Frühgeburt als Thema mit lebenslangen Variationen.

Ein Beitrag zur Diskussion um das frühe Trauma am Beispiel einer Angstneurose.

Autor:in - Hans von Lüpke
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: (im Druck)
Copyright: © Hans von Lüpke 1997

Frühgeburt als Thema mit lebenslangen Variationen.

Angstzustände gehören zu den psychopathologischen Symptomen, die schon früh mit perinatalen Erfahrungen in Verbindung gebracht wurden. Zunächst war vor allem der Zusammenhang mit der Geburt von Interesse. So schreibt Freud 1909 in der Fußnote zu einer Neuauflage der "Traumdeutung": "Der Geburtsakt ist übrigens das erste Angsterlebnis und somit die Quelle und das Vorbild des Angstaffekts" (Freud 1972, S. 391). Auch später, als im Rahmen der "Internationalen Studiengemeinschaft für Pränatale Psychologie" solche Zusammenhänge systematisch verfolgt wurden, ging es zunächst um die mögliche Beziehung zwischen Angstsymptomen und Geburtserfahrung. So schreibt Kruse 1979: "Die Ursache der Raumangst ist meiner Erfahrung nach ausschließlich in protrahierten und komplizierten Geburtsverläufen ("Geburtstrauma" in eigentlichen Sinn) zu sehen, und zwar unabhängig von subpartalen Hirnschädigungen als Folge eines seelischen Schocks bei übermäßig schweren Geburtserlebnissen" (Kruse 1979).

Die Erfahrung hat inzwischen gezeigt, daß Zusammenhänge zwischen schwerem Geburtsverlauf und späteren Angstzuständen nicht so regelhaft sind, wie es nach dieser Interpretation zunächst zu erwarten gewesen wären. Drei Gründe dürften dabei eine Rolle spielen:

1.) Die Bedeutung der pränatalen Erfahrung wurde unterschätzt, das "Trauma der Geburt" zu selbverständlich als Ausgangspunkt für spätere Störungen verstanden. Die pränatale Phase war noch einer Idealisierung ausgesetzt. Es fiel offensichtlich schwer, sich auch hier vom Traum eines Paradieses zu verabschieden. Nach dem Verlust so vieler Paradiese im Verlauf der Menschheitsgeschichte sollte doch wenigstens das intrauterine Nirwana erhalten bleiben, obwohl schon die Erfahrung jeder Schwangeren zeigt, daß die Kinder auch im Mutterleib alle Widrigkeiten dieser Welt miterleben und darauf reagieren. Janus hat in seinem Beitrag die Forschung zum Thema des intrauterinen Stress dargestellt. Die Arbeiten von Raffai zeigen den zunehmenden Stellenwert intrauteriner Erfahrungen für die Interpretation psychopathologischer Zustände.

2.) Der Begriff des Traumas wurde zu undifferenziert an äußeren Faktoren festgemacht. Die Beziehung zwischen äußeren Ereignissen und innerem Erleben bedurfte weiterer Klärung.

3.) Die Orientierung an einem besonders dramatischen Ereignis ist zwar verführerisch, nicht selten aber irreführend. Wie ein aktuelles Ereignis verarbeitet oder nicht verarbeitet werden kann, ist maßgeblich von vorausgegangenen Einflüssen abhängig, die - wie Janus bereits betont hat - , häufig auch später noch wirksam bleiben. So können sich ähnlich strukturierte Ereignisse im Verlauf des Lebens wiederholen und dadurch vorangegangene Eindrücke verstärken, Wunden immer wieder aufreißen lassen, Erfahrungen vertiefen. Solche Wiederholungen sind ein subtiles Wechselspiel von äußeren Einflüssen und Verarbeitungsstrategien des Betroffenen selbst. Einiges spricht dafür, daß möglicherweise lang anhaltende, vor allem im emotionalen Klima wirksam werdende Belastungsfaktoren von größerem Einfluß sind als einzelne dramatische Ereignisse. Welche Unklarheiten, welche Mythen werden in einer Familie aufrechterhalten ? Dürfen Fragen gestellt, Gefühle geäußert werden ? Schließlich kommen Hilfen und Hindernisse außerhalb der Familie zum Tragen.

