Das Spiel mit der Identität als lebenslanger Entwicklungsprozeß

Themenbereiche: Therapie
Textsorte: Buch
Releaseinfo: Erschienen in: Hans von Lüpke/Reinhard Voß (Hg.) Entwicklung im Netzwerk: Systemisches Denken und professionsübergreifendes Handeln in der Entwicklungsförderung. Centaurus-Verlagsgesellschaft, Pfaffenweiler 1994, S. 82 - 93
Copyright: © Hans von Lüpke, Reinhard Voß 1994

Das Spiel mit der Identität als lebenslanger Entwicklungsprozeß

Jeder zielgerichteten Funktion geht bei ungestörter Entwicklung eine Phase des Erprobens, des Spiels mit Variationsmöglichkeiten voraus. Es kommt darauf an, unter allen realisierbaren Modifikationen diejenige herauszufinden, die der eigenen Individualität entspricht und damit Identität ausdrückt. Dadurch werden die späteren funktionellen Handlungen nichts Beliebiges, allein von der Umwelt veranlaßtes, sondern enthalten auch dort, wo die Umwelt Anpassungen erzwingt, immer noch einen Aspekt von Identität. Das Identitätsgefühl ist der entscheidende Motor für Entwicklung und stellt daher die Grundlage für jede Entwicklungsförderung dar. Voraussetzung für eine solche Entwicklung ist Schutz und Geborgenheit sowie eine Antwort auf eigene Initiativen. Ein Gefühl von Identität kann sich nur im Dialog, in der ständigen Auseinandersetzung mit dem Nicht-Identischen, dem Fremden entwickeln. Jede Beziehung läßt andere Varianten von Identität entstehen. Dieser Prozeß beginnt in der Pränatalzeit und dauert während des gesamten Lebens an.

Anmerkung zu den eingeschobenen Texten: Die Texte von Anna Tardos stammen aus der in deutscher Sprache bisher noch nicht veröffentlichten Arbeit "Der Säugling - ein aktiver Partner". Die Texte stellen (ebenso wie die übrigen eingeschobenen Texte) keinen Kommentar zu meinem Beitrag dar, sondern wurden dort eingefügt, wo sie mir als eine Vertiefung und Konkretisierung der jeweils dargestellten Zusammenhänge erschienen. Sie beziehen sich auf Erfahrungen mit dem von Emmi Pikler initiierten und seit Jahrzehnten im "Staatlichen Methodologischen Institut 'Emmi Pikler' für Säuglingsheime" praktizierten Konzept einer Säuglingspflege, die vom Respekt vor der Autonomie des Kindes und einer behutsamen Begleitung anstelle von Einmischung und Dirigismus bestimmt wird.

Die Konzeptualisierung früher Phasen als Prüfstein für Entwicklungsmodelle

Die Frage nach einem Konzept, das die lebenslange Entwicklung des Menschen darstellen könnte, macht deutlich, daß die traditionellen Phasenmodelle (Bayley, 1969; Frankenburg et al., 1992; Griffiths, 1976; Hellbrügge et al., 1978; Köhler & Egelkraut, 1884; Kiphard, 1987) nur einen kleinen Ausschnitt erfassen. Durch ihre Orientierung an nützlichen, zielgerichteten Funktionen und an einer gradlinig zu immer mehr Vollkommenheit fortschreitenden Entwicklung finden sie vor den ersten 2 - 3 Monaten wenig brauchbare Kriterien und versagen dann wieder, wenn sie sich mit den Veränderungen des Realitätskonzepts im Alter auseinandersetzen müssen. Silbereisen hat in seinem Beitrag ein Konzept vorgelegt, das die Darstellung einer "Psychologie der Lebensspanne" ermöglicht und dabei besonders die im Verlauf des Lebens wirksam werdende Wechselbeziehung zwischen dem Individuum und den sozialen, kulturellen und historischen Wertvorstellungen seiner Umwelt betont. Das ebenfalls an der gesamten Lebensspanne orientierte Entwicklungskonzept von Erikson wurde bei Huschke-Rhein im Rahmen grundsätzlicher Überlegungen zu den Phasenmodellen diskutiert. Hier soll eine andere, von sehr frühen Prozessen ausgehende Perspektive lebenslanger Entwicklung dargestellt werden.

Die Schwierigkeiten im Umgang mit den Äußerungsformen des jungen Säuglings haben Prechtl zu dem Vorschlag gebracht, den Menschen als eine "physiologische Frühgeburt" anzusehen. Er spricht von einem an fetale Charakteristika erinnernden Verhalten, das "vielleicht die oft geäußerte Meinung, menschliche Neugeborene seien hilflose und unreife Geschöpfe, erklärt... Diese begrenzten Möglichkeiten erklären vermutlich die Unsicherheit und leichte Enttäuschung, die einige Mütter, vor allem unerfahrene, im Kontakt mit ihren Kindern spüren. Diese Situation ändert sich dramatisch gegen Ende des 2. Monats, wenn sich zahlreiche Mechanismen entwickeln, die den Säugling offensichtlich befähigen, mit den Bedingungen außerhalb des Mutterleibes besser fertig zu werden und ihn zu einem sozial kompetenteren Partner machen." (Prechtl, 1985, S. 353. Übersetzung vom Autor) Straßburg hat in seinem Beitrag dieses Konzept aufgegriffen, um ein Erklärungsmodell für die erhöhte Irritierbarkeit des Säuglings im Alter von 3 Monaten zu diskutieren. Hier soll zunächst der Frage nachgegangen werden, welche Probleme sich bei Konzepten für die ersten Monate ergeben.

