Entwicklung im Netzwerk

Systemisches Denken und professionsübergreifendes Handeln in der Entwicklungsförderung

Themenbereiche: Rezension
Textsorte: Rezension
Releaseinfo: Entnommen aus: Frühförderung interdisziplinär - Heft 1/1995
Copyright: © Hans von Lüpke, Reinhard Voß 2000

Titelseite:

Buchinformationen:

AutorIn/Hrsg.: Herausgegeben von Hans von Lüpke und Reinhard Voß

Titel: Entwicklung im Netzwerk. Systemisches Denken und professionsübergreifendes Handeln in der Entwicklungsförderung

Infos: 3. Auflage 2000, 220 Seiten, kartoniert, DM 34,80 / ÖS 254,00 / SFR 34,80; ISBN 3-472-04418-7 HLV

Themenbereich: Pädagogik Theorie und Praxis

Kurzbeschreibung:

Herausgegeben von Dr. Hans von Lüpke, Kinderarzt und Psychotherapeut und Dr.

Reinhard Voß, Lehrer. Diplom-Pädagoge, Familientherapeut (IGST), arbeitet als Professor

für Schulpädagogik an der Universität Koblenz-Landau. Campus Koblenz.

Buchbesprechung von Martin Thurmair (zur 1. Auflage)

Dieses Buch ist Resultat von interprofessioneller Kooperation medizinischer, medizinisch-therapeutischer, psychologischer und pädagogischer Berufsvertreter um das gemeinsame Anliegen des Verstehens von Entwicklung und der geeigneten Interventionen, wenn Entwicklungsverläufe danach verlangen.

Nach einer Einleitung, in der v. Lüpke und Voß das Thema des Buches "Entwicklung im Netzwerk - im Netzwerk der Entwicklung" vorstellen und aus der Systemischen Perspektive erläutern, folgen verschieden Beiträge in 4 Abschnitte gegliedert.

Der erste Abschnitt befaßt sich mit eher grundlegenden Fragen in der Analyse von Entwicklung. Silbereisen skizziert mit seinem Thema "Entwicklung, Person, Kontext: Theoretische Grundsätze und empirische Beispiele" Entwicklungsmodelle, inhaltliche wie zeitliche Entwicklungsnormen und personenbezogene wie umgebungsbezogene Merkmale von Entwicklung. "Entwicklung als Aufgabe ökosystemische Selbststeuerung" von Huschke-Rhein geht auf das Verhältnis von Selbststeuerung und Fremdeinwirkung in der Entwicklung ein, bespricht Kontinuitäts- und Diskontinuitätsmodelle, skizziert einen Entwicklungsbegriff, der Systembildung über Brüche und Diskontinuitäten zu verstehen versucht, und deutet einige pädagogische Konsequenzen an. Voß nimmt in seinem Beitrag "Der andere Weg: Perspektiven professionsübergreifender Verständigung und Zusammenarbeit" das Thema auf, daß Umwelten für die Entwicklung dann förderlich sind, wenn sie "ko-kreativ" an Entwicklungsprozessen mitwirken; das daraus folgende Anliegen, interprofessionelle Verständigung zu praktizieren und voranzubringen, erläutert er konkret an der systemischen Konsultation als Einzelintervention und der Stadtteilkonferenz als einer gemeindebezogenen Gestaltungsform.

Im zweiten Abschnitt sind eher konkrete Analysen von Entwicklungsprozessen versammelt:

Straßburg stellt die Notwendigkeit dar, "Von einer reflexorientierten zu einer mehrdimensionalen Entwicklungsbeurteilung" zu kommen. Er befaßt sich mit dem gegenwärtigen Stand insbesondere der medizinischen Entwicklungsbeurteilung und ihren Problemen und Verkürzungen, problematisiert die Bedeutsamkeit ihrer Ergebnisse für den langfristigen Entwicklungsverlauf und führt an eigenen Beobachtungen vor, wie individuell Entwicklungsverläufe auch unter riskanten Bedingungen gesehen werden müssen. Gidoni und v. Lüpke gehen in ihrem Beitrag "Fetale Bewegung und Ruhe - Konsequenzen für Entwicklungsmodelle" auf das Studium der Bewegung des Feten ein; die Bedeutungsdimension dieser Tätigkeit, aber auch die Bedeutungsmomente, die der Beobachter in die Situation einbringt, kommen darin zur Sprache. Damit verbunden ist die Frage, welche Art von Verstehen von Entwicklung und Einflußnehmen auf Entwicklung grundgelegt werden soll. "Das Spiel mit der Identität als lebenslanger Entwicklungsprozeß" (v. Lüpke) faltet die Idee aus, daß Entwicklungsprozesse als Prozesse der Identitätsbildung angesehen werden können, was die Möglichkeit eröffnet, fortschreitende Entwicklung - metaphorisch gesprochen - als "Thema mit Variationen" zu betrachten. Als Triebfedern einer solchen Ausgestaltung von Identität im Lebenslauf können Abgrenzung, Trennung, Autonomie, gelten; risikofreie oder risikoarme Probehandlungen sind konstitutiver Bestandteil des Gelingens solcher Prozesse, vom Leben in utero an.

