Welche Rolle spielen Ergebnisse der Hirnforschung bei der AD(H)S-Problematik?

Autor:in - Hans von Lüpke
Themenbereiche: Psychosoziale Arbeit, Medizin
Schlagwörter: Therapie, Neurologie, Forschung
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Sonderpädagogische Förderung 49(4), 402-409, 2004
Copyright: © Hans von Lüpke 2004

Zusammenfassung

Das Konzept vom AD(H)S als medizinisch definiertem "Syndrom" im Sinne einer Stoffwechselstörung des Gehirns mit seinen weitreichenden Konsequenzen - etwa für eine medikamentöse Therapie - wird weiterhin aufrecherhalten, obwohl die neuere Hirnforschung keine Grundlage dafür bietet. Die Rolle von Ergebnissen der Hirnforschung für die AD(H)S - Problematik muss daher auf einer erweiterten erkenntnistheoretischen Grundlage diskutiert werden. Beispiele zeigen mögliche daraus resultierende Konsequenzen.

Neue "Stoffwechselstörungen" und die verweigerte Konsequenz

Bei der Information, dass Frau A. an einer Stoffwechselstörung gestorben sei, dachte man früher an Diabetes, Mukoviszidose oder eine jener seltenen Erkrankungen, die schon im Kindesalter zu erheblicher Beeinträchtigung führen. Heute ist es möglich, dass sich hinter dieser Mitteilung die Tatsache verbirgt, dass diese Frau im Verlauf einer schweren Depression Suizid begangen hat. Dass solche Vorstellungen keine laienhaften Missverständnisse sind, sondern von Vertretern der schulmedizinischen Psychiatrie gestützt werden, zeigen Sätze aus einem Artikel, der im Jahre 2002 in der Zeitschrift "Nervenarzt" erschienen ist: "Psychische Störungen werden zunehmend Gehirnfunktionsstörungen und unterscheiden sich nicht mehr grundsätzlich von anderen ZNS - Erkrankungen (Erkrankungen des Zentralnervensystems, v.L.). Die der Psychiatrie zugeordneten Störungen des Verhaltens und Erlebens werden zunehmend zu Gehirnerkrankungen und rücken in die unmittelbare Nähe zu neurologischen ZNS - Erkrankungen. .... Konzepte wie Psychogenese werden folglich fragwürdig und eignen sich nicht mehr zur Kennzeichnung der größten Gruppe der psychischen Störungen" (Mayer 2002, zit. nach Bauer 2003, 17). Ausgehend von einigen im Verlauf der neunziger Jahre mit neuen bildgebenden Verfahren erhobenen Befunden wurde auch das AD(H)S den Hirnstoffwechselstörungen im Sinne eines Mangel an Überträgersubstanzen - hier Dopamin im Stirnhirn - zugeordnet. Die Behandlung mit Methylphenidat (Ritalin, Medikinet) sollte dieses Defizit ausgleichen und hatte den Stellenwert einer Insulin-Behandlung bei Diabetes. Damit ergab sich für die medikamentöse Behandlung nicht nur eine neue Legitimation, sondern geradezu eine Verpflichtung, durch deren Verweigerung man das Risiko eines Kunstfehlers einging (Literatur bei von Lüpke 2001). Dies dürfte nicht ohne Einfluss auf die seit 1990 auf das Sechzigfache angestiegene Verordnung von Tagesdosierungen dieses Medikaments (Glaeske & Janhsen 2003) gewesen sein. Darüber hinaus wurden einige Befunde in dem Sinne interpretiert, dass beim AD(H)S auch ein genetischer Faktor von Bedeutung sei.

