Tagebuchaufzeichnungen - aus dem Leben einer Spastikerin

Autor:in - Christa Schlett
Textsorte: Buch
Releaseinfo: Entnommen aus: Sie nennen es Fürsorge: Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand; mit Beiträgen vom Gesundheitstag Hamburg 1981 / hrsg. von Michael Wunder u. Udo Sierck. - 2. Auflage; Frankfurt am Main; Dr. med. Mabuse 1987.
Copyright: © Dr. med. Mabuse 1987

Tagebuchaufzeichnungen - aus dem Leben einer Spastikerin

Es gibt Tage, Stunden, in denen man spürt, daß es an der Zeit ist, Bilanz zu machen, um dann wieder ganz von vorne beginnen zu können. So geht es mir, ich weiß es schon lange, finde aber keinen rechten Anfang. Gibt es überhaupt einen Anfang? Gleich zu Beginn stürzen Fragen auf mich ein, die Erinnerungen, Eindrücke. Was kann man sagen, was muß man ausklammern? Könnte man am Ende alles sagen in unseren freien Zeiten? Aber das wiederum wäre zuviel.

Nun aber erst einmal drauf los, das Auswählen kommt später. Ich fange nicht am Anfang an, eher irgendwo in der Mitte, an einem ganz normalen Tag. Gewöhnlich nennt man ihn Arbeitstag. Doch mich geht das nichts an, ich arbeite ja nicht, verdiene mir den Unterhalt nicht selbst. Führt man mir den Grund der Untätigkeit nicht auf meine Behinderung zurück, könnte man mich geringschätzen. Meist schätzt man mich hoch, was ich nicht anerkenne. Ich muß für dieses Schätzen, welches beweist, daß außer mir kein Mensch sich über meine Behinderung aufregt, zuviel zahlen. Aufregen nützt nichts, man muß damit fertig werden, sagen die Freunde, Bekannten. Ich verstehe diese Alternativen nicht, über die ich nachdenke, während ich mich ankleide. Das Hemd ziehe ich zuerst links herum an (nein, das geht nicht, da will mich selbst der Teufel nicht) , und dann bei der fussligen langen Hose das Hinterteil nach vorne. Einem Clown steht das besser; wo sind da die Alternativen? Beim Haarekämmen werde ich nur noch struwweliger, die Zugehfrau hilft, sie hat das Frühstück bereitet und das Wohnzimmer aufgeräumt. Es riecht ordentlich; ich sollte zufrieden sein. Auf meinem Kommödchen liegen drei angefangene Bücher, bespickt mit Buchzeichen, Krickseleien, Fragezeichen, Ausrufezeichen. Bester Ansatzpunkt, daß ich unzufrieden, unbefriedigt - welch ein Wort - bin. Die Zugehfrau erzählt, daß das Schweinefleisch teurer geworden ist, und daß sie ihrer jüngsten Tochter gestern abend eine Tracht Prügel verabreichen mußte. Sie sagt es mit diesem stolzen Muttergefühl, das ich kenne und hasse. Es ist aber zwecklos, sie von besseren Erziehungsmethoden zu überzeugen, und so lasse ich mir zuhörend mein Ei schmecken. Ich esse unlustig, was immer schon ein schlechtes Vorzeichen für den Tagesverlauf ist.

Bei dem Frühstück klingelt gleich das Telefon, mein ehemaliger Religionslehrer, der mir unüberlegt die besten Noten früher gab, Grund genug, freundlich zu ihm zu sein. Ich bin aber unwirsch, schließlich traue ich ihm genug Verstand zu, daß er spürt, daß ich zum Hallelujasingen keinen Grund verspüre. Das ist was für abgeklärte Behinderte. Der Religionslehrer räuspert sich, meint, daß ich auf meine Weise auch schon viel erreicht hätte. Wie ich die Phrase zu interpretieren hätte, frage ich bissig. Jetzt wird er auch unwirsch, was ich ja wollte, redet von Geduld, Güte, Liebe. Er kann logisch reden, also höre ich ihm zu. Dann lädt er mich zu einer Spazierfahrt für den Sonntag ein. Ich nehme an.

Als ich den Hörer auf die Gabel hänge, denke ich eine Sekunde lang, daß ich nicht immer so unwirsch sein sollte; manchmal auch locker lassen, ja sagen. Würde es was nützen, wenn ich Ja sagte? Eben - das Risiko gefällt mir nicht. Meine Zugehfrau füttert mir den Rest des gekochten Eis. Ich höre ihrem Redefluß nur mit halbem Ohr zu, sie bedauert meine Stirnfalten (was bedeuten zu allem Pech meine frühen Runzeln? Die Frau weiß Prioritäten zu setzen); und daß sie noch nicht dazu kam, meine Kleidungsstücke aus der Reinigung zu holen. "Ja, ist schon gut, vergessen Sie aber nicht, Hansi heute Futter zu geben." Meine schlechte Laune spricht aus jedem Ton, den ich sage, brüsk trägt die Zugehfrau das Frühstücksbrett hinaus. Ihre häßliche Nase steht einen halben Millimeter höher; sie ist beleidigt. Später werde ich zu ihr in die Küche gehen und ein paar belanglos freundliche Worte sagen. Für den Augenblick ist mir nach Bogenschießen; auch ein Sport, den ich nicht bewältige. Im Radio sagt der Sprecher, daß weiterhin das Wetter heiter sei. Ich schalte schnell ab, ich ertrage diese Realität nicht, die sich mir verweigert. Oder der ich mich verweigere?