Selbst neuere Autoren, die dem jungen Säugling Kompetenzen in der Wahrnehmung der Umwelt und der Beteiligung an Beziehungen zuschreiben, haben Schwierigkeiten mit der frühen Entwicklungsphase. So stehen für sie in den frühen Stadien immer noch (wie schon für Spitz, 1965) physiologische Regulationsprozesse im Vordergrund. Lichtenberg sprich vom "Motivationssystem der psychischen Regulation von physiologischen Erfordernissen" (Lichtenberg, 1989) und Stern von dem Körper als der ersten Organisationsstufe (Stern, 1992, S. 73). Bei dem Versuch, die subjektive, erlebnismäßige Perspektive des Säuglings darzustellen, gerät Stern mit seinem Konzept vom "Empfinden der auftauchenden Selbst (Emerging Self)" dann in unüberbrückbare Widersprüche. Auf der einen Seite erweckt dieser Begriff die Vorstellung, als seien alle Fähigkeiten schon vorhanden, nur noch nicht sichtbar. Damit versucht Stern den heutigen Kenntnissen über die Kompetenz des jungen Säuglings gerecht zu werden und die Türen dafür offen zu halten, daß sich die bisherige Tendenz in der Säuglingsforschung, immer mehr Fähigkeiten in immer frühere Entwicklungsstadien zu verlegen, fortsetzt. Auf der anderen Seite hält er am Dogma der Stunde Null fest, indem er Entwicklung erst mit der Geburt beginnen läßt. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, dem jungen Säugling eine Zeitspanne zuzugestehen, in der Entwicklungen stattfinden, dem Säugling also noch etwas fehlt. Stern spricht von der noch nicht vorhandenen "Organisation", die er als Voraussetzung für ein Selbstempfinden ansieht (Stern, 1992, S. 73). Formal könnten die Widersprüche in Stern's Konzept der frühen Säuglingsentwicklung dadurch gelöst werden, daß die heute vorliegenden Kenntnisse über die pränatale Entwicklung (Literaturübersicht bei Janus und Maiwald, 1992) einbezogen würden. Die Ausweitung des Phasenmodells in die Pränatalzeit sähe sich jedoch mit der Frage nach der Bedeutung der zu beschreibenden Phänomene konfrontiert. Im traditionellen Konzept ist diese Frage mit dem Aspekt der Funktionalität in der Auseinandersetzung mit der Umwelt geklärt. Vor dem Alter von 2 - 3 Monate gerät das Phasenmodell nicht nur wegen der bislang unzureichenden Auswertung von Fakten zur pränatalen Entwicklung, sondern vor allem wegen der ungeklärten Frage nach deren Bedeutung in Schwierigkeiten. Auch wenn es bereits in der Fetalzeit einen Bedarf für funktionelle Anpassungsprozesse gibt (s. den Beitrag von Silbereisen), insbesonere im Zusammenhang mit der Geburt (Milani Comparetti, 1981), so spielen diese Aspekte im Vergleich zu späteren Lebensabschnitten noch eine geringe Rolle. Der weitaus größere Teil des beim Feten und beim jungen Säugling beobachteten Verhaltensrepertoire ist rein funktional nicht befriedigend einzuordnen.

Das Konzept von der Identität

Diese Überlegungen führen zur Frage nach Alternativen zum Phasenmodell. Huschke-Rhein hat dieses Thema bereits in seinem Beitrag diskutiert und von einer "lebenslangen Problemthematik, ohne daß hierbei bestimmte Phasen angenommen werden", gesprochen. Versteht man "Thematik" im musikalischen Sinn, so könnte man nach einem "Thema mit Variationen" suchen. Ein solches Thema ist "Identität" im Sinne von Jacobson: "ein Prozeß, in dem sich die Fähigkeit bildet, die gesamte psychische Organisation ... als eine kohärente Einheit zu erhalten, die auf jeder Stufe der Entwicklung Gerichtetheit und Kontinuität besitzt." (Jacobson, 1978, S. 38) Winnicott bezeichnet diese Kohärenz mit dem Begriff der "Kontinuität des fortdauernden Seins (continuity of being)", ihre Störung als "impingement" (irreführend meist übersetzt mit "Übergriff": der Aspekt des Eindringens geht dabei verloren), das vom Kind ein Reagieren verlangt anstelle eines eigenen Handelns (Winnicott, 1988, S. 162-130). Eigenaktivität ist für Winnicott von zentraler Bedeutung. Huschke-Rhein diskutiert diesen Aspekt als Prozess der Selbststeuerung (s. seinen Beitrag). Auch bei Stern finden sich in der Beschreibung des "Kern - Selbst" die Eigeninitiative ("Urheberschaft") und die Kontinuität ("Selbst-Kohärenz", "Selbst-Affektivität", Selbst-Geschichtlichkeit"), allerdings erst ab dem Alter von 2 Monaten (vorher nur "auftauchend" !) (Stern, 1992, S. 106).