Es erübrigt sich, an dieser Stelle noch einmal all diese Befunde mit ihren methodischen Schwächen und gedanklichen Fehlschlüssen darzustellen und zu diskutieren, da sie inzwischen auch von Autoren der "Mainstream" - Kinder- und Jugendpsychiatrie aufgegeben wurden, so von Frölich, einem engen Mitarbeiter von Döpfner und Lehmkuhl, die zu den prominentesten Autoren in der deutschen AD(H)S - Diskussion gehören. Frölich schreibt in der Zeitschrift "Kinder- und Jugendarzt": "Bisher gibt es kein einheitlich gültiges Konzept zu einer umfassenden Erklärung des Störungsbildes .... Ob es sich um eine Über- oder Unterfunktion des .... Neurotransmitterstoffwechsels handelt, kann nicht abschließend beantwortet werde" (S. 5). Frölich zitiert den Autor Peter Jensen mit den Worten: "AD(H)S kann am ehesten als die gemeinsame Endstrecke einer Vielzahl komplexer Hirnentwicklungsprozesse verstanden werden." (S. 6). Im Beipackzettel der Firma Medice zu ihrem Methylphenidat - Präparat Medikinet findet sich im Mai 2001 noch die Vorstellung von der Stoffwechselstörung der Überträgersubstanzen im Gehirn - einschließlich des Vergleichs mit Insulin beim Diabetes. In der aktuellen "Fachinformation" heißt es nur noch: "Die Ätiologie der Hyperkinetischen Störung / AD/HS ist nicht vollständig bekannt". Dies ist umso bemerkenswerter, als das Konzept der Stoffwechselstörung von großem Einfluss auf den gesteigerten Umsatz mit Methylphenidat - Präparaten und daher im eigenen Interesse gewesen sein dürfte. Auch Konrad & Herperts-Dahlmann - wiederum keine Außenseiter in der Kinder- und Jugendpsychiatrie - kommen zu dem Ergebnis, "dass bislang noch kein einzelnes neuropsychologisches Paradigma identifiziert werden konnte, welches sensitiv und spezifisch genug ist, um die Gruppe der ADHS - Kinder von gesunden Kindern zu unterscheiden. Dies scheint vor allem darauf zurückzuführen zu sein, dass die Gruppe der ADHS - Patienten äußerst heterogen ist und im Einzelfall sich unterschiedliche neuropsychologische Defizite zeigen können." (Konrad & Herperts-Dahlmann 2003, 146/18).

Die Konsequenz aus solchen Einschätzungen wäre eigentlich, das AD(H)S als medizinisch definierte Krankheitseinheit im Sinne eines "Syndroms" aufzugeben. Dies geschieht jedoch nicht einmal in der zuletzt zitierten Arbeit. Statt dessen wird "eine umfassende neuropsychologische Diagnostik (S. 143/15) gefordert - was immer dies nach der oben gegebenen Einschätzung bedeuten mag. Diese Ungenauigkeit in der "Stunde der Wahrheit", die Verweigerung, unabweisbare Konsequenzen zu ziehen, hat in der Begriffsgeschichte der AD(H)S-Problematik Tradition: Wurde doch schon früher, als die zunächst vermuteten Organbefunde ausblieben, nicht die damit verbundene Konsequenz gezogen, sondern der Weg in die Verwässerung der Begrifflichkeit gewählt, seinerzeit als "Minimale Zerebrale Dysfunktion", als MCD. Mit dem Begriff der Dysfunktion verzichtete man bereits damals auf strenge diagnostische Kriterien, um den Krankheitsbegriff aufrecht erhalten zu können. Darin zeigt sich der Bedarf an einem medizinisch abgesicherten Halt, selbst wenn dieser Halt sich nur noch in einem inhaltsleer gewordenen Begriff und daran ausgerichteten Test-Interpretationen besteht. Das selbe gilt heute für das AD(H)S als einer Neuauflage der MCD, die sich lediglich durch einige Akzente unterscheidet. Das Festhalten am überholten AD(H)D - Konzept zeigt sich besonders in der öffentlichen Diskussion, etwa bei den nicht selten hoch emotionalen Stellungnahmen von Elternverbänden, in denen die Vorstellung von der Stoffwechselstörung ungebrochen als wissenschaftlich erwiesen auftaucht. Das Schicksal dieser Begriffe scheint es aber auch zu sein, dass ihnen immer mehr Störungen zugeordnet werden - bis schließlich nahezu die gesamte kinderpsychiatrische Symptomatik sich darin wiederfindet. Dies macht sie letztlich unbrauchbar. Das AD(H)S - Konzept ist auf dem besten Wege, in dieser Hinsicht die Geschichte der MCD zu wiederholen - etwa mit der Subsummierung der Variante "ohne H", also der ruhigen, zurückgezogenen (depressiven) Symptomatik. Man darf gespannt sein, wann auch das AD(H)S durch einen anderen Begriff ersetzt wird - vermutlich wieder mit dem Hinweis, dass es sich um ein neues, auch bei Fachleuten in seiner Bedeutung noch nicht genügend gewürdigtes Krankheitsbild handelt.