Blöde Wortspielerei; da sind ein paar Treppenstufen, und kein Mensch ist bereit, mich abzuholen und mit mir spazieren zu gehen, schließlich muß man arbeiten. - Nun doch, am Sonntag kommt der Religionslehrer, wird mir erzählen, daß er immer noch Schwierigkeiten hat, Leute zu beerdigen. So banal es klingt, neben der Behinderung - wozu, weshalb - gibt es gleich große Probleme, auf die sich nichts sagen läßt. Wenigstens nichts Wesentliches. Als ich zum Weihnachtsessen bei des Lehrers Familie geladen war, sprach er auch davon. Eine 30jährige mußte er beerdigen, die Familie stand hilflos am Sarg, und er stotterte an seiner Litanei; Erde zu Erde. Er sagte mir freiweg, daß es ihm da schwer würde, Trost zu sprechen, da könne er nur stumm sein. Ich war froh, daß er damals, während er mir erzählte, mich mit Schokoladentorte fütterte. So war ich beschäftigt, ordentlich zu essen und konnte nichts Blödes sagen. Ich weiß nur, daß ich ihn traurig ansah und so tat, als verstünde ich ihn. Wenn ihm das geholfen hat, soll's mir recht sein, unser Leben besteht ja meistens aus Einbildung.

Ich habe jetzt meine Bücher vom Kommödchen genommen und blättere wahllos: ein bürgerlicher Roman, im Inhalt antiquiert, im Stil aber gut. Thema: Geschwisterliebe und Homosexualität - kein Brandthema für uns; dann Sartre-Erzählungen, höchst grauselig, und eine kleine Auswahl Bonhoeffer-Predigten. Für mich keine Sprache. Alles hängt von der Sprache ab, wenn Schreibende das doch endlich mal verstehen wollten. Besonders Theologen. Nach Thomas Mann, ich mag ihn sehr, wird es eben schwierig, noch Grundsätzliches in deutscher Sprache formulieren zu wollen. Letztlich kann es ja nach ihm nur Wiederholung sein. Mit Thomas Mann fängt Sprachform, Ausdruck innerster Empfindungen, erst zu leben an. Etwas aus dem Wesen dieser Sprache rührt an das Zentrum menschlichen Lebens, stellt es in Frage, ohne es gleich zu zerstören - so jedenfalls empfinde ich es. Und beim Lesen seiner Bücher, den klaren, schonungslosen, aber nicht verletzenden Schilderungen der Personen vergesse ich für Zeiten meine Kümmernisse und die Problematik meines Lebens. Ehrlich gestanden vergesse ich nicht gern, übertölpele mich nur manchmal, in einer Art Unsicherheitsstimmung. Das kalte Erwachen ist mir zu grausam, unbarmherzig, stürzt mich am ehesten in die Verzweiflung. Ich mag, für mich persönlich, auch die Leute nicht, die mir zum Vergessen raten; ich halte sie für phantasielose Dummköpfe , ohne es ihnen zu zeigen. Allzu oft bin ich ja gerade von ihnen abhängig. Ich bin diesen Leuten auch nicht böse, sie meinen es gut mit mir, einfach so. Sie sind unkritisch, was kein Fehler ist, vielmehr eine Eigenschaft, die ich toleriere, ohne daß sie mir helfen kann. Ich muß lernen, die Dinge auseinanderzuhalten.

Thomas Mann hingegen kann ich keinen Vorwurf machen, wenn ich vergesse für einige Zeit, um dann erwachen zu müssen. Er hat es einem nie geraten, er läßt es einfach nur zu, und er belästigt niemand mit Trost. Trostworte sind meist eine Belästigung, besonders jene, nach denen man sucht.

Eigentlich mag ich das Leben eher in der Handlung, wie die meisten, und nicht in der Reflexion. Mein Schreiben ist jedoch meistens Reflexion. Wenn ich also ganz privat bin - ein Zustand, der höchst selten, und wohl darum so schön ist -, kann ich mein Schreiben nicht ernst nehmen. Möglicherweise ist das die einzige Basis, um überhaupt etwas zu produzieren; Leute, die ihre Arbeit für den Nabel der Welt halten, sind mir höchst verdächtig. Ich kann aber wohl nur deshalb mich so nonchalant über diesen wichtigen Zustand des Menschen hinwegsetzen, weil ich mich mit meiner Tipperei höchstens einen halben Monat des Jahres - es hat bekanntlich elfeinhalb weitere - selbst ernähren könnte. In der übrigen Zeit trägt mich das Sozialamt auf Grund seiner Gesetzespflicht, so stehen die Fakten; es hat wenig Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Vorläufig, was ich mit einem Zeitraum von zwei Generationen belegen möchte, bin ich von dieser Regelung voll abhängig. Hab ich mich persönlich damit abgefunden? Wahrscheinlich ja, und Abfinden heißt für mich Arrangieren. Arrangieren ähnlich wie mit einem Schlechtwettergebiet, in das man reinversetzt wurde; in eine Familie, von der man erfuhr, wie wenig sie intakt ist, und daß man eigentlich ausbrechen müßte, die Klimazone wechseln, neu anfangen. Möglichkeiten gibt's immer - ein seltsamer Trost. Aber man bricht nicht aus, ich auch nicht. Mein Sozialamt trifft manchmal Regelungen, die schlecht, unvorteilhaft für mich sind, aber ich bleibe. Mein Sozialamt bietet mir Schutz. Wer darauf wartet, daß ich noch einmal - oder überhaupt zum ersten Mal - den großen Kampf ausrufe, irrt sich. Das sind lose Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, während ich an diesem beliebigen Alltagsmorgen in meinem zu lesenden Büchersammelsurium blättere. Aber, auch das ist eine Schwierigkeit, ich kann mit keinem recht ausführlich darüber sprechen, was nur teilweise an meiner Sprachbehinderung liegt.

Kontakte suchen, Kommunikation pflegen, diese üblichen modernen Ratschläge, als wenn das so einfach wäre. Oder versteht man unter Kommunikation heute nur noch das geschwollene Reden über die Art, wie man es am besten macht, anstatt es einfach zu tun; die Freundschaft, die Annäherung und was der schönen Dinge mehr sind. Eine Freundin schwärmte mir neulich eine Stunde lang von einem chicen Essen vor - betrachte ich es konsequent, so hätte sie, statt zu schwärmen, in einer Stunde kochen können. Die Kommunikationsebene hätte dadurch eine ganz andere Wendung und Qualität bekommen. Das Reden über Dinge zerstört meiner Ansicht nach die echten Kommunikationsfelder; ich habe nur nicht den Mut, es offen zu sagen. Ich müßte in der unmittelbaren Diskussion zuviel von mir hergeben, was ich nicht will - oder nicht kann; in einer bestimmten Weise lege ich Wert auf Schüchternheit, auf Zurückhaltung der Inhalte wegen.

Und schon wieder rasselt das Telefon. Bis ich mühsam vom Sofa aufstehe, aufpassen muß, daß ich mich beim Gehen nicht an der Tischecke stoße und dann endlich am Schreibtisch bin, rasselt der Apparat mindestens achtmal. Oft komme ich umsonst, und wenn ich dann abhebe, höre ich nur noch Tututut. Je nach Laune fluche ich dann heiter oder erbost, nur fluchen tue ich meistens, es ist der Schutzwall gegen die Bitterkeit. Unsere Leiterin von der Evangelischen Körperbehindertenstelle ist am Apparat. Eine weitere Arbeitssitzung ist angesagt und sie fragt, ob ich kommen werde. Sie würde mich mit dem Auto abholen, und vorher möchte sie mich fragen, welche Verbesserungen ich mir innerhalb des Stadtverkehrs denken könnte. Während sie spricht, merke ich plötzlich, daß ich müde bin, innerlich müde. Ich sage das Treffen zu und weiß im gleichen Augenblick, daß ich zur Straßenverkehrsordnung nichts Wesentliches zu sagen habe, keinen Gag, der alles bisher Gesagte übertreffen würde. Utopisch schön wäre natürlich, wenn mit einem Schlag alle Bordsteine abgeflacht würden - damit man mit dem Rollstuhl besser fahren kann. Utopisch schön, aber im Grund keine solche Veränderung, die alles bis jetzt Geplante und Gedachte in den Schatten stellen würde. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, daß ich in meinem Innersten nicht mehr als eine solche Veränderung wünsche, erwarte. Etwas anderes kann kaum noch helfen, meiner Ansicht nach. Unbescheiden bin ich, vielleicht zu Unrecht, aber dennoch aus dem Wissen heraus, daß sich ohne ein gerütteltes Maß an Unbescheidenheit, was sich für den Moment dann immer mit Ungerechtigkeit, Hartherzigkeit paart, nichts Besseres entwickelt. Der gute Wille allein ist mir höchst suspekt, ich frage mich, ob er, rein für sich, ohne jede Beimischung überhaupt vorhanden ist; und wenn ja, wie weit er nützlich ist.

Eine Weile unterhalte ich mich noch mit unserer Leiterin der Evangelischen Körperbehindertenstelle; klatsche ein bißchen über diesen und jenen, Klatsch muß sein, er lüftet für Momente den Mief der Seele - wenn man es nicht zu weit damit treibt. Unsere Leiterin weiß das und läßt es bis zu einer gewissen Grenze kommen. Dann lege ich den Hörer geräuschvoll auf die Gabel zurück, tapse zum Sofa zurück, lasse mich in die Polster fallen, grapse umständlich nach einem Buch, blättere darin. Blättern geht so ich haue den Buchdeckel auf, balle die linke Hand zur Faust (das sieht wild aus), schiebe den Zeigefinger um etwa hundert Seiten, rucke mit der Hand nach links und schon habe ich ein aufgeschlagenes Buch. Eine Seite nach der anderen läßt der Zeigefinger nun zurückgleiten, so geht das Blättern. Natürlich brauche ich da einen freien Tisch und Platz und möglichst keine sensiblen Zuschauer. Zum Beispiel habe ich in der Uni-Bibliothek schon ein fieses Volk erlebt. Es gibt Situationen, in denen es ganz sinnvoll wäre, wenn die Umwelt einen Behinderten einfach als Tatbestand nähme. So wie es ein Tatbestand ist, daß ein Kater oder eine Katze einen Buckel hat. Es fragt auch keiner warum, wieso und wie man sich zu verhalten hat. Das ist völlig neutral und wertfrei. Ich weiß keine Spielregel, wie man sich mir gegenüber verhalten soll - wär' ja auch das Letzte, so nach Gebrauchsanweisung.

In der Unibibliothek zu lesen, so ungestört und in Ruhe, ist für mich nahezu unmöglich. Wenn ich an die Karteitruhe unsicheren Schrittes wanke, folgen mir leise zwei Burschen. Ich würde ja schäkern - weshalb sollt' ich ein Kind von Traurigkeit sein? - aber die Burschen gucken recht verstört. Als ob sie Angst haben. Was möchtest du denn, flüstert der Eine. "Ausgewählte Reden von Bloch", sage ich verhältnismäßig deutlich und laut. Der Bursche hinter dem, der mich ansprach, geht wieder, irgend etwas scheint ihm unheimlich zu sein. Ich weiß nicht was, schließlich gewittert es nicht einmal. Der Andere hat mich inzwischen auf einen Stuhl plaziert und mir mit Gesten verdeutlicht, daß es besser ist, wenn ich sitzen bleibe. Jetzt wühlt er in der Kartei nach meinem Bloch. Ich möchte ja gerne mitwählen, ein bißchen schnüffeln, was sonst alles noch da ist. Aber ich soll nicht, also bin ich kein Spielverderber, halte mich an die Vorschriften. Mit seiner Kollegmappe und mit meinem Blochband kommt der Bursche und setzt sich dicht neben mich. Ich mag das gar nicht, wenn ich lesen will. Entweder kann ich nur so tun als ob, oder ich boxe mit meinem Ellenbogen ihm ständig in die Seiten. Ich will ihm gerade diese beiden Auswahlmöglichkeiten unterbreiten, da legt er den Zeigefinger auf den Mund, kneift die Augen zusammen und sagt "Psst". Von dem Moment an mag ich ihn nicht mehr. So geht's mir in der Uni-Bibliothek. Keineswegs rege ich mich sehr darüber auf. Ich kenne meinen Standort, meine Möglichkeiten, und in dieser Situation halte ich mich für robust. Auch das ist ein Glücksfall, und wenn es schlimmer kommt, muß man es eben verdrängen. Wer kennt diesen Prozeß nicht? So gut wie jeder, das ist die reine Wahrheit, aber kein besonders gelungener Trost.

