Mütter berichten über ihre behinderten Kinder

Themenbereiche: Kultur, Lebensraum
Textsorte: Buch
Releaseinfo: Entnommen aus: Sie nennen es Fürsorge: Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand; mit Beiträgen vom Gesundheitstag Hamburg 1981 / hrsg. von Michael Wunder u. Udo Sierck. - 2. Auflage; Frankfurt am Main; Dr. med. Mabuse 1987.
Copyright: © Dr. med. Mabuse 1987

Mütter berichten über ihre behinderten Kinder

Wir haben die Veranstaltung auf dem Gesundheitstag 1981 durchgeführt, weil wir über das reden wollten, was häufig unter den Tisch geschwiegen wird:

Wir sind bis heute noch immer nicht darüber hinweggekommen, daß die Behinderung unserer Kinder auf ärztlichen Pfusch zurückzuführen ist. Wir wollten die Anwesenden darauf aufmerksam machen, daß sie den Ärzten nicht bedenkenlos vertrauen sollen - wie wir es getan haben. Einen Kunstfehlerprozeß zu führen, kostet viel Kraft und Geld, und unsere Kinder werden dadurch auch nicht zu Menschen ohne Behinderung. Wir stehen zu der Behinderung und setzen uns für die Integration behinderter Menschen ein.

Was wir nicht wollen, ist das Mitleid, welches uns entgegengebracht wird, wenn wir von der Behinderung unserer Kinder erzählen. Wir wollen für unsere Kinder eine normale Kindheit, ohne daß ständig an ihnen herumtherapiert wird. Was nicht heißt, daß wir notwendige Therapie ablehnen. Wir suchen nach Möglichkeiten, unsere Kinder nicht wie üblich in Sondereinrichtungen zu geben, sondern in normale Kindergärten, Schulen, Ausbildungsstätten oder/und Betriebe.

Wir sind für die Abschaffung von Heimen und Anstalten. Ein Teil dieses Geldes, was durch die Abschaffung der Sondereinrichtungen vorhanden wäre, sollte den Familien mit behinderten Angehörigen zur Verfügung gestellt werden, damit diese davon eine Haushaltshilfe finanzieren können.

Wir wollen keine blechernen therapeutischen Hilfsmittel, sondern suchen nach Möglichkeiten, normales Kindermobiliar so umzugestalten, daß es für unsere Kinder passend wird und kinderfreundlich ist. Die Krankenkassen zahlen für all das, was kein therapeutisch-blechernes Hilfsmittel ist, keinen Pfennig, obwohl diese sehr viel preisgünstiger wären. (Wo bleibt da die so vielzitierte Kostendämpfung?)

Dies waren Punkte, die bei unserer Veranstaltung zu einer regen Diskussion führten. Bei uns wird es nicht beim Reden bleiben; wir wollen und werden handeln.

Froh wären wir, wenn diejenigen, die bei unserer Veranstaltung waren, ebenfalls versuchen, mit uns zu kämpfen.

Bericht über Eva und Malka

Ich bin Mutter einer fünfjährigen Tochter, Melanie, und den Zwillingen Eva und Malka. Meine Zwillinge werden im November zwei Jahre alt. Beide sind mehrfach behindert. Sie können nicht robben, krabbeln, sitzen, laufen oder sprechen.

Eva, die Zweitgeborene, hat eine Fallot'sche Tetralogie, das ist ein schwerer angeborener Herzfehler. Dieser Herzfehler beunruhigt mich nicht so sehr, wie die cerebrale Bewegungsstörung, da diese bei beiden vermeidbar gewesen wäre, hätte man damals bei der Geburt einen Kaiserschnitt gemacht.

Unsere Zwillinge wurden am 12.11.1979 in der 35. Schwangerschaftswoche geboren. Erst vier Tage vorher und zwar bei der dritten Ultraschall-Untersuchung, hatte mein Gynäkologe festgestellt, daß es sich um eine Zwillingsschwangerschaft handelte. So hatte ich nicht sehr viel Zeit, mich auf diese Situation einzustellen.

Die Wehen traten am Sonnabend, den 10.11.1979 gegen 23.00 h im Abstand von 15 Minuten ein. Gegen 1.00 h nachts entschlossen wir uns, in die Klinik zu fahren. Dort stellte die Hebamme fest, daß der Muttermund bereits 3 bis 4 cm geöffnet war, und bereitete mich auf die Geburt vor. Gegen 2.30 h erschien gähnenderweise die diensthabende Ärztin; sie entschloß sich nach einer Untersuchung, nochmals eine Ultraschalluntersuchung zu machen. Dabei stellte sie ein Gewicht von ca. 2000 Gramm je Kind fest und konnte auch sehen, daß sich das erste Kind in einer Steißlage befand.

Daraufhin teilte sie mir und meinem Mann mit, sie würde die Geburt gerne noch um eine Woche hinauszögern; das wäre besser für die Kinder. Damals glaubten wir ihr noch, und so hing man mich an einen wehenhemmenden Tropf und spritzte mir zusätzlich etwas zur Förderung der Lungenentwicklung bei den Kindern. Aufgrund dieser Medikamente bekam ich ein fürchterliches Zittern in den Beinen, worauf man mich mit Valium vollpumpte; daraufhin schlief ich natürlich ein.

Der nächste Tag, der 11.11.1979, war recht ruhig für mich. Die Wehen waren weg, nach wie vor war ich am Tropf und am Wehenschreiber angeschlossen. Ich bekam Essen, z.B. Rosenkohl, wie alle anderen Patienten auch und keine Schonkost.

Gegen 23.00 h abends konnte ich auf dem Wehenschreiber wieder Wehentätigkeit erkennen und kurz darauf verspürte ich sie auch. Gegen 24.00 h kam die Ärztin. Da es ein Wochenende war, war es auch immer noch die gleiche. Sie meinte zu mir, daß die Geburt wohl nicht länger aufzuhalten sei und brachte mich direkt in den Kreißsaal. Dann rief sie meinen Mann an, der bei der Geburt dabeisein wollte. Während der Wehen mußte ich die ganze Zeit liegen, bekam keinerlei Mittel, auch keine Peridural-Anästhesie[1], nach der ich öfters fragte, da die Wehen sehr bald in kurzen Abständen auftraten und ich es trotz guter Atemtechnik nicht mehr aushalten konnte.