Mögliche Hintergründe für ein derart verzweifeltes Festhalten an einem medizinischen Modell, das von der Medizin selbst schon längst nicht mehr gestützt wird und letztlich zur Selbstauflösung der eigenen Begrifflichkeit führt, können hier nur angedeutet werden. Neben der Abwehr von möglichen Schuldvorwürfen dürfte eine tiefe Verunsicherung von Bedeutung sein. Es fragt sich, in wie weit die mit der "Aufmerksamkeitsstörung" verbundene Lernproblematik - die ja bei der Begrifflichkeit des AD(H)S im Mittelpunkt steht - Ausdruck eines gesellschaftspolitisch bedingten Konflikts ist. Während auf der einen Seite Lebenserfolg und Lernen aneinander gekoppelt werden und immer stärker zu Druck und Selektion führen, zeigt die Realität als Konsequenz der fortschreitenden Globalisierung täglich, dass auch größte Fachkompetenz keine professionelle und wirtschaftliche Sicherung bedeutet. Ohne Bezug zu dieser Fachkompetenz und ohne die Möglichkeit, sich mit den dafür Verantwortlichen auseinander zu setzen, ist die Existenz eines jeden dauerhaft bedroht. Kinder spüren wohl am deutlichsten den mit dem Druck zum Lernen verbundenen Betrug und reagieren mit Verweigerung.

Stellt die Hirnforschung alles auf den Kopf?

Aus dem bisher Dargestellten hat sich ergeben, dass die dem AD(H)S-Konzept zu Grunde liegende Vorstellung in der Zwischenzeit so weit aufgelöst wurde, dass sie nach den Maßstäben der ursprünglich zu Grunde gelegten Kriterien nicht mehr haltbar ist. Von daher wäre es absurd, diesem Konstrukt weiterhin Ergebnisse der Hirnforschung zuordnen zu wollen. Das Thema bleibt jedoch wegen seiner gesellschaftspolitischen Relevanz real. Der Bezug zur Hirnforschung kann dabei nicht durch Aufzählen einzelner Organbefunde hergestellt werden, sondern bedarf der Diskussion auf einer allgemeineren grundsätzlichen Basis. Dazu gehört zunächst die Feststellung, dass die eingangs zitierten Behauptungen aus dem "Nervenarzt" keineswegs dem Stand der Hirnforschung entsprechen. Bauer (2003, 17) fasst dies folgendermaßen zusammen: "Zwischenmenschliche Bindungen haben nachhaltige positive Auswirkungen auf neurobiologische und weitere körperliche Parameter. Eine durch vertrauensvolle Beziehungen geprägte und mit adäquater Reizzufuhr angereicherte Umwelt hat günstige Einflüsse auf die Regulation zahlreicher Gene, wobei unter anderem Gene aktiviert werden, deren Produkte Nervenwachstumsfaktoren sind. Umgekehrt wurde empirisch nachgewiesen, dass Bedrohung, Angst und Stress (insbesondere solcher im Zusammenhang mit dem Verlust bedeutsamer Bindungen) Neurotransmitter freisetzen und Gene aktivieren, deren Produkte den Stoffwechsel nachhaltig verändern und negative Effekte auf biologische Strukturen von Gehirn und Körper nach sich ziehen können." Nach psychischen Traumatisierungen kann es zu messbaren Volumenverminderungen bei zentralen Strukturen wie der für Gedächtnisleistungen wichtigen Hippocampusregion kommen. Perry (1996) hat beobachtet, dass unter anhaltenden Bedingungen von Vernachlässigung und Traumatisierung die Tendenz besteht, dass sich Strukturen im Hirnstamm und Mittelhirn, die vor allem auf das biologische Überleben ausgerichtet sind, übermäßig stark entwickeln - auf Kosten von kortikalen, mit Problemlösung und so genannten limbischen, mit Empathie verbundenen Funktionen. Könnte dies bedeuten, dass die im AD(H)S zusammengefassten Auffälligkeiten wie Aufmerksamkeitsstörung, Impulsivität und häufig auch Hyperaktivität weniger die Folge von Abweichungen im Hirnstoffwechsel sein könnten, als eher das Ergebnis von belastenden Beziehungserfahrungen, vom entgleisten Dialog in der Kindheit (die häufig berichteten Probleme mit "Schrei - Babys"!) bis hin zur Bedrohung durch den verleugneten sozialpolitischen Konflikt, die ihrerseits mit Veränderungen im Hirnstoffwechsel einher gehen? Damit wäre das eingangs geschilderte Konzept von der Hirnstoffwechselstörung auf den Kopf gestellt. Könnten die Zusammenhänge zwischen Hirnfunktion und psychodynamischen Faktoren auf diese Weise besser erklärt werden? Durch die bloße Umkehr dürfte das Dilemma jedoch kaum zu lösen sein. Als nächster Schritt wäre daher ein Aspekt zu untersuchen, der bisher stillschweigend vorausgesetzt wurde: die Vorstellung von einer kausalen Beziehung zwischen Hirnfunktion und Begriffen wie Psyche, Emotionalität und Kognition, die Roth (1999) mit dem Begriff "Geist" zusammenfasst.