Noch immer hocke ich, das Buch, ich weiß nicht mal welches, vor mir auf dem Sofa. Es ist still in der Wohnung, meine Zugehfrau (man sollte eine bessere Benennung für sie finden) ist weggegangen. Sie kauft jetzt für mich Lebensmittel ein; recht sporadisch, eben das, was nötig ist. Könnte ich es selbst tun, wär's besser. Angebote vergleichen, Eßgelüste bekommen; das Schöne liegt im Detail. Doch auch diesen sentimentalen Quatsch kann ich mir nicht oft leisten. Manchmal nur, wenn eine Freundin kommt, zuerst Schwierigkeiten hat, den Rollstuhl zu handhaben, dann aber doch Spaß an meiner Kauflust bekommt. Der Jux dauert natürlich nie lange, zu früh ist meine Geldbörse leer; auch das gehört zu meinem Alltag.

Die Zugehfrau wird erst in drei Stunden mit dem gekochten Essen von zu Hause wieder kommen. Sie wohnt fünf Straßen von mir entfernt und bringt das Gekochte in Töpfen, die sie in eine Tasche stellt. Hier wärmt sie es dann nochmals kurz auf, gibt es auf einen Teller und kommt damit ins Wohnzimmer. Eine Stoffserviette legt sie mir und sich selbst auf den Schoß, eine Papierserviette drückt sie mir in die linke Hand. Während sie mich füttert, will sie mir ja manchmal den Mund abwischen. Im eigentlichen Sinne ästhetisch ißt wohl kein einziger Spastiker; der Norm des guten Benehmens in diesem Punkt wird er kaum voll genügen können. Sein Hinweis auf Kau- und Schluckschwierigkeiten ist keine kokettierend faule Ausrede, vielmehr ist sie die exakte Erklärung des Sachverhaltes. Ich mag es nicht, wenn man irgend etwas vertuschen will; vom reinen Wein bekam noch keiner Kopfschmerzen, und der lebenslängliche Abstinenzler ist für mich lächerlich. - Nach der quälenden Geduldsprobe, mich "abgefüttert" (meine Zugehfrau gebraucht den Ausdruck) zu haben, hat sie noch eine gute Dreiviertelstunde ihre Arbeit in der Küche, dem kleinen Schlafzimmer und dem Bad. jeder Handgriff sitzt; die Basis, um als Hauspflegerin bei einem behinderten Menschen tätig zu sein, ist ein hoher Grad traditioneller Menschlichkeit. Man kann auch sagen Humanität, aber die Linken halten einen dann gleich wieder für reaktionär. Der tägliche Trott der Hauspflegerin ist allerdings stumpfsinnig. Ich muß es sagen, obwohl es unvereinbar scheint; die wahrhaftige Menschlichkeit und der zermürbendste Stumpfsinn liegen hier engstens beieinander. - Das sollte erklärt sein, wenn man mit dieser Arbeit beginnt. Oft genug ist es nicht erklärt, und dann beginnen die Mißverständnisse; der vornehmste Ausdruck für die harten, unerfreulichen Konfrontationen. Was der Betreuer und der zu Betreuende am meisten zu befürchten haben ist, in das Rollenspiel einer schlechten Ehe zu verfallen, denn eine Art von Ehe ist es allemal.

Die Zugehfrau wird, wenn sie abgefüttert hat, in die Küche zurückgehen, das Geschirr und ihre eigenen Töpfe, worin sie das Essen brachte, abwaschen. Dann wird sie, mittags gegen zwei Uhr, manchmal auch noch früher, mein Abendbrot verrichten; d. h. daß sie zwei Brotschreiben mit Wurst oder Käse belegt und in mundgerechtgroße Happen schneidet. Die Stückchen legt sie auf ein Holzbrett, schneidet ein Stück Salatgurke oder eine Tomate dazu. Ein bißchen Salz streut sie darauf, legt die Gabel mit dem Holzgriff daneben und deckt das Fliegengitter oder die Plastikglocke darüber. Die Arbeit muß sie täglich tun, andernfalls hungere ich abends, wo ich meistens dann den besten Appetit habe. Nimmt man es ganz genau, dann sind die Zugehfrauen in allererster Linie dazu angestellt, daß ich und ein paar Behinderte, die in ähnlicher Weise leben können wie ich - es sind die wenigsten -, dreimal täglich zu essen haben.

Die Mehrzahl der Schwerbehinderten lebt in entsprechenden Heimen, jenseits jeder Individualität, menschlicher Geborgenheit und der Möglichkeit gesellschaftlicher Integration. Das ist das Faktum, an dem es nichts zu deuteln gibt - es ist eine Anklage. Meine Anklage an jeden, dem es einfällt, sich mit der bestehenden Situation abzufinden. Darum auch eine Anklage gegen mich selbst, da ich mir an glücklichen Tagen gestatte, die Anderen zu vergessen. Andererseits scheint es so zu sein, daß es noch lange dauern wird, ehe Behinderte untereinander ein emotionsfreies Gewissen für einander haben. Sie konkurrieren untereinander mit dem, was sie nicht mehr haben oder gerade noch können. Bei allem begreiflichen normal menschlichen Verhalten eine tragische Komik. Man sollte ihnen - allen Behinderten! - des öfteren in den Hintern treten, auf daß sie sich gesellschaftlich unnormal, und dann endlich richtig verhalten. Gebe kein Geringerer als der Herrgott, daß viele meiner Leidensfreunde das lesen. Auf euren Unmut, Freunde, bin ich nicht gut vorbereitet, aber irgendwie werden wir uns schon arrangieren, auch wenn ich weiß, wie wenig Freude man am eigenen Spiegelbild hat.