Im folgenden möchte ich über die 50jährige Frau S. berichten, die mit den typischen Symptomen einer Angstneurose zur Therapie kam. Frau S. lebte ständig in der Angst, daß etwas Unerwartetes geschehen könnte, insbesondere eine Bedrohung ihrer Gesundheit. Sie wurde beherrscht von dem Gefühl, daß in jedem Augenblick ihr Herz stehenbleiben, daß sie umfallen oder daß sonst etwas geschehen könnte, auf das sie nicht vorbereitet war, weil sie möglicherweise entsprechende Zeichen falsch gedeutet hatte. Die Angst um ihr Herz brachte sie immer wieder dazu, Notärzte oder Ambulanzen zu konsultieren, wo die Untersuchungen und die Versicherung, daß alles in Ordnung sei, sie jedes Mal beruhigten. Um die Angst besser auszuhalten nahm sie zeitweilig Medikamente, gelegentlich auch größere Mengen von Alkohol zu sich. "Um hier etwas spüren zu können" fügte sie sich Verletzungen über der Herzgegend zu. Im Gegensatz zu den Ängsten, die durch die Vorstellung vom plötzlichen Herzstillstand ausgelöst wurden, empfand sie bei tatsächlich auftretenden Erkrankungen, etwa bei einer lebensbedrohlichen Gerinnungsstörung, keinerlei Angst. Sie könnte sich vorstellen, ohne allzu große Ängste sich bei einer chronischen Erkrankung auf den Tod vorzubereiten. Frau S. hatte beobachtet, daß zusätzlich zu den beschriebenen Ängsten alle Situationen, die sie in irgend einer Weise fixierten, Angst bei ihr auslösten. Solche Situationen waren etwa ein Essen im Lokal, Besprechungen bei der Arbeit, (sie arbeitet als Sekretärin), ein Termin beim Friseur, Fensterputzen, Essenkochen, sogar Blumen einpflanzen: also all das, was fortgesetzt werden mußte, wenn es einmal begonnen war, das ihr die innere Freiheit nahm, plötzlich aufzustehen und wegzugehen. Sie stellte fest, daß sie in ihrem Leben sehr oft den Arbeitsplatz und auch den Partner gewechselt hatte.

Im Gespräch darüber kommt ihr eine Erinnerung. Als sie etwa drei bis vier Jahre alt war, wohnte die Familie auf einem Bauernhof. Beim Spiel mit den anderen Kindern war sie in eine Dachluke gekrochen. Plötzlich hatte sie den Eindruck, dort festzustecken. Noch heute ist ihr das Gefühl einer ungeheuren Panik in lebhafter Erinnerung. Dabei hat sie heute die Vorstellung, daß sie in Wirklichkeit garnicht eingeklemmt war, denn sie konnte ohne Mühe rückwärts wieder herauskommen. Als ich in diesem Zusammenhang nach der Geburtsgeschichte frage, erfahre ich, daß sie nach einer Frühgeburt als "Achtmonatskind" im September des Jahres 1945 geboren wurde. Die Schwangerschaft wurde durch die letzten Kriegsmonate und die anschließende Flucht bestimmt. Zu der Angst der Mutter während der Bombardierungen und einer Flucht mit unsicherer Zukunft, Hunger und wiederholten Vergewaltigungen kam noch die Tatsache, daß der zwei Jahre ältere Bruder von Frau S. in der chaotischen Situation verloren gegangen war. Erst nach ihrer Geburt wurde er der Familie vom Roten Kreuz wieder zugeführt. Niemand habe erwartet, daß das winzige Kind unter den damaligen Verhältnissen überleben würde. Tatsächlich kam es aber zu keinerlei ernsthaften Komplikationen, nach einem Vierteljahr wurde Frau S. aus dem Krankenhaus entlassen. Man erzählte ihr später, daß sie fast ständig gelächelt habe. Als sie mit 15 Jahren als Praktikantin wieder in die Klinik kam, erinnerte sich eine Ärztin noch an dieses Frühgeborene, das damals die ganze Klinik beeindruckt habe. Im Zusammenhang damit kommt sie darauf zu sprechen, daß sie neben den geschilderten Ängsten auch einen tiefen Optimismus in sich spürt, das Gefühl, irgendwie immer durchzukommen. So macht sie sich beispielsweise heute trotz ihres Alters keine Sorgen darüber, daß sie vielleicht ihren Arbeitsplatz verlieren könnte: sie hat im Gegenteil die Überzeugung, immer wieder etwas Neues zu finden.

