinlichen?) Aber das Unwahrscheinliche wird sehr bald kommen und aufräumen mit euren mild lächelnden Gedankenspielen etwa von der Art, daß ihr sagt, Sondereinrichtungen der verschiedenen Sparten seien doch schon der absolute Fortschritt im Gegensatz zu den Hinterhofverstecken früherer Zeiten und der Gnadenspritze aus unserer dunklen Vaterlandzeit. Wenn ich recht informiert bin durch das, was ich so erlebte, dann war das doch immer die Position der offiziellen Vertreter von Behinderten in Schulen und Ausbildungsstätten. Dankbarkeit war das zu erreichende Lernziel, nicht die Fähigkeiten und der Wille zur Selbständigkeit.

2.

Das aber ist die Voraussetzung für den Behinderten (Krüppel), damit sich in seinem Leben etwas ändert. Eine zu realisierende Utopia für den Behinderten ist dann erreicht, wenn die Ausgliederung nicht mehr existiert. Wenn Sondereinrichtungen nicht mehr bestehen. Wenn die notwendigen Hilfen, die der Behinderte jeweils benötigt, von jedermann selbstverständlich gegeben werden. Wenn die geforderte, notwendige Rücksicht nicht wie bisher mit kuschender Dankbarkeit vergütet werden muß, die jegliche Entfaltung des Behinderten beschneidet.

In der zukünftigen, besseren Welt für den Behinderten wird es so sein, daß der Betroffene neben seinen Menschenrechten auch die damit verbundenen Pflichten voll in Anspruch nimmt. Erst diese Verbindung von Recht und Pflicht gibt dem Menschen jene Würde, die er zum Leben braucht. Beide Attribute hat man über Generationen hin dem Behinderten wie selbstverständlich abgesprochen und aberkannt. Jetzt werden durch allgemeine Freiheitsbewegungen der letzten Jahre aufgeklärte Behinderte sich ihre Rechte selbst nehmen, sich die Pflichten für ihre eigene Existenz und die der anderen Behinderten nicht nehmen lassen. So steigen sie aus ihrer Unmündigkeit und Unwissenheit. "Wer handelt macht sich schuldig." So ungefähr lautet der Satz, an den ich denken muß, wenn ich die jüngste Entwicklung der Krüppelbewegung verfolge, die ich mit meinen geringen Möglichkeiten unterstützen will. Ich glaube nicht, auch wenn es sich um eine "Behinderten-Bewegung" handelt, bei der es sonst zum guten Ton gehörte, kurzfristige Rücksichten gelten zu lassen, daß diese Bewegung in ihrer (notwendigen) Kompromißlosigkeit allein mit friedlichen Mitteln ihre Ziele erreichen wird. Das zu hoffen wäre Illusion und keine zu realisierende Utopia.

Wer handelt, macht sich schuldig. Behinderte werden, neben vielem anderen auch, lernen müssen, schuldfähig zu werden. Tränen werden fließen bei vielen Freunden, ob behindert oder nicht. Worte, Aussagen werden fallen, bei denen sich jeder Relativierungsversuch verbietet. Das wird nicht immer leicht zu bewältigen sein, und die Freiheit, die Selbständigkeit und die Verantwortung, die wir Behinderten hier übernehmen, werden so manches Mal nach Bitterkeit schmecken. Leicht wird das nicht, ich sage das den mit mir mitstreitenden Behinderten in aller solidarischen Deutlichkeit. Ich sage das im Eingeständnis meiner zeitweiligen Mutlosigkeit. Zu gerne möchte ich manchmal nachgeben, die Augen verschließen. Im Kompromiß der Freundlichkeiten, die nichts verändern, nichts in Gang setzen, schon die unaufgebbaren Ziele erkennen. Dann, mit dem Erkennen meiner Täuschung beginnt mein Kampf, gegen mich, gegen Freund und gegen Feind.

3.

Wenn ich wichtig finde, daß der Behinderte lernt, auch mit seinen Pflichten umzugehen, d.h. überhaupt erkennt, daß er welche hat, dann meine ich besonders Pflichten von jener Art, die er gegen sich selbst hat. Das geringe Selbstwertgefühl, das ich sehr oft bei Behinderten beobachte, muß aufgearbeitet werden, muß umschlagen in ein Vertrauen, ein Zutrauen zur Entfaltung verbliebener Fähigkeiten. Dabei stören natürlich die alt bewährten Erwartungsmuster der Helfer, die sich von einer Generation auf die andere vererben: Geduld, Dankbarkeit, bescheidene Zufriedenheit. Sie werden in dieser bekannten Form langsam aber stetig an Kurswert verlieren. Das gibt mir Mut und Zuversicht bei dem Gedanken an die bessere Welt für den Behinderten, die morgen entsteht.

Wer seine Pflichten (und seine Rechte) als Behinderter ernst nimmt, der wird sich auch nicht scheuen, in ein Haus zu ziehen, in dem generell niemand etwas gegen Behinderte hat. Er wird allerdings nicht einziehen, wenn er als Mensch dort unbeliebt und unerwünscht ist. Der pflichtbewußte Behinderte wird es als selbstverständlich ansehen, sich diesem Kampf zu stellen - mit unnachgiebigem Charme und aggressivem Witz. Verletzungen der allgemein bekannten empfindsamen Seelen werden dabei nicht ausbleiben. Der Behinderte wird sein (mögliches) Schuldigwerden anerkennen.

Ein, für mich noch sehr neuer Gedanke kommt hier: Der Behinderte mit Selbstwertgefühl und Pflichtbewußtsein wird seine Behinderung mit allen ihren Folgeerscheinungen immer bejahen können. Bejahen wenigstens als zu bewältigende Alltagsexistenz. Allerdings auf einem anderen Blatt wird die Frage stehen, ob man einer Behinderung, die Lebensmöglichkeiten rigoros beschneidet, Sinngebung zusprechen kann. Dies ist aber eine allgemein weltanschauliche Frage und wird daher nur subjektiv von jedem Behinderten selbst beantwortet werden können - auch oder gerade erst in der besseren gerechteren Welt für Behinderte.

Von Christa Schlett sind bisher im Jugenddienst-Verlag erschienen:

Krüppel sein dagegen sehr. Wupptertal 1970, 1975 (3)

Babs. Eine Mutter entscheidet sich für ihr behindertes Kind. Wuppertal 1975 (1978 als dtb-Taschenbuch)

Ich will mitspielen. Wuppertal 1978

Quelle:

Christa Schlett: Ohne Tränen kein Utopia - Schritte zur Änderung des behinderten Daseins

Entnommen aus: Sie nennen es Fürsorge: Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand; mit Beiträgen vom Gesundheitstag Hamburg 1981 / hrsg. von Michael Wunder u. Udo Sierck. - 2. Auflage; Frankfurt am Main; Dr. med. Mabuse 1987.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 24.02.2005

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation