Lieber lebendig als normal!

Vorwort zu Teil III

Autor:innen - Nati Radtke, Udo Sierck
Themenbereiche: Selbstbestimmt Leben
Textsorte: Buch
Releaseinfo: Entnommen aus: Sie nennen es Fürsorge: Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand; mit Beiträgen vom Gesundheitstag Hamburg 1981 / hrsg. von Michael Wunder u. Udo Sierck. - 2. Auflage; Frankfurt am Main; Dr. med. Mabuse 1987.
Copyright: © Dr. med. Mabuse 1987

Inhaltsverzeichnis

Lieber lebendig als normal!

Auf dem Gesundheitstag 1981 konnten Krüppel zeigen, daß sie nicht nur andere Vorstellungen der Behindertenpolitik attackieren, sondern darüberhinaus auf dem Wege sind, eigene Perspektiven zu entwickeln. Wir hatten in Hamburg die Chance, uns im größeren Umfang zu äußern, ohne vorher Politiker, selbsternannte Fachleute oder Prominenz vom Podium verdrängen zu müssen.

Die Krüppelbewegung besteht aus Gruppen und Einzelpersonen, die keine einheitliche Linie besitzen. Die verschiedenen Strömungen reichen von denen, die sich für die Integration in die bestehende Gesellschaft einsetzen, bis zu jenen, die für eine Veränderung der Gesellschaftsstrukturen, deren vorgegebenen Lebensziele sowie deren Normen und Werte kämpfen. Die Übergänge sind fließend. Um Außenstehenden einen Einblick in diese Zusammenhänge zu ermöglichen, ist der Artikel Entwicklung der Krüppelgruppen zusätzlich geschrieben worden.

Wir nennen uns Krüppel und sprechen damit aus, was Nichtbehinderte über uns nur denken. Bei dieser Bezeichnung kann über das Machtgefälle nicht hinweggegangen werden, wie es bei dem seichten, beschönigenden behindert geschieht. Wir stellen uns nicht länger in Frage, sondern hinterfragen die Norm - und Wertvorstellungen der nichtbehinderten Gesellschaft. Die bestehende Distanz zum Normalen wird als notwendig erachtet, da das Streben nach Gleichheit stets zur Anpassung und Selbstunterdrückung geführt hat. Wir grenzen uns bewußt ab, um nicht länger so zu leben, wie es uns die Nichtbehinderten vorschreiben. Auf dem Gesundheitstag ist es gelungen, unser keimendes Selbstbewußtsein zu behaupten, indem Nichtbehinderte aus einigen Veranstaltungen rausflogen. Das mußte auch ein ZDF-Team erleben, das vergeblich versuchte, die Diskussion Krüppelgruppe - Isolation oder Selbsthilfe? für ein sensationsbegieriges Fernsehpublikum festzuhalten. In der Auseinandersetzung zeigte sich, daß neben der Veranstalterin Uschi Willeke viele Krüppel da waren, die ihren Unmut nicht nur äußern, sondern auch durchsetzen konnten.

In der Konfrontation mit der nichtbehinderten Öffentlichkeit, mit denen, die Aussonderungsstätten schaffen und Sonderbehandlung praktizieren, dürfen wir nicht übersehen, daß Verhaltensmuster auch auf uns wirken. Es gibt die Hierarchie unter Krüppeln aufgrund der Behinderung, es existiert die Hierarchie aufgrund des Geschlechts; Krüppelfrauen werden auch von Krüppeltypen unterdrückt. In dieser Beziehung stehen Auseinandersetzungen unter uns am Amfang. Den Ursachen und Mechanismen der Diskriminierung auf die Spur zu kommen, war ein Ziel der Veranstaltung Krüppelfrauen - Erobern wir uns den Tag. Ein Schritt, sich der Unterdrückung als Krüppelfrau bewußt zu werden, wurde getan.

Der Widerstand von Krüppeln ist von Umständen und Gefahren bedroht, die ihm die Wirkung nehmen können.

  • Die Krüppel besitzen Narrenfreiheit. Proteste werden nicht ernstgenommen, weil sich niemand wirklich vorstellen kann, daß wir wohlüberlegt anders reagieren, als es in den festgefügten Rahmen paßt. Schlägt eine Nichtbehinderte den Kanzler, wandert sie in den Knast, bekommt der Bundespräsident Krückenschläge, werden nicht einmal Personalien aufgenommen.

  • Es besteht die Gefahr, daß der Widerstand integriert, daß auf Teile unserer Konzepte scheinbar eingegangen wird. Aber Wohnmodelle, in denen Krüppel genauso wenig selbstbestimmen können wie im Heimgetto, dienen nur als Makulatur des Bestehenden. Die Kontrolle über uns bleibt.

  • Krüppel fallen aus dem Wiederstand heraus, weil das Streben nach Anerkennung gerade durch spektakuläre Aktionen erfüllt wird. Der nächste Schritt, sich als anerkannter Kritiker zu etablieren, ist schnell getan. Das Aussonderungssystem braucht die kritischen Stimmen, zeigen sie doch scheinbar, daß sich Krüppel emanzipieren können.

  • Die Bewegung wird auch von denen vereinnahmt, die ansonsten die Gesetze des Systems nicht anzweifeln. Ein Stückchen Bewunderung für die Ausbruchstimmung möchte jede/r abbekommen.

Auch wir müssen uns der Frage stellen, ob das Anbieten der eigenen Veranstaltung vielleicht primär der Selbstbestätigung, der schulterklopfenden Anerkennung diente. Und: Was haben wir bei den Besuchen des Gesundheitstages bewirkt? Skepsis ist berechtigt. Denn oft wurden kritische Ansätze mit der Frage nach neuen Rezepten beantwortet. Dies scheint uns ein Zeichen für das eigene unflexible Denken in weiten Kreisen der helfenden Berufe zu sein. An diesem Punkt setzt auch das Referat von Horst Frehe Die Helferrolle als Herrschaftsinteresse nichtbehinderter Behinderten-(Be)-Arbeiter an, in dem er sich kritisch mit der Helferrolle auseinandersetzt.

Welche weiten Wege zur Emanzipation der Krüppel noch anstehen und welche kleinen Schritte im Alltag sie diesem Ziel näherbringen, beschreibt abschließend Christa Schlett. Für die hoffentlich sich entwickelnte Krüppelbewegung halten wir es für wichtig das ausdrücken, was seit wenigen Jahren damit verbunden wird: Auseinandersetzung, Selbstbestimmung und ein Bewußtsein des Unangepaßten.

Nati Radtke und Udo Sierck, Mai 1982

Quelle:

Nati Radtke, Udo Sierck: Lieber lebendig als normal!

Entnommen aus: Sie nennen es Fürsorge: Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand; mit Beiträgen vom Gesundheitstag Hamburg 1981 / hrsg. von Michael Wunder u. Udo Sierck. - 2. Auflage; Frankfurt am Main; Dr. med. Mabuse 1987.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 24.02.2005

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