Die Entwicklung von Identität in diesem Sinn unterscheidet sich nun von Entwicklungen im Rahmen des Phasenkonzepts vor allem dadurch, daß es hier keine Richtung von unten nach oben, keine Unvollkommenheit zu Beginn mit der Erwartung an Vollkommenheit am Ende gibt. Identität ist von vorn herein möglich, ihre Entwicklung verläuft quer zu den geläufigen Entwicklungsstufen: nicht die Frage, "ob" etwas geleistet wird, stellt sich hier, sondern die Frage "wie". An die Stelle des mehr oder weniger mühsamen und verzichtsreichen Lernens tritt das Spiel, das Ausprobieren. Das Spiel mit den unterschiedlichen Möglichkeiten von Bewegung etwa läßt die Varianten herausfinden, die als spezifisch eigene empfunden werden und damit Identität wahrnehmbar machen.

Wir haben festgestellt, daß das Erscheinen einer neuen Bewegung oder Position zugleich auch der Anfang eines neuen Lernprozesses ist. Dieser Lernprozeß dauert oft noch Monate. Der Säugling sucht die neu entdeckte Postion mit der Zeit immer häufiger auf. Interessant ist dabei, daß sich das Üben und Lernen nicht auf die Dauer des Verharrens, sondern in der Häufigkeit ausdrückt, mit der das Kind diese neue Position einnimmt: z.B. nach dem ersten Aufsetzen sucht das Kind immer öfter diese Position auf, wobei die durchschnittliche Dauer des Sitzens im allgemeinen 2 Minuten nicht überschreitet. (Tardos)

Dazu gehört nicht nur der motorische Anteil, die Bewegung selbst, sondern auch die Pause im Sinne einer Zäsur oder rhythmischen Strukturierung (Gidoni, 1989). Dieser Aspekt wurde auch in dem vorangegangenen Beitrag (Gidoni/von Lüpke) diskutiert. Viele Mütter bemerken Ähnlichkeiten zwischen den Bewegungen, die sie während der Schwangerschaft gespürt haben, und denen des Säuglings. Piontelli (1996) konnte diese Kontinuität durch den Vergleich zwischen Ultraschallbildern während der Schwangerschaft und der Beobachtung des Kindes in verschiedenen Lebensaltern belegen.

Die Entscheidung über Bewegung und Ruhe, über die "Gestalt" seines Verhaltens, trifft das Kind. Seine Initiative führt zur Auseinandersetzung mit der Umwelt. "Auseinandersetzung" beschreibt hier im eigentlichen Wortsinn den Beginn von Trennungsprozessen, von der Loslösung aus einem Zustand primärer Einheit. Diese Entwicklung geht mit Gefahren und Ängsten einher. Auf der biologischen Ebene bedeutet Trennung das unmittelbare Ende des Feten, für den Säugling den baldigen Tod nach Aufbrauchen der geringen Reserven. Auf der Phantasie-Ebene löst Trennung jene Angst aus, die Winnicott beschreibt: "Die unvorstellbare Angst hat nur wenige Varianten, von denen jede der Schlüssel zu einem Aspekt der normalen Entwicklung ist: 1. Zusammenbrechen, 2. unaufhörliches Fallen; 3. keine Beziehung zum Körper haben; 4. keine Orientierung haben." (Winnicott, 1962, S. 74). Wie ist es möglich, daß Trennung einmal die Entwicklung von Identität fördert und dann wieder die "Beziehung zum Körper" blockiert ? Hier deutet sich eine dialektische Beziehung an, ein Zusammenspiel von Angst und Entwicklung, Gefahr und Kreativität. In jedem Fall setzt die Entwicklung von Identität einen weiteren Kontakt, eine Interaktion, einen Dialog (Milani Comparetti Dokumentation, 1996) voraus. Aus der Einheit wird Nähe, aus Trennung Distanz, eine Wechselseitigkeit von Handeln und Reagieren, Initiative und Sich-fallen-lassen entwickelt sich. Motorik wird ein Mittel zum Dialog, zur Psychomotorik im Sinne von Milani Comparetti (Milani Comparetti, 1982; Dokumentation 1996).

Geschehen-Lassen setzt Vertrauen in eine bergende und schützende Umwelt voraus.

Der Säugling benötigt eine Sicherheit bietende Beziehung, die ihm die Empfindung der Geborgenheit und Wärme vermittelt. Nur in dem daraus resultierenden emotionalen Zustand der Sicherheit und des Wohlbehagens hat er Lust und ist er fähig, selbständig zu handeln und zu lernen, d.h. etwas neues auszuprobieren, zu riskieren.Für die Charakterisierung der Untrennbarkeit der Autonomie des Kindes und der Mutter-Kind-Beziehung ist es jedoch nicht genug zu sagen, daß die Entfaltung der Autonomie eine zusätzliche vorteilhafte Möglichkeit zu lernen für das Kind ist, die aus seiner guten Beziehung zum Erwachsenen entsteht. Wenn der Erwachsene nämlich die Bedeutung der aus eigener Initiative selbständig ausgeführter Tätigkeit erkennt und akzeptiert, beeinflußt das auch tiefgreifend und grundlegend die Beziehung zwischen dem Säugling und seinen Eltern. (Tardos)

Das Spiel mit den eigenen Möglichkeiten, das Erproben, ist nur denkbar, solange keine Gefahr droht. So können die fetalen Atembewegungen als eine solche Erprobung verstanden werden. Setzen sie vorübergehend aus, so bedeutet das kein Risiko. Nach der Geburt wäre dies gleichbedeutend mit Ersticken. Die Strampelbewegungen des Säuglings können gefahrlos variiert werden, später birgt gezieltes Greifen, Aufrichten oder Laufen das Risiko des Scheiterns, wenn die Bewegung nicht den vorgegebenen physikalischen Gesetzen gerecht wird. Spitzer (1996) betont für die Entwicklung semantischer Netzwerke im Gehirn, daß es bei drohender Gefahr nicht zum "kreativen Herumprobieren" kommt und daß sich in dieser Situation anstelle "ungewöhnlicher Assoziationen" lediglich "Standardassoziationen" entwickeln.