Die Zeit verging und nichts passierte. Die Wehen wurden schlimmer und ich fragte immer wieder, warum denn kein Kaiserschnitt gemacht wird. Dieses hielt man anscheinend nicht für nötig, oder man wollte den Oberarzt nicht aus seinem Sonntagsschlaf herausholen. Zwischenzeitlich sprengte man bei mir beide Fruchtblasen.

Gegen 6.00 h erschien kurz ein anderer Arzt, der wohl etwas zu sagen hatte, und entschied dann endgültig, ein Kaiserschnitt wäre nicht nötig. Dabei hörte ich, wie die Ärztin zu ihm sagte: "Aber die Frau kann doch nicht mehr!" Dann endlich, so gegen 8.15 h am 12.11.1979, es war ja bereits Montag, verspürte ich die ersten Preßwehen und plötzlich war es voll im Kreißsaal, nachdem wir so manches Mal ganz alleine gelassen wurden. Der Kinderarzt wurde geholt, es waren mehrere Hebammen und Ärzte da, und um 8.35 h wurde dann endlich Malka als Steißlage geboren. Man legte sie mir kurz auf den Bauch, wobei ich sehen konnte, daß sie ziemlich blau war. Dann nahm der Kinderarzt sie mir weg. Nun wartete man auf die Geburt von Eva.

Meine Wehen waren weg. Nach 30 Minuten gab man mir ein wehenförderndes Mittel. Daraufhin bekam ich sofort wieder Preßwehen und Eva wurde um 9.05 h geboren. Ich bekam sie überhaupt nicht zu sehen, erst Minuten später brachte man sie mir zum kurzen Anschauen. Sie war in dieser Alufolie verpackt, und ich konnte nur ihr tiefblaues Gesicht sehen.

Abends gegen 19.00 h konnten wir sie zum ersten Mal auf der Intensivstation sehen. Eva, die Zweitgeborene, lag im Inkubator[2] mit einem Geburtsgewicht von 1.990 Gramm, sie war 43 cm lang und hatte einen Kopfumfang von 30 cm. Malka, die Erste, lag im offenen Inkubator, mit einem Geburtsgewicht von 2.400 Gramm, einer Länge von 43,5 cm und ebenfalls einem Kopfumfang von 30 cm. Nach Aussage des Arztes ging es ihnen gut, und sie hatten angebliche Apgarwerte[3] von 8/9/10. Nachträglich für uns unvorstellbar.

Unsere erste Erleichterung, daß alles gut gegangen war, wurde am zweiten Tag nach der Entbindung zunichte gemacht. Der Oberarzt der Intensivstation teilte uns telefonisch mit (er hatte nämlich schon Dienstschluß), daß unsere Kinder wahrscheinlich Zwitter sind. Nach einer Woche, ich war inzwischen zu Hause, konnte man uns sagen, daß dieses nicht stimmt, man hatte sich geirrt. Merkwürdig erschien ihnen allerdings eine Hypertrophie der Klitoris[4], die auf eine Hormonstörung hinweisen könnte. Man entschied, einen ACTH-Belastungstest[5] zu machen. Danach wurden die Kinder auf die Säuglingsstation verlegt.

Zwei Tage nach diesem Test traten bei den Kindern die ersten BNS-Krämpfe[6] auf, und auch der Verdacht auf ein adrenogenitales Syndrom[7] wurde am gleichen Tag aus dem Labor bestätigt. So stellte man Eva und Malka sofort auf Luminal und Rivotril[8] ein und ließ zusätzlich von Hoechst Hydrocortison bringen, da dieses nicht vorrätig war.

Es ging den Kindern nicht gut. Sie wurden an einen Tropf gelegt, und die Ärzte und auch wir hatten Angst, daß es sich um die schlimmste Form dieser Hormonstörung, nämlich ein adrenogenitales Syndrom mit Salzverlust handeln könnte. Der einzige Arzt, der uns über diese Krankheit informierte, war der Oberarzt der Intensivstation. Der zuständige Arzt auf der Säuglingsstation hielt es nicht einmal für nötig, sich mit uns zu unterhalten, als es den Kindern noch schlechter ging. Man entschloß sich, die Kinder zur Uniklinik zu geben. Dort wurden sie ein wenig aufgepäppelt, auch mit dem Essen klappte es dann ganz gut. Es wurden mehrere EEG's[9] gemacht; man meinte, es seien wohl keine Krampfkinder, und so reduzierte man langsam die Krampfmittel. Was sie weiterhin bekamen, war Hydrocortison und D-Fluoretten 500.

Sechs Wochen nach der Entbindung bekamen wir die Kinder auf unseren Wunsch hin endlich nach Hause. Sie bekamen acht Mahlzeiten täglich, pro Mahlzeit brauchten wir bis zu 1 1/2 Stunden. Man sagte uns auch, sie brauchten wohl Krankengymnastik, womit wir Anfang Januar 1980 begannen. Wir hatten dann bald viele Schwierigkeiten mit dem Füttern. Entweder aßen sie gar nicht oder spuckten alles wieder aus. Wir entschlossen uns nach sechs Wochen, sie nochmals ins Krankenhaus zu geben, da dieses Spucken auch auf ein adrenogenitales Syndrom mit Salzverlust hinweisen konnte. Aus diesem Krankenhausaufenthalt wurden für Malka 3 Monate und für Eva 3 1/2. Man bekam das Spucken nicht in den Griff und sondierte[10] sie. Hier wurde auch ein neuer ACTH-Belastungstest gemacht, bei dem festgestellt wurde, daß die Kinder gar kein adrenogenitales Syndrom haben.