Im weiteren Gespräch ergeben sich zusätzliche Bilder der Angst, daß in jedem Augenblick etwas Unerwartetes, vielleicht Lebensbedrohliches passieren könnte. Sie spicht von Bodenlosigkeit, davon "am Schwimmen", "benebelt zu sein". Sie wünscht sich dann als Hilfe möglichst eindeutige, auch körperlich wahrnehmbare Strukturen. Dazu gehören die medizinischen Einrichtungen, vor allem aber Menschen, die sie als einfach, kräftig und zupackend empfindet und schließlich auch die Selbstverletzungen, durch die sich sich körperlich intensiver spürt. Immer wieder hat sie Angst davor, daß sie ohnmächtig werden könnte und daß auch die Menschen um sie herum zusammenbrechen, nicht belastbar genug sein würden. Ihre Fähigkeit, sich auch auf schwerwiegende Krankheiten ohne Angst einstellen zu können ebenso wie ihr zeitweiliges Bedürfnis, sich selbst zu verletzen, versteht sie ebenfalls im Kontext ihres Wunsches nach Orientierung, nach spürbaren Strukturen.

Es liegt nahe, die Angst vor Fixierung, das ständige Bedürfnis, jederzeit weg zu können, als Raumangst auf dem Hintergrund einer Geburtserfahrung, einer Fixierung im Geburtskanal zu interpretieren. Hört man jedoch genauer auf die Schilderung, so wird deutlich, daß eine Einengung hier nicht das Problem ist. Selbst bei jener Szene, die ihr immer wieder in Erinnerung kommt, jenem Gefühl von Steckenbleiben in der Dachluke, betont sie, daß sie sich nicht an ein Eingeklemmt-Sein erinnert. Auch all die anderen Situationen, in denen dieses Gefühl aktualisiert wird, sind nicht mit dem Gefühl der Enge verknüpft. Nimmt man den anderen Aspekt der Angst, den Schreck, die Verunsicherung durch unerwartete plötzliche Ereignisse hinzu, so scheint es hier naheliegend, all diese Symptome eher im Kontext von Erfahrungen während der Intrauterinzeit zu sehen. Der äußere Verlauf der Schwangerschaft gab zu solchen Erfahrungen genügend Anlässe. Man könnte demnach die Hypothese aufstellen, daß es die Intrauterinzeit war, die jene Grunderfahrung von Orientierungslosigkeit, von "Benebelt-sein" und "Schwimmen" vermittelt hat, gegen die Frau S. sich mit Hilfe möglichst klarer Strukturen - sei es medizinischer Einrichtungen oder jener unkomplizierten robust zupackenden Helfer - zu wehren versucht. Im Wunsch nach diesen Hilfen wäre dann die Erinnerung an die Geburt zu finden. Damit wäre die Frühgeburt selbst für Frau S. mit der Erfahrung einer Rettung verbunden.

Hier stellt sich die Frage, wieso es erst nach jenen dramatischen Ereignissen wie Bombardierung, Flucht und Vergewaltigung zur Frühgeburt kam, also zu einem Zeitpunkt, in dem die Lebensituation der Familie zwar durch Not und große Enge, aber nicht mehr durch akute Bedrohung bestimmt war. Hier sei daran erinnert, daß zu diesem Zeitpunkt der damals zweijährige Bruder immer noch vermißt wurde. Wäre es vorstellbar, daß die Mutter mit ihren Gedanken und Gefühlen sehr stark mit diesem Kind beschäftigt war, stärker als mit dem ungeborenen Kind? Das könnte bedeuten, daß die vorangegangenen dramatischen Ereignisse und die damit einhergehenden Ängste der Mutter für die Patientin immer noch besser zu ertragen waren als jener Zustand der emotionalen Abwesenheit der Mutter, der Mangel an wechselseitiger Kommunikation, jener "intrauterine Hospitalismus", wie Hau (1973) ihn genannt hat ? Sichere Aussagen sind in diesem Zusammenhang nicht möglich. Hier wäre auf der organischen Ebene auch an eine Plazentarinsuffizienz als Folge der Belastungen, insbesondere der Mangelernährung, zu denken. Dabei hätte es zu Schwankungen der Herzfrequenz kommen können. Daß das Thema "verloren gehen, gesucht werden" auch für Frau S. von Bedeutung war, daß auch sie die Brisanz dieses Themas gespürt hat, zeigen spätere Variationen: Sie erinnert sich, wie sie als junges Mädchen immer wieder von zu Hause weglief, sich in der Nähe versteckte und von dort aus die verzweifelte Suche der Eltern beobachtete. Vielleicht könnte auch die Frühgeburt selbst dieses Thema enthalten: wichtig war das verlorene, nicht das vorhandene Kind. Man mußte erst "verloren gehen", um für die Mutter (die Eltern) wichtig zu werden.