In meinem kleinen Schlafzimmer wird meine Zugehfrau das gelüftete Bett ordnen, meine Kleider zurückhängen. Ich hatte sie wahllos aus dem Schrank gezogen, weil jeden Abend meine Hauptbeschäftigung darin besteht, mir vor und zurück zu überlegen, was ich wohl am nächsten Tag anziehen könnte. Die Zugehfrau hat sich damit abgefunden, daß sie mir diesen Tick nie ganz abgewöhnen wird. Nur wenn's gar zu toll wird, meint sie, ich solle versuchen, mich um ein bißchen mehr Ordnung zu bemühen, und dann ärgere ich mich, daß ich ihre wiederholte Bitte vergaß. Der Ärger hält nicht lange an, weil meine Eitelkeit stärker ist. Im Badezimmer habe ich die tückische Angewohnheit, den Teppich mit Zahncreme vollzukleckern, weil ich beim Draufgeben der Creme auf die Zahnbürste schlecht ziele.

Bedenke ich es recht, so ist es schon meinerseits eine Ungeheuerlichkeit, einen Tagesablauf in Worten und Sätzen einzufangen. Nur ein Stückwerk, höchstens zehn Prozent vom Ganzen, läßt sich beschreiben. So wird jede Beschreibung höchst fragwürdig, die eigene Person ist es ja schon lange; auf dem Hintergrund, daß jeder andere auch voll berechtigt wäre, ein Tagebuch zu schreiben. Mit hunderttausend ähnlichen Kümmernissen und Sorgen. An der Erkenntnis darf es nicht mangeln, nur löst sie den Knoten nicht, verringert keine der Schwierigkeiten, bringt keinen Hauch von Wärme in die Kälte. Es heißt zu leben, es gilt zu leben, täglich. Und immer kürzer werden meine Phasen, in denen ich das Wissen durchhalte, daß es ein absurdes Leben ist. Bis jetzt kenne ich - leider - auch keinen Menschen, der bereit ist, mit mir dieses Wissen für länger durchzuhalten. Wenn überhaupt, dann muß man es alleine tun. Und wie wird man so stark? Die große Linie kenne ich, nur mit den vielen kleinen Kümmernissen, schlechthin mit dem Alltag, habe ich eben nicht gerechnet.

Was ist der Alltag? Überspitzt sind das immer noch und immer wieder die Menschen, die, selbst wenn gut gewollt, erst die Behinderung sehen, und erst nach dem fünften Hinsehen mich. Alle Menschen. Es ist witzlos und unehrlich, da Ausnahmen machen zu wollen. Wer von mir redet, redet vom Spastiker. Für ebenso witzlos halte ich es inzwischen, sich dagegen aufzulehnen. Was bleibt ist der leicht sarkastische Trost, daß andere Menschen auch ihren Stempel haben (nur bin ich nicht bereit, sie dessenthalben formell höflich zu bedauern!). In meinem Postboten, der mir übrigens auch gerne aus dem Weg geht, sehe ich auch nur, daß er Postbote ist. Von ihm selbst weiß ich nichts, so ist unser Alltag. Was soll man da für den schwerbehinderten Spastiker Besseres erhoffen, der schon morgens beim Ankleiden die ersten Schwierigkeiten hat? Ich stelle diese Frage zur freien Diskussion, sofern sie bar jeglicher Sentimentalität und Spekulation geführt wird.

Ich soll ein Tagebuch eines Behinderten schreiben - aber es ist nicht viel zu schreiben! Nichts ist zu schreiben, alles zu relativieren. Soll ich schreiben, daß ich einsam bin, unter allen integren, netten Menschen? Andere sind es auch. Sagen, daß ich leide unter dem Nicht-Wissen-wohin-man-gehört, ganz einfach, ohne große Erklärung? Andere wissen es auch nicht. Ihr Pseudotrost ist die Arbeit, ein Hobby, das Leben an sich. So sagt man es doch - aber ich muß drum bitten, ich weiß nicht, was das ist, das Leben an sich. Von den großen Freuden, wenn sie sehr intensiv sind, glaube ich nicht, daß sie dem Behinderten je zuteil werden. Das Wünschen darauf habe ich verdrängt; vielleicht verdränge ich auch den Wunsch zu wissen, wohin ich gehöre. (Bitte verstehe man es nicht als abstrakte Fragestellung). Dann werde ich seelisch tot sein; vielleicht ist das besser. Vielleicht sollte ich aufhören, Behinderte, die sich seelisch abgekapselt haben, zu bedauern oder zu attackieren. Ohne meine Handlungsweise durch eine bessere ersetzen zu können, hätte ich sie lieber rückgängig gemacht. Nichts sagen ist besser als Falsches sagen. - Wer bin ich? Eine schwer spastisch gelähmte Frau, ein behinderter, das heißt eingeengter Mensch. Was tue ich, was kann ich tun? Ich schreibe über Dinge, über die man früher schwieg, vielleicht zu Recht schwieg. Ich kann es nicht sagen, ich bin vorsichtig geworden in meiner Meinung. Der Mensch braucht Harmonisches im Leben, und sei es die Bilderbuchharmonie, die Leuchtreklame.

Ich weiß aber kaum etwas Disharmonischeres, Störenderes und Hemmenderes als den behinderten Menschen. Das sind die beiden Gegenpole. Wer sich, besten Herzens, mit dem Behinderten einläßt, muß ständig von ihm ausruhen, hat das Gefühl, aufgefressen zu werden von dem Gefordertsein, der Hilflosigkeit, der Enge. Und das, obwohl kaum ein Mensch soviel im allgemeinen von Demut und Dankbarkeit weiß wie der behinderte Mensch. Besser wissen tut er es nicht, er praktiziert es unwissend, und deshalb so einwandfrei. Wüßte er um sein Schicksal, er würde rebellieren, und damit zu sich selbst finden. Integrieren kann ihn von außen niemand, er muß es von innen her selbst tun. In dem Maße aber, in dem er das tut, wird ihm bewußt, wie wenig er zu irgendetwas und zu irgendjemand gehört. Das ist der Preis seiner Integration. Der Hinweis, daß niemand im Grunde wirklich wohin gehört, mag berechtigt sein, doch was nutzt das? - Mein Problem ist, daß ich mich nicht abfinden kann mit meiner spezifischen Situation. Mit den Tatsachen, daß ich zum Tippen auf der Schreibmaschine ein Holzstiftchen brauche und zum Mittagessen eine Serviette. Abfinden damit, daß ich bei schönem Wetter nicht alleine spazierengehen kann, weil meine Gleichgewichtsstörungen zu groß sind, und ich mich ja nicht unterstehen darf, meine Zugehfrau zu schimpfen, denn sonst kommt sie nicht mehr. So gibt es für alles Erklärungen, schaut man dahinter auch noch verzweigte Zusammenhänge. Unter den Allgemeinplätzen sagt es sich so leicht, so schnell: mein Leben leben, zu mir selbst finden usw. Ich weiß nicht, wie man das macht, bei allem, was mir nahe geht, ich weiß es nicht.