Bei Eva wurde eine Herzkatheter-Untersuchung gemacht, da sie ständig beim Schreien blau wurde; dabei bestätigte sich der Verdacht auf eine Fallot'sche Tetralogie. Zwei Tage später wurde sie operiert. Nach dieser Operation traten bei ihr wieder BNS-Krämpfe auf, und sie wurde erneut auf Rivotril eingestellt. (Dieses Medikament bekommt sie heute noch!) Auch machte man bei beiden Kindern Computertomogramme[11], durch die sich herausstellte, daß beide einen Hirnschaden erlitten hatten. Diesen Hirnschaden führte man zurück auf Sauerstoffmangel während der Geburt.

Nachdem man Malka soweit hatte, daß sie alleine trinken konnte (wir waren auch jeden Tag da und hatten es probiert), bekamen wir sie nach Hause. Meine Krankengymnastin war entsetzt, wie schlecht Malka körperlich war, und wir vermuteten, daß sie im Krankenhaus wieder gekrampft hatte.

Eva bekamen wir zwei Wochen später nach Hause, nur unter der Bedingung, daß wir zu Hause eine Krankenschwester haben. Dies bezahlte die Krankenkasse. Eva mußte immer noch sondiert werden, da sie keinen Saugreflex hatte. Wir haben zu Hause immer wieder versucht, sie zu füttern und irgendwann fing sie an, vom Löffel zu essen.

Die Krankengymnastik fing sofort wieder an. Wir hatten uns nach anfänglichem Bobathturnen entschlossen, auf die Vojta-Therapie überzuwechseln. Zu dieser Methode konnte ich nie ein Verhältnis entwickeln und durch den Streß auch nicht zu meinen Kindern. Die Vojta-Therapie hatte mich physisch und psychisch kaputtgemacht, ich mochte auch lange nicht zugeben, daß ich das nicht schaffe! Heute turnen wir mit beiden Kindern nach Bobath, aber das Wichtigste bei aller Therapie ist für uns die Integration unserer behinderten Kinder in unsere Familie und in die Gesellschaft. Liebe und Zuwendung ist für uns heute das Wichtigste für unsere Kinder.



[1] Spritze zur Betäubung der untersten, das Rückenmark verlassenden Nerven (manchmal auch "Rückenmarks-Spritze" genannt)

[2] Brutkasten

[3] Das Punkte-Schema nach Apgar wird zur schnellen Erfassung des körperlichen Zustandes eines Neugeborenen angewandt. Beurteilt werden während der ersten zehn Minuten nach der Geburt Herzschlagfrequenz, Atmung, Muskelspannung, Hautfarbe und Reflexe und in Punkten ausgedrückt. Liegen die Apgar-Werte zwischen 8 und 10, ist alles normal.

[4] ungewöhnliche Vergrößerung des Kitzlers

[5] ACTH ist die Abkürzung für ein Körperhormon, das die Hirnanhangdrüse erzeugt und auf die Nebennierenrinde wirkt. Beim Belastungstest wird ACTH intravenös verabreicht, um die Funktionstüchtigkeit der Nebennierenrinde, die selbst Hormone produziert, zu prüfen.

[6] Art hirnorganischer Krämpfe bei Kleinkindern, die nach ihrer Form, Augen- und Kopfverdrehen nach oben bzw. schräg oben und Kopfschütteln und -nicken, "Blick-Nick-Salaam" benannt werden.

[7] hormonelle Störung, die zur Fehlbildung der Geschlechtsorgane führen kann

[8] Medikamente gegen Krämpfe

[9] Abkürzung für Elektro-Enzephalogramm (Darstellung der Gehirnströme)

[10] hier: künstliche Ernährung durch einen Schlauch, der in die Speiseröhre eingeführt wird

[11] Röntgensichtverfahren, bei dem die nach Gabe eines Kontrastmittels erfolgende Strahlung (in diesem Falle: des Gehirns) mit einem rotierenden Röntgenstrahl per Computer in Schichten gemessen wird

Zur Familiensituation

Daß ich überhaupt die Zeit finde, über die Familiensituation zu schreiben, liegt daran, daß Cornelia im Moment auf meine Kinder aufpaßt und ich mich einmal ungestört zurückziehen kann. Das ist sonst überhaupt nicht möglich. Die Kinder beanspruchen einen von morgens bis spät abends. Man kann nicht mehr abschalten und einmal an sich denken. Heiner und ich haben kaum noch Zeit für einander. Wenn er von der Arbeit kommt, sind wir beide mit den Kindern beschäftigt. Einfach mal in Ruhe sitzen und sich unterhalten gibt es nicht mehr. Ständig fordern einen die Kinder. Am Wochenende läuft es etwas besser, da wir uns die ganze Arbeit teilen können. Manchmal fühle ich mich alleine gelassen, aber einer muß ja das Geld verdienen. Wenn Heiner zuhause ist, hilft er wirklich.

Am Mittwochabend mache ich Englisch. Ich freue mich auf den Abend, da ich dann mal raus kann. Auch meine Eltern nehmen mir die Kleinen mal ab, damit ich etwas erledigen kann. Aber ich fühle mich ständig gehetzt und unter Zeitdruck. Sicherlich ist das auch mit drei nichtbehinderten Kindern so, aber da ist die Zeit absehbar und die Kinder werden selbständiger. Und vor allem ist die psychische und physische Belastung nicht so groß. Ich muß die Kinder ständig tragen. Oft trage ich beide zugleich, weil es einfach nicht anders geht. Das merkt man körperlich, wenn man das, wie ich, nun schon seit 2 1/2 Jahren macht. Es sind immerhin gut 40 Pfunde, die sie auf die Waage bringen. Die Leute sehen das, aber es gibt kaum jemand, der sagt: "Ich nehme Ihnen ein Kind ab und helfe Ihnen." Die meisten lächeln nur nach dem Motto: "Toll, wie die Mutter das alles schafft." Oft spreche ich die Leute an und bitte um Hilfe. Aber ich habe dazu nicht ständig den Nerv. Oder Bemerkungen wie: "Gut siehst Du aus! Deine drei Kinder sieht man Dir wirklich nicht an!" Muß ich mich denn erst total gehen lassen, damit die Leute merken, daß ich vielleicht ihre Hilfe brauche. Ich bin nicht bereit dazu. Ich will bei all den Belastungen doch auch noch leben. Ich feiere gerne und bin gerne ausgelassen. Ich freue mich über kurze Momente, in denen ich mal abschalten kann. Nur irgendwie holt mich der Alltag immer wieder ein. Wenn das Gespräch auf behinderte Menschen kommt, was oft auch durch mich geschieht, kann ich ganze Nächte darüber reden. Irgendwie brauche ich das zu meiner eigenen Bewältigung. Sicherlich gehe ich damit vielen auf den Nerv, aber das interessiert mich nicht. Ich will, daß auch sie merken, daß man dieses Thema nicht einfach kurz abhandeln kann.