Man könnte drei Themen benennen, die als Grunderfahrungen lebenslang variiert werden. Zunächst ist es die Desorientierung, die Erfahrung des plötzlichen Schocks, unvorbereitet von einem lebensbedrohenden Ereignis überfallen zu werden. Dazu gehörte das Gefühl, möglicherweise wichtige Signale nicht richtig erkannt zu haben. Wichtig erscheint mir hierbei, daß diese Thematik sich nicht nur im Verlauf der Schwangerschaft darstellt. Hier wird deutlich, daß es nicht nur die einzelnen dramatischen Ereignisse sind, sondern tief in der Familie verwurzelte Strukturen. In der Familie stellt sich die Thematik beispielsweise im Umgang mit der Vergangenheit der Eltern, insbesondere der des Vaters dar. Die Eltern hatten sich in einer Spezialschule der Nazis (NAPOLA) kennengelernt. Der Vater, ein SS-Mann, war nicht im Krieg, angeblich hat er Pferde gezüchtet, hier gab es wohl ein Familiengeheimnis. Nach dem Krieg studierte er Landwirtschaft und arbeitete später mit Pflanzenschutzmitteln. Frau S. erinnert sich daran, als Kleinkind Vergiftungsängste gehabt zu haben und bringt dies mit den Chemikalien des Vaters in Verbindung. Ging es dabei um die Erinnerung an eine "vergiftende Plazenta" oder spürte die Patientin eine Seite des Vaters, die verschwiegen wurde? Trifft sich hier nicht - im Sinne von Wasdell - die private Geschichte einer Familie mit der eines ganzen Volkes, das die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit scheute? Von der Mutter ging immer wieder die Botschaft aus: wir sind etwas Besseres, eine gehobene Familie, bei uns wird auch nicht gestritten wie bei den primitiven Leuten. Dies ging einher mit der Erwartung, daß die Tochter die Schönste und Begabteste unter allen sei. Frau S. glaubte als Kind daran und erlebte in der Schule die bittere Enttäuschung, daß sie nichts als Durchschnitt war. Heute werden Ängste durch Desorientierung vor allem dann ausgelöst, wenn sie sich zunächst sehr sicher fühlt, dann aber mit diesem sicheren Gefühl scheitert, beispielsweise im Büro einen Brief nicht an dem Platz findet, wo sie ihn hingelegt zu haben glaubt.

Der zweite Themenbereich ist die Erfahrung von Orientierung durch klare äußere Strukturen. Hier dürfte die Erinnerung an die Geburt nachwirken. Heute findet sich das Thema in dem Wunsch nach starken kräftigen Helfern, die nicht umfallen, wenn sie selbst bewußtlos werden sollte. Das Dilemma dieser Hilfen besteht allerdings darin, daß sie abhängig ist. Sie kann nichts selbst dazu beitragen, ist auf die angewiesen, die sie um sich herum vorfindet. Ein anderer Versuch, sich intensiver körperlich zu spüren, ist die Selbstverletzung. Hier kann sie selbst entscheiden, hier ist sie die Handelnde.

Der dritte Erfahrungsbereich hat mit dem ersten insofern zu tun, als es auch hier um Unerwartetes, nicht Kalkulierbares, Überraschendes geht, diesmal allerdings in einem positiven Sinn. In der Erinnerung macht sich dieses Gefühl vor allem an ihrem Überleben als Frühgeborenes fest. Wir können jedoch davon ausgehen, daß darin bereits die Erfahrung enthalten war, auch all die vorangegangenen Gefahren und Belastungen überlebt zu haben und den Ort der Gefahr gerade noch rechtzeitig verlassen zu haben. Hier erhält die Geburt einen aktiven Aspekt: nicht nur der sichere Halt von außen (die "Helfer"), sondern auch die eigene Initiative und Kraft waren daran beteiligt. Dies alles führte zu einem neben der Angst angesiedelten grundsätzlichen Optimismus, möglicherweise ausgedrückt in jenem Lächeln, daß bei ihr bereits in der Klinik auffiel und das ihr damals bereits Sympathien einbrachte. Noch heute hat sie das Gefühl, daß es ihr leicht fällt, Kontakte zu schließen, Menschen für sich zu gewinnen, immer wieder Angebote auch im professionellen Bereich zu bekommen. Die entscheidende Voraussetzung für diesen Erfahrungsbereich ist - im Gegensatz zum ersten - die Freiheit zur Bewegung, die Möglichkeit der Veränderung.