In seinem philosophiegeschichtlichen Abriss der Vorstellungen vom Geist beginnt Roth (1999) mit der Erläuterung der in der Antike entwickelten Begriffe, die von physikalischen Phänomenen wie Hauch und Atem ausgehen. Roth selbst bewegt sich in dieser Tradition, wenn er - äußerst differenziert und darum bemüht, nicht reduktionistisch eine einzige Ursache zu unterstellen - schreibt: "Geist kann als ein physikalischer Zustand verstanden werden, genau so wie elektromagnetische Wellen, Mechanik, Wärme, Energie" (S. 301). Auf diesem Hintergrund stellt Roth sich das Zusammenspiel zwischen hirnorganischen und geistigen Prozessen im Sinne einer physikalischen Wechselwirkung vor. Einer seiner neuesten Texte ist überschrieben mit den Worten:" Wie das Gehirn die Seele macht" (Roth 2003). Für unsere weiteren Überlegungen ist folgender Abschnitt aus seinem Buch von 1999 von Interesse: "Im Rahmen einer solchen nicht-reduktionistischen physikalischen Methodologie ist es möglich, Geist auf der einen Seite als einen mit physikalischen Methoden fassbaren Zustand anzusehen, der in sehr großen interagierenden Neuronenverbänden auftritt und auf der anderen Seite zu akzeptieren, dass dieser Zustand "Geist" von uns völliganders erlebt wird. Dies unterscheidet "Geist" aber nicht vom Erleben des Lichtes, der Härte von Gegenständen und der Musik" (S. 302). Wird Geist als ein physikalisches Phänomen verstanden, so reduziert er sich auf das, was mit physikalischer Methodik erfassbar ist. Selbst bei denkbar größter und über die heutigen Möglichkeiten hinaus reichender Verfeinerung kann diese Methodik jedoch nichts anderes finden als biophysikalische Strukturen und deren energetische Beziehungen. Selbst wenn sie im biologischen Bereich eines Tages bis in die Dimension von Quanten reichen würde, wäre dies nicht grundsätzlich anders. Für Roth entsteht daraus kein Problem. Es stellt sich jedoch die Frage, ob mit diesem Vorgehen nicht das entscheidende Kriterium des "Geistigen" eher ausgeklammert als erklärt wird. Vielleicht geht es hier gerade um das Erleben, von dem Roth spricht, das er dem Geist aber nicht mehr zuordnen möchte. Erleben ist jedoch mit keiner physikalischen Methode messbar. Das diesbezügliche "Messinstrument" ist die an Menschen gebundene Wahrnehmung des eigenen Selbst und der Anderen. "Man kann Lebendes nicht erforschen, ohne am Leben teilzunehmen", sagt Viktor von Weizsäcker. Die