Das Konzept der Erprobung endet nicht mit dem Säuglingsalter. Wir finden es beim Kleinkind wieder, wenn es seinen Willen in der Auseinandersetzung mit der Umwelt erprobt. Es ist ein Element im Spiel mit der Puppe als einer Vorbereitung auf die spätere Versorgung des Kindes. Hier zeigt die Erfahrung besonders dramatisch, was ein Ausbleiben der Erprobungszeit bedeuten kann. Wir kennen Mütter, die erst mit ihren eigenen Kindern jene Erprobungsphase durchmachen, die sie eigentlich mit Puppen hätten hinter sich bringen müssen. Die Folgen sind Vernachlässigung und Mißhandlung (Berger, 1987). Nur die Puppe kann gefahrlos wochenlang ohne Nahrung bleiben, gegen die Wand oder aus dem Fenster geworfen werden.

Die Pubertät ist noch einmal ein Höhepunkt im Erproben von Abgrenzung, Trennung, Autonomie und der Suche nach Identität.

Nicht zufällig sind die wichtigsten Kampfplätze der Kindheit das Essen, die Kleidung und die Einrichtung des Zimmers (Thema Aufräumen!). Diese Themen setzen sich fort in der Beschäftigung mit all dem, was nicht zufällig unter dem Begriff "Geschmack" zusammengefaßt wird: Auseinandersetzung mit der Mode (Garderobe, Schmuck, Haarfarbe, Parfum, Wohnungseinrichtung), Eßgewohnheiten, Freizeitgestaltung, Berufswahl, Partnerschaft, eigene Familie, Kinder. Verkleiden, Rollenspiele, vergleichene Bewertung der Lebensschicksale anderer, die spielerische Identifikation mit anderen Personen (Eltern, Lehrer, Stars, Romanfiguren) gehören zum Spiel mit der Identität. Der Erwachsene setzt dieses Spiel mit seinen individuellen Schwerpunkten fort.

Die gesamte Orientierung nach außen kann als eine ständige Bewegung zur Identitätsfindung verstanden werden, nicht nur die großen lebensbestimmenden Entschlüsse, auch die unendliche Vielzahl der Entscheidungen im Alltag, die meist als solche garnicht wahrgenommen werden, deren Resultate aber mit darüber entscheiden, was schließlich als "Stimmung" gespürt wird. Die grundlegende Paradoxie kann auf die Formel gebracht werden: Identität ist nur wahrnehmbar im Spiel mit dem anderen, dem Nicht-Identischen. Wenn sie nur durch ständige Bewegung wahrgenommen werden kann, ist sie dann nicht selbst etwas Bewegliches, sich ständig Wandelndes? Ist sie vielleicht auch der eigenen Person nur ansatzweise zugänglich, auch ihr ein Stück weit Geheimnis, wie ein Partner dem anderen im Dialog? (Milani Comparetti, 1986; Dokumentation, 1996). Hier scheint ein für die Entwicklung wichtiger Antrieb, eine Art Motor zu liegen: Die Spannung, die zur Suche nach dem Neuen, Unbekannten treibt, gewinnt ihre eigentliche Kraft daraus, daß die Entdeckung in der Außenwelt immer auch einen neuen Aspekt der eigenen Identität enthüllt. Vielleicht ging es Columbus mehr um seine Identität als um den neuen Weg nach Indien.

Widersprüche, Krisen, Paradoxien, starke Gleichgewichtsschwankungen - diese zunächst mathematischen Parameter von chaotischen Systemprozessen sind zugleich auch Beschreibungsgrößen für die Entwicklung psychischer Systeme. Kreativität ist garnicht ohne solche Begriffe beschreibbar, und wir können darüber nachsinnen, ob nicht alle Kinder, solange sie psychisch "lebendig" sind, mit solchen Begriffen beschrieben werden sollten. (Huschke-Rhein)