Eine häufige Frage: "Wie geht es denn Melanie? Wie kommt sie mit ihren Schwestern zurecht?" Ich kann sagen, daß sie die beiden sehr lieb hat. So rechte Vorstellungen, was Behinderung heißt, kann sie sich natürlich noch nicht machen. Sie fragt immer noch, wann die beiden denn laufen können. Das muß ich offen lassen. Überhaupt ist es für sie schlimm, Eltern zu haben, die kaum noch Zeit für sie haben. Drei Jahre war sie Einzelkind und wir haben viel mit ihr unternommen. Wir waren beide ausgeglichen und hatten immer Zeit für sie. Dann kamen die Zwillinge. Fast ein halbes Jahr waren sie im Krankenhaus. Wir sind jeden Nachmittag hingefahren. Melanie mußte bei der Oma bleiben. Sie durfte ja nicht mit rein. Sie ist sehr gerne bei ihren Großeltern und meiner Schwester. Nur wenn man hin muß, ist es etwas anderes.

Dann kamen sie nach Hause. Wir waren nur mit Füttern und Therapie beschäftigt. Ich habe damals nach Vojta geturnt. Ich wußte überhaupt nicht mehr, wo mir der Kopf stand. Turnen, Melanies Fragen beantworten, gerade dann wollte sie mit mir spielen. Ich mußte sie ständig abschieben, habe sie angeschrieen und ihr ab und zu einen Klaps gegeben, etwas, das ich früher total abgelehnt habe. Das Ergebnis war ein ständig schlechtes Gewissen. Sie ist häufig bei der Oma geblieben und so ist es auch heute noch. Dort bekommt sie das, was ich ihr nicht geben kann: Liebe - Zuwendung - viel Zeit - einfach ein Sie-Beachten. Irgendwie bin ich froh, daß sie die Großeltern und meine Schwester hat. Ich wüßte oft nicht, was sonst wäre. Ich bin nicht eifersüchtig, daß sie so ein tolles Verhältnis zu ihnen hat, aber das schlechte Gewissen ist eben ständig da, meiner Rolle als Mutter nicht gerecht zu werden. Ich wünsche mir schon, mehr Zeit für sie zu haben, aber oft ist es so, wenn ich die Zeit habe, bin ich so kaputt, daß ich einfach keine Lust habe, etwas zu unternehmen. Es ist ein Teufelskreis, aus dem ich nicht raus komme. In diesem Jahr kommt Melanie in die Schule. Ich hoffe, ich werde die Geduld und Ruhe aufbringen, sie in den Schuljahren zu unterstützen und daß sie mir nicht entgleitet.

Und bei alledem muß man auch noch ständig therapieren. Vojta habe ich nicht durchgehalten. Ich konnte es einfach nicht mehr, die Therapiemethode hat mich bis in meine Träume begleitet. Ich hatte keine Beziehung zu meinen Zwillingen. Erst als ich damit aufgehört habe und angefangen habe, nach Bobath mit ihnen zu turnen, hatte ich Zeit, mit meinen Kindern zu schmusen und habe eine Beziehung aufbauen können. Ich weiß, daß ich viel mehr mit ihnen turnen muß. Ich weiß, wie notwendig das Durchbewegen ist. Aber ich bin körperlich alleine durch das Tragen der Kinder, das Nicht-Ausschlafen-Können, die ständigen Gedanken, die man sich über ihre und unsere Zukunft macht, so kaputt, daß ich oft einfach nicht mehr kann. Und ich glaube, nur jemand, der selbst ein behindertes Kind hat und weiß wie anstrengend das ist, kann sich ein Bild davon machen, was es heißt, zwei Kinder ständig durchzubewegen. Und dieses Durchbewegen ist sehr wichtig für sie, besonders bei Malka, die sonst steifer würde und überall Kontrakturen[12] bekäme.

Es ist wichtig, ihnen zu zeigen, was für Möglichkeiten sie mit ihrem Körper haben. Gerade bei Malka, die mit ihren Augen nicht umgehen kann, da durch die Krämpfe die Umsetzung nicht funktioniert. Ihr muß man in besonderem Maße Körperbewußtsein vermitteln. Wenn ich sie genau in der Mitte fixiert habe, kann ich deutlich sehen, wie ihre Augen arbeiten. Ich bin davon überzeugt, daß sie dann mehr von der Welt erlebt, als wenn sie in ihrem pathologischen Muster bleibt.

Ich hoffe, daß wir die Kraft haben, das durchzustehen. Zum Glück ist die Beziehung zwischen Heiner und mir so intakt, daß wir uns gegenseitig helfen können. Etwas weiß ich mit Sicherheit: in ein Heim gebe ich meine Kinder nie! Es muß eine humanere Lösung geben, zum Beispiel eine Wohngemeinschaft für behinderte und nicht-behinderte Kinder und Erwachsene. Ich bin ständig auf der Suche danach. Leider werden einem solche Wege sehr schwer gemacht.