Freunde, das Wort spricht sich so schnell aus. Denke ich nicht länger, intensiver über das Wort nach, dann habe ich natürlich Freunde. Mit weniger Nachdenken geht das alles und mit der Distanz. Freunde leben immer in der Distanz, weil sie notwendig ist. Ich begreife es und leide darunter mehr als jene, die Zerstreuung finden. Daraus entwickelt sich meine Individualität, hinter der alle Worte, und somit die Freunde, zurückbleiben. Es gibt für mich die zwei Polarisierungen von Freundschaft. Einmal, wenn ich in jener Stimmung bin, meine Leute umarmen zu wollen. Die Bekannte im nächsten Stadtteil, die geschäftig aufräumen kommt, fröhlich plaudernd Melancholie versteckt. Der ältere Freund, Familienvater, zurückhaltend vornehm-resigniert; er weiß um sehr viel Leid bei sich und anderen. Seine Fröhlichkeit bewundere ich, aber sie stößt mich auch ab. (Ich will sie nicht zulassen, die Fröhlichkeit im Leide.)

Freunde. Mein Arzt zählt zu meinen Freunden, zu jenen, die verstehen würden, wenn ich spräche - doch ich spreche nicht. Ich schimpfe, feilsche, wüte mit meinem Arzt, weil er wenig tun kann und sehr viel hofft. Aber es ist Rhetorik, die ich mit meinen Freunden betreibe; wir reden um des Redens willen, die Umgangsformen herrschen vor. Meine Freunde müßten viel umdenken, Ausdauer entwickeln, wenn ich wirklich zu sprechen anfinge. Und ich selbst müßte mir erst einen neuen Wortschatz zulegen. So aber wird nichts daraus werden, wir bleiben in den Grenzen, die Freunde und ich. - Die Banalität des Lebens und der Beziehungen annehmen, das eben riet mir jetzt ein Bekannter - ich nenne ihn extra nicht Freund, weil wir feststellten, daß wir nicht wissen, was das ist. (Ein bißchen hoffe ich, daß in diesen Erkenntnissen, in dieser schmerzlichsten aller Hoffnungslosigkeiten die Möglichkeit zu den neuen Anfängen steckt. Nichts wird geschehen, was wir nicht selbst tun, das ist der Grundsatz. Und trotz vieler Niederlagen, trotz zerschlagener Hoffnungen bleibt mir der Wunsch weiterzugehen, gemachte Erfahrungen zu wiederholen. Die ganz einfachen Dinge. Mit den Leuten, die um mich sind, die ich kenne, manchmal erkenne (was nicht immer positiv ist), mit einem Glas Wein anzustoßen, eine Kerze anzubrennen, den Zeiten des Regens und der Sonne zuzusehen. Das Negative auszuhalten nicht aus Pflicht, eher als Möglichkeit. Die Möglichkeit, sich Korrekturen vorzubehalten.)

Zum Tagebuch zurück. Wie lebe ich so den Tag, wenn weder Besuch noch Depression mich von dem Eigentlichen, das mein Leben ist - oder sein könnte - abhält? Wenn ich nachdenke, muß ich sagen, daß diese Tage selten sind. Mein Alltag braucht, erfordert quasi Besuch. Viele Hände, die zupacken, helfen, ordnen, geben. Ohne diese Hände bin ich hilflos, schmutzig, hungrig, verkommen. Meine nächsten Angehörigen prophezeiten mir früher oft, daß ich verkommen werde, ohne sie. Der Ausdruck tat weh, tief in der Seele schlägt er Wunden, nimmt ein Stück Menschenwürde, gleichgültig unter welcher Ideologie vom Leben der Behinderte steht. Aber er trifft zu. Ohne die unzähligen Hände, die um mich sind, die in ihrer Sprache sagen, was sich allen Worten entzieht, würde ich verkommen, wäre ich es wahrscheinlich schon längst. Unter diesen Vorbedingungen ist das Bei-sich-selbst-Sein für mich nur erschwert möglich, weil mir die Fähigkeit fehlt, diese Gegebenheiten: mein Ich, mein Tun (zu dem mir das durchwegs positive Verhältnis fehlt) und dieses ständige Angewiesensein auf andere, streng voneinander zu trennen. Ich müßte es können, es sollte eine Therapie geben, wo man das lernt. Ansatzweise lernt, um auf gleicher Ebene mit jenen zu stehen, die wie ich versuchen, Harmonie zu erreichen. Die wie ich auf dem Weg sind, der nie endet, nie ein Ziel erreicht.

Allgemein unterscheidet sich der Behinderte dadurch, daß es ihm nicht gelingt, auf diesen Weg, der, rational betrachtet, nicht viel Verlockendes hat, zu kommen. Eine absurde Situation - und dann wohl am verrücktesten -, wenn, nachdem das brennende Leid gesagt, anvertraut ist, der Rat folgt, fügsam zu sein, fügsam und duldend. Dann wird man müde als Behinderter, und einige meinesgleichen sterben ab, ohne daß es jemand recht zur Kenntnis nimmt.