Die therapeutische Arbeit bewegte sich zunächst auf der Ebene der Orientierung. Für Frau S.wurde es eine wichtige Erfahrung, daß die Auffälligkeiten, die ihr selbst bisher unverständlich, teilweise verrückt erschienen, aus ihrer Geschichte heraus verständlich wurden, einen Sinn ergaben. Es blieb jedoch nicht bei der Ebene der rationalen Orientierung. Starke Reaktionen wie Schwitzen, Herzklopfen, Unruhe, der Wunsch aufzustehen, herumzulaufen, die Therapiestunde vorzeitig zu verlassen, machten die frühen Erfahrungen immer wieder lebendig. Dies verlief ohne tiefe Regression. Die Erfahrung des Sinnvollen, Kontuinuierlichen in ihrer Entwicklung machte aus dem Halt in der therapeutischen Sitzung mehr als nur eine von außen strukturierende Stütze. Frau S. konnte weitere Erfahrungen mit ihrer Stärke machen, jener Fähigkeit, Situationen durch Veränderung mitzubestimmen. Dabei genügte das Einverständnis über die Möglichkeit, auch die Therapiestunde verlassen zu können, sie mußte dann nicht mehr wirklich gehen. Sie entwickelte mehr Vertrauen zu sich selbst, auch auf der körperlichen Ebene. So stellt sie sich jetzt vor, daß ihr Herz durch eine eigene innere Automatik gesteuert wird und auch dann weiterarbeitet, wenn sie selbst darüber keine Orientierung, keine Kontrolle haben kann. Ein wichtiger Wendepunkt in der Therapie wurde eine Stunde, die sie - sonst sehr gewissenhaft im Einhalten der Termine - einfach vergaß. Es war ihr sehr gut gegangen und sie hatte sich entschlossen, nach der Arbeit einen Pullover zu kaufen. Lange hatte sie sich das schon gewünscht, wegen ihrer Ängste aber nicht gewagt. Erst hinterher fiel ihr plötzlich ein, daß sie in dieser Zeit eine Therapiestunde gehabt hätte. Wir verständigten uns später darüber, daß die Erfahrungen ihrer Kraft, die sich in dem Pulloverkauf ausdrückte, für sie wichtiger war als die Stunde. Darüber hinaus hatte sie unbewußt über eine Veränderung entschieden, die sie sich auf Grund des anschließenden Gesprächs nun auch bewußt erlauben konnte. Nach neun Monaten Therapie mit wöchentlichen Sitzungen ist Frau S. heute so weit, daß sie keine Medikemente, keinen Alkohol und auch keine Notfallambulanzen mehr braucht. Sie nimmt sich das Recht heraus, in bestimmten Situationen zu gehen, wenn es für sie wichtig ist, verabredet dies beispielsweise mit ihrer Friseuse. Noch leidet sie unter ihren Ängsten, kann diese jedoch zunehmend besser ausbalancieren.

Welche Konsequenzen könnten sich aus diesem Fallbeispiel für die Trauma-Diskussion ergeben? Das Beispiel zeigt erneut, daß es nicht genügt, die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Geburt zu richten. Die Erfahrung der Geburt scheint hier eher eine angst-mindernde Rolle zu spielen. Angesichts der kontroversen Diskussion um die Bedeutung früher Traumatisierungen für die spätere Entwicklung (Terr 1990, Share 1994, Sandler 1967, Nuber 1995, Werner & Smith 1992) erscheint es angebracht, auf einige grundsätzliche Aspekte einzugehen. Eine umfassende Darstellung dieser Diskussion würde allerdings den Rahmen des Beitrags überschreiten.