Eine solche lebenslange Beweglichkeit ist aber nicht Realität. Abhängigkeit von politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen, persönliche Bindungen und Konflikte blockieren oder unterbrechen Entwicklungen. Wie schon erwähnt, können Probephasen nur in einem geschützten Rahmen, auf der Basis eines Gefühls von Sicherheit ablaufen. Schon im Mutterleib ist diese Sicherheit nicht garantiert. Ängste der Mutter, auf hormonalen und vielfältigen anderen Wegen übertragen, plötzliche Lageverändeerungen, akustische Schocks, die den beruhigenden gleichförmigen Grundrhythmus der Herz- und Gefäßgeräusche der Mutter durchbrechen und im Gegensatz zu den synkopischen Bewgungen des Kindes nicht von diesem hervorgebracht sind, können als Einbruch, als Überwältigung von außen und damit als Verlust der Sicherheit garantierenden Kontinuität, als "impingement" im Sinne von Winnicott erlebt werden. All das läßt bereits den Fetus Erfahrungen mit Erschrecken und Angst machen. Dazu kommt die schon erwähnte, mit Entwicklung als Trennungsprozeß verbundene Angst. Nicht selten sind krisenhafte Zuspitzungen, Labilitäten oder Regressionen Ausdruck dieser Angst und damit gleichzeitig Vorboten eines neuen Entwicklungsschritts. Nun ist die Fähigkeit, solche Angst zu tolerieren und für Integrationsprozesse fruchtbar zu machen, sehr unterschiedlich. Balint spricht von der Beziehung zum "thrill", jener etwa auf dem Jahrmarkt erlebten Mischung von Angst und Lust (als "Angstlust" übersetzt) und unterscheidet als Extremvarianten die "Philobaten" mit ihrer Lust an Spannung, Abenteuer und dem Gefühl der "freundlichen Weiten" von den "Oknophilen", die jede Änderung meiden und immer das Bedürfnis haben, sich an einen Halt zu klammern. Pränatale Erfahrungen, durch spätere Ereignisse verstärkt oder abgeschwächt, dürften auch hier wieder die Grundlage bilden. Die Angst vor unkalkulierbaren Veränderungen kann als oknophiles Verhalten dazu führen, daß der Halt bei anderen Menschen gesucht wird. Dadurch verzögert sich die Abnabelung von der Herkunftsfamilie, Partnerschaftsbeziehungen werden von ängstlich mißtrauischem Anklammern bestimmt. Fromm (1972) spricht von einer "regressiven Lösung" des Problems Entwicklung, bei der vorgeburtliche Abhängigkeiten symbiotisch als Abhängigkeit von anderen Menschen weitergelebt werden. Manche nutzen vorgegebene Strukturen wie Parteien, Orden oder militärische Gruppierungen, um Halt zu finden. Anstelle individueller Identität wird eine Gruppen-Identität gesucht. Fixierte Rituale - wie etwa das Marschieren - machen deutlich, daß Erprobung durch Variationen hier nicht mehr gefragt, im Gegenteil: mit schärfsten Sanktionen belegt ist.

Im Kontext der Beziehungen ist diese Beschreibung allerdings unvollständig. Sie wird der Vielfalt der wechselseitigen Verflechtungen, ihrer Komplexität nicht gerecht. Zuschreibungen durch die Familie können die Entwicklung von Identität bestimmen, etwa im Falle eines "Ersatzkindes" nach dem Tod eines Kindes oder anderen Trennungs- und Verlusterfahrungen. Solche Zuschreibungen beginnen schon mit der Wahl des Namens, je nach dem Ausmaß der Anpassung des Kindes entwickeln sich verstärkte Bindungen oder es kommt zur Ablehnung.

Identität ist also nur im Kontext von Beziehungserfahrungen vorstellbar. Es scheint keine vorgegebene, zunächst verborgene Identität zu geben - eine Art "Identität pur" - , die sich im Verlauf des Lebens allmählich enthüllt (oder auch nicht). Immer wieder ist zu beobachten, daß jede neue Beziehungskonstellation - sei es durch Verlust oder neue Kontakte - ihrerseits neue Varianten von Identität zur Entwicklung bringt. "Erfolgreiche" Kinder zeigen Auffälligkeiten, wenn der Problem-Bruder, die Problem-Schwester aus der eingespielten Rolle herauswachsen, die elterliche Sorge nicht mehr ausschließlich auf sich ziehen, eigene "Erfolge" vorzuweisen beginnen (von Lüpke, 1996). Manche Kinder holen dann nach, was ihnen bisher entgangen war: umsorgt werden, sich nicht mehr durch Erfolge beweisen zu müssen. Andere entwickeln Fähigkeiten, die bis dahin der Domäne des Geschwisters, des Partners angehört hatten. Polarisationen können aufgehoben werden: der bisher auf Optimismus festgelegte Vater darf erstmals auch seine Sorge zeigen. Kann unter diesen Umständen überhaupt von "Identität" als Eigenschaft eines einzelnen gesprochen werden, löst sich der Begriff nicht zunehmend auf? Wieder zeigt sich die schon erwähnte Wechselseitigkeit von fremd und eigen. Identität wäre, so gesehen, am ehesten mit Begriffen aus der Musik zu beschreiben. Der einzelne Ton ist zwar unverwechselbar, verwandelt sich aber je nach der Melodie, der Harmonie, dem Rhythmus (von Lüpke, 1998). Die Untrennbarkeit von Regelhaftigkeit und Unvorhersehbarkeit führt zurück zur Chaos-Theorie (s. Huschke-Rhein in diesem Band).

Bevor ich zu den Konsequenzen komme, muß noch ein Konzept von Probephasen erwähnt werden, das wieder zum Ausgangspunkt, der Motorik, zurückführt. Es ist Freuds Vorstellung vom Denken als Probe-Handeln. "Das Denken ist ein probeweises Handeln mit kleinen Energiemengen, ähnlich wie die Verschiebung kleiner Figuren auf der Landkarte, ehe der Feldherr seine Truppen in Bewegung setzt." (Freud, 1932, S. 524) Also auch hier die Erprobung in einem risikofreien Raum. Für Freud ist das Denken eine der wichtigsten Funktionen des Ich. Der Zusammenhang zur Motorik stellt sich her, wenn Begriffe, die Denkprozesse darstellen, auf ihre wörtliche Bedeutung hin durchsichtig gemacht werden: wir verstehen, begreifen, machen Gedankenschritte, nähern uns einem anderen an oder entfernen uns von ihm, nehmen einen Faden auf oder verlieren ihn, gehen einen Schritt weiter oder machen Gedankensprünge etc. Die Symbolisierung im sprachlichen Kontext führt zu Konsequenzen: das gedankliche Probe-Handeln kann nicht nur dem realen Handeln vorausgehen, es kann dieses Handeln im Sinne der Sublimierung ersetzen, zum Handeln sogar unfähig machen.