[12] hier: Sehnen- und Muskelverkürzung aufgrund des Nichtgebrauchs der Gliedmaßen

Bericht über Jasmin

Bei einer gynäkologischen Routineuntersuchung erfuhr ich, daß ich schwanger war. Mir war elendig vor Angst, denn ich hatte etwa fünf Wochen vorher Röteln gehabt. Der Arzt reagierte auf diesen Hinweis mit der Frage: "Wollen Sie das Kind denn nicht haben?" Ich sagte: "Nur wenn ich weiß, daß ich ein gesundes Kind bekomme." Daraufhin wurden in einer Klinik eine Fruchtwasser- und eine Ultraschalluntersuchung vorgenommen. Später wurde mir von meinem damaligen Frauenarzt mitgeteilt, daß alles "in Ordnung" sei. Arztberichte über diese Untersuchungen waren niemals auffindbar.

Ende des sechsten Monats bekam ich rasende Kopfschmerzen, hatte zu hohen Blutdruck und mein Gewicht hatte sich um 30 Pfund erhöht.

Jasmin wurde am 20.4.1979 geboren - fünf Wochen vor dem errechneten Geburtstermin. Die Apgar-Werte waren 3/5/7. Sie wog 1540 Gramm, war 42 cm groß, ihr Kopfumfang betrug 31 cm.

Von meinem Eintreffen in der Klinik bis zur Geburt vergingen 3 1/2 Stunden. Es hätte sofort ein Kaiserschnitt gemacht werden müssen, da das Fruchtwasser gefärbt war (die beiden Ärzte, die die erste Untersuchung vornahmen, sagten: "Fruchtwasser wie Spinat") und die Herztöne meines Kindes sehr unregelmäßig und schwach waren. Warum wurde nicht sofort eingegriffen? Diese Frage stelle ich mir heute oft.

Etwa eine halbe Stunde vor der Geburt sollte ich mich aus meiner liegenden Position aufrichten. Ein Arzt und eine Schwester hielten mich fest. Plötzlich spürte ich einen Stich in meinem Rücken. Ohne Vorwarnung hatte ich soeben die sogenannte Rückenmarksspritze erhalten. Ich will keine Namen von Ärzten oder Kliniken nennen, denn daß mein Kind schwer mehrfach behindert ist, ist eine Tatsache und läßt sich durch Anklage nicht ändern. Ich will lediglich diejenigen warnen, die vielleicht noch Kinder in die Welt setzen wollen; laßt nicht alles mit Euch machen! Fordert und fragt die Ärzte, wenn Ihr etwas nicht versteht, wenn Euch etwas fehlt.

Jasmin kann heute mit 2 1/2 Jahren noch nicht sitzen, krabbeln und laufen. Sie spricht so gut wie gar nicht.

Geturnt wurde mit Jasmin von dem Zeitpunkt an, als sie aus dem Inkubator kam. Das war sechs oder sieben Tage nach der Geburt. Am achten Tag hatte sie ein Atemnotsyndrom in Verbindung mit einem offenen Ductus Botalli[13]. Für eine weitere Woche mußte sie in den Inkubator, dann ins Wärmebett und sieben Wochen nach der Geburt kam sie endlich nach Hause.

Zu Anfang brauchte sie sieben Mahlzeiten täglich. Von 7.00 bis 24.00 h war ich damit beschäftigt, Fläschchen zuzubereiten, Medikamente zu geben und stundenlang zu füttern. Jasmin trank, wenn ich Glück hatte, 40 gr. von den vorgesehenen 70 - 90 gr. Als Jasmin 4 1/2 Monate alt war, trank sie so gut wie gar nichts mehr. Die Kinderärztin beruhigte mich mit den Worten: "Dann wird sie keinen Hunger haben, - geben sie doch Zwischenmahlzeiten." Nachdem ich einen zweiten Kinderarzt aufgesucht hatte, und dieser meinte, meine Tochter hätte einen grippalen Infekt, war ich völlig ratlos.

Mit meinem inzwischen fünf Monate alten Kind fuhr ich in ein Kinderkrankenhaus. Nach der Aufnahmeuntersuchung wurde mir gesagt: "Wir werden für Ihre Tochter tun, was wir können, es sieht jedoch sehr schlecht aus. Weshalb sind Sie nicht eher zum Arzt mit ihr gegangen?" Ich bin mit ihr drei- bis viermal wöchentlich beim Arzt gewesen, wenn wir nicht gerade zur Krankengymnastin mußten.

Nach zwei Tagen Krankenhausaufenthalt war Jasmin bewußtlos, lag im Inkubator. Die vorläufige Diagnose lautete: Enzephalitis, Pneumonie, und es lag wahrscheinlich eine Thymusaplasie[14] vor. Am fünften Tag war mein Kind wieder bei Bewußtsein, nach zwei generalisierten tonisch-klonischen Anfällen[15]. Am achten Tag wurde eine Herzkatheteruntersuchung vorgenommen mit dem Ergebnis: alles normal. Der Arzt, der diesen Eingriff vorgenommen hatte, sagte mir jedoch, daß Jasmin keine Pneumonie, sondern eine "Myokarditis und eine Schocklunge" [16] hätte. Weitere sieben Wochen vergingen, ehe Jasmin nach Hause kam. Doch das war nicht die Jasmin, die ich von früher kannte. Sie war nicht mehr spastisch, sie war total schlaff. Sie blickte Löcher in die Luft, reagierte weder auf Geräusche, Personen oder Gegenstände. Nur für grelles Licht zeigte sie Interesse.

Nun ging es wieder zur Krankengymnastik. Nach einem Monat Bobath-Therapie wurde uns von der Krankengymnastin (Landesvorsitzende der Krankengymnastinnen!) nahegelegt, uns andere Therapeutinnen zu suchen, da man mit Kindern wie Jasmin bei ihr nichts anfangen könne!! Ich fragte mich, was ich für ein Kind hätte. Meine Tochter muß irgendwie anders sein, sagte ich mir. Ich hatte Angst. Wo sollte ich hingehen? Wer würde mein Kind und mich annehmen?