Neuere Ergebnisse der Traumaforschung (Terr 1990, Share 1994) sowie der Hirnforschung (Roth & Menzel 1996) zeigen, daß es für die Verarbeitung von Wahrnehmungen und deren Abspeicherung im Gedächtnis darauf ankommt, daß neue Erfahrungen in einen Austausch mit Vorerfahrungen treten. Diese Verarbeitung ist - neurophysiologisch gesehen - kein hierarchisch strukturierter Prozeß, sondern eher ein synchron-rhythmischer Vorgang unter Beteiligung vieler, zum Teil weit voneinander entfernt gelegener Hirnzentren. Als traumatisch können in diesem Zusammenhang alle die Ereignisse verstanden werden, die den Prozeß der Verteilung, des wechselseitigen Vergleichens, der Koordination und der Integration zu etwas Neuem blockieren und damit abgeschlossene, eingekapselte Erfahrungsbereiche schaffen, die nicht mit anderen Erfahrungen ausgetauscht und damit nicht verarbeitet werden können. Terr spricht von "eingebrannten bildhaften Eindrücken", "burned-in visual impressions", auch dann, wenn die Erfahrung selbst nicht mit optischen Eindrücken verbunden war. Diese Eindrücke bleiben unverändert, entweder verborgen und nur indirekt durch Symtome erkennbar oder Wiederholungszwängen unterworfen, die sich in ständig wiederkehrenden Träumen oder Handlungsstereotypien ausdrücken, ohne daß es dadurch zu Veränderungen, zu einer Verarbeitung kommt (Terr 1990). Hilfreich für das Verständnis solcher Prozesse erscheint das Modell vom Gefühl eines Kern-Selbst, wie es Stern (1992) entwickelt hat. Dazu gehört - jeweils im Austausch mit der Umwelt - das Gefühl eigener Handlungsfähigkeit, einer zusammenhängenden Wahrnehmung der eigenen Person und der damit verbundenen Gefühle sowie die Fähigkeit, sich selbst auch in der zeitlichen, der historischen Dimension als zusammenhängend zu empfinden. Für die gesunde Entwicklung dürfte dabei maßgeblich sein, daß auf der Basis eines Grundgefühls von Kohärenz und Kontinuität sich die Fähigkeit der Antizipation und damit der Handlungsfähigkeit entwickelt. Die Vorwegnahme von Ereignissen macht es möglich, sich vorzubereiten und Handlungsstrategien zu entwickeln. Diese aktive, vom Gefühl der Handlungsfähigkeit bestimmte Haltung steht im Gegensatz zu dem Gefühl, ständig unvorhersehbaren Ereignissen ausgeliefert zu sein, ohne Einfluß darauf nehmen zu können.