Konsequenzen für Entwicklungsmodelle und für die Rehabilitation

1. Ist das Spiel mit der Identität eine entscheidende Triebfeder für Entwicklung, dann bleibt eine Bewertung anhand von quantitativen Daten über den zeitlichen Verlauf ("Meilensteine") oder die Lösung vorgegebener Testaufgaben immer unzureichend. Das bedeutet nicht, daß die Ermittlung solcher Daten grundsätzlich sinnlos ist. Diese Daten haben einen engen Bezug zu gesellschaftlichen Erwartungen an ein Kind und damit zu seinen Chancen und Risiken in dieser Gesellschaft. Sie lassen jedoch nicht erkennen, in welchem Maße ein Kind sich in der Test-Situation als handelnd oder als reagierend empfindet. Bloßes Reagieren kann bedeuten, daß es ein "falsches Selbst" im Sinne von Winnicott (Winnicott, 1960) entwickelt hat, d. h. angepaßt an die Wünsche der Umwelt funktioniert, dabei aber sein "wahres Selbst" (seine Identität) verborgen, ohne Kontakt mit der Umwelt und damit auch ohne Entwicklungschancen bleibt. Dieses Spiel wird unter Zustimmung der Umgebung so lange fortgesetzt, bis ein immer stärker werdendes Gefühl von Sinnlosigkeit und Leere (als Ausdruck der Entfremdung) zum depressiven Zusammenbruch führt. Vergleichsweise gesünder sind Kinder, die aus Protest dagegen jede Entwicklung verweigern. Analog stellt der Kinderneurologe Ferrari für Kinder mit zerebralen Bewegungsstörungen fest: "Man kann den Verzicht auf die Opposition des Kindes gegenüber der Behandlung nicht als Ausdruck von Beziehung und Fortschritt betrachten oder es als Mittel zur Persönlichkeitsformung bzw. zur Steigerung des Selbstwertgefühls ansehen. ... Um eine Aufgabe zu erfüllen, handeln sie (die Kinder, v.L.) im vornhinein eine äußere Belohnung aus, die ihnen Befriedigung verheißt. Die Befriedigung können sie aufgrund von Wahrnehmungsunbehagen, Willensanstrengung, Verlust an Freude, Depression oder Angst innerlich nicht empfinden. Früher oder später kommt der Tag, an dem es keine Belohnung mehr gibt, die ihnen das verspürte Unbehagen entlohnt, und es kommt zum Stillstand. Es ist leichter vorauszusehen, daß ein Kind mit 8 Jahren in der Lage ist zu gehen, als sicher zu sein, daß es dies auch mit 18 Jahren noch kann (Ferrari & Cioni, 1998, S. 70). Für Winnicott (1953) hat selbst die Desintegration der Psychose noch den gesunden Aspekt, daß sie vom Patienten selbst herbeigeführt wird. Für die Beurteilung von Entwicklung wird also weniger entscheidend, wie ein Kind sich in einer standardisierten Situation verhält, sondern wie es in ganz unterschiedlichen Situationen seine "Leitmotive" variiert, modifiziert. Das wäre gleichermaßen im motorischen Bereich wie in dem der Wahrnehmungen zu untersuchen, jeweils unter dem Aspekt der Autonomie wie unter dem der Beziehungsfähigkeit. Ein Beispiel für ein solches Konzept sind die Noferi-Kriterien der Entwicklung (Dokumentation Milani Comparetti, 1996), als Beispiel für eine am Respekt vor der Autonomie des Säuglings orientierten Praxis das von Emmi Pikler initiierte Modell in Budapest (Pikler, 1988; Tardos, 1092).

Für den Außenstehenden fällt als Veränderung in der Beziehung als erstes auf, was wir nicht tun. Unsere Betreuerinnen oder in der Familie die Eltern, die Erwachsenen verzichten auf gewisse, sonst übliche Interventionen, sie nehmen das Kind nicht auf, wann immer sie Lust dazu haben, sie tragen es nicht den ganzen Tag auf dem Arm herum, sie bieten ihm nicht willkürlich Spielzeug an, wenn es ihnen gerade einfällt, sie setzen es nicht auf, stellen es nicht auf, führen es nicht an der Hand herum und spornen es zu irgendwelchen Bewegungen an. Dieses Unterlassen allein löst viel Widerstand aus. Die "Verbote", die für uns keine Verbote sind, sondern Ausdruck unseres Respektes vor der Autonomie des Säuglings, halten wir für begründet, weil wir annnehmen, daß es auch im Leben des allerjüngsten Säuglings schon Situationen gibt, in denen sie gestört sein können. (Tardos)

Die Bedeutung der festen Basis, des schützenden Raumes, der Sicherheit bietenden Beziehung für die Entwicklung von Identität stellt auch für entwicklungsfördernde Maßnahmen den Aspekt der Beziehung in den Vordergrund. Auch bei Professionellen (etwa in der Krankengymnastik) ist es möglicherweise weniger die Technik, sondern die immer auch bestehende Beziehung, die über das Ergebnis entscheidet. In der Regel wird dieser Zusammenhang allerdings nicht thematisiert, was zu vielfältigen Mißverständnissen führen kann. Selbsterfahrung, etwa im Rahmen von Balint-Gruppen, bietet die Möglichkeit, dieses Dilemma zu überwinden. Bei dem von vorn herein nicht als "Technik" angelegten Konzept der Haptonomie von Veldman (Veldman, 1989) wird jede Manipulation vermieden und stattdessen ein bestätigender Kontakt hergestellt. Dieser Kontakt bestärkt (schon von der Schwangerschaft an) die "sécurité-de-base", die Basis-Sicherheit als Voraussetzung für eine freie Entfaltung der eigenen Möglichkeiten, d.h. der Entwicklung von Identität.