Durch eine Verwandte erfuhr ich, daß ein Arzt vor kurzem eine Krankengymnastik-Praxis eröffnet hatte und dieser selbst behinderte Kinder hatte. Er untersuchte Jasmin ungewöhnlich lange und mit einer Menschlichkeit, die mir bislang fremd war. Nach etwa einer Stunde zog ich mein Kind an; dann sollte ich mich setzen. - Was jetzt kam, war für mich der schlimmste Augenblick meines Lebens. Der Arzt sagte: "Ihre Tochter ist schwer mehrfach behindert und ich kann heute noch nicht sagen, ob sie jemals laufen kann. Ich weiß, wie Ihnen zumute ist, ich habe das auch mitgemacht. Sie müßten jede Gelegenheit wahrnehmen, um mit Jasmin zu turnen." Das war alles neu für mich, damit hatte ich nicht gerechnet. Jasmin und ich - wir waren auf einmal alleine, anders. So allein gelassen wie in diesem Moment hatte ich mich noch nie gefühlt. Es dauerte eine Woche, ehe ich mich jemandem mitteilen konnte.

Von nun an gab es nur noch ein Thema für mich: Frühbehandlung für mein cerebral geschädigtes Kind. Erst fing ich wieder mit Bobath an, dann kamen Musiktherapie, später Vojta dazu. Mit 1 1/4 Jahren nahm Jasmin nichts wahr, was um sie herum geschah; sie lebte wie unter einer Glocke, die sie von der Außenwelt abschirmte. Jede Gelegenheit nahm ich wahr, Jasmin zu bewegen, zu lagern, sie mit ihrer Umwelt bekannt zu machen. Mit 1 1/2 Jahren fing sie an zu greifen, etwas später alles in den Mund zu nehmen. Für mich war das wie ein Wunder. Mein Kind griff nach Gegenständen! Der ATNR[17] verschwand langsam.

Ging ich mit Jasmin spazieren, so sagten die Leute, die Jasmin sahen: "Ach das Kleine schläft ja gleich." Das passiert mir heute immer noch. Ich habe aber keine Lust mehr zu erklären, was mit meinem Kind ist, denn immer, wenn ich erzähle, daß Jasmin behindert ist, werde ich bedauert. Sicher ist es schwerer, ein behindertes Kind zu haben als ein nichtbehindertes - aber es ist mein Kind, das ich zur Welt gebracht habe, und wir haben zueinander eine innige Beziehung. Es gibt so schöne Augenblicke in unserem Leben, die manch anderer nicht begreifen und nachempfinden kann. Jasmin hat mir gezeigt, daß es wichtigere Dinge im Leben gibt als Machtkämpfe im Beruf und die maßlosen Wünsche nach irgendwelchen Gütern. Jasmin freut sich über Bäume und Menschen, die sie so annehmen, wie sie ist, über Musik; ja, ganz einfach über Dinge, die nicht käuflich sind. Auch ich mußte lernen, diese Dinge zu sehen und bewußt zu erleben.

In erster Linie wird mir das Leben mit meiner behinderten Tochter durch die Umwelt schwergemacht. Dieses Mitleid von den Leuten, wenn sie erfahren, was mit Jasmin los ist, dieses Mut machen wollen mit den Bemerkungen "Das gibt sich noch", "Das ist ein Spätentwickler" drückt mich immer wieder runter. Das andere Extrem ist, wenn sich die Menschen abwenden, wie z.B. viele meiner alten Freunde; für ihren Geschmack bin ich zu einseitig geworden. Es geht ihnen auf die Nerven, wenn ich über die Therapien rede, die ich mit Jasmin durchführe, wie ich mich z.B. vor und nach einer Vojtabehandlung fühle, wie mein Kind reagiert und, und ... Ich kann endlos erzählen - ein Fehler? Ich meine nein! Da ich mit Jasmin alleine lebe, ist es für mich nicht möglich, all das, was wir erleben, alleine zu tragen. Wahrscheinlich wollen viele meiner Bekannten (die ich früher Freunde nannte) davon nichts mittragen, nicht in das Unnormale mit hineingezogen werden.

Dann sind da diese ewigen Therapien. Bobath, Vojta, Beschäftigungstherapie. Ich komme aus diesem 24-Stunden-Kreis, der mit Therapie beginnt und aufhört, nicht mehr raus. Es ist mir unmöglich, mein Kind in den Arm zu nehmen, ohne darauf zu achten, die Regeln des Handlings zu beachten. Durch Vojta bin ich oftmals so erledigt, daß es mir schwer fällt, Jasmin die Liebe zu geben, die sie braucht. Ich bin dann körperlich und seelisch wie ein ausgepreßter Schwamm. Nur: Vojta in Maßen tut Jasmin gut. Sie ist dann nicht mehr so schlaff wie ein Seidenschal, sie kann sich besser bewegen, entdeckt neue Dinge und zeigt mir ihre Freude darüber.



[13] natürliche Verbindung der beiden großen Herzschlagadern, die innerhalb der ersten drei Lebensmonate verwachsen muß

[14] Hirnentzündung, Lungenentzündung und Unterentwicklung der Thymusdrüse. Letztere hat eine mangelhafte Entwicklung der lymphatischen Organe und eine fehlende Antikörperbildung zur Folge

[15] hirnorganische Anfälle, die in wechselnden Phasen von Zuckungen und Anspannungen verlaufen

[16] Herzmuskelentzündung und Verstopfung der kleinsten Blutgefäße der Lunge mit Erstickungsgefahr

[17] Abkürzung für den Tonisch-klonischen Nackenreflex

Betroffene Mütter müssen sich zusammentun

Was folgt sind Gedanken und Worte von uns sowie von Ulla Boeck aus Dortmund und Ingrid Häusler aus München, die sie uns nach dem Gesundheitstag 1981 in Briefen und Gesprächen mitgeteilt haben.

Ursachen der Behinderungen und Lebenssituation

Ingrid: Frank ist schwer mehrfach behindert. Zu Beginn der Schwangerschaft nahm ich die Pille. Obwohl ich den Arzt darauf hinwies, daß eventuell eine Schwangerschaft vorliegt, sollte ich die Pille weiternehmen. Frank wurde mit einem Microcephalus[18] und Bewegungsstörungen geboren. Nach der Geburt hatte er eine schwere Gelbsucht. Frank ist stark verhaltensgestört, er lebt bei mir und meinem Mann zu Hause.