kategoriale Differenz zwischen dieser an Menschen und ihrer Subjektivität gebundenen "Messmethode" und den mit Methoden der Physik ermittelten Daten verhindert die kausale Verknüpfung zwischen beiden. In so fern kann Gehirn niemals Geist produzieren, es sei denn in jenem auf physikalische Phänomene reduzierten Sinn, wie Roth ihn definiert. Dies gilt auch für Bauer (2002), wenn er davon ausgeht, dass "das innere Bewertungssystem der Nervenzell-Netzwerke in Hirnrinde und limbischem System" entscheidet, "ob eine aktuelle, neue äußere Situation die Aktivierung einer körperlichen Alarmreaktion erfordert oder nicht" (S. 106-107). Nervenzell-Netzwerke können lediglich elektrochemische Prozesse und zelluläre Strukturveränderungen bewirken, nicht aber "bewerten". Bauer geht so weit, dass er der Entdeckung eines Stress-Gens wesentliche Bedeutung für das Verständnis der Depression zuschreibt: "Das Elend früherer Jahrzehnte war, dass über diese Frage (wie sich Personen mit einem erhöhten Risiko für Depressionen von anderen unterscheiden, v. L.) im Wesentlichen nur im individuellen Fall entschieden, ansonsten aber nur spekuliert werden konnte. ... Damit müssen wir uns inzwischen nicht mehr begnügen" (S. 109). Ähnlich argumentiert Damasio (2003), wenn er schreibt: "Im Laufe der nächsten zwanzig Jahre, vielleicht schon früher, wird die Neurobiologie der Emotionen und Gefühle der Biomedizin ermöglichen, wirksame Behandlungsmethoden für Leid und Depression zu entwickeln" (S. 331) - wobei er Probleme wie "Drogensucht und Gewalt" einbezieht. "Eine eigentliche Emotion, wie zum Beispiel Glück, Trauer, Verlegenheit oder Mitgefühl, ist ein komplexer Ablauf chemischer und neuraler Reaktionen" (S. 67). Die Kenntnis der "biologischen Steuerung" ist nach Damasio auch "den dunklen Seiten sozialer Emotionen, die sich in Tribalismus, Rassismus, Tyrannei und religiösem Fanatismus manifestieren", gewachsen: "Das gehört der Vergangenheit an" (S. 332-333). "Letztlich führen diese Reaktionen (die chemischen und neuralen Reaktionen, die jene "eigentlichen Emotionen" bewirken, v. L.) ... zu Bedingungen, die dem Überleben und Wohlbefinden des Organismus dienlich sind" (S. 67). Damasio bestreitet nicht, "dass einige Emotionen extrem schlechte Ratgeber sind" und empfiehlt, zu "überlegen, wie wir sie entweder unterdrücken oder wie wir unsere Reaktionen auf ihre Ratschläge entschärfen können" (S. 52).