2. Störungen, "Symptome", sind nicht nach ihrer Abweichung von einer vorgegebenen Norm zu bewerten, sondern nach ihrer Funktion im Balance-Akt zwischen Sicherheit und Bewegungsfreiheit. Als Beispiel dafür seien Kinder mit zerebralen Bewegungsstörungen genannt, bei denen eine Schwäche in der Aufrichtung gegen die Schwerkraft besteht (hypoposturale Form der Infantilen Zerebralparese). Zu dieser Gruppe rechnet Ferrari die "Cado-cado"-Kinder. Es sind Kinder, die von der Angst beherrscht werden, daß Sie fallen. Ferrari interpretiert diese Angst als Ausdruck einer Motorik, die in der fötalen Entwicklung, in der "Schwimmphase" stehen geblieben ist und auf den extrauterinen Raum nicht angemessen reagieren kann. Das Kind "hat das Gefühl, vom Eigengewicht erdrückt zu werden, es glaubt abzustürzen...". Es "ist nicht fähig, den inner- vom außerpersönlichen Ruam und den wahrgenommenen vom Wirkungsraum zu trennen. Der Außenraum wird in verzerrter Weise erlebt und verinnerlicht, das Kind kann den eigenen Körper nicht innerhalb der eigenen Haut eingegrenzt erleben. ... Der nackte Körper führt bei ihnen (den Kindern) zu Angst und Verzweiflung. ... Die Spastizität ist ein Versuch des Kindes, sich gegen die Schwerkraft aufzurichten." (Ferrari & Cioni, 1998, S. 76f.). "Dem Kind fehlt die Synthese des eigenen Ich und das erhöht die Angst der Explosion seines Körpers, d.h. daß Teile seines Körpers sich von ihm entfernen. Die Spastizität wirkt wie ein Klebstoff, der alles zusammenhält." (Ferrari). Angst kann so zum Hindernis für Entwicklung werden: statt der mit Entwicklung verbundenen Trennung überwiegt wiederum (wie schon bei Balint's "Oknophilen") die Suche nach Nähe, die Verschmelzung mit der Mutter". Die Nachbarschaft zwischen dem Neurologen Ferrari und Analytikern wie Balint oder Winnicott dokumentiert eindrucksvoll die Tatsache einer psychosomatischen Einheit, die jede Aufspaltung in rein somatische und rein psychische Behandlungsmethoden von vorn herein als unsinnig entlarvt.

Die Konsequenzen für Therapie/Förderung führen schließlich zum Bild vom Kind. Wir sehen nur, was in unserer Vorstellung schon existiert. Eltern, die davon überzeugt sind, daß ein junger Säugling noch nichts sieht, fragen lieber den Arzt, ab wann denn ein Säugling sehen kann, anstatt zu beobachten, wie intensiv ihr Kind sie bereits fixiert. Die von Prechtl erwähnte Enttäuschung mancher Eltern im Kontakt mit ihrem jungen Säugling ist durch die Erwartung an ein bestimmtes Funktionieren bedingt. Nicht nur Eltern, auch die Professionellen haben ihre Bilder, ihre bewußten und vor allem auch unbewußten Erwartungen an das Kind, deren Wurzeln bis in die eigenen frühen Beziehungs- und Verlust-Erfahrungen reichen (das entspricht dem Konzept des "phantasmatischen Kindes": Lebovici, 1986; Soulé, 1990). Nicht selten sind diese Bilder hinter dem Anspruch auf Objektivität verborgen. Umso erbarmungsloser können die Konsequenzen sein. Pädagogik wird zu jenem Gewaltakt, den das Wort "Erziehung" sprachlich enhüllt. Therapie beginnt mit dem ominösen Satz: "Und jetzt wollen wir mal..." Auch die Eltern bleiben nicht verschont: das Angst-Bild vom Kind ("oder wollen Sie etwa, daß Ihr Kind später im Rollstuhl sitzt?") soll sie gefügig machen. Dabei liegt das Problem nicht im Vorhandensein von Bildern, im Gegenteil: ohne Bilder gibt es möglicherweise keine Beziehung. Das zeigt sich bei der von Kreisler (1990) beschriebenen "Säuglingsdepression". Mütter ohne ein "phantasmatisches Kind" versorgen den Säugling technisch perfekt, sind aber emotional abwesend. Die Säuglinge können dann Deprivationserscheinungen zeigen, die den von Spitz (1974) bei der "anaklitischen Depression" beobachteten vergleichbar sind.