Ulla: Obwohl ich keine Wehen hatte, wurde die Geburt von Sabine am Stichtag eingeleitet. Hebamme und Arzt waren sich nicht einig, wie der Wehentropf eingestellt werden sollte. Die Hebamme dosierte ihn hoch, der Arzt, falls er gerade mal so vorbei kam, niedriger. Nach unendlichen Stunden am Tropf war ich ausgepumpt. Nun folgten Valiuminjektionen, Saugglocke, Zange - ohne Erfolg. Der Arzt holte einen anderen Arzt zur Hilfe, der die Zange ansetzte und Sabine endlich zur Welt brachte - schwerstbehindert. Sabine lebt heute im Heim. Ich lebe mit Pejo und Sohn Henning zusammen.

Uta: Vier Tage vor der Geburt erfahre ich, daß ich Zwillinge bekomme. Fünf Wochen vor dem eigentlichen Geburtstermin setzen die Wehen ein, die Wehen werden mit Medikamenten 24 Stunden unterdrückt - ohne Erfolg. Es folgt eine Tortur ohne Gleichen. Ein Kind ist eine Steißlage, ich komme an den Wehentropf, den Kindern geht es nicht gut, die Herztöne werden Schwächer. Als Erste kommt Malka zur Welt, eine halbe Stunde später (!) Eva. Eva ist tiefblau. Beide sind spastisch gelähmt. Malka ist nicht fähig zu sehen, Eva hat einen mittelschweren Herzfehler. Eva und Malka leben zu Hause mit mir, meinem Mann und meiner anderen Tochter Melanie zusammen.

Cornelia: Fünf Wochen vor dem Geburtstermin bekomme ich Wehen und verliere Fruchtwasser. Im Krankenhaus läßt man sich sehr viel Zeit mit der Entbindung meines Kindes, obwohl es meinem Kind schlecht geht. Nach unendlich langer Zeit bekommt nun auch der letzte Arzt mit, daß mein Kind in Gefahr ist. Innerhalb kürzester Zeit ist es nun möglich, Jasmin zur Welt zu bringen - halbtot. Jasmin ist schwer mehrfach behindert; sie lebt bei mir zu Hause.

Eine Frage stellen wir uns heute alle:

"WARUM ICH? WARUM MEIN(E) KIND(ER)?"

Wir haben uns vorgestellt, wie unsere Kinder wachsen, gedeihen, anfangen zu krabbeln, zu laufen, zu reden, wenn sie geboren sind.

Unsere Kinder wurden geboren, sie wuchsen, gediehen schlecht, fingen sehr spät oder gar nicht an zu krabbeln oder zu laufen. Mit dem Sprechen ist es auch nicht, wie wir es uns dachten. Unsere Kinder sind entgegen unseren Vorstellungen behindert. Wir passen nun nicht mehr in das Schema der heilen Welt. Was geht in den Köpfen der anderen vor?

Ulla: Nicht nur das Kind ist behindert, sondern die ganze Familie. Sie ist in einer Sonderstellung. Die meisten vergessen, daß jede Mutter vor der Geburt ihres behinderten Kindes auch ihre eigene Geschichte hatte. Unter diesen Umständen ist ein Leben mit einem behinderten Kind umso schwerer, die eigene persönliche Geschichte weiter zu verändern, um sich umfassend wohl zu fühlen und was ich so wichtig finde, auch weiterhin für sein persönliches Glück zu kämpfen.

Cornelia: Mein Leben hat sich total gewendet. Meine Freizeit gestalte ich anders, meine Interessen haben sich verschoben. Daß ich ein behindertes Kind habe, spüre ich in jeder Phase des Lebens. Bei einem nichtbehinderten Kind wäre es, so glaube ich, genauso; jedoch nur so lange, bis ein Kind selbständig wird. Unsere Kinder erreichen wahrscheinlich nur ein Minimum an Selbständigkeit; sie werden ewig von uns abhängig sein. Dieses Abhängigkeitsverhältnis ist besonders problematisch, wenn ein Elternteil alleine diese Aufgabe übernimmt.

Ingrid: Mein Leben wird von Frank total bestimmt. Meine Wohnung kann ich nicht so gestalten, wie ich es mir wünsche. Stelle ich irgendwo einen neuen Gegenstand in die Wohnung, kommt Frank und beleckt oder zerstört ihn. Eigenen Lebensraum schaffe ich mir durch Öffentlichkeitsarbeit. Nach unserer Veranstaltung beim Gesundheitstag Hamburg eile ich hinüber zum Gesundheitstags-Kindergarten, um nach Frank zu sehen. Mein Schwung ist dahin, als die Betreuer mir von seinem schwierigen Verhalten, von seinen Angriffen auf kleinere Kinder erzählen. Sie sind auch gar nicht begeistert, als ich frage, ob er noch eine Weile dableiben kann. Ich weiß, daß das bei Frank nicht geht, daß er einfach nicht so nebenbei in eine Normalgruppe integriert werden kann. Trotzdem tut es weh, fühle ich mich alleingelassen, dazu verdonnert, seine autistische Schale[19] immer wieder aufzubrechen.

Uta: Von dem Augenblick an, als meine Töchter geboren waren, kam ein schreckliches Erlebnis zum anderen. Von Anfang an war es absolut nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Mein Leben, das so lebendig war, wurde bestimmt von den Mahlzeiten und Bedürfnissen meiner Töchter. Außerdem forderte und fordert meine nichtbehinderte Tochter mich ebenfalls.



[18] angeborener Mangel an Hirnsubstanz

[19] Autismus ist ein Begriff für eine hochgradige Beziehungsstörung zur dinglichen und personalen Umwelt; diese wird meist mit einer zentralen Verarbeitungsstörung der Sinneseindrücke erklärt

Ein Leben mit dem Kind in der Familie oder Heim?