Am Beispiel von Frau S. hat sich gezeigt, daß ihre Ängste mit dem Gefühl mangelnder Kohärenz, Kontinuität und damit Vorhersagbarkeit einher gingen. Ohne Antizipation hatten auch die Erfahrungen von Handlungsfähigkeit etwas eher zufälliges, nicht verläßliches. Soll das Konzept von Stern auf unser Beispiel anwendbar sein, müßte allerdings vorausgesetzt werden, daß ein Gefühl vom Kern-Selbst nicht erst, wie Stern es annimmt, ab dem zweiten Monat nach der Geburt entwickelt ist, sondern bereits vor der Geburt. Zahlreiche Beobachtungen, beginnend mit den Habituationsversuchen von Sontag( 1944) in den 40er Jahren bis hin zu den Beobachtungen fötaler Antizipation von Musik (ausgedrückt in Bewegungen, die auf eine bekannte Musik auch bei deren Veränderung erhalten bleiben: Sallenbach 1993) haben gezeigt, daß auch beim Fötus nicht nur eine Erinnerungsfähigkeit, sondern auch die Fähigkeit der Antizipation anzunehmen ist. Die Möglichkeiten zur Antizipation waren bei Frau S. während der Pränatalzeit vermutlich durch die Lebenssituation der Mutter stark eingeschränkt. Darüber hinaus wurde bereits darauf hingewiesen, daß als Grundvoraussetzung für das Gefühl eines Kern-Selbst die wechselseitige Kommunikation anzusehen ist. Möglicherweise kann das dichte Netz des Signalaustauschs auch bei diskontinuierlichen äußeren Erfahrungen ein gewisses Maß an Kohärenz schaffen. In diesem Zusammenhang sei nochmal daran erinnert, daß es zur Frühgeburt zu einem Zeitpunkt kam, an dem nicht die dramatischen Ereignisse, sondern möglicherweise die emotionale Abwesenheit der Mutter und damit eher Defizite in der Kommunikation im Vordergrund standen. Die Blockierung, der Mangel an Verarbeitung intra- sowie interindividuell führt dazu, daß die traumatische Erfahrung für Frau S. auch später stark körperbezogen, nicht unmittelbar kommunizierbar, nicht von ihr selbst zu steuern, sondern immer wieder als überfallmäßiger Handlungszwang empfunden wird. In ihrem Alltag (Essenkochen, Fensterputzen, Blumenpflanzen), bei der Arbeit, in den Partnerschaften wird sie immer wieder von der der Wiederholung jener Modell-Szene bestimmt: der Unerträglichkeit einer fortbestehenden Situation und der Rettung durch Veränderung oder dadurch, sich garnicht erst auf diese Situation einzulassen. Aber auch die Modell-Szene erhält ihre Brisanz und damit ihre traumatisierende Wirkung erst durch die Tatsache, daß - wie bereits erwähnt - , dieselben Erfahrungen, die hier zum Tragen gekommen waren, schon vorher und auch später noch als Teil einer Familienstruktur wirksam wurden: eine Kommunikation, die nicht klärt (und damit Antizipation und Handlungsfähigkeit ermöglicht), sondern die verschleiert und mystifiziert ("das blonde hochbegabte Wunderkind") und damit in der Schule erneut die Erfahrungen der Modell-Szene reproduziert. Auch hier ist eine Wechselseitigkeit und keine lineare Kausalität anzunehmen. Es reagiert ja nicht nur das Kind auf die Mutter (die Familie), sondern diese auch auf das Kind: was mag beispielsweise die Geburt des kleinen frühgeborenen Kindes oder das Ausbleiben des überwältigenden Schulerfolgs für die Größenphantasien der Mutter bedeutet haben ? Wie mögen sich solche Gefühle wiederum auf die Interaktion mit dem Kind ausgewirkt haben?

Aus all dem ergibt sich, daß sich die Ängste von Frau S. nicht unmittelbar kausal auf die äußeren Umstände der Schwangerschaft zurückführen lassen, obwohl deren Dramatik dies zunächst nahelegt. Die selbe Ausgangssituation des ständig vom-Tode-bedroht-Seins, die zu den Ängsten führt, stellt auch die Basis für einen Grundoptimismus dar, für jenes Gefühl: "trotz aller Bedrohung komme ich irgendwie durch." Die Basis dafür war offensichtlich die Erfahrung des Überlebens durch Handeln, durch Veränderung. Diese Erfahrung war schon früh (vom Kliniksaufenthalt an) mit der Erfahrung einer Kommunikation verknüpft, die nicht auf die Kommunikationsstukturen der Familie begrenzt war. Das Lächeln in der Klinik und die noch nach vielen Jahren lebendige Erinnerung bei der Ärztin könnte auf solche Kommunikationserfahrungen hinweisen. So gesehen hätte auch der Klinikaufenthalt weniger eine traumatisierende, sondern paradoxerweise eher eine entwicklungsfördernde Rolle gespielt. Werner & Smith (1992) betonen die Bedeutung von Bezugspersonen außerhalb der Familie in Situationen von beeinträchtigter familiärer Kommunikation. Sicherlich sind solche Überlegungen, auf das Fallbeispie bezogen, spekulativ. Sie können aber dazu anregen, immer wieder nach der spezifischen Bedeutung einzelner Ereignisse zu fragen und sich nicht auf naheliegende kausale Verknüpfungen von äußeren Faktoren und intrapsychischer Bedeutung zu beschränken.

