Vorwort

Autor:innen - Michael Wunder, Udo Sierck
Themenbereiche: Eugenik
Textsorte: Buch
Releaseinfo: Entnommen aus: Sie nennen es Fürsorge: Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand; mit Beiträgen vom Gesundheitstag Hamburg 1981 / hrsg. von Michael Wunder u. Udo Sierck. - 2. Auflage; Frankfurt am Main; Dr. med. Mabuse 1987.
Copyright: © Dr. med. Mabuse 1987

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Der Gesundheitstag 1981[1] in Hamburg wurde vielfach als große bunte Wiese kritisiert, auf der alles möglich war. Jeder konnte mit seiner mitgebrachten Anschauung fünf Tage lang von Veranstaltung zu Veranstaltung hetzen, ohne sich nur einmal mit einer gegnerischen Position auseinandersetzen zu müssen. Vieles lief parallel nebeneinander ab. Als Organisatoren haben wir uns dieser Kritik nach dem Gesundheitstag 1981 oft angeschlossen. Deshalb wurde auch sehr bald danach der Beschluß gefaßt, keine flächendeckende Dokumentation aller Veranstaltungen zu erstellen. Dokumentation sollte nur in den Bereichen betrieben werden, die im Vergleich zum Gesundheitstag 1980 bisher vernachlässigt waren oder in denen sich wirklich neue Diskussionen und Einschätzungen ergeben hatten. Die drei tatsächlich erschienenen Sachbücher mit Beiträgen vom Gesundheitstag 1981 (Ruhe oder Chaos[2], Nachtschatten im weißen Land[3] und dieser Band) kamen zustande, weil hier entsprechende Gruppen bereits arbeiteten oder sich bildeten.

Auffallend beim ersten Gesundheitstag 1980 in Berlin war, daß es insgesamt nur zwei Veranstaltungen aus dem Behinderten-Bereich gab. Die Behinderten-Problematik war damit zunächst auch in der neuen Gesundheitsbewegung an den Rand gedrängt. Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Behindertenarbeit, Fragen der Abschaffung der Sonderbehandlung und der Sondereinrichtungen, Fragen der Medizinisierung und der Therapeutisierung des Lebens behinderter Menschen sowie der Kampf gegen Diskriminierung und Benachteiligung behinderter Menschen müssen aber zentrale Punkte in der Diskussion um die Veränderung des bestehenden Gesundheitssystems sein.

Auf dem Gesundheitstag 1981 in Hamburg sind solche Diskussionen und Aufarbeitungen angefangen worden. Das massive Auftreten der Mitglieder der Krüppelgruppen auch in den Foyers und auf den Plätzen zwischen den Veranstaltungsorten führte dazu, daß kaum jemand mehr ganz an dem Problem vorbeigehen konnte. Als Koordinatoren und als Referenten aus dem Raum Hamburg haben wir uns nach dem Gesundheitstag 1981 zusammengetan, um die angefangenen Diskussionen weiterzuführen und zu veröffentlichen. Als Schwerpunkte sahen wir dabei die Aufarbeitung der Zeit des Faschismus (BehinderteMenschen unterm Hakenkreuz), die Auseinandersetzung über die Therapeutisierung des Lebens behinderter Menschen (Wider die Therapiesucht!) und die Selbstdarstellung aus der Krüppelbewegung (Lieber lebendig als normal!).

Jeder dieser drei Hauptteile hat ein eigenes Vorwort, in dem aufgrund unserer Diskussionen in der Redaktionsgruppe die wesentlichen Thesen zum Thema zusammengefaßt sind. Einige zusätzliche Artikel, die nicht auf dem Gesundheitstag 1981 gehalten wurden, haben wir mit herein genommen, weil sie uns für die Auseinandersetzung wichtig erschienen. Dies wird jeweils besonders vermerkt. Aufzeichnungen von Diskussionen in oder nach Veranstaltungen sind nach einigen Referaten eingefügt.

Da wir nicht den Anspruch hatten, den gesamten Gesundheitstag 1981 zu dokumentieren und nach den genannten Schwerpunkten vorgegangen sind, verzichteten wir auf alle Referate, die nicht direkt zum Thema paßten. Referenten mit angrenzenden Themen, deren Beiträge wir nicht aufgenommen haben, bitten wir um Verständnis.

Zum Schluß ein Wort zur Zusammenarbeit von Krüppeln und Nicht-Krüppeln in unserer Redaktionsgruppe. Unserer gemeinsamen Meinung nach hat die Zusammenarbeit geklappt. Dies liegt sicherlich daran, daß wir ein gemeinsames Ziel hatten, das sich auf die Aufarbeitung gesundheitspolitischer Diskussionen beschränkte. Dabei haben sich viele inhaltliche Berührungspunkte ergeben. Wichtig war für uns, die vorhandenen Interessengegensätze zwischen Krüppeln und Nicht-Krüppeln nicht zu verharmlosen, sondern anzuerkennen.

So kam für uns auch der Titelvorschlag zu diesem Buch ("Wehrpflicht für Krüppel") nie in Frage. In der Vergangenheit haben Behinderte allen Ernstes diese Forderung gestellt und sich z.B. der Armee des faschistischen Italiens angedient. Auch in Hitlers Armee wurden Krüppel im "Volkssturm" verheizt. Dieses traurige Kapitel Behindertengeschichte wollten wir auch nicht als mögliche Assoziation im Buchtitel haben.

Krüppelstandpunkte sind in alle drei Schwerpunkte dieses Buches eingeflossen. Krüppelstandpunkte waren und sind für alle geführten Diskussionen wichtig.

Die Redaktion

Quelle:

Michael Wunder / Udo Sierck (hrsg): Sie nennen es Fürsorge: Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand - Vorwort.

Entnommen aus: Sie nennen es Fürsorge: Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand; mit Beiträgen vom Gesundheitstag Hamburg 1981 / hrsg. von Michael Wunder u. Udo Sierck. - 2. Auflage; Frankfurt am Main; Dr. med. Mabuse 1987.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 02.09.2005



[1] Nach dem Berliner Vorbild von 1980 trafen sich zum zweiten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mehr als 16.000 betroffene Menschen im Oktober 1981 fünf Tage lang in Hamburg zur Auseinandersetzung und Diskussion über die Probleme mit dem Gesundheitswesen.

[2] Gesundheitsladen Hamburg e.V. (Hrsg.): Ruhe oder Chaos - Technologie politischer Unterdrückung. Hamburg 1982. Bestelladresse: Bürgerinitiative Umweltschutz Unterelbe, Bartelsstraße 26, 2000 Hamburg 6.

[3] Manfred Brinkmann/Michael Franz (Hrsg.): Nachtschatten im weißen Land. Betrachtungen zu alten und neuen Heilsystemen.Verlag Gesundheit, Berlin 1982.

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