Ich habe diese Autoren relativ ausführlich zitiert, um deutlich zu machen, dass die Vernachlässigung jener kategorialen Differenz durch die Hintertür zu einem ähnlich naiven Biologismus führt wie das eingangs vorgestellte Konzept von psychischen Störungen als Ausdruck von Hirnstoffwechselstörungen. Im Gegensatz zu diesem ist die Argumentation hier subtiler und bewegt sich auf dem wissenschaftlichen Stand der heutigen Hirnforschung. Für das AD(H)S - Problem ist diese Argumentation insofern von Bedeutung, als auch hier zu erwarten ist, dass eines Tages neuere Organbefunde in ähnlicher Weise zur Problemlösung herangezogen werden könnten, wenn die erkenntnistheoretische Perspektive unberücksichtigt bleibt.

Die Trennung zwischen Körper und Geist ist das Resultat unterschiedlicher methodischer Zugänge. Man könnte von einem methodischen Artefakt sprechen, da beide auch nicht voneinander ablösbar sind. Eine Trennung entsteht erst durch die Möglichkeiten der jeweiligen Methodik und die daraus resultierende Perspektive. Bleibt der Begriff vom Geist nicht nur auf bewusste Prozesse beschränkt (nach Roth sowieso der geringste Anteil), so lässt sich sagen, dass kein körperlicher Prozess ohne die geistige Dimension und kein geistiger ohne Vorgänge im Körper abläuft. Dies ist offenbar das Prinzip des Lebendigen.

Konsequenzen für die Praxis

Als erste Konsequenz ergibt sich für die pädagogische und therapeutische Praxis, dass Ergebnisse der Hirnforschung zur Begründung eigenen Handelns wenig hilfreich sind - als mögliche Enttäuschung, aber auch Beruhigung im Hinblick auf professionelle Kompetenzen. Trotzdem wirken - gewollt oder ungewollt - diese Ergebnisse auf die Praxis. Sie können anregen, ermutigen oder verunsichern, Zweifel am Sinn der eigenen Arbeit und deren Bewertungskriterien verstärken. Daher erscheint es sinnvoll, jenseits aller "Erklärungen" der Wirkung jener Bilder nachzugehen, die von der Hirnforschung vermittelt werden.

Als Beispiel für die Bedeutung solcher Bilder sei die Vorstellung von der Wirkungsweise des Methylphenidats beim AD(H)S erwähnt. Bei der eingangs dargestellten Version einer Stoffwechselstörung, deren Defekt durch Methylphenidat korrigiert wird, bleibt für die pädagogische und therapeutische Arbeit nur noch eine letztlich überflüssige, bestenfalls marginale Rolle. Legt man jedoch die neuerdings von Hüther & Rüther (2003) vertretene Vorstellung zu Grunde, so ergibt sich eine völlig andere Konsequenz. Methylphenidat führt - darin sind sich die meisten Autoren heute einig - durch partielle Blockade der Wiederaufnahme von Dopamin zu dessen Anreicherung im synaptischen Spalt. Hüther & Rüther nehmen an, dass diese Dopamin - Anreicherung zur Aktivierung präsynaptischer Dopaminautorezeptoren und damit zur Hemmung weiterer, durch Impulse von außen oder innen gesteuerter Dopaminfreisetzung führt. Diese Abkopplung erschwert erfahrungsbedingte Bahnungsprozesse wie Lernen. Nach diesem Modell fällt allen Maßnahmen jenseits der medikamentösen Therapie weiterhin die wichtigste Rolle zu.

Bedeutsam für die pädagogische und therapeutische Praxis ist schließlich die aus der Hirnforschung hergeleitete Vorstellung, dass Lern- und Beziehungserfahrungen mit Veränderungen einhergehen, die das ganze Gehirn betreffen. Die Tierexperimente von Freeman (1995) weisen in diese Richtung. Freeman arbeitet mit der Aufzeichnung von EEG-Mustern bei Kaninchen nach Zufuhr unterschiedlicher Gerüche. Dabei machte er diese zunächst mit einer Reihe von Gerüchen vertraut. Dabei zeigte sich in der für die Verarbeitung von Gerüchen zuständigen Hirnregion, der Regio olfactoria, zu jedem Geruch ein charakteristisches Muster. Eine neu hinzu kommende Geruchsqualität führte jedoch nicht - wie man zunächst erwarten könnte - lediglich zur Entwicklung eines zusätzlichen Musters, sondern veränderte auch die bereits bestehenden. Darüber hinaus zeigte sich, dass die neuen Muster nicht allein durch die chemischen Eigenschaften der Gerüche bestimmt wurden, sondern auch durch die jeweilige Verfassung des Tieres. Bei Hunger oder erhöhtem Erregungszustand beispielsweise veränderten sich die räumlichen Muster, obwohl die Gerüche gleich blieben. Die Veränderungen der Repräsentanzen von vorher bereits bekannten Gerüchen stellten dabei Modifikationen des früheren Musters dar, es gab also eine "Erinnerung".