Soweit zur Situationsbeschreibung, die, wie ich ahne, auch nicht zur Kenntnis genommen werden wird, höchstens unter dem Aspekt: Informationsnachschub. An meinen guten, seltenen Alltagen denke ich nicht daran. An diesen guten Alltagen denke ich an wenig Negatives, was heißen soll: nicht an meine Behinderung, die Möglichkeit äußerer Verkommenheit; nicht an die Begrenztheit menschlicher Beziehungen, nicht an die Lethargie der Konsumentenleser (zu denen ich mich zählen muß). Ich denke nicht an meine traurige Finanzlage und nicht daran, wie unsicher allein schon die äußeren Bedingungen meines Alltages sind. Ich bin an diesen Tagen (die sehr selten sind) eine glückliche, scheuklappentragende Schreibende. Auf diesem Hintergrund entstanden bislang meine Arbeiten; man muß sich das vergegenwärtigen, ganz nüchtern, ich schreibe schlechtweg eben nicht als Behinderte, wenn man die manuellen Vorbedingungen erst mal außer Acht läßt. Ich schreibe in den Ausklammerungen, mit nichts im Rücken als mit meinen selbstgezimmerten Vorstellungen von den Dingen, die andere sein könnten, wenn sie nicht so wären, wie sie sind.

Weiter oben erwähnte ich es schon: es gibt für alles Erklärungen, noch dazu ganz einfache. Man muß ehrlich zu sich und anderen sein können, oder halt schweigen. Das verstehe ich unter einem glücklichen Alltag. Wie selten er ist. Um selbst geschützt zu sein, reden wir ständig Blabla, lügen einander in die Tasche, glauben selten daran, manchmal. Oder wir schweigen, aus Liebe, aus Haß, aus beidem. Aus Müdigkeit. Ich z.B. glaube manchmal aus Müdigkeit an die bessere Welt, an den Fortschritt, an die Integration der Behinderten. Bin ich integriert in meinem Alltag? Es wird mir nachgesagt, Freunde wollen mich damit aufmuntern, wenn ich traurig bin, und das bin ich oft. Ich gehe stampfend zum Wohnzimmerbüffet, zerre am Schlüssel und kriege das Schloß auf. Altes Hutschenreuther Porzellan, Hinterlassenschaft meiner Eltern, Zwiebelmuster. Ich blicke finster auf die blau bemalten Teller. Was, so frage ich mich manchmal, könnte grotesker sein als ein zitternder, zappelnder, seiner Bewegungen nicht Herr werdender athetotischer Spastiker vor diesem Prozellan? In der Frage steckt ein wenig Verzweiflung, gemischt mit Ironie, aber ohne Bitterkeit. Vor letzterer muß sich der Behinderte schützen wie vor einer ansteckenden Krankheit. Für beides ist er anfällig.

Besuch bekomme ich heute. Lieben Besuch, sagt man. Welch ein Wortspiel, alles Redereien ohne konkreten Hintergrund. Wer bekommt schon bösen Besuch zu Kaffee und Biskuit? Das würde mich interessieren, mehr als die neuesten Nachrichten über gelungene Herztransplantationen. (Ich möchte kein künstliches Weiterleben; es sind schon so künstliche Dinge genug vorgegeben.) Also lieben Besuch - doch wie, verdammt, kriege ich die Tasse aus dem Schrank? Ich nehme ja doch wieder den bunten Becher, an dem ein Eckchen fehlt. Mit einem dicken Strohhalm (mit dem Wein zu süffeln gefährlich werden kann) sabbel ich meinen Kaffee. Ich muß diese Verben extra benutzen, auch wenn sie geballt aufeinander etwas abstoßend wirken; es hat keinen Zweck, wenn man es zaghaft umschreibt. Das Neben- und Miteinander mit schwer spastisch Gelähmten bringt Abstoßendes mit sich. - Es geht um Ehrlichkeit, um Wahrhaftigkeit, alles andere taugt für den Behinderten nicht. Es geht um die Hand, die hält und stützt - und jetzt den verflixten Kaffeetisch deckt; um das Wort, das tröstet, den Blick, der versteht. Ob ein anderer versteht, wie es ist, wenn man nicht in der Lage ist, den Kaffeetisch für seinen lieben Besuch zu decken? In dem Nichtkönnen liegt schon ein Stück Verkommenheit, Not, fehlende Lebensmöglichkeit. Man muß die Freiheit, die verzweifelte Tapferkeit haben zu sagen, daß es so ist. Besuchertische zu decken ist natürlich nicht das Wesentlichste dieser Welt. Aber was ist schon das Wesentliche? Der Mensch? Das Leben? Die Sinnfrage? Das Letztgültige? Das kommt davon, wenn man zuviel Theologensprache hört, da wird man ruhiger und praxisfremder. Anderthalb Stunden bis zum Mittagessen und dann gleich Besuch. Ganz dabei sein bei einem Menschen, den man alle zwei Monate mal sieht. Konversation und ehrliche Freude, und dann doch nur gewählte Worte. Was läßt sich schon sagen mit lumpigen, ausgelaugten, sinnentleerten, abgegriffenen Worten? Später dann Abendbrotessen in der kleinen schmutzigen Küche. Fernsehkrimi.