Das Beispiel zeigt zum einen erneut die Auswirkungen von Schwangerschaftserfahrungen und damit die Bedeutung all jener Hilfen, die der Schwangerschaft einen schützenden Rahmen und dem Kind die Erfahrung kontinuierlicher kohärenter Wahrnehmung ermöglichen. Zum anderen zeigt das Beispiel aber auch, daß frühe traumatische Erfahrungen nicht linear-kausal auf äußere Ereignisse zurückgeführt werden können. Schließlich sollte gezeigt werden, daß die wirklich traumatischen Erfahrungen daran zu erkennen sind, daß sie lebenslang in immer neuen Varianten lediglich wiederholt, nicht verarbeitet, nicht integriert werden. Trotzdem stellen auch diese Wiederholungen bereits eine konstruktive Leistung dar. Schließlich schaffen auch sie Kontinuität und Kohärenz und schützen damit vor psychischer Desintegration und Fragmentierung. Solche von der Selbst-Psychologie entwickelten Konzepte in Verbindung mit der prä- und perinatalen Perspektive eröffnen für die Psychotherapie zusätzliche Möglichkeiten. Verhaltensweisen wie Vergessen eines Termins oder Fluchttendenzen während einer Sitzung - traditionell vielleicht als "Fixierung in der Abwehr" oder "agierendes Widerstandsverhalten" interpretiert - , können in diesem Kontext als Mitteilung von Erfahrungen, als Angebot zur Kommunikation und damit als konstruktive Strategie verstanden werden.

Vielen Fragen kann hier nicht mehr nachgegangen werden. Welche Modifikation erfahren frühe Erlebnisse nicht nur durch nachfolgende Erfahrungen, sondern auch durch die Bedingungen des Erinnerns, insbesondere durch Bilder und Erwartungen des Therapeuten ? Welche Rolle spielt überhaupt die Frage nach der "Realität" angesichts der Vorstellung von "Wahrnehmung als Hypothese über die Wirklichkeit", die heute nicht nur von Philosophie und Physik, sondern auch in der Hirnforschung (Roth und Menzel 1996) vertreten wird ? Unter welchen Voraussetzungen werden belastende Erfahrungen traumatisch, wann führen sie zur Entwicklung von Fähigkeiten (Werner & Smith 1992) ? Eines kann dabei nicht in Frage gestellt werden: die Tatsache, daß die Reproduktion früher Erinnerungen nicht als Phantasie abgetan werden darf, sondern als Resultat mächtiger Wirkfaktoren therapeutisch wie prophylaktisch ernst genommen werden muß.

Literatur

Freud, S.: Die Traumdeutung (1909), Studienausgabe Bd. II, S. 391, S. Fischer FrankfurtM. 1972

Hau, T.F.: Perinatale und pränatale Faktoren der Neurosenätiologie. In: Graber, H.G. & Kruse, F. (Hrsg.): Vorgeburtliches Seelenleben. Goldmann München 1973, S. 129-142

Kruse, F.: Spekulationen und beweisbare Tatsachen der pränatalen Psychologie. Gynäkol. Rdsch. 19 (Suppl. 2), 4, 1979

Nuber, U.: Der Mythos vom frühen Trauma. S. Fischer Frankfurt/M. 1995

Roth, G & Menzel, R.: Neuronale Grundlagen kognitiver Leistungen. In: Dudel, J., Menzel, R., Schmidt, R.F. (Hrsg.): Neurowissenschaft. Vom Molekül zur Kognition. Springer Berlin, Heidelberg 1996, S. 539-558

Sallenbach, W.B.: The intelligent prenate: paradigms in prenatal learning and bonding. In: Blum, T. (ed.): Prenatal Perception, Learning and Bonding. Leonardo Publishers Berlin, Honkong, Seattle 1993, S. 61-106

Sandler, J.: Trauma, strain, and development. In: Furst, S. (ed.): Psychic Trauma. Basic Books New York, 1967, S. 154-174

Share, L.: If Someone Speaks, It Gets Lighter. Dreams and the Reconstruction of Infant Trauma. The Analytic Press Hillsdale NJ London 1994

Sontag, L.W.: Differences in modifiability of fetal behavior and physiology. Psychosomatic Medicine 6, 151-154, 1944

Stern, D.N.: Die Lebenserfahrung des Säuglings. Klett-Cotta Stuttgart 1992 (Originalausgabe: The Interpersonal World of the Infant. Basic Books New York 1985)

Terr, L.: Too Scared to Cry. Basic Books New York 1990

Werner, E.E. & Smith, R.S.: Overcoming the Odds. High Risk Children from Birth to Adulthood. Cornell University Press Ithaca and London 1992

Quelle:

Hans von Lüpke: Frühgeburt als Thema mit lebenslangen Variationen. Ein Beitrag zur Diskussion um das frühe Trauma am Beispiel einer Angstneurose.

(im Druck)

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 16.10.2006

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