Solche Befunde können ermutigen - nach außen wie nach innen. Nach außen werden sie zu Argumentationshilfen, wenn pädagogische oder therapeutische Arbeit durch die Forderung nach gezielten Maßnahmen zur Effizienz - Maximierung unter Druck gerät. Beim AD(H)S - Problem führt dies zur Bevorzugung von Strategien, die auf möglichst reibungslose Anpassung hinzielen - zum Nachteil einer Perspektive, die sich an der jeweils spezifischen Lebenssituation und den Ressourcen des Kindes orientiert. Damit ist nicht gemeint, dass beispielsweise Medikamente grundsätzlich abzulehnen seien. Entscheidend ist das Ziel: geht es ausschließlich um Anpassung oder um die Minderung von Leid. Die erwähnten Befunde aus der Hirnforschung können "gezielte" Maßnahmen als illusorisch entlarven und jede Form der "Ganzheitlichkeit" im Kontext von Beziehungen argumentativ stützen. Auch im Innenverhältnis bieten sie Möglichkeiten der Ermutigung, bleiben die schnellen bestätigenden Erfolge doch meist aus - besonders beim AD(H)S - Problem. Wer mit Kreativität und Phantasie arbeitet und sich darauf einlässt, Konflikte wie die eingangs skizzierten gesellschaftspolitischen nicht als individuelle "Krankheit", sondern als gemeinsame Aufgabe zu thematisieren, hat wenig verlässliche Orientierungshilfen und ist durch Selbstzweifel besonders gefährdet. Dann entsteht die Versuchung, auch gegen das eigene Gefühl plausibel klingende, aber letztlich kurzschlüssige Interpretationen von neurobiologischen Befunden zu übernehmen und damit die eigenen fachspezifischen Kriterien zugunsten von naiv-mechanistischen Modellen zu relativieren. Dem entgegenzuwirken und sich bei der eigenen Arbeit durch die Perspektive der Neurobiologie anregen anstatt bestimmen zu lassen, war das Ziel dieser Arbeit.

Literatur

Bauer, J.: Das Gedächtnis des Körpers. Frankfurt/M. 2002

Bauer, J.: Verbindungslinien zwischen Psychotherapie und Neurobiologie. Bvvp-magazin (2003) 3, 16-17

Damasio, A. R.: Der Spinoza - Effekt. Wie die Gefühle unser Leben bestimmen. München 2003

Freeman, W.J.: Societies of Brains. A Study in the Neuroscience of Love and Hate. Hillsdale, New Jersey 1995

Frölich, J.: ADHS. Modediagnose oder organische Erkrankung? Entwicklung des Krankheitsbegriffs - organische Grundlagen. Beilage zum Kinder- und Jugendarzt (2002) 33 (1), 5-6

Glaeske, G. & Janhsen, K.: Ritalin für Kinder. Dr. med. Mabuse (2003) 142, 51-54

Hüther, G. & Rüther, E.: Die nutzungsabhängige Reorganisation neuronaler Verschaltungsmuster im Verlauf psychotherapeutischer und psychopharmakologischer Behandlungen. In: Schiepek, G. (Hg.): Neurobiologie der Psychotherapie. Stuttgart 2003, 224-234

Konrad, K. & Herpertz-Dahlmann, B. (2003): Neuropsychologische Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS. Kinder- und Jugendmedizin (2003) 4, 143/15-147/19

Lüpke, von, H.: Hyperaktivität zwischen "Stoffwechselstörung" und Psychodynamik. In: Passolt, M. (Hg.): Hyperaktivität zwischen Psychoanalyse, Neurobiologie und Systemtheorie. München 2001, S. 111-130

Perry, B.: Incubated in terror: Neurodevelopmental factors in the "cycle of violence". In: Osofsky, D. (ed.): Children, Youth and Violence: Searching for Solutions. New York 1996

Roth, G.: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. 3. überarbeitete Aufl. Frankfurt/M. 1999

Roth, G.: Wie das Gehirn die Seele macht. In: Schiepek, G. (Hg.): Neurobiologie der Psychotherapie. Stuttgart 2003, 28-41

Quelle:

Hans von Lüpke: Welche Rolle spielen Ergebnisse der Hirnforschung bei der AD(H)S-Problematik?

Sonderpädagogische Förderung 49(4), 402-409, 2004

bidok - Internetbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 10.12.2009

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