Es geht um Wahrhaftigkeit habe ich geschrieben. Aber, du liebe Zeit, ist denn das, was ich jetzt schrieb: wahrhaftig? Bin ich wahrhaftig? Und welche Kriterien setze ich mir? Das sind die Tücken und dann auch wieder unvorstellbare Möglichkeiten des Wortes. Darauf kommt es an; wie wir die Worte benutzen. Worte können mich begeistern, bestimmte Worte zu bestimmten Zeiten, ohne Pathos, unvermutete. Ich lebe sehr schwer ohne Ansprache; als erste wußte das meine Mutter - wenn sie mich richtig bestrafen wollte, sprach sie nicht mit mir. Worte und die Ansprache, die Umgangssprache hat mehrfache Verbindungen, ich grenze die einzelnen Gebiete nicht ein - und erst dort, wo die Grenzen fließend werden, wird das Leben lebendig. Jedenfalls für mich. Worte beinhalten oft Lügen, was mich nicht schreckt; dann nicht schreckt, wenn ich mir der Lügen bewußt bin. Erst in diesem Bewußtsein schaue ich auf den Boden der Wahrhaftigkeit. Es sind seltene Stunden, gut. Wenn ich dieses Bewußtsein beim Schreiben immer, oder sagen wir: doch öfter, hätte. Das wäre Wahrhaftigkeit. Wenn der Vormittag ruhig war und ich für den Rest des Tages nichts Wichtiges vorhabe, freue ich mich auf den Nachmittag und Abend. Insofern stimmt es schon, daß auch mein Leben Seiten hat, um die mich viele Leute beneiden. Trotz der mehrfachen Abhängigkeit bin ich in der Grundsubstanz meines Lebens mein eigener Herr. Unabhängig vom Berufsstreß und dem Gebundensein an die Familie. Eine waghalsige Sache: diesen beiden völlig verschiedenen Menschentypen, dem integrierten Staatsbürger und dem behinderten Outsider, ihre Qualität des Lebens gegeneinander aufzurechnen. Ich tue es nicht gern. Nur unter dem Aspekt, daß dieser Einwurf in die Diskussion mit eingefügt wird. Vom Wissen des Behinderten um sein Schicksal ist dieser Aspekt unlegitim und müßte verboten werden. Aber soweit sind wir noch lange nicht. Das Arrangement und der faule Kompromiß herrschen vor. Jedenfalls zu meinen Lebzeiten.

Meinen Tagesablauf zu beschreiben ist schwer, zu schwer, wie ich feststellen konnte. Auch das habe ich mir anfangs leichter vorgestellt. Natürlich gleicht ein Tag dem anderen, die Variationsmöglichkeiten des Behindertenlebens, auch im Alltag, sind mehrfach begrenzt. Manchmal ist mir das glasklar vor Augen, ohne jegliche Ressentiments auf die sich mir präsentierende Umwelt. Dann bin ich ganz bei mir selbst, sagen dann diejenigen, von denen ich meine, sie stehen mir nahe. Man meint eben oft so vieles - man lebt meist von Meinungen. Ob sie immer die ganze Wahrhaftigkeit umfassen, bleibt die offene Frage ...

Die Variationsmöglichkeiten des Behinderten sind begrenzt, meine Möglichkeiten sind begrenzt. Wer kann diese Klarheit schon immer vor Augen haben, kann sie aushalten? Es steht jedenfalls fest, daß ich es oft nicht genug kann und auch kein Bedürfnis habe, diese Stufe der Tugend zu lernen. (Es erscheint mir zeitweilig unglaubwürdig, daß das Einfügen in die Grenzen als Tugend zu sehen sei. Ich würde vom Gefühl her diese Anschauung eher als Stumpfsinn betrachten.) So kommt man am schnellsten zu Spannung. In dieser Zerreißprobe zwischen Verstehen und Empfinden bestehe und ertrage ich meinen Alltag, und manchmal zerreißt's mich dann. Das steht außer Frage.

Was könnte noch gefragt, gesagt werden? Ob ich mir bessere Lebensbedingungen für meinen Alltag denken könnte? Natürlich kann ich das, theoretisch kann ich alles, und an Phantasie mangelte es mir noch nie. Ob ich, wenn man mir alle häuslichen Widrigkeiten ersparen würde und es hundertpozentig sicher sei, daß ich an 365 Tagen zu den festgesetzten Zeiten mein Essen hätte, ich mich um Miete, Lichtrechnung, Futter für Hansi und Essen für mich nicht zu sorgen brauchte, ob ich dann mein Alltagsleben gegen ein Leben im Heim eintauschen würde? Von den Augenblicken, den Stimmungen, nachdem mir die Zugehfrau morgens um acht telefonisch mitteilte, daß sie krank sei und die nächsten Tage nicht kommt, von dem schalen Geschmack in meinem Mund beim Anblick meiner unaufgeräumten Wohnung und zweier offener Rechnungen - von diesen in konstanter Regelmäßigkeit wiederkehrenden Widrigkeiten abgesehen, weiß ich, daß ich nicht ins Heim will. An diesen Ort, an dem mich ein Bett, ein Kleiderspint, ein Nachtschränkchen und sehr viel Leid erwartet. Lohnt sich meine Auflehnung, mein Alleingang? Vor sechs Jahren noch bejahte ich die Frage temperamentvoll. Heute ärgert mich die Frage, ich halte es für unzulässig, nach Dingen zu fragen, für die es keine Alternative gibt. Auch auf die Frage, ob unser aller Leben, mit welcher Behinderung auch immer, sinnvoll sei, hört man nur Geschwätz. Unsere Maßstäbe für das Sinnvolle sind verschieden, zeitweilig fallen sie auch ganz aus. Was also?

Am Abend lasse ich in der Eineinhalbzimmer-Wohnung die Rolläden herunter, lese noch zwei Kapitel aus einem guten Buch. Mit der Sprachmelodie des Gelesenen im Ohr schreibe ich mit Bleistift den Plan jener Dinge, die am nächsten Tag erledigt werden müssen. Im engen Schlafzimmer steige ich mühsam aus den Kleidern, versuche sie ordentlich auf den Stuhl zu hängen; im Badezimmer erledige ich in zwanzig Minuten die Abendtoilette, in der Küche am Kühlschrank trinke ich noch einen Schluck Orangensaft. Meist ohne Nachtgebet, manchmal aber mit einem guten beruhigenden Gedanken, lege ich mich schlafen.

So ist mein Alltag.

Quelle:

Christa Schlett: Tagebuchaufzeichnungen aus dem Leben einer Spastikerin

Entnommen aus: Sie nennen es Fürsorge: Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand; mit Beiträgen vom Gesundheitstag Hamburg 1981 / hrsg. von Michael Wunder u. Udo Sierck. - 2. Auflage; Frankfurt am Main; Dr. med. Mabuse 1987.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 11.07.2006

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