Ulla: Der junge Student, der bei der Gesundheitstags-Veranstaltung so drastisch die Gettos verurteilte, hatte wirklich keine Ahnung davon, wieso so viele Eltern bzw. Mütter auf Jahre gesehen vor die Hunde gehen. So sehr ich weiß, wie beschissen die Großzahl der Heime ist, so wird aber auch mit der Getto-Formel ein neues Tabu auferlegt. Die Überlegungen nach guten, kleinen, kommunalen Heimen wird unterdrückt, und gute Einrichtungen und schlechte werden in einen Topf geworfen. Dazu kommt, daß dies bei mir und bei vielen EItern, denen es genauso geht wie uns, auch weiterhin immer wieder Selbstvorwürfe auslöst. Das darf nicht dazu führen, so meine ich, daß immer wieder versteckt gesagt wird, bevor das Kind ins Getto kommt, mußt du es alleine schaffen, egal wie und unter welchen Bedingungen.

Ingrid: Wie können wir die Situation von uns Müttern in dieser Gesellschaft entscheidend verbessern? Wo gibt es Entlastungsmöglichkeiten? Ich weiß nicht, wie lange ich dieses Leben noch weiterführen kann. Da kommen dann noch Mütter von nichtbehinderten Kindern und fragen: "Wie schaffst du das?" anstatt zu sagen: "Ich mache mit." Mir wird Tag für Tag deutlich gemacht, daß ist dein Kind, das mußt du alleine durchstehen. Abschalten kann ich nur, wenn mir jemand das Kind abnimmt; für ein Wochenende oder einen Abend. Ich habe Angst vor diesen endlosen Wochenenden.

Uta: Bei mir stand von Anfang an fest, daß ich meine Kinder nicht in ein Heim geben will. Bei aller Schwere des Alltags würde ich psychisch draufgehen, schon bei dem Gedanken, meine Kinder wegzugeben. Ich suche immer noch nach einer guten Alternative zum Heim, wie z.B. eine Wohngemeinschaft. Denn es ist mir klar, daß wir es auf Dauer gesehen nicht alleine schaffen.

Cornelia: Bevor ich Jasmin in ein Heim geben würde, weil es für mich alleine nicht mehr möglich ist, sie ständig herumzutragen, würde ich versuchen, Entlastung durch eine Wohngemeinschaft zu bekommen. Ein Heim kommt für mich nur in Frage, wenn ich es körperlich nicht mehr schaffe, Jasmin herumzuschleppen. Ich hoffe jedoch, daß Jasmin zumindest sitzen und krabbeln lernt. Die Vorstellung, Jasmin kann irgendwann laufen, ist für mich unvorstellbar.

Therapie - -?

Ingrid: Die ganzen Therapien, die in letzter Zeit - zu Recht - ins Kreuzfeuer der Kritik geraten sind, hindern uns daran, unsere Kinder mit der Behinderung anzunehmen. Wie bewältigen wir diesen Widerspruch?

Uta: Ich habe mit Vojta angefangen in der Hoffnung, meine Kinder gesund zu therapieren. Da dies nicht eintrat, nichts von den Kindern kam, sie ständig schrieen und ich total entnervt, körperlich und psychisch kaputt war, hörte ich mit Vojta auf. So fing ich mit Bobath an und habe seitdem auch ein Verhältnis zu meinen Kindern bekommen - und sie zu mir.

Ulla: Das erste halbe Jahr war ich davon überzeugt, durch Therapie Sabine zum Sitzen zu bekommen. Es kam nichts. Ich hörte mit der Therapie auf, als ich mein Kind ins Heim gab.

Cornelia: Therapien therapiegerecht durchzuführen erfordert Kraft und Zeit. Der Tagesablauf wird durch Vojta z.B. total bestimmt. Der Gedanke, mein Kind immer und ewig tragen zu müssen, gibt mir jedoch die Energie, weiter zu therapieren.

Integration

Uta und Cornelia: Unsere Kinder werden nie unversehrt und makellos sein, trotzdem sind sie ein Bestandteil unserer Gesellschaft. Solange sie klein sind, finden sie auch die meisten noch süß, und es kommen solche Sprüche wie "Das wird schon noch alles". Merken die Leute aber, daß es nicht so ist, ziehen sie sich mehr und mehr zurück und wollen nichts mehr von uns wissen. Dann sind nicht nur unsere Kinder out, sondern auch wir Eltern und die Geschwisterkinder. Hier beginnt für uns Eltern der Augenblick, mit unseren Kindern wieder auf unsere Umwelt zuzugehen, den Menschen unsere behinderten Kinder in den Arm zu legen und ihnen zu zeigen: Wir brauchen Euch!

Wir können die Ängste der anderen verstehen und müssen von daher unsere Offenheit und Bereitschaft zeigen, andere in unsere Problematik miteinzubeziehen. Wenn wir anderen unsere Kinder in den Arm legen, merken sie, daß es auch Menschen sind. So haben wir den ersten Schritt getan, unsere Kinder von Anfang an der Gesellschaft zuzuführen. Sicherlich werden wir dabei auch oft frustriert, aber wird das nicht jeder von uns mal?

Wir lassen uns nicht isolieren!

(Buchtip des Verlags: "Die programmierte Geburt der Sabine Boeck - Dokumentation einer Auseinandersetzung über Kunstfehler in der Geburtshilfe". Hrsg., Verlag und Vertrieb: Ulla und Pejo Boeck, Düsseldorfer Straße 19, 4600 Dortmund 1. 2. Auflage 1982. 120 Seiten. DM 5,00. Das Buch enthält u.a. Presseberichte, Statistiken und Stellungnahme zur Geburtshilfe so wie die Urteile aus zwei Instanzen.)

Quelle:

Cornelia Bliesner, Uta Lamprecht: Mütter berichten über ihre behinderten Kinder

Entnommen aus: Sie nennen es Fürsorge: Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand; mit Beiträgen vom Gesundheitstag Hamburg 1981 / hrsg. von Michael Wunder u. Udo Sierck. - 2. Auflage; Frankfurt am Main; Dr. med. Mabuse 1987.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 06.07.2006

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