Abschnitt III befaßt sich mit dem Zusammenwirken von Umwelten und Subjekten. Haugh-Schnabel zeigt in ihrem Beitrag "Kindliche Entwicklung und interprofessionelle Kooperationen im Kontext der Lebenswelt" am Beispiel der Sauberkeitserziehung auf, wie Erziehung/Förderung/Training mit einem Prozeß eigener innerer Dynamik verschränkt werden kann, was Entwicklung gelingen läßt; wie aber auch in einen solchen Prozeß eingegriffen werden kann, so daß daraus ein Problem entsteht. Aly thematisiert in "Verzögerte Entwicklung - Überlegungen zur therapeutischen Begleitung und Behandlung von Kindern mit leichten Entwicklungsstörungen" die Einschichtigkeit "klassischer" (medizinisch-therapeutischer) Befunderhebung und Therapie und stellt demgegenüber das Anliegen heraus, Beobachtung und Begleitung an erster Stelle, Behandlung erst an zweiter Stelle als Aufgabe des Therapeuten anzusehen. Ein Fallbeispiel aus diesem Text wird im folgenden Beitrag "Individuum und Kontext im therapeutischen Setting - Auszug aus einer Diskussion" (v.Lüpke/Voß) vertieft; Straßburg nimmt mit "Organisch orientierte Aspekte eines Neuropädiaters - Ein Kommentar" zu diesem Fall nochmals Stellung.

Anwendungsbereiche und Erfahrungsfelder eines komplexen und dynamischen Entwicklungsverständnisses skizzieren schließlich die Beiträge in Abschnitt IV: Brunner stellt "Ein dynamisches Entwicklungsmodell zum Verständnis schulischer Lernprozesse" vor und spricht vor allem Lern- und Verhaltensstörungen unter dieser Perspektive an.

Mit "Förderdiagnostik als ganzheitlichen Ansatz sonderpädagogischen Handelns" befaßt sich Eberwein; er diskutiert vor allem die teilnehmende Beobachtung als Instrument. Wolff beschreibt in ihrem Beitrag "Kooperation einer Kinder- und Jugendambulanz mit integrativ arbeitenden Kindergärten" Aufgaben eines interdisziplinären Teams in solchen Institutionen; sie thematisiert Arbeitsschritte und Abläufe und benennt auch mögliche Konfliktfelder dieser interprofessionellen Kooperation. Voß und Kirchhoff schließlich befassen sich mit "Störenden Schulkindern" und thematisieren die entwicklungsfördernde Arbeit mit auffälligen Kindern im Grundschulalter. Das "Stören" sowohl wie das "Schulkind" sehen sie als blickverengende Konzepte an; Fallbeispiele und institutionelle Alternativen zeigen erweiterte Möglichkeiten, diese Kinder zu verstehen und sie zu fördern.

Das Buch ist insgesamt sehr spannend. Seine breite Fächerung in den angesprochenen Themen wird zusammengehalten von dem durchgängigen Anliegen, allzu einfache - wenn auch leicht handhabbare - Konzepte abzulösen durch Analysen und Projekte, die der Komplexität und Interdependenz in der menschlichen Entwicklung Rechnung tragen. Spannend ist es vor allem zu verfolgen, wie die Autoren aus einem gemeinsamen Arbeitsprozeß heraus dieses Buch kooperativ gestaltet haben, so daß die Positionen der einzelnen wie auch der Bezug aufeinander transparent und füreinander fruchtbar werden. Ein interessantes Buch für alle Leser, die über Entwicklung unter einer Systemperspektive etwas dazulernen wollen.

Quelle:

Rezensiert von Martin Thurmair

Entnommen aus: Frühförderung interdisziplinär - Heft 1/1995

bidok-Rezensionshinweise

Stand: 20.02.2006

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