Entscheidend ist die Bereitschaft auch bei den Professionellen, eigene Bewertungen nur als ein Bild zu behandeln; die Bilder der Eltern und das Bild, das vom Kind präsentiert wird, zu respektieren und nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung anzusehen. Wieder wird die Diskrepanz, nicht die weitestmögliche Übereinstimmung von Erwartung und Vorgefundenem zum entwicklungsfördernden Faktor. Erst die Fähigkeit, Diskrepanzen zur Erwartung zuzulassen, schafft einen Raum für Probephasen im eigenen Bild von Entwicklung, für jene Bereitschaft, sich immer wieder überraschen zu lassen, neugierig zu sein, kreativ im Sinne der Aufwärtsbewegung der Spirale im Dialog (Milani Comparetti Dokumentation, 1996). Gleichzeitig ist jedes Bild unvollständig, ergänzungsbedürftig, wie die "Zeichen" im französischen Strukturalismus: "Die Beziehung zwischen Zeichen und Objekt, auf das verwiesen wird, ist eine besondere: das Verweisende fällt nicht zusammen mit dem, worauf es verweist. Es ist nur ein Zeichen des Objekts. Da bei einem Zeichen das verweisende Objekt nicht mit dem sogenannten ursprünglichen Objekt zusammenfällt, gibt es keine vollständige Repräsentation: das Zeichen bringt nur in einer unvollständigen Art und Weise dasjenige, auf das es verweist, in die Präsenz, in die Anwesenheit. Es schließt gegenüber dem, was es zeichnet und bezeichnet, ein Defizit ein. Aber gleichzeitig stiftet ein Zeichen auch etwas Neues: es repräsentiert auch ein zuviel, ein Supplement gegenüber dem, was es repräsentiert. Dies kann anhand des Beispiels einer Metapher verdeutlicht werden: wenn ich von jemand sage: 'er ist ein Hund', um damit seine Unterwürfigkeit zu bezeichnen, dann kann ich nicht vermeiden, daß diese Aussage noch viel mehr bedeuten kann; Bedeutungen, die ich gar nicht gemeint habe; meine Aussage entschlüpft mir. Die Metapher ist richtig, unzulänglich und übermäßig." (de Vooght, 1987) Die Unzulänglichkeit der Metapher bezeichnet ihren kreativen Aspekt: die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem wird in der Beschreibung von Entwicklungsprozessen zur Differenz zwischen vorgegebenen Erwartungen und den unvorhersehbaren Varianten jener Suchbewegungen, die sich am Ideal von Identität orientieren, ohne je mit ihm deckungsgleich zu werden. Damit entgehen sie der Gefahr des Stillstands. So schützt die Metapher aber auch das Geheimnis des Partners im Dialog, sie "macht eine Anspielung auf das Geheimnis und verbietet weiter zu gehen" (Gidoni/von Lüpke). Dies erscheint mir als der Boden, auf dem Wachstum, Entwicklung und Rehabilitation möglich werden.

Kommentar Huschke-Rhein:

Ich bin mir nicht sicher, ob der Schluß mit dem Hinweis auf den französischen Strukturalismus geeignet ist, das 'Thema des Bildes' zu vertiefen, oder ob hier nicht ein Hinweis auf den Konstruktivismus (bzw. die konstruktivistische Systemtheorie) glücklicher wäre. Während zumindest der deutsche Leser mit 'Bild' doch eher 'Abbild' assoziiert und damit die Suggestion oder Illusion der Übereinstimmung mit dem Original (hier: Kind) ja deutlich ist, assoziieren wir mit 'Zeichen' eher die Differenz zum Original und meinen, daß das Zeichen 'nur' ein Hinweis auf das ansonsten für sich selbst existierende Original sei. Beides jedoch erscheint mir im Blick auf die hier vertretene Argumentationslinie unangemessen: Wie sollen sich die Erzieher, Eltern usw. ja eben der Vorläufigkeit ihrer Bilder bewußt bleiben? Ich denke, das Entscheidende ist, daß es überhaupt kein an sich seiendes Objektives hier gibt, sondern unsere Bilder immer unsere 'Konstruktionen' sind und bleiben - notwendigerweise und unvermeidbarerweise. Wir können gar nicht abschließend und objektiv wissen wie jemand 'wirklich' ist; vielmehr können wir sogar jemanden durch unsere Konstruktion (unser gutes 'Bild' von ihm) geradezu 'weiterdenken', weiterkonstruieren. Ich denke, der Objektivismus der abendländischen Denkweise steckt uns noch so tief in den Knochen, daß wir wohl insgeheim nicht aufhören daran glauben, daß wir nach der Anwendung besserer und exakterer Methoden immer genauer herauskriegen können, wie einer 'wirklich' ist, d. h. wir arbeiten insgeheim immer noch an der Perfektionierung seines Bildes weiter. Dies ist ja gerade auch die Kritik des (französischen) Poststrukturalismus am Strukturalismus, nämlich daß die Theorie (das Zeichen; das Bild) immer unzureichend, insuffizient als Hinweis auf die Realität sei, die ihre eigene, widerständige Dignität habe und auch nicht durch Zeichen oder Bilder einzuholen sei. Die Theorie des systemischen Konstruktivismus kann jedenfalls an dieser Stelle gut deutlich machen, daß wir unsere konstruierende Beobachterposition nicht verlassen können.

Quelle:

Erschienen in: Hans von Lüpke, Reinhard Voß (Hg.) Entwicklung im Netzwerk: Systemisches Denken und professionsübergreifendes Handeln in der Entwicklungsförderung. Centaurus-Verlagsgesellschaft, Pfaffenweiler 1994, S. 82 - 93

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Stand: 04.05.2006

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